Historische Diskursanalyse - Achim Landwehr - E-Book

Historische Diskursanalyse E-Book

Achim Landwehr

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Beschreibung

Der Diskurs ist in aller Munde – aber nicht jeder, der den Begriff benutzt, weiß,wovon er spricht. Achim Landwehr erklärt zunächst die verschiedenen Wurzeln einer historischen Diskursanalyse: von der Begriffsgeschichte Kosellecks über die Arbeiten Hayden Whites bis zu Michel Foucault, der den Begriff des Diskurses entscheidend geprägt hat. Auf dieser Grundlage zeigt Landwehr, welchen Nutzen die analytische Kategorie des Diskurses für die Geschichtswissenschaften hat. Schließlich stellt er dar, wie sich empirisch fundierte historische Diskursanalysen durchführen lassen und welche Arbeitsschritte es dabei zu beachten gilt – von der Themenfindung über die Untersuchung von Kontexten bis zur Analyse von Aussagen und Texten. Für alle, die sich mit dieser einflussreichen Theorie und Methode vertraut machen wollen, ist der Band ein unverzichtbares Standardwerk.

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Historische Diskursanalyse
Landwehr, Achim
Campus Verlag
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
9783593403885
Copyright © 2008. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
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|5|Für Cornelius & Valentin

|9|Vorwort

Zuweilen ist zu hören und zu lesen, es handele sich bei allem, was mit Begriffen wie ›Diskurs‹, ›Diskursanalyse‹ oder ›Diskursgeschichte‹ in Verbindung gebracht werden könnte, um wissenschaftliche Modephänomene, die nicht nur genauso schnell wieder verschwänden wie sie aufgetaucht seien, sondern die vor allem – horribile dictu – als inhaltsleere Worthülsen gebraucht würden, um am jüngsten akademischen Trend mit möglichst großer Aufmerksamkeitswahrscheinlichkeit teilnehmen zu können. Da ich in dieser Angelegenheit parteiisch bin, möchte ich mich einer Beurteilung dieser Einschätzung enthalten. Aber hier und da geäußerte Vorwürfe in diese Richtung müssen zumindest mit dem Umstand zurecht kommen, dass es sich bei ›Diskurstheorie‹ und ›Diskursanalyse‹ um Ansätze handelt, die schon seit einigen Jahrzehnten in unterschiedlichen wissenschaftlichen Zusammenhängen für Diskussionsstoff und auch für zahlreiche Anregungen sorgen – für eine Modeerscheinung ein recht langer Zeitraum, sollte man meinen.

Dass es sich um mehr als ein Gekräusel an der Oberfläche wissenschaftlicher Tagesdebatten handelt, könnte eventuell auch der vorliegende Band belegen. Er erschien erstmals 2001 unter dem Titel Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse im Tübinger Verlag edition diskord, erfuhr 2004 eine unveränderte Neuauflage und hat nun nicht nur die verlegerische Heimat gewechselt, sondern auch eine dringend benötigte Überarbeitung erfahren.

Eine Revision dieser Einführung lag mir schon länger am Herzen. Nicht nur hat sich die Forschungslandschaft zur Diskursgeschichte und historischen Diskursanalyse in den vergangenen Jahren |10|verändert, auch in meinen eigenen Überlegungen zu diesem Themenbereich kam es zu einigen inhaltlichen Verlagerungen und neuen Schwerpunktsetzungen. All dies hat zwar nicht dazu geführt, dass nun ein gänzlich neues Buch vorliegen würde, aber doch ein grundlegend überarbeitetes und in einigen Teilen von seinem Vorgänger deutlich abweichendes.

Dies betrifft zunächst die sprachliche Form. Kaum ein Satz ist unverändert geblieben, was weniger mit einer möglichen ›Fehlerhaftigkeit‹ der früheren Auflage zu tun hat, sondern mit einer mir nötig erscheinenden Politur an den Formulierungen.

Die wichtigste inhaltliche Veränderung zielt hingegen auf eine weniger deutliche Betonung der Sprache, die in der vorherigen Auflage doch zu stark geriet, und vor allem stärker, als es eigentlich intendiert war. Sprache spielt für die folgenden Darlegungen fraglos eine wesentliche Rolle, und das nicht nur weil gerade historische Fragestellungen diesem Medium auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Bedeutsamer scheint mir aber im Zusammenhang der historischen Diskursanalyse sowie einer sie überwölbenden Kulturgeschichte das Problem historischer Wirklichkeiten, die zwar wesentlich, aber eben keineswegs ausschließlich durch sprachliche Handlungen hergestellt werden. Dieser Aspekt findet sich in der Neuausgabe deutlicher berücksichtigt, weshalb auch der Titel Geschichte des Sagbaren wegfiel, da er sprachliche Aspekte über Gebühr unterstrich.

Der Überarbeitung sind zum Teil ganze Kapitel zum Opfer gefallen. So ist nicht nur die Einleitung neu geschrieben worden, sondern auch das ehemals separierte Kapitel mit Quellenbeispielen wurde aufgelöst und in gänzlich neuer Form in dasjenige zu methodischen Vorgehensweisen integriert. In anderen Kapiteln wurden zum Teil neue Abschnitte eingefügt und andere gestrichen. Darüber hinaus war es vor allem mein Bestreben, die Forschungsliteratur auf den neuesten Stand zu bringen. Tanja Hommen, Stefan Jordan und Nina Schaffrin haben durch hilfreiche Kommentare das Ihrige zur Überarbeitung beigetragen. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt!

Der Aufbau des Bandes blieb im Grundsatz bestehen. Ziel der Einführung soll es sein, einerseits zur Klärung darüber beizutragen|11|, was ein Diskurs ist, wie sich das Verhältnis von Geschichte, Sprache (sowie anderen Zeichensystemen) und Wirklichkeit gestaltet oder welche Diskurstheorien in den vergangenen Jahrzehnten diskutiert wurden beziehungsweise aktuell erörtert werden (Kapitel 1 bis 4). Andererseits sollen auf der Basis dieser eher theoretischen Überlegungen Hinweise gegeben werden, wie Diskursgeschichte in der Praxis vonstatten gehen kann, was beim Vorgehen der historischen Diskursanalyse zu beachten ist und welche Arbeiten diesen Ansatz bereits exemplarisch umgesetzt haben (Kapitel 5 und 6), bevor dann abschließend der Versuch einer Einordnung der historischen Diskursanalyse in weitergehende Zusammenhänge unternommen wird. Sein Ziel hätte dieses Buch am ehesten dann erreicht, wenn deutlich würde, dass es sich bei der historischen Diskursanalyse tatsächlich um eine ›Mode‹ handelt, allerdings im Sinne der lateinischen Wurzel dieses Wortes – wenn die historische Untersuchung von Diskursen sich also als ein modus geschichtswissenschaftlicher Forschung etablieren könnte.

Düsseldorf, im August 2007

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|13|1. Einleitung

»… und man weiß doch sehr gut, was die charakteristische Anstrengung des Historikerberufs ist und worin sein Reiz liegt: sich über das zu wundern, was sich von selbst versteht.«

Paul Veyne

Historische Diskursanalyse ist eine Forschungsrichtung, die immer noch der Erläuterung bedarf und sich keineswegs von selbst versteht. Auch wenn ungefähr deutlich sein mag, womit sich Diskursgeschichte beschäftigt, und selbst wenn eine Ahnung davon vorhanden ist, welchen Untersuchungsschritten die historische Diskursanalyse verpflichtet ist, so lehrt doch die Erfahrung, dass sich zumindest in geschichtswissenschaftlichen Diskussionen mit diesen Bezeichnungen immer noch mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen verbinden. Das ist Chance und Schwierigkeit zugleich: Chance, weil die historische Diskursanalyse Neugier zu wecken vermag, gerade weil man nicht schon konkrete Vorstellungen mit ihr verbindet; Schwierigkeit, weil mangelnde oder ungenügende Kenntnis den Zugang erschwert und Vorurteilen Vorschub leistet.

Ziel dieses Buches ist es zunächst, diesen Erklärungsbedarf zu befriedigen. Nach der Lektüre sollte jedoch nicht nur deutlich geworden sein, was sich hinter den genannten Stichworten verbirgt, sondern auch, auf welche Fragestellungen die historische Diskursanalyse die passende Antwort sein kann, wie sich entsprechende Untersuchungen durchführen lassen und welche bereits vorhandenen Arbeiten als Exempel diskurshistorischer Ansätze gelten können. Dazu ist es nötig, einige Probleme aus dem Weg zu räumen, die sich mit der historischen Diskursanalyse verbinden und |14|die dazu führen, dass es bis heute nicht ohne weiteres möglich ist, die Begriffe ›Diskurs‹, ›Diskursgeschichte‹ oder ›historische Diskursanalyse‹ zu verwenden, ohne jeweils zu erklären, was damit gemeint ist. Diese Probleme resultieren nicht nur daraus, dass es sich bei der historischen Diskursanalyse um einen – zumindest für den deutschsprachigen Kontext – verhältnismäßig jungen Ansatz handelt, sondern noch mehr aus dem diffizilen Begriff ›Diskurs‹ selbst sowie aus den für manche vielleicht ungewohnten Fragestellungen, denen sich die historische Diskursanalyse verschrieben hat.

Diese Probleme werden im einleitenden ersten Kapitel angegangen. Danach gilt es, einen wissenschaftshistorischen Blick auf Ansätze innerhalb der historischen (sowie einiger anderer) Wissenschaften zu werfen, die sich mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigt haben beziehungsweise auf denen eine historische Diskursanalyse aufbauen kann. In einem dritten Kapitel geht es dann um die Wurzeln der historischen Diskursanalyse, die außerhalb der Geschichtswissenschaften liegen. Hierbei werden die Diskurstheorien zum Thema gemacht, die seit den 1960er Jahren vor allem in Philosophie und Soziologie entwickelt wurden. Im vierten Kapitel sollen Vorschläge gemacht und Hinweise gegeben werden für konkrete Untersuchungsschritte im Rahmen einer historischen Diskursanalyse, weil vor allem durch das Aufzeigen tatsächlicher Arbeitsmöglichkeiten der Nimbus der ›Geheimwissenschaft‹, der die historische Diskursanalyse zuweilen immer noch umgibt, beseitigt werden kann. Das fünfte Kapitel stellt sodann beispielhaft einige Arbeiten vor, die einer Diskursgeschichte zugerechnet werden können, bevor ein knapper Ausblick den Band beschließt.

Diskurstheorie: systematische Ausarbeitung des Stellenwertes von Diskursen im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit

Diskursanalyse: forschungspraktische und methodisch angeleitete Untersuchung von Diskursen

Diskursgeschichte: historische Forschungsrichtung, welche die empirische Untersuchung von Diskursen in ihrem geschichtlichen Wandel zum Gegenstand hat

|15|Was hat es nun mit dem ›Diskurs‹ auf sich? Dass die historische Diskursanalyse immer noch der Schleier des Ungefähren und Ungewissen umgibt, hängt sicherlich nicht zuletzt damit zusammen, dass – zumindest im Deutschen – der Diskursbegriff nicht nur in wissenschaftlichen, sondern darüber hinaus in mehr oder weniger intellektuellen Debatten zu einem wenig reflektierten Passepartout geworden ist. ›Diskurs‹ ist nicht nur ein Begriff mit einem sehr weiten Bedeutungsspektrum, sondern auch einer, der trotz seiner nicht ganz einfachen Handhabung in wissenschaftlichen Abhandlungen eher selten definiert wird (Mills 2004: 1).

Die Schwierigkeit mit dem Diskursbegriff kann eine Auflistung illustrieren, die unterschiedliche Verwendungsweisen von ›Diskurs‹ zusammenstellt und dabei noch nicht einmal Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann (vgl. Maingueneau 1991: 14–17; Mills 2004: 1–14).

Bedeutungsvarianten von ›Diskurs‹:

Gespräch

Rede

Abhandlung über einen Gegenstand in Rede oder Schrift

Kommunikationsgemeinschaft

textuelle Einheiten, die größer sind als ein Satz

Diskussion/Debatte

komplexe Systeme zur Herstellung von Wissen und Wirklichkeit

Angesichts solcher Schwierigkeiten stellt sich die Frage, warum ›Diskurs‹ hier trotzdem im Mittelpunkt der Betrachtung stehen soll. Darauf lässt sich nicht nur mit dem Hinweis antworten, dass der Diskursbegriff – trotz allem – zu einer zentralen Kategorie in der kulturwissenschaftlichen Arbeit geworden ist, sondern dass sich auch für das Vorhaben einer historischen Diskursanalyse ein klares Verständnis dieses Begriffs herausschälen lässt. Denn obwohl die allgemeinen Verwendungsweisen von ›Diskurs‹ sehr weit gestreut sind, richtet sich sein (reflektierter) wissenschaftlicher Einsatz immer auf Untersuchungen des Sprach- und Zeichengebrauchs, ob es sich dabei nun um mündliche oder schriftliche |16|Aussagen, konkrete Kommunikationsprozesse, die Analyse größerer Textkorpora oder die Untersuchung bildlicher und akustischer Medien handelt. Dabei ist es üblicherweise das Ziel, formale oder inhaltliche Strukturierungen aufzudecken (Keller u. a. 2001b: 9). Um eine mögliche Verwirrung hinsichtlich des Diskursbegriffs zu vermeiden, erscheint zunächst eine begriffsgeschichtliche Annäherung hilfreich, um vorhandene Bedeutungsvarianten in eine diachrone Ordnung zu bringen.

Helge Schalk hat sich der sicherlich nicht einfachen Aufgabe unterzogen, mit begriffsgeschichtlichen Mitteln den (vor allem philosophischen) Gehalt dessen, was ›Diskurs‹ in verschiedenen Zusammenhängen bedeutet, näher zu beleuchten: »›Diskurs‹ ist heute ein Allerwelts- und Modewort, dessen schillernde Bedeutung eine verbindliche Definition nahezu unmöglich macht. Statt von der Philosophie können wir heute mühelos vom ›philosophischen Diskurs‹ sprechen und beinahe jede wissenschaftliche Abhandlung darf sich heute Diskurs nennen, ohne gegen eine sprachliche Konvention zu verstoßen« (Schalk 1997/98: 56). Ein zusätzliches Problem entsteht dadurch, dass ›Diskurs‹ in der deutschen Sprache kein Alltagswort ist wie discourse im Englischen oder discours im Französischen. Daher drängt sich nicht selten der Eindruck akademischer Profilneurose auf, wenn das Wort ›Diskurs‹ in Zusammenhängen verwendet wird, in denen ›Sprachgebrauch‹, ›Aussage‹, ›Text‹ oder ›Diskussion‹ ebenso gute und wahrscheinlich bessere Dienste leisten würden (Sarasin 1996: 141).

Immerhin, eine gewisse, wenn auch nur schwach aufscheinende Möglichkeit, den Diskursbegriff als Analyseinstrument zu retten, deutet Schalk an: »Zwar mag sich als verbindendes Merkmal vieler philosophischer Konzeptionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die den Diskursbegriff ins Zentrum der Untersuchung rücken, eine generelle Tendenz zeigen, sprach- und gesellschaftstheoretische Überlegungen miteinander zu verbinden; Sprache als gesprochene Sprache wird im weiteren Umfeld gesellschaftlich-kultureller Analysen gesehen. Allerdings bleiben Bedeutungsdifferenzen, die uns – nimmt man nur die Ansätze von Habermas und Foucault – zwingen, die Bedeutung von ›Diskurs‹ stets näher |17|zu präzisieren« (Schalk 1997/98: 56 f.). Wird eine nähere Verdeutlichung dessen geleistet, worüber man spricht, wenn man vom Diskurs spricht, kann sich in spezifischen Wissenschaftsbereichen auch eine jeweils spezifische und inhaltlich klar bestimmbare Verwendung etablieren.

Im Blick zurück mag es in gewisser Weise beruhigend erscheinen, dass bereits im Lateinischen die Verwendung von discursus recht unspezifisch war. Die in begriffshistorischer Perspektive aufzufindenden Belegstellen sind so zahlreich, dass von einem wie auch immer gearteten ›ursprünglichen Kern‹ des Begriffs nicht die Rede sein kann. Die vielfachen Verwendungsweisen gruppieren sich allerdings nicht, wie man vielleicht meinen könnte, um Bedeutungen wie ›Rede‹ oder ›Gespräch‹, sondern finden sich meist im Zusammenhang der Beschreibung von Bewegungen, vor allem dem ›Hin- und Herlaufen‹, dem ›richtungslos Umherirren‹ oder dem ›sich Zerstreuen‹ (Schalk 1997/98: 61). Es bedarf jedoch nicht besonders viel Phantasie, solche Formen der Bewegung auch auf Vorgänge des Denkens und Sprechens zu übertragen. Daher lassen sich, von dieser lateinischen Wurzel ausgehend, vornehmlich drei größere Verwendungszusammenhänge des Diskursbegriffs herauspräparieren.

Zum einen wurde ›Diskurs‹ in der mittelalterlichen Logik und Erkenntnistheorie zu einem philosophischen Fachterminus, der die Verstandestätigkeit bezeichnete und das formale, insbesondere das menschliche Wissen beschrieb (Schalk 1997/98: 64–81).

Eine zweite Traditionslinie ist jüngeren Datums und rückt den Diskursbegriff in den Zusammenhang von gesprochener und geschriebener Sprache. Ihre Ursprünge hat diese Verwendung in der italienischen Renaissance. ›Diskurs‹ bezeichnet hier vor allem die mündliche Rede sowie schriftliche Abhandlungen (Schalk 1997/98: 81–92).

Eine dritte Traditionslinie breitete sich schließlich im 20. Jahrhundert aus und verursacht inhaltlich sicherlich die größten Schwierigkeiten, weil sich der Gebrauch von ›Diskurs‹ in zahlreiche Facetten auffächerte. Zentral wird jedoch die Akzentuierung der sozialen Dimension von Sprache, wie sie sich vor allem in den verschiedenen Formen der Diskursanalyse herausbildet.

|18|In einem sehr weiten Sinn schließt sich die historische Diskursanalyse an diese dritte Traditionslinie an, wenn auch nicht in dieser allgemeinen Form, sondern mit klaren Spezifizierungen. Um die Frage zu beantworten, was historische Diskursanalyse eigentlich will, kann man entweder den wissenschaftshistorischen Weg einschlagen und die Entwicklungsstränge aufzeigen, die zum gegenwärtigen Stand der Dinge führten. Dies soll in den beiden folgenden Kapiteln zur Forschungsgeschichte und zu Diskurstheorien geschehen. Man kann aber auch den umgekehrten Weg gehen und folgende Frage stellen: Welche Probleme schienen so drängend und mit den bisherigen Mitteln nicht mehr hinreichend bearbeitbar, dass man darauf verfiel, mit der historischen Diskursanalyse einen neuen Pfad zu beschreiten? Wenn also die historische Diskursanalyse die Antwort ist – wie lautete dann die Frage?

Es handelt sich um ein altehrwürdiges Problem, das den Ausgangspunkt von Diskurstheorie, Diskursanalyse und Diskursgeschichte bildet, nämlich die Frage danach, wie wir überhaupt etwas wissen können und wie sich Sicherheit über die eigene Wirklichkeit gewinnen lässt. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden solche Fragen in zugespitzter Form gestellt. In verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten, vor allem in Philosophie, Sprachwissenschaft, Soziologie oder Hirnforschung, wurde in einer Art und Weise die Möglichkeit des Menschen in Zweifel gezogen, zu gesicherter Erkenntnis zu gelangen, wie wohl nie zuvor. Das unbezweifelbare Wissen von der objektiven Wirklichkeit gibt es schlicht nicht – und hat es nie gegeben. Es ist hier nicht der Ort, um die damit in Zusammenhang stehenden, ungemein komplexen Diskussionen nachzuvollziehen (einige werden im dritten Kapitel angeführt). Wollte man jedoch ihre wichtigsten Ergebnisse knapp zusammenfassen, so ließe sich sagen, dass Wirklichkeit nicht einfach die ›Welt dort draußen‹ ist, die unabhängig von unserem Wollen existiert, und dass Wissen nicht die unter hohem Aufwand aufgedeckten Geheimnisse sind, die uns diese Wirklichkeit verständlich werden lassen. Vielmehr sind Wissen und Wirklichkeit Ergebnisse sozialer Konstruktionsprozesse, das heißt Gesellschaften statten ihre Umwelt mit bestimmten Bedeutungsmustern aus, erkennen bestimmte Sichtweisen auf diese |19|Umwelt als Wissen an (während andere als Aberglaube oder Unsinn abqualifiziert werden) und objektivieren Elemente zu einer Wirklichkeit, der man nicht mehr ansehen kann, dass sie historisch entstanden und alles andere als naturnotwendig ist. Vorstellungen über den Raum, die Zeit, den Menschen, die Gesellschaft, die Geschlechter oder die Geschichte gehören beispielsweise zu solchen Aspekten der Wirklichkeit (oder besser: Wirklichkeiten, denn da sie immer an bestimmte soziale Formationen gebunden sind, kommen sie nie im Singular vor).

Für die historische Diskursanalyse dienen solche Überlegungen als Basis, um im Weiteren der Frage nachzugehen, wie im historischen Prozess solche Formen des Wissens und der Wirklichkeit ausgebildet wurden, warum alternative Entwürfe sich nicht durchsetzen konnten oder nur eine kurze Lebensdauer hatten. Als Ergebnis solcher Prozesse werden Wirklichkeit und Wissen üblicherweise als Gegebenes hingenommen und nicht mehr als Problem wahrgenommen – und genau das ist für die historische Diskursanalyse ein Problem.

Ein Beispiel für die Wirksamkeit von Diskursen:

Die historische Diskursanalyse stellt die Frage, wie Gesellschaften im geschichtlichen Prozess Sinn hervorbringen (Sarasin 1994: 33). Dass es sich bei einer solchen Fragestellung nicht um eine intellektuelle Spielerei handelt, lässt sich an sehr einfachen und alltäglichen Beispielen verdeutlichen. Bestimmte Gattungen oder Medien eignen sich ganz besonders dazu, das Funktionieren und die Konstitution von Diskursen zu verdeutlichen, indem sie durch Brechungen die historische und diskursive Verfasstheit des vermeintlich Selbstverständlichen klar vor Augen treten lassen. Witze oder Rätsel funktionieren vielfach nur, weil sie sich etablierten Diskursen verweigern. Nehmen wir folgende Geschichte: Ein Chirurg fährt mit seinem Sohn im Auto über Land. Es kommt zu einem schweren Unfall, der Vater stirbt noch am Unfallort, der Sohn wird schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert. Ein Ärzteteam bereitet dort die Operation vor. Kaum wird der Patient in den Operationssaal gerollt, sagt der Kopf des Ärzteteams, eine Kapazität auf dem Gebiet der Chirurgie: »Ich kann diesen Patienten nicht operieren, das ist mein Sohn.« Für diskursanalytisch Versierte sollte es nicht sehr schwer sein, dieses Rätsel zu lösen – alle anderen müssen sich ein wenig gedulden.

|20|Man könnte das Anliegen der historischen Diskursanalyse auch auf folgenden, ebenfalls empirisch nachvollziehbaren Nenner bringen: Wie kommt es, dass sich zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften eine Differenz beobachten lässt zwischen dem, was sich grammatikalisch korrekt sagen lässt, was sich praktisch machen lässt oder was sich theoretisch alles denken lässt, und dem, was Menschen tatsächlich sagen, machen und denken (Foucault 2001: 874 f.; Bourdieu 1993a: 69). Nicht alles was gesagt werden kann, wird gesagt, nicht alles, was gemacht werden kann, wird gemacht, und nicht alles, was gedacht werden kann, wird gedacht. Üblicherweise schneuzt niemand beim Abendessen in ein Tischtuch (obwohl es in Europa historische Gesellschaftsformationen gab, in denen das möglich und üblich war), fast niemand denkt an einen Akkuschrauber, wenn man ein Weihnachtsgeschenk für eine Frau sucht, und niemand sagt bei einem internationalen Physik-Kongress den Satz: »Alle grundlegenden physikalischen Gesetze finden sich in der Bibel« – obwohl dieser Satz grammatikalisch völlig korrekt ist.

Die genannten Beispiele entbehren nicht einer gewissen Trivialität, weil sie leicht zu durchschauen sind. Da sie sich jedoch mit einem höheren Komplexitäts- und Abstraktionsgrad auch in weiteren Zusammenhängen fortsetzen, lässt sich die Relevanz von Diskursen bereits erahnen. Und wenn es Diskurse sind, die Wissen und Wirklichkeit hervorbringen, dann ist offensichtlich nicht jede beliebige Welt möglich.

Um an dieser Stelle gleich ein mögliches Missverständnis auszuräumen: Diskurse existieren nicht. Diskurse sind keine Wesen, die irgendwo dort draußen bedrohlich über uns schweben und bestimmen, was wir denken, sagen oder tun. Diskurse sind auch keine Programme, die von wem auch immer erdacht wurden, um Gesellschaften zu manipulieren, und schließlich sind Diskurse auch kein Subjektersatz, die als eigentlich handelnde Einheiten an die Stelle des Menschen treten würden. Der Diskursbegriff ist ein Analyseinstrument, das dazu dienen soll, bestimmte Phänomene zu fassen, die mit zuvor vorhandenen begrifflichen Möglichkeiten nicht ausreichend zu fassen waren. Und der Diskursbegriff soll eben darauf aufmerksam machen, dass es zu bestimmten Zeiten |21|und in bestimmten Gesellschaften recht klar abgegrenzte Bereiche des Machbaren, Denkbaren und Sagbaren gibt. Er bezeichnet daher »kein innerweltliches ontologisches ›Objekt‹, sondern einen zu Forschungszwecken hypothetisch unterstellten Strukturierungszusammenhang, der verstreuten Aussageereignissen zugrunde liegt« (Keller 2006: 59, Hervorhebung im Original).

Diskurse lassen sich dabei einerseits als repressiv denken, insofern es – wie Michel Foucault, fraglos der einflussreichste und wichtigste Diskurstheoretiker, zum Ausdruck brachte – zu einer Verknappung von Aussagemöglichkeiten kommt (Foucault 1991). Diskurse sind zugleich aber auch immer produktiv, weil Diskurse systematisch die Gegenstände formen, von denen sie sprechen (Foucault 1997b: 74). Diskurse bilden Wirklichkeit also keineswegs ab, sondern bringen sie überhaupt erst mitsamt dem dazu gehörigen Wissen hervor. Das wird vielleicht in keinem anderen Bereich so deutlich wie in den Diskursen über das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts konnten sich beispielsweise Frauen in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eine verbesserte Position erkämpfen, konnten Berufe ausüben, die für Männer reserviert waren, erhielten das Wahlrecht und durften Universitäten besuchen, obwohl man noch im 19. Jahrhundert vielfach davon überzeugt war, dass Frauen dazu aufgrund ihrer psychischen und physischen Konstitution nicht in der Lage seien. Die Biologie der Frau hat sich seither nicht verändert – der Diskurs über die Rolle der Frau sehr wohl.

Diskurse regeln also das Sagbare, Denkbare und Machbare. Sie organisieren Wirklichkeit. Offensichtlich geht diese diskursive Produktion von Wirklichkeit jedoch nicht willkürlich vonstatten, sondern unterliegt gewissen Regeln, die es den Beteiligten ermöglichen, im Rahmen eines Diskurses korrekt zu sprechen, zu denken und zu handeln. Die historische Diskursanalyse will vor allem über die Aufdeckung solcher Regeln zur Identifizierung entsprechender Diskurse gelangen und konzentriert sich darüber hinaus auf die Frage, wie und warum sich solche Diskurse im historischen Prozess verändern und damit zugleich eine veränderte Wirklichkeit hervorbringen. Die Kenntlichmachung von einzelnen Diskursen und ihren Regularitäten soll es dann in einem  |22|weiteren Abstraktionsschritt ermöglichen, historische Formen des Wissens und der Wirklichkeit benennen zu können. Was wird in einer bestimmten historischen Situation als gegebene Wirklichkeit hingenommen? Wie ist diese Wirklichkeit organisiert und mit welchen Kategorien ist sie ausgestattet? Wie ist das Wissen beschaffen, das diese Wirklichkeit handhabbar machen soll? Dies sind Fragen, die die historische Diskursanalyse vor allem umtreiben. Wichtig ist dabei, dass die abstrakten und theoretisch stark aufgeladenen Begriffe des Wissens und der Wirklichkeit im Rahmen der historischen Diskursanalyse auf einen empirischen Boden geholt werden können, indem ihr gesellschaftlicher Produktcharakter unterstrichen wird.

Bei der Untersuchung von Diskursen kommt der Sprache üblicherweise eine herausragende Bedeutung zu. Auch in dieser Einführung wird es ausführlich um Fragen und Probleme der Sprache gehen. Dieser Umstand ist zunächst einmal den Traditionen eines wissenschaftlichen Diskursbegriffs geschuldet, der – wie bereits erwähnt – in einer sehr allgemeinen Annäherung auf unterschiedliche Formen des Sprachgebrauchs fokussiert wird. Darüber hinaus handelt es sich bei der privilegierten Behandlung der Sprache aber auch darum, die Bedeutung dieses Mediums für die Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit anzuerkennen. Um Ordnungen Gültigkeit zu verschaffen und ihnen den Status der Wirklichkeit zuzuerkennen, muss über sie (unter anderem) eine Geschichte erzählt werden, die diese Ordnung erklärt und als einzig mögliche rechtfertigt. »Die objektivierte soziale Welt wird von der Sprache auf logische Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimationen ruht auf der Sprache, und Sprache ist ihr Hauptinstrument« (Berger/ Luckmann 1980: 69).

Diese Überlegungen haben für kaum eine wissenschaftliche Disziplin so fundamentale Bedeutung wie für die Geschichte. Trotzdem ist immer noch und immer wieder in geschichtswissenschaftlichen Diskussionen ein Ressentiment gegen solche Einsichten zu bemerken. Vor allem seit der Etablierung des sozialhistorischen Paradigmas in den 1960er Jahren schrieben sich die Geschichtswissenschaften das Ziel auf die Fahnen, zur Aufdeckung |23|gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen beizutragen. Ungeachtet der Erkenntnisse, die dabei erreicht wurden, haben gesellschaftsgeschichtliche Richtungen die kulturell konstruierte Seite sozialer Wirklichkeit tendenziell unterbelichtet. Dafür spricht unter anderem eine Vernachlässigung von Fragen der Sprache – fraglos dem wichtigsten Medium historischer Arbeit.

Ebenso wie andere Kulturwissenschaften, die sich keiner Laboratorien, Versuchsanordnungen und Reagenzgläser bedienen können, ist auch die Historie in hohem Maße von der Sprache abhängig. Ob im Studium oder in der Forschung, historisches Arbeiten spielt sich im Medium des Gesprochenen und Geschriebenen ab. Referate halten, Aufsätze schreiben, Quellen studieren, Forschungsarbeiten lesen, Diskussionen führen – ohne Sprache gibt es keine Geschichtswissenschaft. Doch auch ›die Geschichte‹ würde ohne die sprachliche Vermittlung, in der sie auf uns gekommen ist, nicht existieren. Was nicht in der einen oder anderen Form in einem Zeichensystem dauerhaft fixiert worden ist, lässt sich nicht mehr als historisch existent nachweisen, ist somit aus der Geschichte verschwunden (Koselleck 1989: 96–98). Die Geschichtswissenschaft lässt sich zwar nicht als eine Disziplin definieren, die sich ausschließlich auf Texte stützt, dafür sind beispielsweise Bilder viel zu wichtig – aber Sprache bildet den Grundstoff ihrer Arbeit (Febvre 1988: 207).

Um Geschichte zu betreiben und etwas über Geschichte zu erfahren, können wir uns einerseits der Hilfe der Sprache bedienen. Andererseits haben wir jedoch auch nichts anderes als die Sprache, sind demnach von ihren Möglichkeiten abhängig. Sprache bedingt wissenschaftliches Arbeiten, schränkt es zur gleichen Zeit aber auch ein, da keine anderen Mittel historischen Forschens als sprachlich fundierte existieren.

Sprache muss zum Gegenstand historischer Analyse gemacht werden, weil sie sich keinesfalls als Hülle verstehen lässt, welche die Bedeutungen umgibt, und die Geschichtswissenschaft kann nicht als ein Forschungszweig verstanden werden, der ›das Eigentliche‹ enthüllt. Sprache ist vielmehr Handlung, und zwar Handlung, die Welt erschafft. Die von Austin und Searle so benannten |24|Sprechakte (z. B.: »Ich eröffne die Sitzung«; »Ich taufe dich auf den Namen …«) sind dabei nur die offensichtlichsten Beispiele für Sprache als Handlung, denn durch sie wird eine tatsächliche Zustandsveränderung herbeigeführt (Austin 1972; Searle 1971). Aber auch so unschuldig anmutende Wörter wie ›wir‹, ›hier‹, ›jetzt‹, ›gut‹, ›sein‹ sind sprachliche Handlungen, da sie Weltbilder zum Ausdruck bringen und durch die ständige Wiederholung solche Weltbilder perpetuieren (Maingueneau 1991: 109–112). Mit den genannten Wörtern werden beispielsweise Konzeptionen von Identität, Raum, Zeit, Qualität und Existenz zum Ausdruck gebracht. Dabei wird der Eindruck erweckt, die Welt sei so wie sie eben sei – ein Trugschluss, denn die Welt ist so, wie sie sprachlich handelnd gemacht wird. »Jede Abbildtheorie der Sprache lebt von der Vorstellung, daß es jenseits menschlicher Wahrnehmungstätigkeit eine (vorsprachliche) Wirklichkeit gebe, die Bezugspunkt und Grundlage des Erkennens sei. Diese Vorstellung ist trivial, solange nicht übersehen wird, daß diese Wirklichkeit als angeeignete, für uns bedeutungsvolle Resultat unserer Tätigkeit (sowohl sprachlicher, als auch außersprachlicher) ist. Die Gegenstände bedeuten nicht an sich, sondern erst, indem wir mit ihnen umgehen, praktisch wie sprachlich, und so einen Bezug zu ihnen entwickeln« (Busse 1987: 90).

Teilt man die Grundannahme, dass Wirklichkeit im Wesentlichen sprachlich vermittelt ist, ergibt sich daraus für die Geschichtswissenschaft die logische Konsequenz, sich vornehmlich dem sprachlichen Niederschlag der Erfahrungen von Menschen der Vergangenheit zu widmen, um sich auf diesem Weg dem Gegenstand der Geschichte zu nähern. Mithin gilt es, sich von der Vorstellung zu verabschieden, als Historikerin oder als Historiker durch die Sprache, durch die Quellen, durch das Papier und die damit verbundenen Konstruktionen von Wirklichkeit hindurch zu ›der Realität‹ der Geschichte vordringen zu können. Die Wirklichkeit ist in vielfacher Hinsicht zum Problem geworden. Sich diesem lohnenden und spannenden Problem in seiner geschichtlichen Verfasstheit zu widmen, hat sich die historische Diskursanalyse zur Aufgabe gemacht.

|25|Des Rätsels Lösung …

Und um ein Letztes, nämlich des Rätsels Lösung, nicht zu vergessen: Das Medizinerteam, das den Jungen operieren sollte, wurde von dessen Mutter geleitet, einer Ärztin, die sich ebenfalls auf Chirurgie spezialisiert hatte. Da wir jedoch diskursiv darauf geeicht sind, die Chirurgie als einen Männerberuf zu rubrizieren, suchen wir nach allen möglichen Lösungen, nur nicht nach der einfachen und offensichtlichen. Ein weiterer Beleg dafür, dass Diskurse einen gleichzeitig sehen lassen und blind machen.

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|26|2. Geschichte – Sprache – Bild

Nun wäre die Behauptung fraglos verfehlt, man wäre sich in den historischen Wissenschaften der Bedeutung zeichenhafter Systeme, vor allem solcher sprachlicher und bildlicher Art, nicht bewusst. Im Gegenteil wurde und wird sie vielfach thematisiert, allerdings drängt sich immer das Problem des Verhältnisses auf, das man zwischen den verschiedenen Elementen in der komplexen Beziehung zwischen Geschichte, Sprache, Bild und Wirklichkeit konstruiert. Für die historische Diskursanalyse ist die Hypothese von grundlegender Bedeutung, dass die Beschäftigung mit Geschichte mindestens in doppelter Weise auf entsprechende Zeichensysteme verwiesen ist: Nicht nur, dass uns in historischer Perspektive alternative Beobachtungsmöglichkeiten wie die – ebenfalls durch zeichenhafte Vermittlung geprägte – eigene Anschauung oder die persönliche Begegnung größtenteils fehlen. Darüber hinaus gilt es auch zu akzeptieren, dass der etablierte Dualismus, der immer wieder zwischen Sprache und Wirklichkeit konstruiert wird, eine nicht tragfähige Voraussetzung unseres Denkens ist. Es gibt schlicht keine sprach- und zeichenverschiedene Wirklichkeit. Es gibt keine Wirklichkeit, die nicht immer schon diskursiv gedeutet wäre, weil eine Wirklichkeit, die für uns nicht sprachlich zugänglich ist, überhaupt nicht zugänglich ist (Mitterer 2000, Schmidt 2003). Im Gespräch mit den Toten, das sich die Geschichtswissenschaften zur Aufgabe gemacht haben, ist man also auf die mediale Vermittlung angewiesen.

Im Folgenden soll es zunächst mit einem wissenschaftshistorischen Blick um die Frage gehen, wie in unterschiedlichen Ansätzen das Verhältnis zwischen historischer Forschung und den sie prägenden Zeichensystemen gedacht wurde, welche Rolle |27|Sprachen und Bilder für die Konstitution von Geschichte haben. Dabei wird sich zeigen, dass der größte Teil derjenigen Arbeiten, die sich dem größeren Kontext einer Historischen Semantik zuordnen lassen, immer noch von einem Dualismus zwischen Sprache und so genannter ›historischer Wirklichkeit‹ ausgehen. Allerdings steht ihnen allen in der einen oder anderen Form deutlich die Bedeutung von Sprachen und Bildern sowohl für historische Prozesse als auch für die historischen Wissenschaften vor Augen.

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2.1 Sprache als Teilaspekt historischer Wirklichkeiten

Sprache als Thema der Annales-Schule

Wie so oft, wenn es in den Geschichtswissenschaften der letzten Jahrzehnte interessant und innovativ zuging, waren Vertreterinnen und Vertreter der französischen Annales-Schule nicht weit. Der Paradigmenwechsel, wie ihn diese Gruppe vollzog, die sich um die 1929 gegründete Zeitschrift gleichen Namens formierte, kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Er bestand jedoch unter anderem in einer expliziten und konsequenten Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, wobei neben Geographie, Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaft und Ethnologie die Linguistik eine besondere Rolle spielte (Burke 1991: 7 f.; Middell 1994).

Annales-Schule:

Die Gruppe französischer Historikerinnen und Historiker, die nach der 1929 gegründeten Zeitschrift Annales benannt wurde, hat enormen Einfluss auf die Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts ausgeübt. Sie hat maßgeblich die Hinwendung zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte betrieben, die interdisziplinäre Zusammenarbeit forciert, quantifizierende Verfahren etabliert und die Bedeutung langfristiger Entwicklungen im historischen Prozess hervorgehoben. Bekannte Vertreter sind Marc Bloch (1886–1944), Lucien Febvre (1878–1956), Fernand Braudel (1902–1985), Georges Duby (1919–1996), Jacques Le Goff (*1924), Emmanuel Le Roy Ladurie (*1929), Roger Chartier (*1945).

|28|Die Bedeutung, welche die Annales-Historiographie dem Thema der Sprache zumisst, lässt sich am deutlichsten bei ihren Gründervätern Marc Bloch und Lucien Febvre erkennen. Bloch kommt es – sehr allgemein formuliert – darauf an, die Verbindungen zwischen Sprache und Gesellschaft in ihrer historischen Situiertheit aufzuzeigen, um damit die Schwierigkeiten einer reinen Wortgeschichte zu umgehen, die ihm als Selbstzweck erscheint. Denn getreu dem interdisziplinären Projekt, das die Annales-Schule sein wollte, ist es in seinen Augen keineswegs hinreichend, einen bestimmten Aspekt der Geschichte zu betrachten, ohne dessen Zusammenhänge mit anderen Phänomenen aufzuweisen. So wirft Bloch Etymologen vor, Abhängigkeiten mit Erklärungen zu verwechseln, wenn sie eine direkte Linie von der aktuellen Bedeutung eines Wortes zu seiner ältesten zögen. Demgegenüber kommt es ihm darauf an, das Wie und Warum sprachlicher Veränderungen zu erklären. Denn jedes Wort habe nicht nur seine Vergangenheit, sondern spiele auch eine ganz bestimmte Rolle innerhalb der Sprache. Diese Rolle würde nicht allein durch den jeweiligen Wortschatz, sondern ebenso durch die sozialen Verhältnisse festgelegt (Bloch 1992: 47).

Unter den drei Methodenpfeilern, auf denen Blochs Geschichtsschreibung ruht, der Komparatistik, der historischen Psychologie und der historischen Semantik, kommt Letzterer die Aufgabe zu, den Bedeutungswandel der Worte im Lauf der Zeit zu thematisieren (Raulff 1995: 250).