Disney – City of Villains 2: Dunkle Gefahren - Estelle Laure - E-Book
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Disney – City of Villains 2: Dunkle Gefahren E-Book

Estelle Laure

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Beschreibung

In dieser Fortsetzung von "City of Villains" versucht die Teenager-Detektivin Mary Elizabeth weiterhin, eine dunkle Verschwörung aufzudecken, die ihre beste Freundin und ihren Freund in schurkische Monster verwandelt hat. Mary gräbt tiefer in der dunklen Schattenseite von Monarch City und in der Geschichte der Magie und deckt eine Verschwörungstheorie auf, die weiter reicht, als sie es sich je hätte vorstellen können. Doch eine durch Politik und Ideologien gespaltene Stadt, eine neue Liebe und ihre eigenen inneren Dämonen könnten ihr im Weg stehen …

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LETZTE WOCHE VOR DREIZEHN JAHREN

(EINEN TAG VOR DEM TOD DER MAGIE)

PROLOG

Desire Avenue liegt da wie ausgestorben, niemand ist auf den Straßen, sämtliche Geschäfte sind geschlossen und verrammelt. Schwarz-Weiß-Fotos von James, Ursula und Mally wurden hastig über die Schaufenster geklebt und warnen alle, dass die Schurken verschwunden sind, niemand weiß, wo sie sich aufhalten, und dass jeglicher Hinweis auf sie sofort zu melden ist.

Für weitere Informationen oder um uns alles mitzuteilen, was Sie wissen, nutzen Sie den Hashtag #fearthevillains oder schreiben Sie eine SMS an 332277.

Schlamm ziert die Gehwege, Überbleibsel des letzten unerwarteten Sturms. In der Scar ist jeder Sturm unerwartet. Laut der Nachrichten hat es hier seit Beginn der Wetteraufzeichnungen nicht mehr als einen sanften Regen gegeben. Das war alles, was nach dem Großen Tod vor dreizehn Jahren noch von der Magie übrig geblieben war. Welche Ironie, dass die Magie zurückgekehrt und der Himmel seitdem grau und verhangen ist. Ich kämpfe mit meiner Tüte voller Einkäufe, und das Baguette, das ich meiner Tante Gia mitgebracht habe, verschafft mir eine gewisse Deckung, als ich auf der Straße an einem Legacy-Pärchen vorbeikomme, beladen mit fünf riesigen Packungen Klopapier. Sie mustern mich im Vorbeigehen mit einem wachsamen Blick, aber ich glaube nicht, dass sie mich erkannt haben.

„Legacy Loyalty“, sage ich.

„Loyalty for life“, erwidern sie.

Ich habe das Apartment endlich wieder verlassen, nachdem ich zwei Tage darin gefangen saß, zwei Tage, während deren die Reporter auf meiner Türschwelle ausgeharrt und auf ein Lebenszeichen von mir gelauert haben, in der Hoffnung, einen Blick auf die Freundin von James Bartholomew zu erhaschen und ein Statement von mir zu bekommen, da sie James nicht ausfindig machen können. Doch dann, heute, die gnädige Erlösung. Caleb Rothco, aka der Verrückte Hutmacher, wurde in den Wäldern außerhalb der Stadt aufgespürt, wegen Terrorismus und Verschwörung zum Sturz der Regierung festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Das reicht zwar nicht aus, um den Fokus gänzlich von der Schlacht am Miracle Lake und der Rückkehr der Magie abzulenken, aber es reicht allemal, um die Reporter von meiner Türschwelle zu vertreiben und sie zurück in die Midcity zur Pressekonferenz schwärmen zu lassen.

Zwei Tage sind vergangen, seit sich alles verändert hat, seit mir mein Leben ohne Vorwarnung entrissen und alles auf den Kopf gestellt wurde. Zwei Tage, seit ich meinem Freund mit einer Axt die Hand abgeschlagen habe, um sein Leben zu retten, zwei Tage, seit meine beste Freundin Ursula zusammen mit James und der boshaften Mally Saint verschwunden ist und seit die falsche Magie in der Schlacht zum ersten Mal ihr Gesicht gezeigt hat.

Ich hätte mit ihnen gehen können, aber ich habe mich für Legacy entschieden, für die heruntergekommenen Straßen der Scar und die Möglichkeit, einen Weg zu finden, wie ich ihnen von hier draußen helfen kann. Ich weiß noch nicht, wie genau, aber das ist es, was ich tun werde.

EINS

Der Park rund um Miracle Lake ist wie verwandelt. Legacies, jene, die einer ehemals magischen Blutlinie entstammen und das Zeichen der Saat am Handgelenk tragen, sind überall. In Satinmänteln, Lederjacken, bedeckt mit Pailletten und silber- und goldfarbenen Perlen, herausgeputzt in hochhackigen Stiefeln und mit bunten Haaren. Sie haben sich sogar mit Decken und Liegestühlen auf den Ausläufern des Parks breitgemacht, geradezu, als wären sie gekommen, um eine Parade zu sehen, ein Spiel, ein Spektakel, eine unterhaltsame Ablenkung an einem Sonntagnachmittag. Sie haben Snacks mitgebracht und unterhalten sich angeregt, während ich mich zwischen ihnen hindurchschlängele und mir schließlich einen guten Platz suche, weit genug am Rand, aber nicht so weit, dass es auffällt. Wolken türmen sich drohend über den Köpfen der Menge auf, der Himmel wie Lehm, ständig in Bewegung.

Der Wind bläst mir die Haare aus dem Gesicht, und ich ziehe meine Kapuze tiefer in die Stirn und sehe mich verstohlen um, will sichergehen, dass niemand aus der Menge mich erkannt hat.

Eine dumpfe Melodie ertönt aus Richtung der Bühne, und wir alle blicken auf. #FEARTHEVILLAINS erstrahlt wie ein Feuerwerk auf den drei gigantischen Bildschirmen, untermalt von weiteren, unerträglichen, aufmerksamkeitsheischenden Tönen. Und dann ist da Mally, zum Ende der Schlacht, als sie verzweifelt versuchte zu entkommen und sich in einen Drachen verwandelt hatte, der eine Schneise durch die Scar schnitt und Feuerstöße auf die Polizisten niederregnen ließ, die ihn vom Himmel zu schießen versuchten.

Die Menge ist näher zusammengerückt, verstummt, manche mit Tränen in den Augen, andere mit weit aufgerissenen Mündern, sprachlos.

Früher gab es Magie in der Scar. Aber inzwischen ist es dreizehn Jahre her, dass die Magie gestorben ist, und selbst als sie noch munter und lebendig war, handelte es sich eher um die Feen-erfüllen-Wünsche-Art von Magie und nicht um die Sorte Drachen-spucken-Feuer-auf-dich. Zu sehen, wie Mally sich durch die Lüfte schwingt, ihren mächtigen Schwanz hinter sich her schwingend, reicht aus, um die Menge verstummen zu lassen. Niemand hat jemals etwas Vergleichbares gesehen, und ja, ja, es ist ein Wunder.

Die Zuschauer drängen sich dichter aneinander und sehen mit an, wie Gebäude in Flammen aufgehen und Polizisten auseinanderstieben, um in Deckung zu gehen.

Die Legacies um mich herum haben Angst, und vielleicht sollten sie das auch.

Jetzt ragt Ursula über der Stadt auf, riesige, schleimige Tentakel schlängeln sich in alle Himmelsrichtungen. Ihre gelben Augen strahlen wie Scheinwerfer auf die Straßen herab, während sie nach allem ausholt, was sie erreichen kann. Sie richtet nicht sonderlich viel Schaden an, aber ich glaube nicht, dass das irgendjemandem hier auffällt. Und sie ist wirklich monströs, ein echter Kaiju.

Und dann, als die Szene zu der Tür vom Wonderland wechselt, der Bar, in der ich so viel Zeit verbracht habe, weiß ich, was als Nächstes kommt, und auf einen Schlag sind meine Lungen leer, zerquetscht. Ich beiße die Zähne zusammen, und ich warte.

Die Töne von Clubmusik wabern hinaus auf die Straße. Leute strömen in Gruppen vorbei, sie tragen Kostüme, gedenken des Tods der Magie, ehren unsere Familien und alles, was wir verloren haben, wie wir es jedes Jahr tun.

„Wir sind im Wonderland! Wir sind tatsächlich in der Scar!“, kreischt ein Mädchen entzückt, dann sagt sie: „Komm ins Bild! Wir brauchen einen Beweis.“

Ein anderes Mädchen schlurft ins Blickfeld, richtet ihre Frisur, gerade als hinter ihr ein Typ mit roten Haaren und schwarz-weiß karierten Schuhen aus dem Wonderland kommt. Er greift in seine Tasche und hält plötzlich inne wie aus dem Nichts, als hätte jemand bei ihm die Pausetaste gedrückt. Nur hat das niemand getan.

Das Mädchen, das eben noch seine Freundin gefilmt hat, stößt ein „What the fuck?“ aus.

Und dann dämmert ihr, dass nicht nur er wie erstarrt ist, es ist nicht nur der Typ vor dem Wonderland, der in seiner Tasche nach seinem Handy oder so gekramt hat. Es sind alle im Wonderland. Das Mädchen mit der Kamera zoomt auf die Tanzfläche, auf die Bar. Jede einzelne Person auf der dicht gedrängten Tanzfläche steht vollkommen still, bewegt sich nicht, atmet nicht einmal. Der Beat der Musik dröhnt weiter, aber alle sind wie versteinert.

Meine Knie geben leicht nach, dann reiße ich mich zusammen.

„Tracy“, sagt das Mädchen mit der Kamera, ihre Stimme zittert. „Tracy, guck mal!“

Ihre Freundin, ein Mädchen mit voluminösen schwarzen Haaren und zu viel Lipgloss, stößt einen Schrei aus und haucht „Oh heilige Mutter …“ genau in dem Moment, in dem James durch die Tür gebrochen kommt, im Arm ein von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidetes Mädchen, das sich an ihm festklammert, als wäre er das Einzige, was sie noch vor dem Tod bewahrt.

Und das ist er.

Das Mädchen bin ich.

James stiert die Straße hinauf und hinunter, mit brennenden Augen, dann, in zwei enormen Sätzen, springt er über ein Auto, seine Hände und Füße hinterlassen tiefe Dellen, sprintet zwischen zwei turmhohen Gebäuden hindurch und ist verschwunden. Kaum, dass wir entkommen sind, stürzen die Menschen im Wonderland wie auf ein Zeichen zu Boden. Der Typ, der gerade hinausgegangen war, tut es ihnen gleich. Der Türsteher kollidiert mit der Wand hinter sich. Das Mädchen mit dem Handy schreit lang und laut.

Eine Nachricht zuckt über den Bildschirm:

#fearthevillains

SMS mit Informationen an 332277

Jetzt, da der Clip vorbei ist, kann ich wieder atmen und versuche, die Flut an Emotionen in den Griff zu bekommen, die über mich hereinbricht. Ich vermisse James so sehr, selbst mit diesen glühenden Augen, selbst fiebrig und strotzend vor Macht. Ich vermute, dass die Polizei von Monarch ein Auge auf mich hat. Darum habe ich all die Orte gemieden, von denen ich denke, dass er dort sein könnte, aber ich weiß auch so, dass er nicht dort ist. Ich kann es spüren. James Bartholomew ist nicht in der Scar, aber er würde sie nie verlassen. Wie kann beides wahr sein?

Bevor der Bildschirm wieder schwarz wird, kommt ein Typ mit einem Schopf blonder Haare auf die Bühne gelaufen, tippt gegen das Mikro und verschwindet wieder auf der anderen Seite der Bühne. Ein leises Murmeln erhebt sich aus der Menge, dann bricht sie in Applaus aus, als Mayor Triton die Bühne betritt, flankiert von zwei uniformierten Polizisten. Triton sieht aus wie ein Opa. Sie kommt nie in die Scar. Ich für meinen Teil habe mich nie sonderlich für Triton interessiert. Verbrechen war schon immer mein Ding, weswegen ich mich für ein Praktikum bei der Monarch City Police beworben habe. Politiker kamen mir immer schon wie eine Mischung aus langweilig und erbärmlich vor, wohingegen die Strafverfolgung beziehungsweise Chief Ito über wahre Macht verfügte, einen Wandel herbeizuführen, Leben zu retten und Verbrecher hinter Gitter zu bringen. Dort habe ich mich immer gesehen. Ich hatte nicht begriffen, dass auch Chief Ito eine Politikerin und mindestens genauso erbärmlich, genauso eine Lügnerin wie der gesamte Rest ist. Schlimmer sogar, denn Chief Ito ist Legacy. Sie trägt das Zeichen, entstammt der Magie. Sie sollte sich daran erinnern, wo sie herkommt. Sie ist eine von uns.

Jetzt beobachte ich Mayor Triton mit neu erwachtem Interesse, und anscheinend bin ich nicht die Einzige. Überall um mich herum drehen die Legacies durch, als wäre sie ein Rockstar.

Der Mayor legt die Hände auf das Rednerpult und starrt ernst auf die versammelte Menge, wartet auf den perfekten Augenblick, um zu beginnen. „Bürger der Scar, geschätzte Mitglieder der Legacy-Community, ich stehe hier vor euch, weil die Stadt Monarch sich noch nie da gewesenen Zeiten gegenübersieht. Wir haben immer gewusst, dass wir einen ganz besonderen Platz auf diesem Planeten einnehmen, einen der sieben heiligen magischen Wirbel, allesamt Orte, die es verdienen, geschützt und verehrt zu werden. Wir haben uns dieser Aufgabe stets voller Ernst und Hingabe gewidmet. Selbst nach dem Großen Tod haben wir darum gekämpft, unsere Geschichte zu bewahren, und viele von uns haben darauf gehofft, dass die Magie zurückkehren würde.“

Zustimmendes Gemurmel erhebt sich aus der Menge. Die Frau neben mir johlt und hält ein Schild hoch, auf dem in kantiger, scharlachroter Schrift geschrieben steht: MAGICALISTENGEGENDIEVILLAINS.

„Während viele von uns gehofft hatten, die Scar würde zu alter Größe zurückfinden, würde wieder zu dem Wunderland werden, das wir alle gekannt und geliebt haben, so hätten wir uns doch nie vorstellen können, dass die Rückkehr der Magie unter einem so schlechten Stern stehen könnte. Richtet doch nur den Blick gen Himmel.“ Mayor Triton hebt theatralisch die Hände. „Der Himmel selbst hat sich gegen uns gewandt.“ Sie legt eine Pause ein. „Die Magie ist in der Tat zurückgekehrt. Doch nicht als die strahlende und liebevolle Kraft für das Gute, die sie einst war. Sie ist bösartig zurückgekehrt.“

Hinter ihr erscheinen erneut die haushohen Bilder: James mit einem neuen, glänzenden Haken, die Haut bedeckt von Tattoos, Mally mit ihren spitzen, gefährlichen Hörnern und Ursula mit ihren wabernden, ölig glänzenden Tentakeln. Sie grinsen höhnisch auf die Menge herab, bedrohlich, mit Schaum vor dem Mund. Sie haben nichts mit den Menschen gemein, die ich kenne und liebe. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass sie bösartige Schurken sind anstatt Kinder, die sich am falschen Ende des Plans eines anderen wiedergefunden haben. Aber sie sind Kinder.

Die Legacies tuscheln miteinander, die Augen weit aufgerissen. Sie geben einander Halt, schütteln die Köpfe.

„Seit der Schlacht am Miracle Lake hat sich das Leben in der Scar, wie wir es kennen, verändert, und es muss sich weiter verändern“, dröhnt Triton und tippt mit dem Finger energisch auf das Rednerpult, um diesen Punkt zu unterstreichen. „Wenn es sich hierbei um einen isolierten Vorfall handeln würde und wir darauf vertrauen könnten, dass diese Schurken ein für alle Mal verschwunden sind, würden wir sie dennoch jagen und zur Strecke bringen, wir müssten aber nicht weiterhin das Schlimmste befürchten. Aber wir wissen, dass dies nicht der Fall ist. Wir fürchten, dass diese sogenannten Villains erst der Anfang eines Amoklaufs sind, und da sie über Kräfte verfügen, denen wir nichts entgegenzusetzen haben, werden sie nicht aufhören, davon Gebrauch zu machen, um die Scar und ihre Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie sind Feiglinge, darum halten sie sich versteckt. Aber nichtsdestotrotz sind sie unberechenbar und extrem gefährlich.“ Mayor Triton seufzt, hält kurz inne, um sich zu sammeln. „Mit schwerstem Herzen muss ich euch die schreckliche Nachricht überbringen, dass in den vergangenen drei Tagen zwei weitere kostbare Legacy Kids der Scar spurlos verschwunden sind.“

Eine weitere Welle der Beunruhigung schwappt über die Menge. Ein paar leise Schreie ertönen. Mayor Triton nickt.

„Mithilfe der Monarch Police waren wir in der Lage, herauszufinden, dass sie von den Villains entführt wurden. Villains, von denen wir nun mit endgültiger Gewissheit sagen können, dass sie uns Schaden zufügen wollen. Es hat mehrere bestätigte Sichtungen gegeben, daher wissen wir, dass James Bartholomew inzwischen einen Haken anstelle einer Hand trägt, und wir verlassen uns auf eure Mithilfe für weitere Informationen. Kein Hinweis ist zu unbedeutend, und sei er noch so klein. Wir brauchen eure Hilfe, um sie aufzuspüren und unter Kontrolle zu bringen.“

„Tötet sie!“, ruft jemand.

Zustimmendes Geschrei, die Menge wird laut und unruhig. Überall klicken Kameras. Der Mayor beschwichtigt die Meute mit wiederholtem Kopfnicken.

„Ich möchte jedem Einzelnen von euch versichern, dass wir alles in unserer Macht Stehende unternehmen. Gemeinsam mit unserem hervorragenden Chief, die – offen gesagt – die Beste im ganzen Land ist, vielleicht sogar auf der ganzen Welt, werden wir alles nur Erdenkliche unternehmen, um die Villains in unsere Gewalt zu bringen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass es uns gelingen wird, sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“

Die Menge jubelt.

Eine Gruppe Frauen, geschmückt mit Pailletten und eingehüllt in mehrere Lagen bunte Tücher, hält gemeinsam ein Banner hoch, auf dem NATURALISTENFÜRDENFRIEDEN! prangt.

„Heute Abend werden eine Reihe von Notfallmaßnahmen in Kraft treten, um uns durch diese schwierigen Zeiten zu bringen, und ich erwarte eure volle Kooperation. Ich vertraue darauf, dass euch allen der Ernst der Lage bewusst ist, in der wir uns befinden.“ Mayor Triton legt eine Pause ein, bis sie sicher sein kann, dass sämtliche Aufmerksamkeit auf sie gerichtet ist. „Bis auf Weiteres wird über die gesamte Scar eine Ausgangssperre ab neun Uhr abends verhängt. Und ich fordere sämtliche Bewohner der Scar auf, zur Arbeit zu gehen, eure Einkäufe zu erledigen und euch dann umgehend nach Hause zu begeben. Haltet eure Kinder von der Straße fern. Treibt euch nicht vor euren Häusern herum. Geht nach Einbruch der Dunkelheit nicht unnötig nach draußen.“

Hier und da bricht leises Gemurmel aus, aber die meisten bleiben still. Ich verstehe, was Mayor Triton damit erreichen will: dass alle sich in Sicherheit wiegen sollen. Aber ich weiß auch, dass es nichts nützen wird. Beatrix Lindl ist vor zwei Tagen verschwunden, direkt aus ihrem Zuhause. Ich weiß das, weil ihre Tante Cindy Mitglied in Gias Naturalisten-Gruppe ist. Beatrix, die an einer zerebralen Lähmung leidet, war gerade dabei, sich die Zähne zu putzen, als ihr Dad einen dumpfen Schlag hörte. Sie war früher schon einmal gestürzt, daher dachte er, dass es wieder geschehen wäre, und eilte ins Bad, wo er ihre Zahnbürste im Waschbecken vorfand, bei laufendem Wasser, und keine Spur von Beatrix.

Puff. Verschwunden.

So nennt man diese Kinder jetzt.

Die Verschwundenen.

Aber klar. Bitte, verkriecht euch in euren Häusern. Dann werdet ihr und eure Kinder bestimmt in Sicherheit sein.

Der Mayor fährt fort. „Des Weiteren werden wir eine Special Task Force ins Leben rufen, genannt die Wache. Bestehend sowohl aus Legacies als auch Monarch City Police, wird die Wache zusätzlichen Schutz bieten, auf den Straßen patrouillieren und relevante Informationen über die Villains sammeln. Sie dient in anderen Worten einem dreifachen Nutzen. Erstens, sie wird beschützen. Zweitens, sie wird die Villains zur Strecke bringen. Und drittens, sie wird Hinweise auf illegale Magie sammeln und mithilfe der neuen Notfallgesetze, die wir eingeführt haben, hart dagegen durchgreifen.“

Gemurmelter Protest wird laut, aber er ist minimal.

„Magie war seit jeher eine Quelle des Stolzes für Monarch und natürlich ganz besonders für die Scar, aber hierbei handelt es sich nicht um die Magie, die wir kennen und lieben. Ich weiß, dass es nicht leicht wird, dass es euch viel abverlangt, wo ihr doch bereits voller Angst in der Kälte steht angesichts dieses großen Unbekannten. Aber zum Wohle der Scar müsst ihr bereit sein, euren Nachbarn bei der Wache zu melden. Wenn ihr auch nur irgendein Anzeichen dafür seht, dass Magie praktiziert wird, bitten wir euch, dies umgehend mit einer SMS an zwei-zwei-drei-drei-sieben-sieben der Wache zu melden. Dies ist eine heilige Pflicht und die einzige Möglichkeit, Legacies zu beschützen.“

Die Menge dreht durch. Leute hüpfen johlend auf der Stelle.

Ich kann nicht fassen, was ich da sehe. Sie kaufen ihr das alles wirklich ab.

Ich verstehe vielleicht noch nicht alle Hintergründe dieser Situation, aber ich weiß, dass meine Freunde hier die Opfer sind und keine Villains – und keine noch so flammende Rede wird mich vom Gegenteil überzeugen. Ich verstehe, dass die Menschen Angst haben, und ja, die Tatsache, dass beinahe täglich Kinder verschwinden, ist beunruhigend. Aber es ergibt überhaupt keinen Sinn, dass Kyle Attenborough in dieser Geschichte nirgendwo auftaucht. Er war es, der meine Freunde entführt und an ihnen herumexperimentiert hat, und er war es, der einen Weg gefunden hat, die Magie in die Scar zurückzubringen. Er hat Legacy Kids als entbehrlich betrachtet und sie benutzt, um eine vermarktbare Form der Magie zu finden. Sie wissen das. Kyle wurde am Abend der Schlacht verhaftet.

Wo also bleibt er in dieser ganzen Geschichte? Nicht eine einzige Erwähnung von ihm oder seinem Sohn Lucas. Auch keine Erwähnung des Labors, wo meine Freunde in Käfigen gefangen gehalten wurden? Das ergibt absolut null Sinn. Außer, dass Kyle Attenborough über Geld verfügt, wahrscheinlich über genug Geld, um jeden zu kaufen, der sich ihm in den Weg stellt. Er hat sich mit einer Entschuldigung aus dieser ganzen Sache herausgewunden, hat beteuert, dass er keine Ahnung gehabt habe und alles außer Kontrolle geraten sei. Er hat behauptet, dass er es sich persönlich zur Mission machen würde, alles wieder in Ordnung zu bringen, und jetzt wird er vollständig aus der Erzählung gestrichen. Meine Freunde, die wahren Opfer, werden zu Sündenböcken gemacht, und Kyle Attenborough sitzt irgendwo in den Narrows auf seinem goldenen Thron.

Der Himmel knistert vor nervöser Energie, und ich schlinge die Arme fester um meinen Oberkörper und sehe mich um. Vielleicht hätte ich doch einfach mit ihnen gehen sollen. Und was wird geschehen, wenn man sie findet? Ich stelle mir vor, wie sie von genau dieser Bühne hängen, johlende Menschen zu allen Seiten. Diese Tage liegen noch nicht allzu weit zurück. Wir sind immer noch nichts als Barbaren, die ein anständiges Spektakel genießen. Aber sie haben vergessen, dass James und Mally und Urs Legacies sind. Sie gehören in die Scar.

An der Fassade eines nahen Gebäudes werden mit viel Getue meterhohe Banner entrollt, sie rauschen in die Tiefe, und da sind sie, „die Villains“ in ihrer abscheulichsten Gestalt, die Gesichter verzerrt und bedrohlich.

„Ich habe gehört, seit James Bartholomew einen Haken anstatt einer Hand hat, schickt er Leute über die Planke und trägt eine Augenklappe“, sagt ein Junge mit fransigem Pony und einem Nasenring.

„Also, ich habe gehört, dass Ursula, das Seemonster, Menschen ihre Essenz stiehlt und sie in einer Art Gefängnis unter dem Meer einsperrt. Man nennt es den Garten armer Seelen in Not oder so ähnlich. Grauenhaft. Einfach schrecklich“, erwidert die Frau mit den grünen Haaren, die neben ihm steht.

„Wo genau habt ihr das gehört?“, frage ich.

„Hä?“, nuschelt er dümmlich.

„Ich habe gefragt, wo ihr diese Gerüchte gehört habt. Die Planke, die Seelen … das alles.“ Mein Herz rast, nicht weil ich glaube, dass er lügt, sondern weil es so klingt, als könnte da was Wahres dran sein. Und wenn das so ist, dann gibt es jemanden, irgendwo, der weiß, wo sie sind.

„Hey“, sagt die Frau und rafft ihr viel zu großes Kleid zusammen, das ihr über die Schultern zu rutschen droht. „Ich kenn dich. Du bist doch Captain Crooks Freundin.“

„Scheiße, stimmt, das ist sie. Hey!“, ruft er. „James Bartholomews Mädchen ist hier drüben und belästigt mich!“

Aus verengten Augen werfe ich ihm einen vernichtenden Blick zu und wünschte, ich könnte noch irgendeine Art der Magie ausüben. Dann lasse ich von ihm ab und schlage mich tiefer hinein in die Menge, näher an die Bühne, und halte meinen Oberkörper noch fester umklammert. Das war nicht klug. Ja, ich muss herausfinden, wo sie sich versteckt halten, aber ich muss mich bedeckt halten, wenn mir das tatsächlich gelingen soll. Chief Ito muss glauben, dass ich nichts weiter als eine nervige kleine Göre bin, die sie ein für alle Mal losgeworden ist.

Du meinst also, es war unklug, dich an diese kleine Kakerlake heranzumachen? Was unklug war, ist, dass du ihm nicht den Hals umgedreht hast. Nur ein kräftiger Ruck, und die Sache wäre erledigt gewesen. Erfrischend wie ein kühles Bad.

Oh, gut. Super. Großartig. Sie ist zurück. Die Stimme, die sich seit der Schlacht in meinem Kopf eingenistet hat. Das Einzige, was von meiner Reaktion auf die Magie, die Lucas mir aufgezwungen hat, noch geblieben ist. Sie klingt wie ich, aber … fies. So richtig fies.

Und Sie will einfach nicht den Mund halten.

Als ob Sie mich für meine Gedanken bestrafen will, pocht ein schmerzhafter Puls in meinen Schläfen, und vor meinem inneren Auge sehe ich wieder, wie die Axt auf James’ Handgelenk niedersaust. Sie hat nicht unrecht damit, wie gut es sich angefühlt hat, wie endgültig. Und jetzt hat er womöglich kaltes Metall, um sein überhitztes Fleisch zu ersetzen? Für ihn ergibt ein Haken als Ersatz für seine Hand sogar Sinn. Was sollte er auch sonst tun? Eine Prothese tragen? Das ist nicht sein Stil.

Ich wirbele auf der Stelle herum und suche nach einem Anzeichen von James’ Jungs oder Maleficents Dad Jack Saint oder vielleicht sogar von Bella, aber die Menge steht dicht gedrängt. Über ihr wabert der Gestank von Schweiß, alten Klamotten und den giftigen Schreien nach Blut.

Du solltest dich James anschließen, sagt Sie, und eine Gänsehaut kriecht über meinen Körper. Sieh dir nur diese Loser an. Warum solltest du sie ihm vorziehen? Die Stimme ist kratzig und sackt bei den Konsonanten ein.

Wie schon gesagt, Sie hält einfach nicht den Mund.

Ich schlängele mich durch die Menge und will mich gerade auf den Weg nach Hause zu Gia machen, als ein bärtiger Mann mit irrem Blick mir sein Schild direkt ins Gesicht hält. ABMITIHRENKÖPFEN! steht da. Ich blinzele mehrmals, und als ich noch mal hinsehe, steht auf dem Schild: WASGEHTINIHRENKÖPFENVOR?

Unbehagen fährt durch meine Glieder, und ich beschleunige meine Schritte.

Warum habe ich James und Ursula nicht gefragt, wo sie hingehen? Als ich sie zuletzt gesehen habe, standen wir auf einer dunklen Straße. James verblutete auf dem Asphalt, und Mally tigerte ungeduldig auf und ab. Sie haben mich aufgefordert, mit ihnen mitzukommen, aber in dem Moment konnte ich mir das schlicht und ergreifend nicht vorstellen. Ich habe nicht daran gedacht, wohin. Ich habe nur daran gedacht, dass es nicht hier sein würde, und das würde bedeuten, mich dafür zu entscheiden, nicht mehr im System zu sein. Ich träumte immer noch von einer Zukunft als Detective, von mir selbst als einsame Verfechterin der Gerechtigkeit, ein notwendiges Teil in dem verschlungenen Uhrwerk der Scar. Ich dachte – so viel, wie ich in den wenigen Sekunden, die mir blieben, überhaupt verarbeiten konnte –, dass ich das Gleichgewicht der Scar so ins Chaos stürzen würde, dass sie sich nie wieder davon erholen würde, wenn ich mit ihnen ginge.

Ich dachte tatsächlich, dass ich so wichtig wäre.

Und ich dachte an Gia, daran, sie zurückzulassen und auf der Flucht zu sein. Was das mit ihr machen würde. Sie so im Stich zu lassen, hieße zu akzeptieren, dass für mich keine Hoffnung mehr bestand. Aber ich hätte fragen sollen, wohin sie gehen und wann sie zurückkehren würden. Wir hätten eine Zeit und einen Treffpunkt ausmachen sollen. Ich hätte mir nie vorstellen können, wie verrückt es mich machen würde, allein gelassen zu werden, während ohne die anderen alles den Bach hinunterging.

Es tut weh.

Ich weiß, dass nur ein paar wenige Minuten mehr mir genügend Zeit verschafft hätten, um nachzudenken und an genau diesen Punkt zu gelangen. Sie sind krank. Sie sind zu dem geworden, was sie jetzt sind, weil sie gegen ihren Willen vergiftet wurden. Obwohl man mir nicht annähernd so viel von der falschen Magie verabreicht hat wie ihnen, ist sie immer noch in mir, beeinflusst auch mich.

Gern geschehen, murmelt Sie, während ich mich aus den letzten Ausläufern der Menge befreie und auf den Hintereingang von meinem Gebäude zusteuere. Jetzt bist du doch nicht ganz so allein.

Aber ich will sie nicht. Ich will James. Ich will Ursula. Und ich will sie genau so zurück, wie sie waren, bevor man sie mir genommen hat. Ich muss sie finden. Sonst ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie alle in der Brise hängen.

Das werde ich nicht zulassen.

Während sich die Meute in meinem Rücken in die Raserei steigert, Legacies gegeneinanderstoßen und zu dem Lärm von der Bühne johlen und kreischen, weiß ich genau, wo ich anfangen muss, diesen Knoten zu entwirren.

Monarch High.

ZWEI

Als ich die Monarch High am Montagmorgen vor mir aufragen sehe, wird mir klar, dass ich nicht annähernd so stark bin, wie ich dachte. Im Sinne von: Ich werde jeden Augenblick innerlich zerbrechen und mich wahrscheinlich auf diesem sehr grünen, sehr hübschen Fleckchen Rasen wie ein Fötus zusammenrollen. Das wäre überhaupt nicht gut. Sich unbemerkt in eine Kundgebung zu schleichen und danach wieder hinaus, ist das eine. Es ist etwas vollkommen anderes, hier an der Monarch High mit allen, die mich kennen und verabscheuen, in ein Gebäude gequetscht zu sein. Vor allem jetzt, da auf jeder freien Oberfläche riesige Poster von James, Mally und Urs prangen.

Hunderte Schüler schlurfen durch die Türen, die Arme verschränkt, elendig.

WILLKOMMENZURÜCK, MONARCHHIGH! Auf dem Vordach prangt ein optimistischer Regenbogen. BITTEHALTETEUCHANDIEREGELN!

Ich sollte mich umdrehen, nach Hause gehen, ins Bett kriechen und es nie wieder verlassen. Ich will ihnen nicht gegenübertreten, nicht ihre Fragen beantworten, mich nicht ihrem Urteil stellen. James und Urs sind fort, und jeder hier in der Schule weiß, dass ich am Abend der Schlacht mit ihnen zusammen war. Meine Freunde und ich sind nie so richtig unter dem Radar geflogen, und jetzt werde ich wie im Scheinwerferlicht stehen. Ich werde morgen zurückkommen, neuer Tag, neues Glück.

Bye-bye, Monarch High.

Wow, Mary! Was willst du eigentlich? Willst du eine schniefende Versagerin sein oder …?

Wieder diese Stimme. Stets zur Stelle, um alles zu kommentieren, was ich tue und lasse.

Obwohl sie vielleicht nicht ganz unrecht hat.

Was will ich eigentlich?

„James“, flüstere ich. Mein Bauchgefühl kennt die Wahrheit, aber es folgen die Fragen, die mich schon seit einer Woche umtreiben. Hat er überlebt, dass ich ihm die Hand abgeschlagen habe? Wenn ja, ist er in Sicherheit? Wenn ja, ist er wütend? Wenn ja, kann er mir vergeben? Wenn ja, wird er mich jemals wiedersehen wollen? Wenn ja, kann er glauben, dass ich immer noch treu zu ihm stehe? Wenn ja, wird er meine Entschuldigung akzeptieren?

Wenn ja, gibt es noch eine Chance für uns?

Du hast nur einen Weg, das herauszufinden.

Also gut.

Immer schön einen Fuß vor den anderen, Feigling.

Ich hatte erwartet, dass die Dinge sich verändert hätten. Ich bin darauf vorbereitet, dass die Monarch High – die schon lange vor der Schlacht am Miracle Lake eine von Caramel Frappuccinos verhüllte Grube der Verwüstung und Verzweiflung war – sich noch unbehaglicher und zerrütteter anfühlen würde als noch vor fünf Tagen. Und trotzdem komme ich abrupt zum Halt, als ich sehe, was dort tatsächlich vor sich geht.

Dank der Scar-Sanierungs-Initiative ist die kreisrunde Auffahrt mit Tulpen und unnatürlich grünem Gras gestaltet, eingefasst in Pfingstrosenbüsche, die vor lauter Blüten in dezentem Lila und Pink geradezu strotzen. Der Springbrunnen in ihrer Mitte spuckt immer noch Wasser aus einem blassblauen Wasserdrachen. All das ist noch genauso wie früher. Der erbärmliche Versuch, die ganzen Kämpfe und Probleme, die hier hochkochen, zu verschönern. Aber die Fahrspur, normalerweise mit Schulbussen und Limos gespickt, die Narrow Kids rauswerfen, nimmt jetzt eine Flotte weißer SUVs komplett ein, jeder einzelne rechteckig, identisch, unmarkiert und mit getönten Scheiben. Menschen in grauen Anzügen, nicht identifizierbar als Narrows oder Legacies, sind vor den Fahrzeugen postiert, säumen die Stufen hinauf zum Haupteingang und stehen dort zu beiden Seiten.

Die Wache.

Das müssen sie sein. Verdammt, die sind wirklich wachsam.

Ich suche nach vertrauten Gesichtern, finde aber keine, weder Smee noch die Verlorenen Jungs. Nicht mal eine Spur von Flora, Fauna oder Merryweather, zumindest nicht von hier. Ich nehme an, es sollte keine allzu große Überraschung sein, dass die Verlorenen Jungs nicht hier sind. Sie sind bloß zur Schule gegangen, weil James sie dazu gezwungen und ihnen eingebläut hat, dass es wichtig ist, eine gute Ausbildung zu haben. Jetzt, wo er fort ist, sind sie wahrscheinlich die ganze Nacht auf, zocken Videospiele und bereiten sich grade auf einen entspannten Tag vor.

Und die Presse. Kameracrews haben sich rund um die Schule breitgemacht, und Journalisten in Regenjacken sprechen in Mikrofone. Sie haben kaum eine Chance, auch nur in die Nähe der Schule zu kommen, nicht mit der Wache, die ihnen den Weg versperrt. Das zumindest ist doch schon mal was. Eine Sache weniger, um die ich mir Sorgen machen muss.

Mutig.

Sei mutig.

Was für ein Leben möchtest du führen?

Ich gehe die Stufen hoch, während die Schülerschar weiter auf die Türen zudrängt.

Fast jeder in der Schlange trägt irgendeine Art von Jacke. Kapuzen und Hüte bedecken die Köpfe, dicke Schals sind um Hälse geschlungen. Die Scar besticht normalerweise durch bunte Farben, gebräunte Glieder, wildes Make-up, übertriebenen Schmuck. Dieses Meer aus schlichten Überziehern ist einfach nur seltsam.

Dann sehe ich ihn. Er lehnt in einer Nische und starrt mich unverhohlen an: Lucas Attenborough, dieses hinterhältige Stück Dreck. Ich hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt. Seine Haare sind nicht zurückgegelt, und statt seiner üblichen Kakihose-mit-reingestecktem-Hemd-und-Halbschuhen-Uniform trägt er Jeans und Sneaker zu einem lockeren Shirt. Sieht ganz so aus, als würde die Kapuze meines Pullovers nicht viel bringen, was unerkannt bleiben angeht. Nicht, wenn es um Lucas geht. Er war schon immer nervtötend aufmerksam. Unsere Blicke treffen sich, und er nickt mir zu. Wagt es sogar, die Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen.

Nach allem, was geschehen ist, lächelt er mich an.

Wenn James hier wäre, würde er ihn bis ins nächste Schuljahr prügeln.

Ist er aber nicht.

Nur ich bin hier.

Ich hebe mein Kinn. Er soll meinen Hass spüren, ich will, dass er ihn von innen heraus auffrisst. Ich erinnere mich noch daran, wie ich am Abend der Schlacht nur durch die Kraft meiner Gedanken Glas zerbrochen habe, wie ich es einfach habe verschwinden lassen. Seitdem habe ich nichts Großartiges oder Mächtiges mehr zustande gebracht, aber ich frage mich, ob ich grade wütend genug bin, um Lucas entzweizureißen oder ihn verschwinden zu lassen. Das würde mir schon den Tag versüßen. Ich versuche, ihm meine geballte Vernichtung entgegenzuschleudern, aber nichts passiert. Augenblicklich sacke ich in mich zusammen.

Ich hätte wohl mehr Kaffee trinken sollen.

Vor vier Tagen hat Lucas Attenborough mich bewusstlos geschlagen, mich entführt, unter Drogen gesetzt und mir seine falsche Magie injiziert. Er sollte in dieser Sekunde im Gefängnis sitzen. Nein, er sollte unter der Erde liegen und dort verrotten für das, was er getan hat. Mein Kiefer krampft sich zusammen. Lucas soll wissen, dass ich keine Angst vor ihm oder seinem Dad habe, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entspricht.

Er hat mich gegen meinen Willen verschleppt, hat mich eingesperrt und angekettet. Das ist nichts, was man so leicht wieder vergisst.

Er scheint zu begreifen, und erst als ich unser Blickduell gewonnen habe, frage ich mich, was Lucas, der Prinz der Narrows, ganz allein hier draußen macht. Zugegeben, wir versuchen alle bloß, aus der Kälte raus- und ins Gebäude reinzukommen, aber in all der Zeit, die ich Lucas Attenborough nun schon kenne, habe ich ihn noch nie allein irgendwo gesehen, erst recht nicht in der Schule. Hier wird er entweder verehrt oder gehasst. Aber niemals ignoriert.

Er holt sein Handy aus der Tasche und tut so, als wäre er beschäftigt. Ich schlurfe weiter.

„Kapuze runter.“ Der Mann von der Wache deutet auf meinen Kopf.

„Was? Warum?“

Dieser Typ ist nicht viel älter als ich, höchstens fünf Jahre vielleicht. Er ist kräftig gebaut und trägt eine Armbanduhr, die sein Handgelenk verdeckt, sodass ich nicht sehen kann, ob er ein Legacy-Zeichen hat oder nicht. Er drückt mir ein Stück Papier in die Hand und tippt darauf. „Keine Kopfbedeckungen. Das ist Legacy-Pride-Kleidung. Bitte halten Sie sich an die Regeln.“

Ich werfe einen Blick auf das feuchte Stück Papier.

DERGEBRAUCHDESBEGRIFFSMAGIEISTBISAUFWEITERESUNTERSAGT.

JEGLICHEERWÄHNUNGVONFRAKTIONENWIEMAGICALISTEN, AMAGICALISTENUNDNATURALISTENISTUNTERSAGT.

DERGEBRAUCHDESBEGRIFFSNARROWSISTUNTERSAGT.

DERGEBRAUCHDESBEGRIFFSLEGACIESISTUNTERSAGT.

LEGACYPRIDE, EINSCHLIESSLICHHÜTEN, KAPUZENUNDPERÜCKEN, ISTAUFDEMSCHULGELÄNDENICHTGESTATTET.

DASNEUESCHULMOTTOLAUTET: „ALLEFÜREINENUNDEINERFÜRALLE“, UNDMUSSAUFNACHFRAGEZITIERTWERDEN.

„Was ist denn an einem Hoodie Legacy Pride?“, frage ich.

„Halten Sie sich einfach an die Regeln, Miss.“

Ich würde ein paar Fingernägel dafür geben zu sehen, wie Mally diesen Flyer mit ihrem schicken neuen Stab in Flammen aufgehen lässt.

Ich ziehe meine Kapuze zurück und suche bei dem Typen der Wache ein Zeichen von Erkennen, aber sein Gesichtsausdruck bleibt ausdruckslos.

„Darf ich jetzt reingehen, Sir?“

Er lässt mich durch und wendet sich der nächsten Person in der Schlange zu, bei der er seine Anweisungen mechanisch wiederholt.

Als ich drinnen bin, ist mir die Umgebung vertrauter. Ein paar Mitglieder der Wache säumen die Korridore, aber ihre Präsenz ist nicht grade überwältigend. Der Kaffeewagen läuft immer noch auf Hochtouren, mit einer Schlange davor, die fast den ganzen Weg bis zur Tür reicht. Der Boden ist leicht matschig und quietscht unter den regennassen Schuhen, und das ganze Gebäude riecht dumpf nach Mottenkugeln. Aber es ist warm und hell und gefüllt mit nervösem Getuschel. Ich reihe mich in die Kaffeeschlange ein und will mir den Zettel in meiner Hand noch einmal näher ansehen, als ich spüre, wie sich die Atmosphäre um mich herum verändert.

Die Unterhaltungen verstummen. Köpfe drehen sich in meine Richtung. Ich verfluche mich dafür, dass ich das Ganze nicht besser durchdacht und mir nicht vorher überlegt habe, wie ich mit dieser Aufmerksamkeit umgehen will. Mich einfach auf den Boden fallen zu lassen und mich tot zu stellen, ist wahrscheinlich genauso wenig eine Option, wie mörderisch um mich zu schlagen.

Ursula würde wissen, was zu tun ist. Selbst James würde diese Lage irgendwie zu seinem Vorteil drehen. Mally würde einfach alle Anwesenden in Brand stecken.

„Stimmt es, dass du James die Hand abgeschnitten hast?“, fragt ein Mädchen, das mir vage bekannt vorkommt. Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, ihr das Septum-Piercing aus der Nase zu reißen. „War es eklig?“, fragt sie. „War es echt so richtig eklig?“

„Ich hab gehört, du hast auch so Kräfte. Redest du deshalb nicht mit den Reportern? Werden sie dich verhaften? Wir dürfen das M-Wort nicht mal mehr in den Mund nehmen. Wusstest du das?“, fragt ein Typ.

Das M-Wort?

„Wenn ihr alle einfach von Anfang an auf die Amagicalisten gehört hättet, wäre nichts von alldem passiert“, faucht Justin, Anführer der Gesellschaft junger Amagicalisten. „Diese Besessenheit der Legacies von Magie steckt hinter allem Schlechten, was in der Scar je passiert ist. Wir brauchen so was hier nicht. Wir müssen lernen, uns auf uns selbst zu verlassen. Seht ihr, was passiert, wenn man versucht, sie zurückzubringen?“

„Wo hast du das her?“, höhnt das erste Mädchen. „Hast du das aus deinem Amagicalisten-Handbuch auswendig gelernt, aka der langweiligsten Lektüre ever?“

„Ey, Leute!“, mischt sich ein weiteres Mädchen ein, offensichtlich ein Freshman. „Wir dürfen diese Wörter nicht mehr verwenden. Wir sind grade erst zurück und kriegen noch Ärger.“

Ich weiß nicht, ob das alles nur in meinem Kopf stattfindet, aber es kommt mir so vor, als würden sie alle gleichzeitig einen Schritt nach vorn machen. „Ich muss Morgana finden“, sage ich und nutze es aus, dass ich für den Moment ihre Aufmerksamkeit genieße. „Sie ist in der neunten?“

„Meinst du Morgana, Ursulas Schwester? Als ob irgendjemand hier nicht wüsste, wer sie ist“, erwidert das Mädchen.

Sie sollte echt besser auf ihren Tonfall aufpassen, und ich will gerade ansetzen, ihr genau das zu sagen, als eine Stimme durch das allgemeine Gebrabbel an mein Ohr dringt.

„Suchst du nach mir?“

Die Menge teilt sich in einer Welle aus Bewegung. Morgies Gestalt löst sich aus der Masse von Körpern, und ich würde mich am liebsten irgendwo festhalten. Gekleidet in ein schwarzes, trägerloses Minikleid, mit ihrem langen blonden Haar, das bis zu den rasiermesserscharfen Spitzen geglättet ist, wirkt sie wie eine vollkommen andere Person als das letzte Mal, als ich sie gesehen habe. Es ist, als wäre sie in der letzten Woche um Jahre gealtert, hätte mehr Kurven bekommen und sich von dem kleinen Mädchen beinahe in eine Frau verwandelt. Das ist das eine … und sie sieht Ursula so verdammt ähnlich. Sie ist vielleicht schlanker, ihr Gesicht eher oval als rund, aber sie trägt ihr Make-up genau wie Urs: blauer Lidschatten, Eyeliner weit über die Augenlider hinausgezogen und Lippen in einem theatralischen Scharlachrot. Auch Morgies künstliche Wimpern und der rote Nagellack sehen nach hundert Prozent Urs aus, und in diesem Augenblick habe ich plötzlich das Gefühl, dass ich keine weitere Minute ohne Ursula und ihr unbändiges, großartiges Lachen überleben kann.

Früher hallten diese Korridore von ihrem Lachen wider.

Früher erbebten die Korridore darunter.

„Morgie“, bringe ich hervor.

„Ich nenne mich jetzt Morgana“, erwidert sie kühl, dann tritt sie einen Schritt vor und küsst mich auf die Wange. „Hallo, Mary Elizabeth.“

Erst da bemerke ich, dass sie nicht allein ist, sondern von mehreren Mädchen in Schwarz flankiert wird, allesamt mit hochgesteckten Haaren voller schwarzer Schleifen und mit Chokern.

„Willst du mir deine Freundinnen nicht vorstellen?“, frage ich.

Sie wirft ihnen einen kurzen Blick zu. „Tabitha, Lee, Sarah. Kein Grund, dir ihre Namen zu merken.“ Sie legt den Kopf schief. „Mary, Mary“, murmelt sie. „Mädels, ihr erinnert euch doch an Mary, oder? Hackebeil-Mary?“

Oh cool! Ich habe einen Spitznamen. Ich sehe, wie die Klinge durch die Sehnen an James’ Handgelenk gleitet, und blinzele heftig, um in die Gegenwart zurückzukehren.

Die Mädchen nicken und murmeln „Hi“, aber sie werfen Morgie immer wieder verstohlene Blicke zu, fast so, als würden sie auf weitere Anweisungen warten.

„Können wir reden?“ Ich ziehe Morgie fort von der Menge in Richtung der Spinde und bedeute den Mädchen mit einem Blick, dass sie besser bleiben, wo sie sind.

„Ich muss zum Unterricht“, sagt sie und reißt sich los.

„Ich weiß. Ich auch. Wir haben noch fünf Minuten, bis es klingelt.“

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Also schön.“

„Ich wollte dir sagen, dass es mir leidtut.“

Sie hebt eine Augenbraue. „Ach ja? Was tut dir denn leid?“

„Es war echt ätzend von mir, dass ich mich nicht gemeldet habe. Nach der Schlacht und allem, was mit Urs passiert ist, hätte ich dich besuchen kommen sollen. Ich habe nur an mich selbst gedacht. Aber ich hätte auch an dich denken sollen. Das muss alles furchtbar beängstigend gewesen sein.“

„Und Ma.“

„Ma?“

„Du hättest auch an meine Ma denken sollen. Wir wurden beide zurückgelassen.“

„Klar. Und deine Ma. Ich bin nicht so für euch da gewesen, wie Urs es gewollt hätte. Mit ihrem Verschwinden und der Ungewissheit, ob sie noch am Leben ist, und jetzt das alles. Es ist echt ’ne Menge.“

„Ja, ist es.“ Sie trommelt mit ihren langen Nägeln auf ihrer Lederhandtasche herum. „Du warst eine echt schlechte Freundin, Mary. Urs wäre so sauer auf dich.“

Sie mag da nicht ganz unrecht haben, trotzdem versteife ich mich. Ich war vielleicht nicht so für die beiden da, wie ich es hätte sein sollen, aber es ist ja nicht grade so, als wäre es für mich einfach gewesen: den Nachrichtenteams aus dem Weg zu gehen, die ganze Nacht heimlich zu heulen, in James’ Hoodie zu schlafen, der immer noch nach ihm riecht. Ich konnte kaum das Haus verlassen. Ich hab nicht mal den Verlorenen Jungs einen Besuch abgestattet. Und außerdem, Newsflash? Nach mir hat auch niemand gesehen. Niemand ist gekommen, um zu sehen, wie es mir geht. Es gab nur Tante G und mich, die den ganzen Tag den Fernseher angestarrt, Kaffee getrunken und Make-up und Skin-Care-Produkte eingepackt haben, um sie in alle Welt zu verschicken.

Bis zu dieser grässlichen Kundgebung gestern bin ich nirgendwo hingegangen. Ich will Morgie sagen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, um nachtragend zu sein und unrealistische Erwartungen anzubringen. Wir sollten füreinander da sein und uns umeinander kümmern. Wir können genau jetzt anfangen, es besser zu machen. Diese toughe Person ist nicht die Morgie, die ich kenne.

All das will ich ihr ins Gesicht sagen, aber ich zögere einen Herzschlag zu lang, und bevor ich noch eine Gelegenheit dazu bekomme, schiebt Morgie in einer schlechten Imitation ihrer Schwester eine Hüfte vor und grinst.

„Glücklicherweise brauchen wir dich nicht“, sagt sie. „Ich kann mich um uns beide kümmern.“

„Ach ja?“

„Ja. Urs hat mir ein Geschenk dagelassen.“ Sie greift in ihren Rucksack und zieht ein abgenutztes schwarzes Buch hervor, das ich auf den ersten Blick erkenne. Ich habe es bestimmt schon hundert Mal gesehen … in Ursulas Händen.

Diese Geste gespielter Tapferkeit verrät so viel. Sie ist nur ein Baby, das versucht, in die Fußstapfen eines großen Mädchens zu treten. In diesem Buch hat Urs genaue Aufzeichnungen von den Leuten in der Schule gemacht, die ihr einen Gefallen schulden, die irgendeinen Deal mit ihr eingegangen waren oder die auf die eine oder andere Art in ihrer Schuld standen. Ich habe es schon immer gehasst und es als das gesehen, was es war: Ursulas Art, sicherzustellen, dass die Welt ihr zu viel schuldig war, um ihr etwas wegzunehmen oder ihr noch mehr Schmerz zuzufügen, als sie es ohnehin bereits getan hatte. Und jetzt will Morgie da weitermachen, wo Urs aufgehört hat. Morgana ist jetzt am Zug.

Die Gute Fee stehe uns bei.

Ende der Leseprobe