Diskretes Christentum - Kristian Fechtner - E-Book

Diskretes Christentum E-Book

Kristian Fechtner

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Beschreibung

Kann man sich seines Glaubens schämen?

In Zeiten, in denen die Prägekraft der Kirchen abnimmt, verschwindet Glaube nicht einfach, aber er wird unscheinbarer und zeigt sich nicht ohne Weiteres, sondern verbirgt und schützt sich in den Grenzen der Scham. So braucht es einen genauen Blick, um wahrzunehmen, wie heute innerhalb der kirchlichen Praxis Religion »diskret« gelebt wird und Bedeutung gewinnt. Welche Hinweise für eine religionssensible Gestalt kirchlichen Handelns lassen sich gewinnen, wenn das Phänomen Scham ernst-genommen wird? Entlang dieser Frage gelingt es Kristian Fechtner, neue Orientierungen für Gottesdienst und Seelsorge, Religionspädagogik und Pfarramt zu geben.

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Kristian Fechtner

Diskretes

Christentum

Religion

und Scham

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

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Das Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-11419-0V002

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

1. Einstimmung: Erkundungen in der Gegenwart

1.1 Wie sich Menschen in ihrer Scham verfangen − Literarische Spuren

1.2 Die Scham ist vorbei? − Zeitgeschichtliche Verortung

1.3 Verschämtes Christentum? – Kirchliche Konturen

2. Gefühlstheoretische Horizonte

2.1 Gefühle im Kontext religiöser Praxis

2.2 Zum Phänomen der Scham

3. Biblisch-theologische Betrachtungen

3.1 »... und schämten sich nicht.« − Paradies und Sündenfall (Genesis 2–3)

3.2 Jesuanische Praxis zwischen Achtung und Beschämung – Begegnungen mit Zachäus (Lukas 19) und der Ehebrecherin (Johannes 8)

3.3 »... nicht zuschanden werden« (Römer 10) – Das Kreuz als Schandmal und Gnadenbild

3.4 »... lasse das Angesicht leuchten über dir« – Der Aaronitische Segen als heilsamer Umgang mit Scham

4. Praktisch-theologische Handlungsfelder

4.1 Gottesdienst

a) Gottesdienstliches Erleben

b) Nähe, Distanz und Beteiligung

c) Gebet

d) Predigt

e) Abendmahl

4.2 Kasualpraxis

a) Bestattung

b) Taufe

c) Konfirmation

d) Kirchliche Trauung

4.3 Seelsorge

a) Scham im seelsorglichen Kontext wahrnehmen

b) Seelsorgliche Herausforderungen und Perspektiven

c) Leiblichkeit in der Seelsorge

4.4 Religionspädagogik

a) Die schulische Lernform von Religion

b) »Sei bloß ehrlich« – »Du sollst nicht beschämen« Pädagogische Grenzfälle

c) Religionsunterricht und Identitätsbildung

5. Diskretes Christentum

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Das vorliegende Buch hat eine längere Geschichte, das Thema »Scham und Religion« beschäftigt mich schon über viele Jahre. Lange wenig beachtet, hat das Phänomen der Scham in jüngster Zeit breite Aufmerksamkeit gefunden, die Publikationen der vergangenen Jahre sind kaum mehr zu zählen. Innerhalb der Theologie jedoch und im Zusammenhang mit religiöser Praxis finden sich bislang erst hier und da einzelne Beiträge. Als Gefühlsempfindung ist Scham vielschichtig; sie ist lesend, nachdenkend und schreibend nicht ohne Weiteres »in den Griff« zu bekommen. Vermutlich hat es auch damit zu tun, dass, wer sich auf das Thema einlässt, immer auch affiziert wird von dem, was er oder sie reflektierend zu erkunden sucht. Als es zwischendrin stockte, hat mich ein beiläufiges Wort meines Hamburger Kollegenfreundes Hans-Martin Gutmann motiviert: »Ab einem gewissen Alter soll man nur die Bücher schreiben, die man schreiben will.« Dies sollte man dann aber auch tun, und so ist das Buch zu seinem Abschluss gekommen.

Bei der Entstehung haben mich viele Gespräche motiviert und vorangebracht: im Anschluss an Vorträge, mit Pfarrerinnen und Pfarrern im Rahmen von Kollegs und Fortbildungen, in der Mainzer praktisch-theologischen Sozietät, ebenso Hinweise von Kolleginnen und Kollegen aus Nachbardisziplinen. Allen, die daran beteiligt waren, danke ich persönlich. Auch und insbesondere dafür, dass ich an pastoralen Erfahrungen anderer teilhaben und sie mit aufnehmen konnte. Christian Mulia danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskriptes, ebenso Jana Mitreuter und Frederik Ebling für zuverlässige Unterstützung. Dank gilt auch Diedrich Steen vom Gütersloher Verlag, der auf freundlich-beharrliche Weise dafür Sorge getragen hat, dass aus den ersten Gedanken eine Publikation geworden ist. Und ich weiß zu schätzen und bin dankbar, dass Freundinnen und Freunde und die Menschen, mit denen ich Leben teile, mir auch dann Aufmerksamkeit geschenkt haben, wenn ich nur noch ins Manuskript und in mein Thema vertieft war.

Das Buch ist von der Ahnung angestoßen, dass Scham ein Lebensmoment von Religion ist. Und es folgt der Annahme, dass ein diskretes Christentum Ausdruck einer »kommoden Religion« ist, die auch und gerade in ihrer schamwahrenden Gestalt lebens- und glaubensdienlich sein kann. Eine Einsicht hat mich bei meinem Unternehmen begleitet, eine Verheißung hat mich beruhigt:

Von Theodor W. Adorno habe ich gelernt: »Woran einer glaubt, könnte einer, der die Naivität verlor, kaum ohne Scham (...) sagen.« Das ist wohl wahr.

Im Hebräerbrief findet sich die Zusage, dass »Gott sich derjenigen nicht schämt«, die nach einer »besseren, himmlischen Heimat streben« (Heb 11,16). Ich lese die Verheißung so, dass sie auch denjenigen gilt, die sich je auf ihre Weise bemühen, im christlichen Glauben heimisch zu werden.

Mainz/Frankfurt, im März 2015

Kristian Fechtner

1. Einstimmung: Erkundungen in der Gegenwart

1.1 Wie sich Menschen in ihrer Scham verfangen − Literarische Spuren

Gut bedacht und vorbereitet war die Sitzung, die ich gemeinsam mit meinem systematisch-theologischen Kollegen im Rahmen eines Seminars angeboten habe: »Schuld und Vergebung«, damit haben wir uns ein Semester beschäftigt, es ging theologisch ins Zentrum. Ich hatte die Studierenden angehalten, begleitend zur Lehrveranstaltung einen Roman zu lesen, und zwar Bernhard Schlinks »Der Vorleser«1. Mittlerweile ist das Buch schon zu einem Klassiker avanciert. Der Roman eignet sich vorzüglich zur praktisch-theologischen Lektüre zum Thema »Schuld«, es sollte um individuelle Schuld sowie deren Bewertung gehen und um die Frage, wie Menschen persönlich Schuld wahrnehmen und sich biographisch zu ihr verhalten. Ich erinnere, was erzählt wird:

Zwei sehr ungleiche Lebensgeschichten berühren sich − ihre Geschichte beginnt Ende der 1950er-Jahre im Nachkriegsdeutschland − und sie bleiben ein halbes Leben lang verknüpft und ineinander verhangen; in intimer Nähe zunächst und dann auch auf getrennten Wegen. Der fünfzehnjährige Michael aus gutbürgerlichem Haus begegnet der mehr als doppelt so alten Hanna, einer Straßenbahnschaffnerin. In ihrer Küche und ihrem Bett erwächst eine heimliche Liebesgeschichte. Das »Jungchen«, wie sie ihn immer nennt, auch später noch, wird zu ihrem Vorleser, intim-vertraute Lesestündchen. Alles andere ihres Lebens bleibt ihm verschlossen. Eines Tages ist Hanna aus der Stadt verschwunden. Jahre später begegnet ihr der Jurastudent Michael wieder, im Gerichtssaal, als Angeklagte in einem KZ-Prozess. Sie steht in der Verantwortung für den Mord an Frauen und Kindern, die Schuldfrage im Strafprozess hängt an einem Bericht, den eine der Aufseherinnen – Hanna ist eine von ihnen gewesen – während eines Gefangenentransportes verfasst hatte. Der Marsch hatte die Frauen und Kinder in den Tod geführt, eingesperrt in eine brennende Kirche. Die Kirchentüren waren versperrt geblieben, wie ein nachträglicher Bericht im fatalen Gehorsam notiert. »Ich gebe zu, dass ich den Bericht geschrieben habe« (124), bekennt Hanna. Michael weiß es besser oder vielleicht richtiger: Er weiß es anders. Hanna kann gar nicht lesen und schreiben, das wird ihm jetzt klar. Als SS-Aufseherin ist sie schuldig geworden; hier aber übernimmt sie Schuld, um zu verbergen, dass sie Analphabetin ist. Als Prozessbeobachter greift Michael, mit sich selbst im Konflikt, nicht ein, Hanna wird verurteilt. Und der Roman erzählt dann weiter, wie die beiden Lebensgeschichten über viele Jahre miteinander verwoben bleiben. Ich will dies hier nicht weiterverfolgen.

Die Seminarsitzung ist fehlgeschlagen. Jedenfalls sind die Studierenden auf die intendierte Schuldthematik gar nicht eingestiegen. Stattdessen gab ein Halbsatz aus der Erzählung das Stichwort vor, um das sich dann die ganze Stunde dreht: »... − stell dir einfach vor, dass der Angeklagte sich schämt.« (133) Aus dieser Aufforderung an die Leserin und den Leser eröffnet sich, so kam im Gespräch zutage, ein weites semantisches Feld von Schamgefühlen im ganzen Roman: Es ist die Rede von beschämendem Versagen, von Scheu, von Verlegenheit, vom Geheimnis, das gewahrt oder preisgegeben wird, von Bloßstellung und vielem mehr. In der ganz anders geplanten Debatte wurde deutlich: Offenbar wirkt das Thema »Scham« stärker als das Thema »Schuld«. Als eines der »starken Gefühle«2 affiziert es unwillkürlich, weil es Empfindungen aufruft, die allen unangenehm vertraut sind und die sofort vergegenwärtigt werden. Im Roman tauchen Scham und Schamgefühle auf beiden Seiten auf: bei Hanna wie bei Michael. Im Blickpunkt steht zunächst das Scham verbergende Geständnis Hannas, in dem sie sich preisgibt, um ihren Makel zu verbergen. Diese Dialektik von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen greife ich später noch einmal auf. Zugleich und vielleicht noch dichter für den Leser grundiert die Scham die Gefühlswelt des Ich-Erzählers Michael. Sie bestimmt ihn biographisch gleich in mehrfacher Weise: Als Scham angesichts einer verbotenen Liebe des Halbwüchsigen zu einer Frau, die er weder verraten noch bewahren kann, und als Scham, doch eben beides zu tun; als Scham, Hanna als Erwachsener nicht beistehen zu können und zu wollen, ohne sie zu beschämen. Und darin selbst beschämt zu sein.

Bernhard Schlinks Roman gibt erste Hinweise zum Phänomen der Scham: Möglicherweise ist Scham das am meisten unterschätzte Gefühl, es gehört jedenfalls zu den stärksten Empfindungen von Menschen.3 Nicht zufällig dürfte es hier im Kontext von Schuld auftauchen, ist aber seinem Charakter nach davon unterschieden. Und schließlich erscheint Scham als ein vielschichtiger, geradezu hochkomplexer Affekt. Scham birgt etwas Widerstreitendes in sich. Ihr Wesen ist nicht ohne Weiteres auszumachen. Und Scham kann sich gleichsam selbst verstärken und potenzieren bis dahin, dass wir uns sogar für unsere Scham schämen können.

Am Rande eines Werkstattgesprächs, das sich mit Emotionen in der Gegenwartsliteratur beschäftigt, picke ich einen Hinweis auf Italo Calvinos »Herr Palomar«4 auf, eine Folge kleiner biographischer Szenen und Reflexionen. Hier geht es um Gefühlsminiaturen, Alltagsbegebenheiten werden geschildert und Herr Palomar geht den Empfindungen nach, die sie bei ihm auslösen. Eine Sequenz berührt unser Thema:

In einer der Kurzerzählungen, »Der nackte Busen«5 überschrieben, macht Herr Palomar einen Spaziergang an einem einsamen Strand. Noch in einiger Entfernung entdeckt er eine junge Frau, die sich offenbar mit nacktem Busen sonnt. Herr Palomar ist nicht prüde, wohl aber ein »diskreter Zeitgenosse« (14). So entscheidet er sich, als er an ihr vorbeigeht, die Augen strikt nach vorne zu richten und jeden Seitenblick auf sie zu vermeiden. Aber weil er, als er schon an ihr vorüber ist, der Tatsache gewahr wird, dass sein ostentatives Wegsehen im Grunde verrät, wie er sich in Gedanken mit ihrer Nacktheit beschäftigt, erscheint es ihm hinterrücks gerade als ein »indiskretes und rückständiges Verhalten« (15). So macht er auf den Fuß kehrt und geht noch ein zweites Mal in Gegenrichtung an ihr vorüber, nun allerdings so, dass er im Augenwinkel den nackten Busen unwillkürlich streift. Aber im Nachgang fühlt er sich auch damit unwohl. Ist dies nicht ein ignoranter Blick, der nicht weg- und doch nicht hinschaut? So macht er wiederum kehrt und schlendert ein drittes Mal an der sich Sonnenden entlang; nun mit einem erkennbaren Stocken, als er sie passiert, und mit einem betont unaufdringlichen Blick auf den nackten Busen. Aber auch damit ist er, kaum ein paar Schritte vorbei, ganz und gar nicht eins. Was, wenn sein scheinbar prüfender Blick, der sich jeder Wertung enthalten hat, als Geringschätzung erlebt worden ist? Als wäre das, was er gesehen hat, unansehnlich und nicht – wie er es im Augenblick durchaus empfunden hat – wohlgefällig? Nun weiß er, wie es gehen soll. So wendet er sich ein viertes Mal um mit der Absicht, entschlossenen Schrittes an ihr vorüberzugehen und mit besonderer Aufmerksamkeit und anerkennendem Blick auf dem Busen zu verweilen. »Doch kaum naht er sich ihr von neuem, springt sie auf, wirft sich rasch etwas über, schnaubt und eilt mit verärgertem Achselzucken davon« (17). Herr Palomar bleibt als jemand zurück, der er gerade nicht sein wollte: als zudringlicher Störenfried.

Wie peinlich! Die kleine Erzählung führt uns in andere Schamgefilde, hier geht es nicht um ein existenzielles Lebensthema wie in Bernhard Schlinks Roman bei Hanna und Michael; Herr Palomar erlebt (und erzeugt) auf einem Spazierweg eine Situation der Peinlichkeit. Diese mag vorübergehender Natur sein, nimmt aber gleichwohl Besitz von denen, die ihr ausgesetzt sind, und prägt ihr Erleben. Die Empfindungen, die damit einhergehen, gehören zu Schamgefühlen, so dass auch diese Lektüre verschiedene Aspekte der Emotion zu erkennen gibt: Es ist hier Nacktheit, die Scham hervorruft. Nicht nur die konventionell geschlechtsspezifische Konstellation der Szene – Herr Palomar und die junge Frau – aber verrät, dass Nacktheit nicht etwas vermeintlich Natürliches darstellt; sie ist vielmehr eine Form kultureller Praxis. Dies gilt ebenso für die Scham, die sie auslöst und durch die sie erst ihre Bedeutung bekommt. Kulturell gesehen ist das Bekleidetsein das Erste, der nackte Busen hingegen ein entblößter. Er bedarf, wenn er nicht mehr bedeckt ist, eines Scham schützenden Blickes, der einen »zivilen Respekt vor der unsichtbaren Grenze« (14) einer anderen Person wahrt, wie Palomar vermerkt. Im Hin und Her von Wegsehen und Anschauen wird deutlich, dass Scham eine Sache des Blickes ist und aus einem sozialen Geschehen erwächst, einem Blickkontakt. Es geht um das Sehen, das Gesehenwerden und Sich-Zeigen bis hin – dies gilt hier für beide − zur Selbstwahrnehmung in den Augen des anderen.

Ein drittes literarisches Beispiel nennt schon im Titel, was die Scham zu verbergen trachtet: »Der menschliche Makel«. Der Roman von Philip Roth6 erzählt − immer wieder sind Rückblenden eingeschaltet − die späten Lebensjahre von Coleman Silk, Professor an einer amerikanischen Universität. In Reaktion auf eine »beschämende Demütigung« (28) kämpft der aus dem akademischen Dienst Ausgeschiedene um seinen Ruf und seine Würde, er findet Lebenskraft in einer sozial unstatthaften Liebesaffäre. Beides ist verwoben mit einem biographischen Geheimnis, das sich erst nach dem Tod Colemans und dessen Beerdigung entbirgt.

Wegen einer vermeintlich abfälligen Bemerkung über zwei afroamerikanische Studenten wird der Literaturprofessor Coleman Silk, lange Jahre Dekan der Fakultät, des Rassismus bezichtigt und universitär unter Druck gesetzt. Die »ungerechte Erniedrigung« (96) bringt ihn dazu, vorzeitig in den Ruhestand zu treten; es ist, als habe man ihm »seiner Würde beraubt« (98). Der Vorwurf trifft Silk in besonderer Weise, weil er sein Lebensgeheimnis berührt: Er ist – verborgen durch seine helle Haut – selbst Afroamerikaner; ein Geheimnis, das er nicht nur an der Universität, sondern auch gegenüber seiner eigenen Frau bis zuletzt gehütet hat. Nach deren Tod stürzt sich der nun schon über Siebzigjährige in eine sexuell exzessive Liebesbeziehung mit der sehr viel jüngeren Faunia Farley, einer Putzfrau an seinem früheren College, deren Leben von Kindheit an durch Gewalterfahrungen gezeichnet ist. Ihre Existenz am unteren sozialen Rand der Gesellschaft − auf ihre Weise sind sie beide gesellschaftliche Außenseiter (geworden) − erscheint wie eine selbstauferlegte Buße für den Tod ihrer Kinder, an dem sie sich selbst Schuld zuschreibt; sie gibt sich sogar als Analphabetin aus, die sie gar nicht ist. Beide, Coleman Silk und Faunia Farley, sterben schließlich einen durch ihren Ex-Ehemann verursachten Unfalltod. Bei seiner Beerdigung wird Silk im Blick auf seine vermeintlich rassistischen Äußerungen öffentlich rehabilitiert; jedoch so, dass der Kollege, der ihm wie alle anderen Unrecht getan hat, ihm stellvertretend für das College wieder seine »moralische Integrität« (345) zuspricht, ohne »sein Gesicht zu verlieren« (346). Doch die Wahrheit über die falsche Anschuldigung verdeckt auch noch bei der Beerdigung das biographische Geheimnis. Dieses wird erst ans Licht der Öffentlichkeit kommen, als der ihm freundschaftlich verbundene Schriftsteller Nathan Zuckerman – er entdeckt es selbst erst, als er nachträglich auf Colemans Herkunftsfamilie stößt – über dessen Leben ein Buch schreiben wird: »Der menschliche Makel«.

Der Roman von Philip Roth erzählt eine Geschichte von Scham, Beschämung und Selbstbeschämung. Auch hier werden wieder Facetten unseres Themas sichtbar. Wie es ist, sich gedemütigt zu fühlen, indem man sozial an den Pranger gestellt wird. Coleman Silk wird öffentlich beschämt und gerät in Schande, er wird in seiner Integrität, mithin als Person, verletzt. Beschämung ist ein sozialer Akt, der sich nicht nur auf eine Handlung – hier eine Äußerung – bezieht, sondern der ganzen Person gilt: »Es ist nicht so, dass man einmal etwas falsch gemacht hat.« (256) Vielmehr wird man »entlarvt« als das, was man »schon immer gewesen ist« (ebd.). Zugleich wird das, was einem von anderen zugefügt wird, zur Selbstempfindung; soziale Scham schreibt sich dem Selbstwertgefühl ein. Das kann, wie bei Faunia, bis hin zur Selbstbeschämung führen. Das Buch erzählt aber auch, dass Scham etwas mit Lebensgeheimnissen zu tun hat und dass sich beide wechselseitig hervorbringen. In diesem Spannungsfeld erscheint die Lebensgeschichte Coleman Silks, wie im Übrigen auch diejenige anderer Figuren des Romans, eine Lebenserzählung, in der sich seine »wirkliche Identität« (118) zeigt und zugleich verbirgt.

Es mag mit diesen drei kleinen literarischen Erkundungsgängen genug sein. Die Erzählungen literarisieren und konkretisieren auf je eigene Weise ganz unterschiedliche Facetten von Scham und Schamgefühlen, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Aber immer wird deutlich, wie Scham entsteht, Menschen situativ in Besitz nimmt und manchmal ein Leben lang prägt. Die Eindrücke und ersten Hinweise werden später wieder aufgegriffen und sollen dann vertieft werden. Zunächst aber wechsle ich in ein anderes Terrain der Gegenwartskultur, ins Fernsehen.

1.2 Die Scham ist vorbei? − Zeitgeschichtliche Verortung

In den vergangenen Jahren haben Bücher und Zeitungsartikel über das Phänomen der Scham, lange wenig beachtet, regelrecht Konjunktur; zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint Scham geradezu als Gefühlssignatur der spätmodernen Kultur. In der öffentlichen Wahrnehmung hängt dies vermutlich gerade mit der verbreiteten kulturkritischen Diagnose zusammen, die einen fortschreitenden »Schamverlust« und eine medial forcierte »Schamlosigkeit« in der Gegenwart erkennt. Im Blick auf die Nachmittagsprogramme der privaten Fernsehsender konnte ein bürgerlicher Kommentar nicht ohne ein gewisses Schaudern schon vor fünfzehn Jahren notieren:

»Ich bin dabei gewesen, als Rosi, Heinz und Doris ihr Innerstes nach außen gekehrt haben: allesamt freiwillig, vor Publikum und mit aller Leidenschaft. Von Rosi weiß ich nun, dass sie ein heimliches Liebesverhältnis mit dem Freund ihrer Tochter hat, von Heinz, dass er am liebsten und wann immer er Zeit hat die Privatgespräche seiner Nachbarn belauscht. Für Doris ist ihr Doppelkinn ein körperlicher Makel und sie hat viel Geld ausgegeben, das sie nicht besitzt, um die Verunstaltung operativ loszuwerden. An einem x-beliebigen Tag unter der Woche mittags und nachmittags Fernsehen zu schauen, ist für den, der damit nicht vertraut ist, ein Erlebnis ganz eigener Art. Nahezu flächendeckend auf den – hier im wahrsten Sinne des Wortes – privaten Fernsehkanälen konfrontieren Menschen sich und die Zuschauer/innen öffentlich mit ihren intimsten Vorlieben und persönlichsten Nöten. Eine Talkrunde löst die vorangehende ab und immer geht es um Details von Beziehungskonflikten und Familiengeschichten, um höchst private Lebensgewohnheiten und häufig genug um sexuelle Erfahrungen und Vorstellungen. Worüber sonst und anderswo nicht gesprochen wird, hier ist es Thema: in der Ich-Form mitgeteilt als persönliches Bekenntnis und als Zeugnis individueller Lebensgeschichte, breit auserzählt und ohne Scheu, gesellschaftliche Tabus zu brechen. Dabei wird nicht nur über alles geredet, was ehedem als privates Geheimnis gehütet wurde, sondern es wird veröffentlicht, indem es regelrecht inszeniert wird: Gerade noch hat die betrogene Ehefrau über ihren Mann geschimpft, da betritt dieser im nächsten Augenblick das Studio, von der Geliebten begleitet, die sich als die beste Freundin der Ehefrau entpuppt. Der Zwist wird an Ort und Stelle ausgetragen. Das Studiopublikum, repräsentative Öffentlichkeit und unterstützende Gemeinschaft, applaudiert dem Mut, sich preiszugeben, zischt und wispert, wenn einer zu selbstgerecht daher kommt, engagiert sich pro und contra. Die Moderatorin, Seelenführerin und Konfliktmanagerin, hält die Beteiligten im Gespräch und leitet, wenn es zu sehr ins Sachliche abgleitet, wieder zu dem zurück, worum es geht: sich selbst mitzuteilen.«7

Mittlerweile hat sich das Reality-TV noch weiter ausdifferenziert: neben die Daily Talks sind Dokusoaps, Gerichtsshows u.v.m. getreten – allesamt Formate, in denen Menschen etwas von sich zeigen, was ehedem schamhaft verschwiegen, jedenfalls kaum öffentlich gemacht worden wäre. Demgegenüber lautet die Botschaft all dieser Sendungen: »Du sollst dich nicht schämen (müssen)!« Insofern erscheint es durchaus plausibel, wenn das Fernsehen als Beleg dafür dient, dass die Scham heute immer mehr schwindet. Allerdings hat der ironisierende Tonfall, mit dem – wie oben – das Gezeigte gerne beschrieben wird, selbst daran seinen Anteil: Süffisant stellt er diejenigen noch einmal bloß, die sich selbst bloßstellen. Als wären da nicht auch, verborgen im Drang sich darzustellen, verletztes Gefühl, Not mit der eigenen Lebensgeschichte und nicht selten hart errungenes Selbstwertgefühl, das auch zu dem steht, was andere an einem nicht gutheißen. Wenn dies stimmt, dann bewegt man sich hier keineswegs in einer schamfreien Zone.

ENDE DER LESEPROBE