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Dieser Sammelband enthält zehn Kurzgeschichten, in denen der Schrecken ohne Vorwarnung in das Leben tritt. Sei es das Geschenk zum dreiundvierzigsten Geburtstag, das plötzlich das Leben zur Hölle macht, die unsichtbare Hand, die einen verfolgt oder der Hausschlüssel, der das Unheimliche heraufbeschwört. Der Schrecken lauert in den alltäglichen Dingen.
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Bild
Der Schuh
Das Mühlrad
Das Buch
Die Geldbörse
Das Geschenk
Der Weihwasserkessel
Die Hand
Der Schlüssel
Die Nachricht
Texte © Copyright 2018 by Ruth Herbst [email protected]
Bildmaterialien © Copyright by Ruth Herbst [email protected]
Alle Rechte vorbehalten
Roberto entdeckte das Bild, als er erschöpft durch den Nieselregen von der Arbeit nach Hause ging. Nach seiner jahrelangen Arbeit als Eisenleger auf unzähligen Baustellen spürte er den Verschleiss der kräfteraubenden Arbeit an seinem Körper. Sein Rücken schmerzte in letzter Zeit nicht nur beim Aufstehen, sondern den ganzen Tag. Die Knie liessen sich nicht mehr schmerzfrei beugen und seine Schultern durchzuckten bei bestimmten Bewegungen ein fürchterlicher Schmerz. Während der Arbeit konnte er die Schmerzen verdrängen. Doch jetzt auf dem Nachhauseweg, als sich sein Körper langsam entspannte, hatte er das Gefühl jeder Nerv seines Körpers läge frei. Um seinem Körper eine kurze Erholung zu gewähren, legte er einen Halt vor dem Antiquariat am Eckhaus zu seiner Strasse ein. Müde stand er vor dem Schaufenster und schaute blicklos hinein. Doch plötzlich wurde sein Blick von etwas angezogen, das direkt vor ihm stand. Es war ein Bild. Etwa fünfzig Zentimeter breit und vielleicht dreissig hoch. Das Bild zeigte einen Strand und dahinter das Meer, das wild aufschäumte. Auf dem Meer war ein kleines Boot, auf dem sich eine Person, soviel er erkennen konnte einen Mann, befand. Der Himmel war schiefergrau und am Horizont türmten sich grosse Wolkenberge auf. Roberto starrte wie gebannt auf das Bild. Er konnte das Rauschen des Meeres förmlich hören und er fühlte sich zurückversetzt in seine Zeit als Junge, als er jeweils seine Ferien mit der Familie am Meer verbracht hatte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er manchmal, wenn ein Unwetter aufzog an den Strand ging, um dem Tosen der wilden See zu lauschen. Nur mit Mühe konnte er sich vom Anblick des Bildes losreissen und machte sich dann endgültig auf den Heimweg. Als er in seine viel zu stille Wohnung eintrat, wurde ihm bewusst, wie einsam er seit dem Tode seiner Frau Lucia geworden war. Lucia war vor etwas mehr als zwei Jahren nach einer kurzen, schweren Krebserkrankung gestorben. Als sie starb, war er zuerst nur froh gewesen, dass sie von ihrem schweren Leiden erlöst worden war. Und dass er nicht mehr hilflos zusehen musste, wie sie litt. Während seine Frau bis zum Schluss gekämpft hatte, hatte er die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft irgendwann aufgegeben. Manchmal fühlte er sich deswegen schuldig. Hätte er sie mehr unterstützen sollen? Mehr positive Energie, wie sie das nannte, aussenden sollen? Doch neben der Arbeit war ihm nicht mehr viel Energie geblieben. Schon gar keine positive. Als die Beerdigung vorbei war, fühlte er, wie ein grosses schwarzes Loch ihn aufsaugte. Ihm fehlte für alles jegliche Motivation. Er hatte in dieser Zeit der endlosen Trauer keine Kraft, ihre Sachen wegzuräumen. Über ein Jahr blieb alles so, als würde sie jeden Moment wieder zurückkehren. Und irgendwie rechnete er auch noch fest damit. Wenn er die Wohnung betrat, rief er jedes Mal, „hallo Schatz, bin wieder zu Hause!“ So wie er es während den dreissig Jahren ihrer Ehe getan hatte. Da logischerweise darauf keine Antwort kam, setzte er sich dann an den Küchentisch und weinte bitterlich. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Doch irgendwann stellte er sich dem Schicksal. Er räumte ihre Kleider weg, renovierte die Wohnung und stellte die Möbel um. Aber trotzt allem blieb dieses Loch in seinem Leben. Er vernachlässigte seine Kollegen und ging nicht mehr in die Kirche. Er kam zum Schluss, der Liebe Gott sei doch nicht so lieb. Er hatte zwar seine Frau von ihrem schweren Leiden erlöst, ihr aber das Leiden ja auch erst gegeben. Ein Gott der sogar seinen eigenen Sohn in den Tod, wohlverstanden ein äusserst grausamer Tod, geschickt hatte, konnte doch nicht gütig sein. Als er nun die leere Wohnung betrat, überkam ihn wieder dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Er schenkte sich ein grosses Glas seines Chrüters ein und setzte sich damit an den Küchentisch. Früher hatte er unter der Woche nur zu ganz speziellen Anlässen Alkohol getrunken und an den Wochenenden ein oder zwei Gläser eines teuren Rotweines zum Essen, das seine Frau zubereitet hatte. Doch in letzter Zeit brauchte er immer mehr Alkohol. Um die Leere in seinem Inneren auszufüllen. Um die Schmerzen in seinem Körper zu dämpfen. Um die Gedanken an eine sinnlose Zukunft zu vertreiben. Lange sass er so an seinem Küchentisch und trank Schluck um Schluck von seinem Schnaps. Roberto konnte sich nicht aufraffen etwas zu essen, fernzusehen oder so etwas Selbstverständliches zu tun wie zu duschen. Er wusste, dass er eine unangenehme Körperausdünstung ausströmte, da er nur noch etwa einmal die Woche duschte. Seine Kleider wechselte er in etwa ebenso selten. Ihm erschien das im Moment alles so nebensächlich. Sei es nun die Wohnung zu putzen, zu waschen oder einzukaufen. Irgendwann, er hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr, wankte er ins Schlafzimmer, zog seine Kleider aus und fiel dann ins Bett, einem tiefen und traumlosen Schlaf entgegen. Am nächsten Tag erwachte er, wie an den meisten Tagen, mit hämmernden Schmerzen von Kopf bis Fuss. Er schleppte sich ins Bad, machte eine Katzenwäsche, suchte sich frische Unterwäsche heraus und schleppte sich dann zum Geschäft, um mit seinen Arbeitskollegen mit dem Firmenbus auf die Baustelle zu fahren. Da er ein jahrelanger Angestellter der Firma war, brauchte er weder den zu beladen noch ihn zu fahren. Er konnte nur einsteigen und mitfahren. Manchmal wusste er kaum noch, auf welcher Baustelle er eigentlich arbeitete. Es fiel immer noch leichter Nieselregen und nach einer Stunde war Roberto ganz durchfroren. Der Tag zog sich unsäglich in die Länge. Am Mittag sass er wie immer alleine vor der Baracke. Seine Kollegen mochten seinen Geruch während des Essens nicht ertragen und hatten ihn vor einiger Zeit mit den Worten, „wasch dich oder setz dich vor die Baracke“ davongeschickt. Seither ass er alleine. Meistens vergass er sowieso das Mittagessen mitzunehmen. So auch heute. Er verspürte jedoch auch keinen Hunger. Also trank er nur von seinem Wasser und hoffte, dass davon wenigstens das Hämmern im Kopf nachlassen würde. Als es endlich Feierabend war, packte er seine Sachen zusammen und setzte sich in den Bus. Zuhinterst, wo er immer alleine sass. Angekommen bei der Firma flachsten seine Arbeitskollegen noch miteinander herum. Ihn beachtete niemand und so schlich er wie alle anderen Tage einfach davon. Für seine Arbeitskollegen war er nur ein stinkender, alter Mann, der hoffentlich bald die Kündigung erhalten würde, damit sie ihn los wären. Es war Freitagabend und während alle Menschen um ihn herum scheinbar in Wochenendstimmung waren, sah er nur ein dunkles leeres Loch vor sich für die nächsten zwei Tage. Er war schon fast am Antiquariat vorbeigeschlurft, als ihn wieder das Bild im Schaufenster in seinen Bann zog. Er blieb stehen und sah es sich genauer an. Der Strand war leer. Und obwohl die See wild war, strahlte das Bild eine unglaubliche Ruhe aus. Plötzlich sah er sich selber am Strand sitzen. Er sass im Schneidersitz da und starrte hinaus auf das Boot und die Wellen, die immer wieder auf ihn zurollten und dann kurz vor ihm wieder zurückwichen. „Roberto“, hörte er über das Tosen der Wellen hinweg. „Roberto, komm rein, du wirst sonst noch ganz nass.“ Das war die Stimme seiner verstorbenen Mutter. Er hörte sie ganz deutlich. Dann wurde sie energischer, wie sie es immer geworden war, wenn er nicht gehorcht hatte. „Roberto, du Lümmel, willst du wohl sofort reinkommen! Oder willst du etwa, dass dich das Meer holt?“ Roberto sah nun, wie er selber im Bild aufstand und am Bildrand verschwand. Verwirrt rieb er sich die Augen. Was sah er nur für seltsame Szenen. Kopfschüttelnd drehte er sich um und machte sich auf das noch kurze Stück seines Heimweges. Zuhause hängte er seine feuchten Sachen auf und zog sich etwas, zwar Trockenes, aber nicht Sauberes an. Danach holte er sich wie jeden Abend sein Schnapsglas und den Chrüter und setzte sich damit an den Küchentisch. Während er vor sich hinstarrte, sah er plötzlich das Bild vor sich. Wieder hörte er das Tosen der Wellen. Er fühlte den noch von der Nachmittagssonne warmen Sand unter seinen Fusssohlen. Eine kühle Brise strich ihm durch das Haar. Erschrocken über die Realität dieser Szene zuckte Roberto auf. Fast hatte er das Gefühl, noch den Sand zwischen seinen Zehen zu spüren. Aber wahrscheinlich war das nur der Dreck, der sich im Laufe der Woche angesammelt hatte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn nicht mehr losliess. Morgen würde er zum Antiquariat gehen und sich das Bild nochmals genauer anschauen. Vielleicht würde er auch mal nach dem Preis fragen. Wahrscheinlich würde er es sich sowieso nicht leisten können, aber vielleicht könnte er den Preis noch ein bisschen drücken. Plötzlich erfüllte ihn eine seit langem nicht mehr gespürte Tatkraft. Wenn er um den Preis verhandeln wollte, musste er einen anständigen Eindruck hinterlassen. Und könnte er das Bild tatsächlich erwerben, müsste es in einer anständigen Umgebung aufgehängt werden. Das hätte dieses Bild verdient. Angeekelt schaute er auf das vor ihm stehende halbvolle Schnapsglas. Entschlossen stand er auf, packte die Flasche weg und leerte das Glas aus, bevor er es in die Abwaschmaschine stellte. Ein säuerlicher Gestank schwappte ihm entgegen und er liess sie sofort laufen. Dann packte er seine Schmutzwäsche und füllte die Waschmaschine, bevor er eine ausgiebige Dusche nahm und sich sorgfältig rasierte. Danach holte er sein schon etwas angestaubtes Putzmittel hervor und schrubbte die Wohnung von hinten bis vorne. Er staubte alles ab, staubsaugte, doch als ihm die Idee kam, auch noch die Fenster zu putzen, musste er sich stoppen. Das musste nun wirklich nicht mehr heute sein. Danach versorgte er die frisch gewaschene und getrocknete Wäsche. Das Bügeln liess er sein. Das hatte immer seine geliebte Lucia gemacht und war einfach nichts für ihn. Beim Gedanken an seine Frau, spürte er diesmal nicht diesen tiefen Schmerz. Nur einen kleinen Stich in der Herzgegend. Als er schlussendlich erschöpft in das frisch bezogene Bett fiel, fühlte er sich seit langem wieder einmal wie ein Mensch und nicht wie ein Zombie.
Am nächsten Morgen erwachte er früh und voller Elan. Hungrig wollte er sich ein Frühstück zubereiten, doch die Schränke waren leer. Also musste er zuerst einkaufen. Danach würde er zum Antiquariat gehen. Während des Einkaufs überlegte er genau, was er die nächste Woche über brauchen würde. Schlussendlich hatte er zwei Einkaufstaschen gefüllt. Nachdem er die Einkäufe verstaut und ausgiebig gefrühstückt hatte, machte er sich mit klopfendem Herzen auf den Weg. Wie viel würde er bereit sein auszugeben für dieses Bild? Vielleicht war es sogar unverkäuflich? Aber dann würde es sicher nicht im Schaufenster ausgestellt werden. Über all diese Gedanken war er beim Antiquariat angekommen und holte noch einmal tief Luft, bevor er das Geschäft betrat. Als er die Türe öffnete, bimmelte ein Glöckchen und Roberto fuhr erschrocken zusammen. Seine Nerven waren nun zum Zerreissen gespannt. Angestrengt blickte er in das düstere Innere, um zu erkennen, ob jemand im Laden war, doch er konnte keinen Menschen ausmachen. Aber der Laden war voller schöner und sonderlicher Ware. Während er sich umschaute, kam ihm der Gedanke, dass dies Lucia gefallen hätte. Eine fröhliche Stimme riss ihn aus seiner Starre. „Hallo und guten Tag“, begrüsste ihn ein kleiner dicklicher Mann mit einer Brille auf der Nase, über deren Rand hinweg er Roberto nun freundlich musterte. Roberto begrüsste ihn murmelnd. Plötzlich kam er sich hier so deplatziert vor. Er, der Eisenleger, hatte doch in diesem Raum voller teurer Antiquitäten nun wahrlich nichts verloren. „So, wie kann ich Ihnen helfen?“ wollte der Verkäufer, wahrscheinlich der Ladeninhaber, wissen, während er weiter auf Roberto zuging. Roberto druckste noch ein bisschen herum, während der Mann ihn aufmerksam und geduldig betrachtete. Doch dann rückte er mit der Sprache heraus. Er hatte ja nichts zu verlieren. Entweder würde er heute mit diesem Bild nach Hause gehen oder eben nicht. „Ich komme wegen des Bildes im Schaufenster“, begann Roberto. Bei diesen Worten veränderte sich der Ausdruck des Mannes. Zuerst war er erstaunt, dann wurde er starr und etwas Gehässiges blitzte dabei durch. Schlussendlich ging wieder ein Strahlen über sein Gesicht und er meinte beflissen, „ja, das ist ganz ein spezielles Stück. Ich habe es vor ein paar Wochen aus einem Nachlass erhalten. Der Herr, dem es gehört hatte, hatte es bereits bei mir gekauft. Nun ist es wieder zu mir zurückgekommen.“ Mit diesen Worten eilte er zum Schaufenster, öffnete eine Abdeckung und nahm dann das Bild zur Hand. Roberto schaute es fasziniert an. Er konnte sich kaum noch vorstellen, den Laden ohne dieses Stück zu verlassen. „So, dann wollen wir uns das mal genauer ansehen“, meinte nun der Ladeninhaber und stellte das Bild auf einen Holzstuhl in der Mitte des Raumes. Er sagte es gerade so, als hätte er selber das Bild noch gar nie richtig betrachtet. Nebeneinander standen sie vor dem Bild und schauten andächtig darauf. Roberto mit dem Rauschen des Meeres im Ohr, der Ladeninhaber mit einem verzückten Blick. Roberto getraute sich kaum noch zu fragen, was das gute Stück überhaupt kostete. Je länger er es betrachtete, desto sicherer war er sich, dass es ein Vermögen wert sein musste. „Und, was meinen sie?“ fragte nun der Ladeninhaber. „Entspricht das Bild immer noch ihren Vorstellungen?“ „Ja“, hauchte Roberto, zu etwas anderem war er nicht fähig. Und nun kam der Moment, den Roberto so sehr befürchtet hatte. „Dann wollen wir doch mal sehen, was denn der Preis ist“, meinte der Ladeninhaber und drehte es um. „Hmmm. Komisch.“ Dann war er wieder ruhig und Roberto hielt es kaum mehr aus. Wenn das Bild nicht einmal ein Preisschild hatte, würde es sicher ein Vermögen kosten. „Wo ist denn der verfluchte Preis?“ knurrte der Ladeninhaber und drehte das Bild auf alle Seiten. Roberto erwartete jeden Moment, dass das Wasser des Meeres in den Laden fluten würde. Doch es blieb alles an seinem Platz. „Wissen Sie was?“ wurde nun Roberto gefragt, als jede Suche nach einem Preisschild sinnlos schien. „Machen wir fünfzig.“ Roberto schaute ihn ganz entgeistert an, brachte jedoch kein Wort heraus. „Na gut, vierzig“, lenkte der Ladeninhaber, der das Schweigen von Roberto ganz falsch gedeutet hatte, nun ein. „Vierzig“, flüsterte Roberto. Er hatte mit tausenden von Franken gerechnet, aber sicher nicht mit fünfzig und schon gar nicht mit vierzig. „Ist Ihnen das zu viel?“ wollte nun der Ladeninhaber besorgt wissen. „Ich weiss, es ist kein bekannter Künstler. Ehrlich gesagt hat das Bild nur so einen Kringel unten am Bildrand. Kann also von irgendwem stammen. Habe diesen Kringel noch nie zuvor auf einem Bild gesehen. Aber Sie müssen bedenken, dass der Rahmen auch seinen Preis hat. Der ist sehr robust und das Bild sauber aufgezogen. Und sehen Sie sich mal die Aufhänger an. Die sind sehr praktisch und stabil.“ Roberto unterbrach den Redefluss und die Verkaufsargumente mit den Worten, „ganz klar, das Bild ist in einem sehr guten Zustand. Und vierzig ein sehr fairer Preis. Ich nehme es.“ Auf dem Gesicht des Ladeninhabers breitete sich wieder ein strahlendes Lächeln aus, doch wieder blitzte hinter dieser Fassade etwas Kaltes und Bösartiges auf. Roberto fiel dies jedoch gar nicht auf. Er war überglücklich. Er hatte dieses absolute Prachtstück zu einem absoluten Schnäppchenpreis bekommen. Er konnte es kaum fassen. Er hatte mit fast allem gerechnet, aber nicht damit, dass er das Bild für vierzig kaufen konnte. Während der Ladeninhaber das Bild sorgfältig in Seidenpapier einwickelte, zog Roberto zwei Zwanziger aus seinem Geldbeutel und legte diese auf den Tresen. Dann nahm er das Bild entgegen. Während der Ladeninhaber den Betrag in die Kasse eintippte und danach das Geld darin versorgte, meinte er, „dann wünsche ich Ihnen viel Freude mit diesem Bild. Und hoffentlich kommen Sie wieder einmal vorbei. Es kommen regelmässig neue Stücke herein. Und einige sind wirklich tolle Schnäppchen.“ „Ja, danke“, meinte darauf Roberto nur. Er glaubte nicht, dass er wieder einmal hierherkommen würde. Er hatte ja was er wollte. Der Ladeninhaber öffnete ihm noch die Türe und wünschte ihm ein schönes Wochenende. Dann stand Roberto vor dem Laden und in dem Moment bahnte sich die Sonne ihren Weg durch die Hochnebeldecke. Es kam ihm so vor, als würde nun alles gut werden. Schnell eilte Roberto zurück in seine Wohnung. Als er die saubere und aufgeräumte Wohnung betrat, fühlte er sich seit langem wieder einmal heimisch. Schnell zog er Schuhe und Jacke aus, nahm das Bild ins Wohnzimmer und packte es dort vorsichtig aus. Dann sah er sich im Wohnzimmer um. An der Wand gegenüber dem Sofa hing ein Druck mit Blumen. Ein Stillleben. Eigentlich furchtbar. Er war nur immer hier hängen geblieben, weil Roberto ihn schon bald nach dem Aufhängen gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Aber jetzt war Zeit für einen Wechsel. Genau hier wollte er das Bild nun aufhängen. Er nahm den Druck von der Wand, stellte ihn achtlos hin und hängte das Bild dann vorsichtig auf. Danach setzte er sich auf das Sofa, bemerkte dass das Bild leicht nach links hing, richtete es und setzte sich dann wieder hin. Zufrieden schaute er sich im Wohnzimmer um. Es war sauber und das Bild gab ihm eine ganz neue Note. Nach kurzer Betrachtung hörte er wieder das Meer rauschen. Dann sah er sich am Strand sitzen und auf die Wolkengebirge schauen. Er hörte die Stimme seiner Mutter und manchmal die seines Vaters. Er hörte sogar einmal seine kleine Schwester herumquengeln. Den ganzen Tag sass er auf dem Sofa und schwelgte in Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. An diese unbeschwerte Ferienzeit. Doch eigentlich war es noch viel mehr. Es waren nicht nur Erinnerungen. Nein, es war, als würde er tatsächlich dort leben. Als er gegen acht Uhr aus seiner Trance erwachte, war er erstaunt, dass es schon so spät war. Er verspürte einen enormen Hunger. In der Küche schaute er in die frisch gefüllten Schränke und machte sich dann die einfachste Variante eines Nachtessens, Pasta mit einer fertigen Pestosauce. Während er darauf wartete, das das Wasser kochte, fühlte er sich so zufrieden wie schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr. Es war nicht einfach nur Zufriedenheit, sondern diese absolut tiefe Zufriedenheit. Das Gefühl, eins mit sich zu sein. Sein Körper schmerzte nicht und diese Bedrücktheit, die in den letzten zwei Jahren immer sein Begleiter gewesen war, war verschwunden. Als die Pasta weichgekocht und die Pestosauce gewärmt war, setzte er sich mit einem gut gefüllten Teller an den Küchentisch. Das Verlangen nach Alkohol hatte er heute nicht. Ruhig und mit viel Genuss ass er seine Pasta. Danach stellte er den Teller und das Besteck in die Abwaschmaschine und spülte die Pfannen ab. Eigentlich wollte er sich bereits wieder auf das Sofa setzen, um das Bild zu betrachten, doch dann entschied er sich, vorher noch zu duschen. Frisch geduscht und in einem frisch gewaschenen Jogginganzug setzte er sich dann wieder hin und lauschte dem Rauschen des Meeres. Immer mehr versank er in seiner Kindheit. Er hörte nun den bösen Husten seiner Schwester, der ein dauernder Begleiter von ihr gewesen war. Das Keuchen in der Nacht, wenn sie hilflos nach Luft rang. Er hörte seinen Vater sagen, dass seine Schwester für eine Weile fort müsse. Zu einer Kur oder so etwas Ähnliches. Danach hatte er sie nie mehr gesehen. Manchmal hatte er sie vermisst, aber meistens war er froh, wurde sein Schlaf nicht mehr von dem ewigen Husten seiner Schwester unterbrochen. Dann ging er zur Schule. Dort wurde er gehänselt, weil er Ausländer war, sein Deutsch nicht sehr gut und er in der Schule meistens hinterherhinkte. Dafür war er im Sport sehr gut. Er liebte es Fussball zu spielen. Doch oft wurde er gar nicht in eine Mannschaft gewählt und war zum Beispiel Schiedsrichter. Dann hassten ihn alle, egal was er pfiff. Nun bekam auch sein Vater diesen hartnäckigen Husten und seine Nächte wurden wieder davon begleitet. In diesen schlaflosen Nächten wünschte er sich manchmal, auch sein Vater würde zur Kur gehen und dann nicht mehr nach Hause kommen. Seine Eltern stritten immer öfters, seine schulischen Leistungen wurden konstant schlechter. Er traf sich nun lieber mit seinen Ausländerkollegen, als nach Hause zu gehen und zu lernen. Sein Wunsch, einmal Polizist zu werden, war schon lange verblasst. Er lebte nur noch für die Wochenenden, für die nächste Party. Doch dann traf er sie. Sein Engel. Seine Göttin.
Obwohl Roberto sich nicht mehr daran erinnern konnte ins Bett gegangen zu sein, erwachte er am nächsten Morgen darin. Er fühlte sich ausgeruht und… glücklich. Ein seltsames Gefühl. Zuerst konnte er es gar nicht einordnen. Doch dann wurde ihm bewusst, dass diese absolute Zufriedenheit, wenn man keine Schmerzen, gar keinen Wunsch, keine Angst, nicht einmal ein Unbehagen verspürte, Glück war. Er lag mit geschlossenen Augen da, und hoffte, dass dieses Gefühl nie mehr weichen würde. Nach einer Weile stand er auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee herauszulassen. Mit der Tasse setzte er sich sogleich aufs Sofa, um einen Blick auf das Bild zu werfen. Es war noch da. Gott sei Dank! Und das meinte er ernst. Seit langem wieder einmal dankte er Gott, dass dieser ihm das Bild in sein Leben gebracht hatte. Daran glaubte Roberto nun fest. Es war Gottes Wille gewesen, dass er das Bild gesehen hatte, den Mut aufgebracht hatte das Antiquariat zu betreten und es zu einem absoluten Schnäppchenpreis erhalten hatte. Während er das Bild betrachtete, hörte er nach und nach wieder das Rauschen des Meeres. Und schon bald versank er wieder in seinen Erinnerungen.
Seine Göttin stand vor ihm. Nein, das stimmte nicht. Bei ihrer ersten Begegnung sass sie vor ihm. Da sein Deutsch einfach nicht besser wurde, verdonnerte ihn die Schule zu Nachhilfeunterricht. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Bock darauf. Welcher normale Mensch hätte schon Bock darauf, nach der Schule nochmals in die Schule zu gehen. Doch plötzlich wurde ihm bewusst, dass diese Sprachbarriere ihn auch daran hinderte, am täglichen Leben teilzunehmen. Meistens zog er sich zurück, wenn er eine Unterhaltung nicht verstand und trank dann lieber noch ein Bier. Oder zwei. Also ging er hin. Mit einer Scheisslaune und einer ebensolchen Einstellung. Doch dann sah er sie. Sie war die Nachhilfelehrerin. Die Schule hatte sich absichtlich für eine etwa gleichaltrige Schülerin entschieden, damit vielleicht das gegenseitige Verständnis grösser wäre. „Hallo zusammen“, begrüsste sie die drei Anwesenden Nachhilfeschüler. „Ich bin Lucia und für das nächste halbe Jahr eure Nachhilfelehrerin. Ich hoffe ich verplempere hier nicht meine Zeit mit euch, denn ich mache es, im Gegensatz zu euch, freiwillig. Also wenn ihr nur hier seit um den Unterricht zu stören oder eure Zeit abzusitzen, dann bitte raus hier.“ Dabei zeigte sie energisch auf die Türe. Roberto war von ihrer resoluten Art hin und weg. Dabei war sie eine sehr zierliche Person. Mit grossen dunklen Augen, schwarzen Haaren, die zu einem Bob geschnitten waren und einem für das kleine Gesicht viel zu grossen Mund, bei dem Mann immer das Gefühl hatte, sie würde lachen. Doch Mann irrte sich. Sie war eine strenge Lehrerin. Auf seine Avancen ging sie gar nicht ein. Trotzdem liess er nicht locker. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendeine andere Frau zu treffen, solange er mit Lucia zu tun hatte. Der Unterricht machte ihm dank Lucia erstaunlich viel Spass und sein Deutsch wurde von Woche zu Woche besser. Als im Sommer der Nachhilfeunterricht vorbei war, fühlte sich Roberto ausgelaugt und traurig. Er würde zwar mit seiner Familie in die Ferien ans Meer fahren, doch während dieser Zeit, und vielleicht noch viel länger, würde er Lucia nicht mehr sehen. Der Gedanke brach ihm das Herz. Das waren die schlimmsten Ferien, die er je erlebt hatte. Sein hustender Vater und seine nörgelnde Mutter konnten sich sein Verhalten nicht erklären. Doch dann kamen sie endlich wieder zurück.
Roberto schrak hoch. Als er auf die Uhr schaute, war es wieder bereits acht Uhr abends. Er konnte es nicht glauben, aber alle Uhren zeigten diese Zeit an. Da war er doch tatsächlich den ganzen Tag seinen Erinnerungen nachgehangen. Doch beklagen wollte er sich nicht. Wenn er sich dabei und nachher so glücklich fühlte, sollte es ihm recht sein. Diesmal machte er sich eine Fertigpizza und ass sie mit Genuss, obwohl sie wie Karton schmeckte. Danach stellte er sich unter die Dusche, bereitet Sandwiches für den nächsten Tag vor und packte sich auch einen Apfel ein. Obwohl es ihn wieder zum Sofa hinzog um das Bild zu betrachten, widerstand er dem Drang und legte sich ins Bett. Auch diese Nacht schlief er tief und traumlos und als ihn der Wecker weckte, fühlte er sich ausgeruht und bereit, die neue Woche in Angriff zu nehmen. Er frühstückte und machte sich dann auf den Weg zur Arbeit. Wie jeden Montagmorgen waren seine Arbeitskollegen eher wortkarg. Roberto war es recht. Was sollte er mit diesem jungen Gemüse denn reden? Ihnen erzählen, dass er sich ein Bild gekauft hatte, das ihn an seine Jungend erinnerte? Das würde die doch einen Dreck interessieren. Das Wetter war zwar besser, aber es war immer noch kalt. Doch Roberto machte das diesmal nichts aus. Am Mittag ass er seine Sandwiches vor der Baracke, wie immer. Er freute sich auf den Feierabend und darauf, einen Blick auf das Bild zu werfen. Als er am Abend müde nach Hause kam, stellte er sich als Erstes unter die Dusche und legte sich dann frische Kleider für den nächsten Tag bereit. Dann wärmte er sich die übriggebliebene Pasta auf und ass sie ruhig am Küchentisch. Erst danach setzte er sich aufs Sofa und schaute auf das Bild, bis er das Rauschen des Meeres hörte. Schon bald war er wieder in seinen Erinnerungen gefangen.
Als er von den Ferien zurückkam, dauerte es noch fast eine Woche, bis er wieder zur Schule durfte. Ja genau, er durfte. Er freute sich regelrecht darauf. Endlich sah er seine geliebte Lucia wieder. Doch die beachtete ihn kaum. Irgendwann nahm er allen Mut zusammen, und lud sie auf ein Eis in der Gelateria ein. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung, aber auch Überraschung, willigte sie ein. Ab diesem Tag waren sie unzertrennlich. Da sich seine Schulnoten trotzt den besseren Deutschkenntnissen nicht merklich verbessert hatten, fand er keine Lehrstelle. Also nahm er nach der Schule eine Stelle auf einer Baustelle an. Zuerst als Hilfsarbeiter, dann begann er mit dem Eisenlegen. Lucia hingegen hatte eine gute Lehrstelle in einem Büro gefunden. Kaum hatte sie die Lehre erfolgreich abgeschlossen, zogen sie in eine gemeinsame kleine Wohnung. Seine Eltern waren darüber nicht sehr glücklich. Er dagegen umso mehr. Drei Monate später verlobten sie sich und ein Jahr später folgte eine kleine Hochzeit. Für eine grosse reichte das Geld nicht. Trotzdem waren sie glücklich. Es gab für ihn genügend Arbeit auf dem Bau und Lucia hatte eine gute Stelle gefunden. Beide verdienten nicht schlecht, so dass sie nach einiger Zeit in eine grössere Wohnung mit einem zusätzlichen Zimmer ziehen konnten, in der Hoffnung, dass sie bald Eltern werden würden.
Roberto erwachte, als sein Wecker klingelte. Erstaunt schaute er sich um. Er lag tatsächlich in seinem Bett, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er da hingekommen war. Ein weiterer Tag ging vorbei und am Abend setzte er sich, nachdem er geduscht, Abendessen gekocht und sein Mittagessen für den nächsten Tag vorbereitet hatte, wieder auf das Sofa. Und wieder zog ihn das Bild in seine Vergangenheit.
Er sah sich, wie er mit Lucia und Freunden zusammen einen gemütlichen Abend verbrachte. Wie sie den Gottesdienst am Sonntag besuchten und wie sie ihr Leben lebten. Bei ihm wechselten die Baustellen, die Firma für die er arbeitete war immer die gleiche. Lucia wechselte ein paar Mal die Stelle, hoffte aber immer, dass sie bald ein Kind bekommen würden. Er erinnerte sich an sein Glücksgefühl, als sie ihm eines Abends mitteilte, sie sei schwanger. Und an seine Trauer, als sie ihm sagte, dass das Kind keinen Herzschlag mehr hatte. Zusammen trauerten sie um das kleine Wesen, das eigentlich ihr Leben hätte bereichern sollen. Doch sie waren noch jung und zuversichtlich, dass sich sicher bald alles zum Guten wenden würde. Immerhin waren sie nicht die ersten, und ganz bestimmt auch nicht die letzten, die ein Kindchen verloren. Doch dies geschah nun immer wieder. Die anfängliche Freude wechselte schon bald in dauernde Besorgnis, bis Lucia sich entschied, sich unterbinden zu lassen. Mutlos willigte Roberto diesem Vorschlag ein und stand ihr in dieser schwierigen Zeit bei. Er sass an ihrem Krankenhausbett und hielt ihre Hand, als sie tränenüberströmt darin lag. Für sie beide brach in dem Moment eine Welt zusammen.
Roberto erstaunte es nun nicht mehr, als er am nächsten Morgen in seinem Bett erwachte. Und am Tag danach. Und danach. Er arbeitete. Er kam am Abend nach Hause. Er machte manchmal etwas Haushalt oder kaufte ein, kochte sich Abendessen, liess den Alkohol weg, duschte und bereitete dann das Mittagessen für den nächsten Tag vor. Danach setzte er sich vor das Bild, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Doch seit er das tat, verspürte er keine Schmerzen mehr. Und keine Trauer. Ihm war es egal, wie seltsam das Ganze sein mochte, er war nur froh, sass er nicht mehr in diesem tiefen Loch fest. Und seine Erinnerungen taten ihm gut. Als würde er sein Leben nochmals leben.
Als Lucia nach der Operation wieder nach Hause kam, war das Leben zuerst hart. Sie ass nicht viel, mochte nicht ausgehen und konnte seine körperliche Nähe nicht mehr ertragen. Doch nach und nach legte sich das und sie beide führten wieder das Leben, das sie immer geführt hatten. Es verging einige Zeit, in der das Leben ruhig vor sich hin plätscherte. In dieser ruhigen Zeit wünschte sich Roberto manchmal, dass etwas Spannendes geschehen würde. Er wünschte sich, dass sein Leben nicht nur aus Aufstehen, Frühstücken, Arbeiten, Nachtessen, Fernsehen und manchmal Ausgang, bestehen würde. Doch sei vorsichtig, mit dem, was du dir wünschst. Bald darauf musste seine Mutter ins Spital. Sie war beim Putzen zusammengebrochen. Bald darauf starb sie an ihrem schwachen Herz. Sein ewig hustender Vater hingegen hielt noch ganze zehn Jahre länger durch. Bei ihm war dann der Tod nicht mehr überraschend. Doch Roberto wünschte sich nach dem Tode seiner Mutter nie mehr, dass sein Leben spannender sein müsste. Vielleicht deshalb hatte sein Vater noch so viel länger gelebt.
Roberto war erstaunt, als ihm eines Abends die Kollegen ein schönes Wochenende wünschten. War tatsächlich schon wieder Freitagabend? Wie konnte die Zeit nur so schnell vergangen sein? Ihm kam es vor, als wäre er soeben erst noch im Antiquariat gewesen, um das Bild zu kaufen. Und doch, wenn er sich genau überlegte, kam es ihm wie eine Ewigkeit vor. An diesem Abend machte er noch die Einkäufe fürs Wochenende. Danach putzte er die Wohnung und wusch seine Wäsche. Während der Tumbler lief, ging er zum Kebabstand eine Strasse weiter und gönnte sich einen Dürüm. Als er dann all seine Pflichten erledigt hatte, setzt er sich wieder aufs Sofa, um auf das Bild zu starren und dem Wellenrauschen zu lauschen.
Einige Zeit nachdem sein Vater gestorben war, klagte Lucia plötzlich über Bauschmerzen. Sie war keine wehleidige Person, und wenn sie sagte, etwas tue ihr weh, dann war es ernst. Sofort schlug er ihr vor, einen Arzt aufzusuchen. Doch sie winkte nur ab und meinte gequält lächelnd, das gehe schon wieder vorbei. Doch es ging nicht vorbei. Im Gegenteil. Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Roberto wurde nun zum ersten Mal in ihrer langen Ehe richtig laut. Wenn sie nicht sofort zu einem Arzt gehen würde, würde er sie höchstpersönlich da hinschleppen. Da Lucia keine Kraft mehr hatte sich zu wehren, liess sie sich von ihm hinfahren. Als die Diagnose Bauspeicheldrüsenkrebs und noch eine Lebenserwartung von etwa einem Jahr kam, war er zuerst nur wütend. Wütend, weil sie nicht früher auf ihn gehört hatte. Wütend, weil sie den Arztbesuch so lange hinausgezögert hatte. Doch schnell wurde ihm bewusst, dass Lucia einen wütenden Ehemann jetzt nicht brauchen konnte. Also tat er alles, um ihr zu helfen und das Leben leichter zu machen. Manchmal hatte er das Gefühl, er würde mehr leiden als sie selber. Denn sie hatte den Schmerz und er hatte nichts. Er konnte nur hilflos daneben stehen und gar nichts für seine Liebste tun. Am Schluss, als sie im Spital war, siechte sie nur noch vor sich hin. Jeden Tag betete er nun für ihren Tod. Denn eine Rettung würde es keine mehr geben. Doch er schwor Gott, dass er ihn danach nie mehr um irgendetwas bitten oder danken würde.
Roberto erwachte mit tränennassen Wangen. Natürlich lag er wieder in seinem Bett, ohne Ahnung, wie er hineingekommen war. An diesem Samstag kam die Trauer zurück. Lange blieb er in seinem Bett liegen. Es fühlte sich an, als hätte er Steine in sich, die ihn auf dem Bett festhalten würden. Während er so dalag, kam ihm plötzlich sein Bild in den Sinn. Er würde das Bild betrachten müssen, dann würde es ihm wieder besser gehen. Nein, nicht besser, sondern gut. Er würde wieder glücklich sein. Schnell sprang er aus dem Bett, und ohne sich um ein Frühstück oder Körperhygiene zu kümmern, setzte er sich aufs Sofa und starrte auf das Bild, bis er das Wellenrauschen hörte.
Am dem Tag an dem seine geliebte Lucia starb, schien die Sonne von einem wolkenlosen Herbsthimmel. Es war ein perfekter Tag. Doch für Roberto war es der schlimmste Tag seines Lebens. Als er das Zimmer von Lucia an diesem Morgen betrat, lag sie röchelnd in ihrem Bett. Sie war schneeweiss im Gesicht und auf der Stirn hatte sie kleine Schweissperlen. „Ich kann nicht mehr“, hauchte sie ihm zu, kaum hatte er sich zu ihr gesetzt. Was hätte er darauf antworten können? Natürlich kannst du noch! Was für eine überhebliche Antwort von jemandem, der kerngesund neben einem sass. Keine Angst, es geht nicht mehr lange! Als ob er froh wäre, wenn sie endlich das zeitliche Segnen würde. Also sagte er das, was er nie hätte sagen dürfen. „Was kann ich denn für dich tun, damit es etwas leichter ist?“ „Beende es“, flüsterte sie flehentlich. „Bitte, beende es.“ „Aber das kann ich nicht“, schrie er sie fast an. Er dachte daran, wie er Gott immer wieder angefleht hatte, Lucia von ihrem Schmerz und Leiden zu erlösen. Aber nicht einmal das hatte er fertig gebracht. Und nun sollte er, Roberto, Gott spielen? „Bitte, tue es.“ Nun keuchte sie und eine Träne lief über ihre Wange. Ihr früher so klarer Blick aus ihren dunklen Augen war nun verschwommen. Waren es die Drogen? Oder die Schmerzen? Roberto wusste es nicht, aber er sah das Leiden darin. Das war seine Frau, die er sein Leben lang geliebt hatte. Sollte er nun mit seiner grenzenlosen Liebe ihr das Leben nehmen? Aber was gab ihm das Recht dazu? Nur weil sie es wünschte? Nur weil sie es fast schon verlangte? Nur weil er sie liebte? Lucia sagte nun nichts mehr und lag mit geschlossenen Augen da. Plötzlich wünschte sich Roberto von ganzem Herzen, dass sie genau in diesem Moment sterben würde. Dass Gott seine Gebete doch noch erhört hatte. Doch nach einer Weile öffnete sie wieder die Augen und schaute ihn nun direkt und sehr klar an. „Tu es, Roberto“, befahl sie ihm mit erstaunlich kräftiger Stimme. „Aber wie?“ stotterte er, überrascht über ihren Ausbruch. Er war kein Arzt und hatte keine Ahnung, was man abschalten musste, damit ein Mensch starb. Aber wahrscheinlich hielten auch gar nicht diese Maschinen Lucia am Leben, sondern das Leben selbst. „Nimm das Kissen“, meinte nun Lucia und zeigte auf das Nebenbett, auf dem ein sauberes, weisses, hübsch aufgeschütteltes Kissen lag. Roberto schüttelte nur den Kopf. Er konnte seiner Frau nicht ein Kissen auf das Gesicht drücken, während sie darunter ersticken würde. Vielleicht würde sie sich wehren. Sehr wahrscheinlich würde sie sich wehren. Kein Körper würde ein Abschneiden der Sauerstoffzufuhr einfach so hinnehmen. Dann würde sie sich wehren, er würde das Kissen wieder wegnehmen, sie würde ihn anflehen, es endlich zu tun, und das ganze Horrorszenario würde wieder von vorne beginnen. „Erhöhe zuerst noch ein bisschen die Morphiumzufuhr. Dann werde ich schläfrig und du kannst es dann tun.“ „Aber mein Schatz, ich kann dich nicht umbringen. Und ich will dich nicht gehen lassen.“ Da fauchte sie ihn wutentbrannt an, „sei nicht so ein verdammter Egoist. Ich liege hier seit Monaten und sieche vor mich hin, während du deiner Arbeit nachgehst. Du kommst am Abend vorbei, gehst dann aber wieder zurück in die Wohnung um zu schlafen. Du hast nicht rund um die Uhr diese schrecklichen Schmerzen. Du stellst dir nicht rund um die Uhr vor, wie der Tod wohl sein wird. Du hast nicht rund um die Uhr diese Hoffnungslosigkeit in dir.“ Erschrocken schaute er sie an. Doch, er hatte auch Angst. Angst dass sie gehen würde. Dass er alleine zurückbleiben würde. Dass er ein Leben vor sich haben würde, ganz ohne sie. Doch das alles sagte er nicht. Sie hatte Recht. Er war ein verdammter Egoist. Bevor er es sich anders überlegen konnte stand er auf, packte er das Kissen und drückte es ihr auf das Gesicht. Dass er eigentlich zuerst die Morphiumzufuhr hätte erhöhen müssen, damit sie schläfrig würde, kam ihm erst in den Sinn, als sie verzweifelt unter ihm zuckte. Doch er liess nicht mehr los. Plötzlich spürte er einen kühlen Luftzug, als hätte der Tod seinen Atemhauch über sie gebracht. Dann wurde Lucia ruhiger, bis sie sich schliesslich nicht mehr bewegte. Schwer atmend hob nun Roberto das Kissen vom Gesicht seiner Frau und sah ihre im Tode festgehaltenen gequälten Züge. Er schüttelte das Kissen wieder auf und legte es dann auf das Nebenbett, als wäre es nicht gerade eben eine Mordwaffe gewesen. Dann lief er schnell aus dem Zimmer und rief mit schluchzender Stimme nach der Schwester.
Roberto schrak hoch und schaute sich panisch um. Er sass in seinem Wohnzimmer, das Bild vor sich. Erneut erschüttert über seine Tat vergrub er den Kopf in seinen Händen und begann haltlos zu weinen. „Bitte, Lucia, vergib mir“, schluchzte er und hoffte, dass Lucia, wo immer sie sein möge, ihn hören würde. Verzweifelt schaute er auf und starrte wieder auf das Bild, um auch noch die restlichen Erinnerungen zu erleben. Als er wieder das Rauschen hörte, wusste er, dass er nun zum tragischen Schluss dieser Liebesgeschichte kommen würde.
Diesmal entsprach das Wetter voll und ganz seinen Gefühlen. An der Beerdigung von Lucia goss es wie aus Kübeln. Da Lucia bis zu ihrem Ende eine gläubige Katholikin gewesen war, war es ihr Wunsch gewesen, dass es einen feierlichen Abschiedsgottesdienst für sie geben würde. Vor ihrem Tode, als es ihr noch besser gegangen war, hatte sie alles organisiert, bis zum letzten Orgelton. Roberto war sehr dankbar darüber, er hätte die Kraft dazu nicht gehabt. Nun sass er in der vordersten Kirchenbank, umgeben von ein paar wenigen Freunden, und hörte den Worten des Pfarrers nicht zu. Er sass da, presste die Hände aneinander und versuchte alles auszublenden. Genau in diesem Moment schuf er sich das Loch, das ihn die nächsten zwei Jahre durch sein Leben begleiten sollte. Das einzige was ihn während des Gottesdienstes zur Trauer zurückkehren liess, war die Orgelmusik. Die konnte er nicht verdrängen. Während des Ganges zum Friedhof schwieg er. Als er dann am offenen Grab stand und sah, wie der Sarg von Lucia im strömenden Regen in das Loch in der Erde versank, konnte er seine Fassung nicht mehr halten. Weinend brach er zusammen.
Plötzlich stand er am Strand. Er hörte das Rauschen der Wellen, sah die dunklen Wolken, die sich am Horizont auftürmten und fühlte den von der Nachmittagssonne noch warmen Sand unter seinen Fusssohlen. Der auffrischende Wind zerrte an seinen Haaren und Kleider. Da hörte er aus der Ferne eine Stimme, die ihn rief. „Roberto!“ rief die Stimme und als er den Kopf drehte, sah er eine Gestalt, die auf ihn zulief. Es war eine Frau. Die dunklen Haare flatterten wie eine Fahne hinter ihr her. Sie trug ein weisses Sommerkleid. Sie war ebenfalls barfuss. „Lucia?“ flüsterte Roberto ungläubig und beobachtete wie die Gestalt sich ihm näherte. „Lucia!“ schrie er, als er erkannte, dass sie es tatsächlich war. Dann rannte auch er los. Sie rannten aufeinander zu und fielen sich dann voller Glückseligkeit in die Arme. „Meine allerliebste Lucia“, schluchzte Roberto und küsste sie auf die Stirne. Sie schaute ihn mit ihren dunklen grossen Augen an. „Roberto, ich bin so glücklich, dass du endlich gekommen bist. Ich habe dich so vermisst.“ Er betrachtete sie genauer und sah, dass sie nun wieder ihre vollen, rosigen Wangen hatten. Dass ihr Körper so war, wie zu ihren besten Zeiten. Nun nahm sie sanft seine Hand. „Komm mein Schatz, gehen wir bevor wir nass werden. Da zieht ein heftiger Sturm auf.“ Und dann gingen sie Hand in Hand den Strand entlang davon.
Einen Monat später:
Müde schlurfte sie nach Hause. Wieder lag ein langes, ödes, Wochenende vor ihr. Seit sich ihre Tochter vor ein paar Monaten umgebracht hatte, war ihr Leben so leer geworden. So viele Fragen verfolgten sie seitdem. Da half auch der Abschiedsbrief nichts. Im Gegenteil. Wenn eine siebzehnjährige schrieb, dass sie keinen Sinn mehr im Leben sah, war das unverständlich. Mit siebzehn war ihr selbst das Leben wie ein grosses, unendliches Abenteuer vorgekommen. Sie wusste schon damals, dass nicht immer alles glatt laufen würde, aber das war nun mal das Leben. Es gab Höhen und Tiefen. Aber jetzt war sie im tiefsten Loch, das sie sich je hatte vorstellen können. Und sie war ganz alleine. Ihr Ex-Mann und Vater ihrer Tochter hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, bei der Abdankungsfeier dabei zu sein. Dieser Dreckskerl! Im Nachhinein war sie jedoch froh, hatte sie diese Made an diesem Tag nicht sehen müssen. Ganz in ihre traurigen Gedanken versunken, hatte sie das Antiquariat an der Ecke schon fast passiert, als sie aus den Augenwinkeln etwas wahrnahm, das ihren Blick anzog. Schnell machte sie einen Schritt zurück und schaute in das Schaufenster. Dort stand ein Bild. Ein Bild, das sie an ihre Kindheit erinnerte. Es zeigte ein Haus, das demjenigen, in dem sie aufgewachsen war, sehr glich. Das Haus stand verborgen hinter grossen Bäumen. Zwischen den Bäumen stand eine Schaukel. Davor sah sie eine Blumenwiese mit saftigem Gras. Sie konnte förmlich die Bienen summen hören und die Kinderschreie, wenn sie an den schönen Sommertagen im Freien spielten. Das einzige Störende an dem Bild war ein älterer Mann mit schütterem Haar, vom Typ her Südländer, der mit einem scheinbar gequälten Ausdruck aus dem Dachfenster schaute. Es sah fast so aus, als würde er Schreien. Trotzt dieses kleinen Makels hatte das Bild eine tröstliche Wirkung auf sie. Es schien ihr so, als würde sie zurückversetzt in ihre Kindheit, die so sorglos und frei von seelischem Schmerzen gewesen war. Verträumt stand sie davor und konnte sich von dem Anblick kaum losreissen. Plötzlich jedoch bemerkte sie, wie kalt ihr war und sie machte sich eiligst auf den Heimweg. Doch das Bild liess sie den ganzen Abend nicht mehr los. Seit ihre Tochter gestorben war, spürte sie zum ersten Mal nicht mehr diesen dumpfen Schmerz. Plötzlich fasste sie den Entschluss, am nächsten Tag das Antiquariat aufzusuchen. Direkt nach der Arbeit würde sie hingehen. In dieser Nacht schlief sie seit langem wieder einmal ohne Hilfe von Tabletten tief und traumlos. Der nächste Tag verging wie im Fluge. Ihre Gedanken drehten sich immer wieder um das Bild. Sie musste es einfach haben! Hoffentlich war es nicht zu teuer. Aber sie war sich sicher, sie würde eine Menge ausgeben, um es ihr Eigen nennen zu können. Kaum hatte sie Feierabend eilte sie so schnell sie konnte zum Antiquariat. Hoffentlich hatte es nicht spezielle Öffnungszeiten und bereits geschlossen! Hoffentlich war das Bild noch da! Hoffentlich war es nicht zu teuer! Doch als sie zum Geschäft kam, waren all ihre Zweifel unbegründet gewesen. Das Bild stand immer noch im Schaufenster, das Geschäft war noch geöffnet. Schnell betrat sie den warmen Laden. Ein Bimmeln an der Türe kündigte ihr Eintreten an. Etwas unsicher schaute sie in das düstere Innere des Ladens und fühlte sich plötzlich verunsichert. Was hatte sie hier eigentlich zu suchen? Sie, eine einfach Angestellte zwischen all den sicher teuren Antiquitäten. Doch dann trat ein kleiner dicklicher Mann aus einer Hintertüre und begrüsste sie fröhlich. „Hallo und guten Tag! Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte er, während er näher zu ihr hinkam. „Ähm“, meinte sie verunsichert, nahm dann aber all ihren Mut zusammen und fing nochmals von vorne an. „Also, ich komme wegen des Bildes im Schaufenster.“ Bei diesen Worten veränderte sich der Ausdruck des Mannes. Zuerst war er erstaunt, dann wurde er starr und etwas Gehässiges blitzte dabei durch. Schlussendlich ging wieder ein Strahlen über sein Gesicht und er meinte beflissen, „ja, das ist ganz ein spezielles Stück. Ich habe es vor ein paar Wochen aus einem Nachlass erhalten. Der Herr, dem es gehört hatte, hatte es bereits bei mir gekauft. Nun ist es wieder zu mir zurückgekommen.“ Mit diesen Worten eilte er zum Schaufenster, öffnete eine Abdeckung und nahm dann das Bild zur Hand.
Kichernd und lachend liefen sie zu dritt nebeneinander mitten auf dem Gehweg. Es war ein herrlicher Samstag im Mai und ideal um zu flanieren. Die Temperaturen waren um die zwanzig Grad und die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Tatjana, Joy und Alex genossen diesen Tag in vollen Zügen. Heute Abend würde im Ausgang die Post abgehen, doch zuerst wollten sie noch die passenden Ausgehklamotten shoppen. Die drei jungen Frauen waren total überdreht. Sie hatten sich in den Armen eingehängt und rempelten rücksichtlos die Mitpassanten an. Ein älterer Herr beschwerte sich, „passt doch auf! Ihr braucht doch nicht den ganzen Gehweg.“ Doch Joy erwiderte frech, „ach halt doch den Rand Opi.“ Die anderen zwei kicherten nur. Doch als der ältere Herr meinte, „also die Jugend von heute, unglaublich. Einfach keinen Respekt mehr“, rief ihm Tatjana hinterher, „tja Alter, deine Zeit ist halt abgelaufen. Tick tack.“ Diesem Spruch folgte wieder ein allgemeines Kichern der drei Mädels. Als sie weitergingen und an drei Jungs vorbeikamen, die sie unverfroren anstarrten, meinte diesmal Alex, „was würdet ihr wohl geben um mit Frauen wie uns mal auszugehen? Aber sorry, Loser, wir stehen auf Männer und nicht halbe Portionen wie ihr seid.“ Dann drehte sie sich einmal um die eigene Achse, wackelte mit ihrem wohlgeformten Hintern und streckte ihnen herausfordernd die Brüste entgegen, die fast aus dem tiefen Ausschnitt fielen. „Nun komm schon“, forderte Joy sie auf und riss Alex ungeduldig am Arm. „Die haben doch schon einen Ständer. Am Schluss werden wir sie nicht mehr los.“ Dabei fiel Joy gar nicht auf, dass die Jungs sich bereits wieder ihren Themen zugewandt hatten und weiter angeregt diskutierten. Diese Mädels waren auf jeden Fall hübsch anzuschauen, aber für ihren Geschmack viel zu überdreht und viel zu selbstbewusst. Als sie an einem Juweliergeschäft vorbeikamen, blieb Tatjana vor der Auslage stehen. „Wow, seht euch nur diesen Klunker an“, rief sie Alex und Joy hinterher, welche sich nun umwandten und wieder zurückkamen. Bewundernd starrten sie auf einen Fingerring mit einem grossen funkelnden Stein, der mit 25‘000.00 angeschrieben war. „Da müsste ich mir nur einen reichen Knacker anlachen und schon hätte ich diesen Ring. Wetten?“ prahlte Tatjana und sah in dem Moment bereits ein potentielles Opfer entgegenkommen. Es war ein junger Mann in Anzug, der eine Aktentasche trug und in Eile schien. „Na, hübscher Mann, wie wäre es mit uns zwei?“ fragte sie ihn verführerisch, während sie sich ihm in den Weg stellte. Der Mann schien mit seinen Gedanken weit weg gewesen zu sein, denn er schaute Tatjana nun überrascht an. „Was? Wie? Sorry, ich bin in Eile, was hast du gemeint?“ „Ich sagte, wir zwei würden gut zusammen passen. Die zwei finden das auch.“ Dabei fasste sie sich an die Brüste. Der junge Mann schaute sie einen Moment perplex an. War diese Frau eine Nutte, verrückt, oder einfach nur hemmungslos? Er wusste es nicht, wollte es auch nicht herausfinden, schüttelte deshalb nur den Kopf und wollte um sie herum weitergehen. Doch mit einem erstaunlich schnellen Schritt zur Seite verstellte Tatjana ihm den Weg. „Nun komm schon, sei doch nicht so schüchtern. Ich würde es dir echt gut besorgen. Aber meine Fresse, wahrscheinlich bist du einer von der verklemmten Sorte. Also tschüss“, meinte sie, als sie merkte, dass der Mann null Interesse an ihr hatte. Kaum hatte sie ihm den Weg freigegeben, hastete dieser nun erleichtert weiter, doch Tatjana rief ihm noch hinterher, „wahrscheinlich hättest du auch gar keinen hochgekriegt, du Schlappschwanz!“ Weiter ging es nun Richtung Einkaufspassage. Dass die anderen Passanten über sie nur den Kopf schütteln konnten, war ihnen egal. Sie waren jung, sie waren hübsch und ihnen gehörte die Welt, weil ihnen die Zukunft gehörte. In der Einkaufspassage gingen sie als Erstes in ein Kleidergeschäft mit Kleidern für Twens. Kurz, knapp, sexy und günstig waren die. Sie stürmten regelrecht den Laden, rissen jede Menge Kleider hervor, hielten sie sich vor den Körper, kicherten und warfen die Kleider, die bereits beim Hinhalten schrecklich aussahen, achtlos zurück. „Leben die in einem Saustall?“ fragte eine junge Kundin ihre Kollegin kopfschüttelnd, als sie das Verhalten der drei beobachtete. Doch als ihr Joy einen wütenden Blick zuwarf, verliessen die zwei Frau rasch das Geschäft. Heute war ein zu schöner Tag, um mit irgendwelchen Zimtziegen einen Streit anzufangen. Als die drei schlussendlich die Arme voller Kleider hatten, machten sie sich auf den Weg zu den Kabinen. Sie probierten Stück für Stück, belegten noch eine zusätzliche Kabine mit den Kleidungsstücken, die sie eventuell kaufen würden, obwohl bereits Kundschaft vor den Kabinen anstehen musste und liessen sich alle Zeit der Welt. Nach einer halben Ewigkeit waren sie endlich fertig mit der Anprobe, packten die Kleider, welche sie nehmen würden und liessen die anderen in den Kabinen zurück. Sofort kam eine Verkäuferin auf sie zu. „Ihr könnte die Kleider nicht einfach in der Kabine zurücklassen. Es gibt extra einen Ständer um sie aufzuhängen“, dabei zeigte sie auf den Kleiderständer im vorderen Bereich der Kabinen. „Hey, mach dich locker“, meinte Alex, „du wirst doch für irgendetwas bezahlt. Und wir machen sicher nicht deinen Job. Bye bye.“ Die drei winkten der Verkäuferin zu und gingen dann zur Kasse. Da die Schlange vor der Kasse lang war und sie null Bock auf anstehen hatten, versuchten sie sich vorzudrängen. Doch diesmal hatten sie nicht die Rechnung mit den Kundinnen gemacht. „Hei, hintenanstellen!“ fauchte eine hübsche Blondine. „Na Tussi, heute noch keinen abgekriegt?“ fragte Alex frech zurück. Der Blondine war es zu blöd, um auf solch einen minderbemittelten Spruch einzugehen und ignorierte die drei Frauen. Als die merkten, dass sie sich wirklich nicht vordrängeln konnten, stellten sie sich schön brav an das Ende der Schlange. Sie benahmen sich jedoch weiterhin derart kindisch, dass alle froh waren, als die drei endlich bezahlt und den Laden verlassen hatten. Der weitere Weg führte sie nun in das grosse Einkaufszentrum. Dort probierten sie Ohrstecker an, bis ihnen eine Verkäuferin sagen musste, dass das so nicht gehen würde. Natürlich reagierten sie wieder beleidigend und Joy liess die Ohrstecker, welche sie probiert hatte, einfach in den Ohren. Die Verkäuferin war so baff über das respektlose Verhalten der drei jungen Frauen, dass sie es gar nicht bemerkte. Joy meinte jedoch vor dem Geschäft stolz, in dem sie ihre langen braunen Haare hinter die Ohren strich, „na was sagt ihr dazu?“ Die anderen zwei stiessen spitze Schreie aus und konnten es nicht fassen, dass sie diese Ohrstecker einfach so hatte mitlaufen lassen. Sie waren zwar respektlos und sehr frech, doch geklaut hatten sie bis jetzt noch nie etwas. Nun tat sich ihnen eine ganz neue Welt auf. Das war DER neue Nervenkitzel, den sie sofort ausprobieren wollten. Ihr Testobjekt war die nächstgelegene Parfümerie. Während Joy und Tatjana rumalberten, probierte Alex ein Parfum ums andere aus. Die Verkäuferin, abgelenkt vom schrägen Verhalten ihrer zwei Kolleginnen, bemerkte nicht, dass während dem Alex ein noch fast volles Musterfläschchen einsteckte. Vor dem Geschäft zeigte sie den anderen stolz ihre Beute. „Geil!“ meinte Tatjana. „Das machen wir jetzt öfters. Aber ich brauche dringend noch Schuhe für heute Abend. Irgendwelche heissen Stiefeln oder Pumps oder so. Vielleicht kann ich dort auch etwas mitlaufen lassen“, fügte sie noch übermütig hinzu. Gemeinsam verliessen sie das Einkaufszentrum und gingen weiter die Einkaufspassage entlang. Kurz vor dem Schuhgeschäft sass eine alte Frau auf dem Boden, die bettelte. Wahrscheinlich sah sie älter aus, als sie tatsächlich war. Ihr Gesicht war runzlig und verlebt, die Haare schlohweiss, schulterlang und fettig und ihre Kleidung breitete sich sackförmig um ihren Körper aus. „Bitte“, sagte sie mit heiserer Stimme und hielt eine Schale hin, in der sich ein paar Geldstücke befanden. Tatjana blieb nun vor ihr stehen, die Hände in ihre schmalen Hüfte gestemmt. „Damit du etwas von mir bekommst, müsstest du schon etwas machen, du Schmarotzerin“, herrschte sie die Bettlerin wütend an. „Los tanz für mich, schwing deine rostigen Hüften“, dabei kreiste Tatjana verführerisch mit den Hüften, um zu zeigen, was sie von der alten Frau erwarten würde. Diese sah sie nur wort- und verständnislos an. Nach einer letzten Drehung um die eigene Achse hörte Tatjana mit dem Hüftewackeln auf und öffnete langsam ihre Handtasche um ihre Geldbörse herauszuholen.