Disney – City of Villains 1: Geheimnisvolle Mächte - Estelle Laure - E-Book
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Disney – City of Villains 1: Geheimnisvolle Mächte E-Book

Estelle Laure

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Beschreibung

Mary Elizabeth Heart ist tagsüber eine Highschool-Schülerin, doch nachts arbeitet sie als Praktikantin bei der Polizei von Monarch City. Seit Jahren gibt es Spannungen zwischen der wohlhabenden Elite der Stadt und ihren Plänen, das verfallende Viertel namens "The Scar" zu aufzuwerten, das einst das Epizentrum aller magischen Dinge war. Als die Tochter einer der mächtigsten Geschäftsleute der Stadt vermisst wird, ist Mary Elizabeth begeistert, als sie auf den Fall angesetzt wird. Doch was mit einer einzigen Vermisstenmeldung beginnt, vervielfacht sich bald und führt sie in den Kaninchenbau einer Stadt in Aufruhr … Der erste Band der beliebten Disney-Reihe jetzt auch auf Deutsch! In "City of Villains" geben sich gleich mehrere Disney-Bösewichte die Ehre in der modernen Welt. In Band 1 sorgen Ursula aus »Arielle« und Maleficent aus »Dornröschen« für spannende Abenteuer ...

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Für Emily van Beek, eine richtige Königin

PROLOG

DIE WELT WAR MEINETWEGEN UNTERGEGANGEN.

Zumindest war das mein erster Gedanke.

Wenn ich die Augen schließe und meinen Gedanken erlaube, an den Abend zurückzukehren, spüre ich heute noch, wie der Boden auf mich zurast. Wie bei einer Achterbahnfahrt, wenn man den höchsten Punkt erreicht hat, langsam über die Spitze rollt und plötzlich aus unermesslicher Höhe in die Tiefe stürzt. Nur, dass ich diese Achterbahn nie verlassen habe, sondern immer noch in schwindelerregender Geschwindigkeit nach oben und unten gezerrt werde, ohne dabei je richtig Halt unter den Füßen zu finden.

Vielleicht habe ich mich aber auch an dem Tag in die Achterbahn gesetzt, an dem meine Eltern und meine Schwester ermordet wurden. Manchmal ist das schwer zu sagen.

Was ich aber mit Sicherheit weiß, ist, dass sich an dem Abend, an dem der Stab – dieses strahlende neue Gebäude, das vermeintliche Kronjuwel der Scar und Symbol ihrer Wiedergeburt – in sich zusammenstürzte, nur elf Jahre nach dem Tod der Magie, alles veränderte.

Ein weiteres Mal.

Lasst es mich euch erklären: Ich war fünfzehn.

James und ich hatten uns auf der Feuertreppe vor Tante Gia versteckt, weil sie ständig dachte, dass wir uns küssten, auch wenn wir das gar nicht taten. Wir hatten uns noch nicht daran gewöhnt, mehr als nur Freunde zu sein, und probierten es nur aus. Aber obwohl Tante Gia in vielen Dingen ziemlich entspannt war, galt das nicht für die Momente, in denen James und ich uns außerhalb ihres Blickfelds aufhielten.

Keine geschlossenen Türen in dieser Wohnung, Mary Elizabeth. Lass die Tür offen, damit ich euch sehen kann. Das ist James Bartholomew, und er ist, wer er ist.

Das machte mich nur noch trotziger. Sie hätte wissen müssen, selbst damals schon, dass ich niemandem erlaubte, James dafür zu verurteilen, ein Bartholomew zu sein. James und ich gehörten zusammen. In ihren Augen war es gefährlich, mit welcher Leidenschaft wir uns liebten. In unseren Augen und nach allem, was wir verloren hatten, war es eine Einladung zu leben. Eine Einladung, die wir in jeder Sekunde annahmen, die wir miteinander verbrachten.

An jenem Abend lehnte James sich zum ersten Mal zu mir hinüber, und in dem Augenblick, als unsere Lippen sich trafen, erstrahlte ein blaues Licht, so gleißend hell, dass es uns blendete und alles um uns herum verschwinden ließ. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, wir hätten es ausgelöst.

Zuerst ertönte ein lautes, grollendes Geräusch, als wäre der Stab ein alter Baum, der mitsamt seinen Wurzeln der Erde entrissen wurde. Ihm folgte ein Blitz aus blauem Licht, so hell, dass ich noch Stunden später flirrende Punkte sah, und dann war der Stab verschwunden. Fort. James und ich hatten bei der Apokalypse einen Platz in der ersten Reihe, und sie dauerte keine dreißig Sekunden.

Das ganze Gebäude mit seinen einhundertsechzig Stockwerken verschwand noch am Abend seiner pompösen Einweihungsfeier, mitsamt den mehr als dreitausend Menschen in ihm. Die Elite von Monarch City löste sich einfach in Luft auf und ließ nicht einmal das kleinste Bröckchen Geröll oder irgendeine Spur der Verwüstung zurück.

Alles geriet aus dem Takt. Die ganze Welt hielt den Atem an.

James schlang die Arme um mich und zog mich zurück gegen die Wand, um mich zu schützen. Aber das war gar nicht nötig. Nachdem das Gebäude verschwunden war, herrschte nichts als Stille, von der Art, wie man sie nie wieder vergisst. Nichts bewegte sich. Keine Tauben, keine Autos, keine Motten. Nicht einmal die Luft selbst.

Tante Gia riss das Fenster auf – so erleichtert, dass wir noch dort und am Leben waren, dass sie uns nicht einmal dafür ausschimpfte, dass wir uns auf die Feuertreppe geschlichen hatten. Aber unmittelbar nachdem sie uns von oben bis unten taxiert und sichergestellt hatte, dass wir wohlauf waren, entglitten ihr die Gesichtszüge. Und dann sahen auch James und ich hin.

Wo bis vor Kurzem noch das Gebäude gestanden hatte, war nichts geblieben bis auf einen Krater, so sauber und präzise in die Erde geschnitten wie mit einem chirurgischen Skalpell.

Überall um uns herum drehten die Bewohner der Scar vollkommen durch. Von der Feuertreppe aus beobachteten wir, wie Menschen, die bis gerade eben noch entspannt im Viertel herumgehangen und Pizza gegessen hatten oder durch die abendlichen Gassen geschlendert waren, panisch und schreiend die Straßen entlangrannten, in der Erwartung, jeden Moment von herabstürzenden Trümmern erschlagen zu werden. Denn das ist es schließlich, womit man rechnet, wenn etwas von dieser Größe einstürzt. Aber an diesem Abend machte es einfach Puff.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Menschen begriffen, dass nichts explodieren oder in Flammen aufgehen und auch Monarch nicht versinken würde. Streifenwagen kamen und Feuerwehrwagen und Krankenwagen. Und dann standen sie alle einfach nur da, mit still flackernden Lichtern.

Es gab nichts für sie zu tun.

In den Nachrichten sprachen sie von einer tragischen Anomalie. Der Chief und Mayor Triton hielten Reden und beschworen alle, Ruhe zu bewahren. Ich nehme an, wir hatten einfach Glück, dass wir dort saßen, wo wir saßen. Wir waren um Haaresbreite entkommen.

Als ein paar Tage später Wasser aus dem Krater zu strömen begann wie Blut, das aus einer Wunde floss, gab Mayor Triton ihm den Namen Miracle Lake, da sie sich zu der großen Eröffnungsfeier verspätet und so den Fall um gerade mal zehn Minuten verpasst hatte. Für sie war es ein Wunder. Für zahllose andere eine Katastrophe.

Begräbnisse fanden statt. Unzählige Gebete wurden gesprochen. Mahnwachen und Opferkerzen bestimmten die Tagesordnung.

Als die Zeit der Trauer vorüber war, wurden die Dinge schwierig.

Die Magicalisten waren überzeugt, dass der Fall ein Zeichen war und wir alles in unserer Macht Stehende daransetzen sollten, die Magie zurückzuholen. Koste es, was es wolle. Die Naturalisten dagegen hielten ihn für ein Zeichen, dass die Magie selbst es war, die den Fortschritt bekämpfte und sich dagegen wehrte, wie die Narrows sich in der Scar ausbreiteten und all diese extravaganten neuen Gebäude wie den Stab auf heiligem magischem Boden errichteten. Sie glaubten, dass die Energien, die unter unseren Füßen verliefen, den Narrows einen Denkzettel verpasst hatten und dass die Magie zurückkehren würde, wenn wir nur das Richtige taten. Die Amagicalisten wiederum hielten den Fall lediglich für ein wissenschaftliches Phänomen, das sie bisher schlicht und einfach noch nicht zu erklären imstande waren. Sie glaubten, dass die Magie tot war und alle sich endlich dieser kalten, harten Tatsache stellen mussten.

Monarch spaltete sich in Fraktionen, jede überzeugt von ihrer Wahrheit. Und sie bekämpften einander, bis ihre Leidenschaft für die Sache zu einer stumpfen Abneigung zusammenschrumpfte, einer Art kaltem Krieg. Sie hatten sich schon immer bekämpft, aber jetzt geschah das an jeder Straßenecke und tauchte in jeder Nachrichtensendung auf. Die Menschen suchten nach einem tieferen Sinn und blieben mit leeren Händen zurück. Sie warteten darauf, dass die Magie ihre triumphale Rückkehr antrat.

Doch das tat sie nicht.

Die Feen kehrten nicht zurück, Wünsche blieben unerfüllt, und Träume starben zu Dutzenden.

Am schmerzhaftesten ist der Gedanke daran, was an diesem Abend wohl mit all den Menschen in dem Gebäude geschehen ist.

Ich hoffe, dass sie sich einfach schmerzfrei in Luft aufgelöst haben.

Ich meine, ich hoffe, dass es so war.

Für den Fall, dass es noch einmal passiert.

EINS

ZWEI JAHRE NACH DEM FALL

SMEE KANN DAS THEMA EINFACH NICHT FALLEN LASSEN, dass ich auf dem Weg zur Schule vorne sitze.

„Nein, ich mein es ehrlich, Cap“, heult er James die Ohren voll und zupft seine Lederjacke zurecht. „Wir sollten uns abwechseln. Wir wohnen im selben Haus, wir fahren zusammen in der Sea Devil an denselben Ort, und dann muss ich den Beifahrersitz räumen und mich nach hinten setzen, nur damit Mary vorne einsteigen kann. Das ist …“

„Erniedrigend?“, schlage ich vor.

„Entwürdigend?“, fragt Ursula, ohne von ihrem Handy aufzuschauen.

„Respektvoll“, sagt James. „Richtig.“

Smee wirft mir einen Blick zu, als würde er mich gerade so tolerieren. „Bloß, weil sie deine Freundin ist, sollte das nicht heißen, dass sie jedes Mal vorne sitzen darf. Wir sollten uns abwechseln.“

James hat gerade erst einen klassischen 1968er Mustang zum Laufen gebracht, ihn in einem altmodischen Blau lackiert und auf den Namen Sea Devil getauft. Er ist so umwerfend, dass das Probleme schafft. Jedes Mal, wenn er so etwas macht – eine alte Schrottkiste mit gutem Fahrwerk findet, so lange an ihr herumbastelt, bis sie wieder läuft wie am Schnürchen, und sie anschließend auf Hochglanz poliert –, kommt Smees innerer Gangster zum Vorschein. Eigentlich ist er sowieso immer da. Er wäre gern mächtig oder zumindest die rechte Hand von jemand Mächtigem. Wir leben in einer Stadt, darum weiß ich nicht, warum wir bei dem Verkehr überhaupt mit dem Auto zur Schule fahren. Wir sollten die U-Bahn nehmen, aber das wird jetzt nicht mehr passieren, bis James die Sea Devil für ein neues Projekt stehen lässt.

Ursula schiebt sich neben Smee, während wir uns unseren Weg vorbei an den weißen, zinnbesetzten Säulen und durch die riesige Holztür bahnen, die in die Monarch High führt.

„Sie ist die Freundin, Dumpfbacke. Du bist nicht die Freundin, du bist nur einer von sechs nervigen Mitbewohnern.“

„Wag es ja nicht, schlecht über Nimmerland oder seine Bewohner zu reden“, erwidert Smee, „oder ich lass dich über die Planke gehen.“

Die Planke ist das Sprungbrett über dem alten Pool in dem alten Haus, in dem James und sechs seiner Freunde zusammenleben. Ursula zwängt sich an ein paar Narrows vorbei, gekleidet in ihre üblichen weißen Button-down-Hemden, Halbschuhe und Sakkos. Wir halten vor unseren Schließfächern, und Ursula verpasst Smee mit der flachen Hand einen leichten Schlag gegen den Hinterkopf.

„Hey!“, beschwert er sich.

„Kommt schon, Leute. Es ist Montagmorgen. Wir haben noch die ganze Woche, um uns auf die Nerven zu gehen“, sage ich.

Montagmorgen an der Monarch High ist anders als an anderen Highschools, zumindest nach dem, was ich so gehört habe. Die Scar bestand früher beinahe vollständig aus Legacies – Menschen, die mit einem schwarzen Herzen auf dem Handgelenk geboren wurden, direkte Nachfahren der Magie. Als ich klein war, kannte ich nichts anderes. Es gab vielleicht ein paar vereinzelte Bürokraten aus der Midcity, Geschäftsmänner aus den Narrows, aber diese Zeiten sind vorbei. Nach dem Tod der Magie wurden Legacies wie meine Familie zu leichter Beute. Und die Narrows – Menschen aus der Uptown, ohne Magie, aber mit gewaltigen Komplexen – sind wie Aasgeier, die unseren Grundbesitz zerpflücken, Legacies auf die Straße setzen und – am schlimmsten von allem – uns den Kontakt mit ihrem grässlichen Nachwuchs aufzwingen, bis sie endlich eine angemessene Privatschule für ihre Sprösslinge gebaut haben, auf Land, das sie billig von uns gekauft haben. Jetzt haben wir einen Espressostand, einen Caterer, der Mittagessen liefert, das sich kein Legacy leisten kann, und sie haben gerade erst einen Pool und ein weltklasse Fitnessstudio fertiggestellt.

Legacies meiden alles davon. Wir mögen es nicht, gekauft zu werden. Also versuchen wir jetzt, uns abzusondern. Wir unterscheiden nicht zwischen Sportlern, Nerds, Metal-Fans und Emos, wie ich es in Fernsehserien gesehen habe. Wir unterscheiden zwischen Legacies und Narrows. Wir Legacies tragen schwarze Lederbänder um unsere Arme gewickelt. Wir färben uns die Haare. Wir ziehen uns zu jeder Zeit so an, als wären wir auf einer Party. Auf unseren Klamotten prangt der Schriftzug #LegacyLoyalty.

Aber es stimmt schon, obwohl die Schule bereits zweigeteilt ist, geht die Trennung noch weiter. James und seine Nimmerland Crew – Ursula, Smee und ich – bilden eine Einheit, und dann gibt es noch alle anderen.

James und ich halten kurz, um uns zu küssen, während Ursula einen Anruf auf ihrem Handy entgegennimmt und Smee einfach nur dasteht, die Hände in den Taschen, und in seinem schwarz-weiß gestreiften Shirt den Korridor im Blick behält. Als wäre er unser Türsteher.

Ursula lässt ihr Handy in der Tasche verschwinden und fragt: „Welches wundervolle Fach haben wir denn heute Morgen? Magische Geschichte, sagst du? Mein Lieblingsfach.“

„Dreena auf sechs Uhr“, murmelt Smee. „Macht euch bereit für eine volle Ladung Schulgeist.“

Als ob sie gehört hätte, wie jemand ihren Namen sagt, schwebt Dreena, flankiert von Lola und Casey, zu uns hinüber, in paillettenbesetzte Tücher gehüllt und die Haare zu zwei blauen Zöpfen gebunden. Sie hat die Arme voller Flugblätter.

„Was willst du?“, fragt Ursula, als Dreena nahe genug herangekommen ist. „Egal, was du verkaufst, wir brauchen nichts. Obwohl …“, sagt sie nachdenklich, „… falls es irgendetwas Interessantes gibt, das du brauchst, könnte ich es vielleicht für dich organisieren. Meine Preise sind in Ordnung.“

„Ich wollte euch nur eins von denen geben.“ Dreena reicht jedem von uns ein Flugblatt. Smee lässt seins augenblicklich auf den Boden fallen und starrt gelangweilt in die Ferne. „Ich weiß, dass ihr nicht politisch engagiert seid oder so, aber der Vater von Lucas Attenborough will ein Einkaufszentrum mitten in der Stadt bauen. Ein Einkaufszentrum. Sie würden einen ganzen Häuserblock abreißen. Wir müssen uns treffen! Wir müssen uns versammeln! Das ist inakzeptabel. Wir dürfen nicht zulassen, dass der historische Bezirk der Scar zerstört wird.“ Dreena wäre wirklich leichter zu ertragen, wenn sie nicht immer so furchtbar nervig wäre, so vollkommen überzeugt von ihrer Stellung, überzeugt genug, dass sie es sogar wagt, auf uns zuzugehen, wo wir doch so hart daran gearbeitet haben, unnahbar zu sein, damit wir uns nicht mit Leuten wie ihr herumschlagen müssen.

„Dree-Dree“, säuselt Ursula gedehnt und lässt die Tür zu ihrem Schließfach zuschlagen. „Ich mag Einkaufszentren so gern wie jedes andere Mädchen auch, aber in dieser Sache bin ich auf deiner Seite. Loyalty bis zum Schluss. Die Sache ist die, eine Versammlung wird überhaupt nichts bewirken. Was ihr braucht, ist jemand, der weiß, was auf der anderen Seite vor sich geht. Ihr müsst herausfinden, wer wen bezahlt und ob es für die vielleicht einen guten Grund gibt, ihr Lieblingsprojekt aufzugeben.“ Ursula kreist lässig um Dreena, die mit jeder Umrundung an Farbe verliert. „Wer schläft mit wem? Wer hat sich auf einen dreckigen Geschäftsdeal eingelassen und könnte überzeugt werden, einen Rückzieher zu machen? Diese Stadt funktioniert nur so.“ Die letzten Worte haucht sie Dreena ins Ohr, die wie eine Maus in sich zusammenschrumpft.

„Aber …“, erwidert sie mit deutlich gedämpftem Enthusiasmus und behält Ursula genau im Blick, „das ist nicht richtig! Das allein sollte ausreichen. Es ist nicht gerecht, dass sie sich hier breitmachen und diese alten Gebäude abreißen, um auf dem Gelände irgendeine Shopping-Meile hochzuziehen.“

„Vielleicht nicht.“ Ursula zieht ihr Handy aus der Tasche und beginnt, durch eine Liste zu scrollen. „Aber Monarch ist, wie es ist, und daran wirst auch du mit deinen traurigen, kleinen selbst gemachten Flyern nichts ändern. Ich kenne ein paar Leute. Lass es mich wissen, wenn ich mich mal für dich umhören soll. Ich könnte mir dich vormerken.“ Sie lächelt, ihre vollen roten Lippen teilen sich hungrig. „Ich habe nächsten Donnerstag noch frei.“

Dreena reckt die Nase in die Luft und versucht, sich zu einer Höhe aufzurichten, mit der sie neben Urs nicht vollkommen verloren aussieht. Es misslingt ihr. „Was würde mich das kosten? Muss man dich nicht in Geheimnissen bezahlen?“, fragt sie unsicher.

Ursula zuckt mit den Schultern. „Kommt drauf an. Ich mag auch Geld.“ Sie grinst. „Und Gefälligkeiten.“

„Ich glaube, ich bleibe lieber bei der altmodischen Variante. Versammlungen und so weiter.“

„Wie du willst. Versuch es auf deine Weise, du wirst ja sehen, wie weit du damit kommst.“ Jetzt, da Dreena ihre Entscheidung getroffen hat, scheint Ursula das Interesse verloren zu haben und wühlt suchend in ihrem schwarzen Lederrucksack.

Dreena verlagert ihr Gewicht nervös von einem Fuß auf den anderen, lässt aber nicht locker. „Unser Treffen findet morgen in der Tea Party statt, falls du kommen möchtest.“ Sie raschelt mit den Flugblättern in ihrer Hand. „Alle sind eingeladen.“

„Lass es mich wissen, falls du deine Meinung änderst“, sagt Urs und sieht zerstreut auf. „Es geht mir nur darum, Wünsche und Träume wahr werden zu lassen.“

Dreena, die ganz so aussieht, als würde sie ihre Entscheidung, zu uns gekommen zu sein und mit uns gesprochen zu haben, zutiefst bereuen, wendet sich ab und macht Anstalten, weiter den Korridor entlangzugehen. Aber bevor sie auch nur einen Schritt weit gekommen ist, fliegt Stone Wallace ihr vor die Nase und kracht mit Smee zusammen, der ihn reflexartig von sich stößt, während wir uns alle nach dem Ursprung des Kampfes umsehen. James baut sich vor mir auf, und ich stelle mich auf Zehenspitzen, um etwas sehen zu können. Monarch High war früher eine ziemlich langweilige Schule. Das ist vorbei, seit die Narrows den Bezirk gewechselt haben.

Stone trägt ein weißes T-Shirt und eine schwarze Lederhose, in deren Oberfläche weitere Herzen gestanzt wurden, passend zu dem Geburtsmal auf seinem Handgelenk. Sie wirken wie die Schuppen auf der Haut einer giftigen Schlange. Normalerweise ist er einer von den Unberührbaren. Die meiste Zeit versteckt er sich hinter dem Bass, den er am Wochenende im Wonderland spielt, dem örtlichen Underage Club, und ansonsten bleibt er für sich. Heute offenbar nicht. Stone stürzt sich auf Lucas Attenborough, der ihn mit Leichtigkeit zurückstößt, sodass Stone auf den Rücken fällt. Er schnappt nach Luft und sieht panisch zu uns auf. Lucas verpasst ihm einen Tritt, der eher symbolisch als schmerzhaft ist.

„Hey“, sagt James und geht dazwischen, Smee an seiner Seite. „Das reicht.“ Sein gebieterischer Tonfall lässt Lucas innehalten, er richtet seinen Blick jetzt auf James, der eine Mischung aus Anspannung und vollkommener Selbstsicherheit ausstrahlt, perfekt im Gleichgewicht. Es ist egal, wie reich oder arrogant Lucas Attenborough ist. Er müsste ein kompletter Vollidiot sein, um sich mit Captain Crook anzulegen. Ein Name, den James einerseits hasst, weil die Bartholomews eine Gangsterfamilie sind, von der er sich gerne distanzieren würde, den er aber zu seinem Vorteil nutzt, wenn es sein muss. Und es muss häufig sein.

Wir Legacies müssen uns um uns selbst kümmern. Neunundachtzig Prozent der Legacies würden lieber feiern als kämpfen, aber seit der Ankunft von Arschlöchern wie Lucas in unserer Mitte müssen wir auf der Hut und auf alles gefasst sein, jederzeit.

„Meine Güte“, kommentiert Justin, ein vorlauter Amagicalist in kariertem Anzug, das Geschehen in übertrieben gedehntem Tonfall aus einer Ecke. „Wenn ihr alle endlich mal akzeptieren könntet, dass die Magie tot ist, würde nichts von alldem passieren. Wir könnten einfach nach vorne sehen.“

Seine Freunde tun nickend ihre Zustimmung kund.

„Der Glaube an die Magie ist die Wurzel sämtlicher Probleme unserer Gesellschaft“, sagt ein mürrisches Mädchen mit Pferdeschwänzen wie Spaghetti.

Lucas schnaubt, sieht sich um und bemerkt, dass er gegenüber den sich rasch ansammelnden Legacies eindeutig in der Unterzahl ist. Selbst Flora, Fauna und Merryweather sind dort in ihren hauchdünnen, passenden pinken, blauen und grünen Kleidern, und jeder weiß, dass die drei seit ihrer Auseinandersetzung mit Mally Saint ständig ihre Waffen am Körper tragen.

„Stone hat es nicht anders verdient“, sagt Lucas und lässt den Blick herausfordernd über die Menge schweifen. „Auch wenn keiner von euch mir jemals ein Wort glauben würde.“

„Nein, würden wir nicht“, erwidert Smee zustimmend und versetzt Lucas einen leichten Schubs. „Beweg deinen Narrow-Hintern aus meinem Korridor.“

Mit einer kleinen Bewegung seines Nackens richtet Lucas sein Hemd. „Wie kannst du es wagen, mich mit deinen dreckigen Legacy-Pfoten anzufassen? Weißt du nicht, wer ich bin?“

„Ob ich weiß, wer du bist?“ Jetzt tänzelt Smee vor ihm herum wie ein Boxer, die Fäuste auf Augenhöhe. „Ob ich weiß, wer du bist? Pah. Die Frage ist, weißt du, wer ich bin?“

Smee sieht so aus, als wäre er drauf und dran, Lucas ins Gesicht zu schlagen. Was dazu führen wird, dass Lucas Smee ins Gesicht schlägt, was wiederum dazu führen wird, dass James und der Rest seiner Jungs sich in die Schlägerei einmischen … Also gehe ich dazwischen, bevor das nächste Unglück geschieht. Jeder weiß, wo das hinführt. Wenn sie tatsächlich miteinander kämpfen, wird Smee die ganze Schuld zugeschoben bekommen und suspendiert werden, und der Rest der Legacy Kids wird völlig außer Kontrolle geraten. Fall Lucas überlebt, wird er keinerlei Konsequenzen zu spüren bekommen, außer vielleicht, dass er sich entschuldigen muss.

„Geh in den Unterricht, Lucas“, sage ich so leise, als wären nur wir zwei auf diesem Gang und keine einhundert Legacies und er. Er wirft einen Blick hinter sich, ein erstes Anzeichen von Nervosität. „Du bist in der Unterzahl. Wenn du bleibst und kämpfst, wirst du verlieren.“

Lucas registriert all die hellen Augen und Farben, die angespannten Körper, bereit zum Sprung. Er stößt ein abfälliges Schnauben aus, fixiert mein herzförmiges Geburtsmal, und seine Augen brennen vor Hass. „Wenn ihr euren Fehler bemerkt, wird von dieser Müllhalde, die ihr euer Zuhause nennt, schon nichts mehr übrig sein. Und das wird eine tausend Mal bessere Rache sein, als gegen Stone zu kämpfen … und zu gewinnen.“ Er zuckt mit den Schultern, als wollte er einen unangenehmen Gedanken abschütteln. „Aber wahrscheinlich hast du recht. Die sind aus italienischem Leder.“ Er sieht auf Stone hinab, der ihn anfunkelt und sich die Seite hält. „Ich will sie mir nicht ruinieren.“ Demonstrativ hebt er die Fußspitze, steckt sich die Hände in die Taschen und stolziert den Korridor hinunter, als ob nicht ein ganzer Mob von Legacy Kids ihm nachstarrt.

Während sich die Menge allmählich auflöst, packt Mally Saint, das kälteste Mädchen in ganz Monarch, in aller Seelenruhe Bücher aus ihrem Schließfach in ihre ziemlich teuer wirkende Ledertasche. Ihr Rabe Hellion sitzt auf ihrer Schulter und beobachtet, wie die Leute in ihren Klassenräumen verschwinden. Er stößt ein leises Krächzen aus.

„Sch… Liebling“, sagt sie und streicht ihm über das Gefieder. Ihre schwarzen Haare sind zu einem stylischen Bob geschnitten, und ihre tiefschwarzen Klamotten sehen aus, als wären sie ihr aus französischer Seide von Hand auf den Leib geschneidert worden – was sie wahrscheinlich auch sind. Ihr schwarzes Kleid geht nahtlos in ein Paar hoher Stiefel über, und mit ihren Schulterklappen und der zweireihig geknöpften Jacke im Militärstil wirkt sie, als zöge sie in den Krieg. Ihr Vater ist reich. Superreich. Nur, dass er nicht aus der Narrows Uptown kommt. Er ist Legacy. Und als ob alles und jeder sich darüber einig ist, dass Mally größer und besser ist als alle um sie herum, sitzt ihr schwarzes Legacy-Herz nicht auf ihrem Handgelenk, sondern windet sich wie eine lebendige Kreatur von ihrer Brust die linke Seite ihres Halses hinauf. Ohne irgendein Anzeichen von Stress wirft sie die Tür ihres Schließfachs zu und sieht zu uns hinüber.

„Ach, hi, Leute“, sagt sie.

„Mally“, erwidert James.

Sie schlendert an uns vorbei, Hellion lässt keinen von uns aus dem Blick. „Ich hätte die Jungs kämpfen lassen“, murmelt sie an mich gewandt. „Das wäre richtig unterhaltsam geworden.“ Sie lässt einen Finger über meine Schultern tanzen, und ich kann ein Schaudern nicht unterdrücken. „Das wäre … unbezahlbar.“

Als sie ein paar Sekunden später um eine Ecke verschwunden ist, sagt Ursula: „Wisst ihr, je mehr ich über sie nachdenke, desto besser kann ich sie leiden.“

„Du machst wohl Witze“, schnaubt Smee. „Sie ist wie eine Art Seelsauger und macht mich ganz nervös.“

„Seelsauger können nützlich sein, wenn sie auf deiner Seite sind.“ Ursula verpasst Smee einen weiteren Klaps auf den Hinterkopf.

„Wisst ihr noch, wie sie sich mit Flora und den anderen angelegt hat?“, fragt Smee. „Ich dachte, sie würde den dreien die Haut abziehen.“

Es stimmt, der Kampf war episch. Fauna hatte mir eines Abends anvertraut, dass Mally die drei ständig so viel herumkommandierte, dass sie beschlossen hatten, sie nicht zu ihrem alljährlichen Feenfest einzuladen, bei dem sie ihre Feengroßmütter ehrten. Für Mally kam das einer Kriegserklärung gleich. Sie tauchte bei der Party auf und stand einfach mit verschränkten Armen da, während Hellion umherflog, seine Klauen in die Rosenblütentorte schlug, das Fass mit der Ingwerlimonade umstieß und mit dem Schnabel auf das über Kastanien geröstete Spanferkel einhackte. Ich war auf dieser Party, und das wohl Beängstigendste an allem war der Ausdruck auf Mallys Gesicht. Niemand wagte es, sich ihr und diesem schiefen Lächeln zu nähern, aber vor allem hatte sie ihren kalten, wissenden Blick. Man sollte es sich mit ihr nicht leichtfertig verscherzen. Aber selbst diese Party zu ruinieren, reichte ihr nicht aus. Mally zerschnitt Flora die Bremsleitungen, legte ein überfahrenes Tier auf Faunas Türschwelle und bleichte Merryweathers Rasen. Sie sprechen noch heute nicht miteinander. Nie. Jetzt ist Mally immer allein und schwebt durch die Korridore wie ein ungreifbarer, top gestylter Geist.

Wie auch immer. Nur ein weiterer typischer Montagmorgen in der Monarch High. Gewalt. Territoriales Gehabe.

Nur, dass es sich in letzter Zeit so anfühlt, als würden die Dinge schlimmer.

ZWEI

IM VERLAUF DER NÄCHSTEN ZWEI TAGE KOMMT ES ZU drei weiteren Kämpfen zwischen Legacies und Narrows. Ich glaube nicht, dass es irgendjemandem bewusst ist, bin aber sicher, dass es etwas damit zu tun hat, dass sich der dreizehnte Todestag der Magie und der zweite Jahrestag des Falls nähern. Am einunddreißigsten Oktober ist eine riesige Gedenkfeier für alle in den beiden Katastrophen Verstorbenen geplant, und die Spannungen zwischen den Fraktionen wachsen mit jedem Tag.

Der Wind fährt mir durch die Kleidung, kaum dass ich in der Midcity aus dem Zug gestiegen bin und die drei Blocks zum Polizeirevier gehe, um mein nachmittägliches Praktikum anzutreten. Das Stechen auf meinen Wangen fühlt sich gut an. Ich mag Sturm: Regen, bedrohlich dunkle Wolken, Regenschirme, die vom Wind umgeklappt werden. Manchmal geht mir das ständig gute Wetter in der Scar auf die Nerven. Es fühlt sich gut an, in der Midcity zu sein, dem gigantischen Viertel zwischen der Scar und den Narrows. Hier bezahlen die Leute brav ihre Tickets, gehen ihren Bürojobs nach, shoppen und kämpfen gegen die Kriminalität, so wie sie es im Rest des Landes tun. Das Wetter verändert sich, es gibt viele und ganz unterschiedliche Industrieanlagen, und die Straßen sind nicht voller verlorener Seelen, Skater und Straßenkünstler wie in der Scar.

Auf dem Revier herrscht geschäftiges Treiben. Als eines von Monarchs älteren Gebäuden direkt hinter der Grenze zwischen Scar und Midcity besticht das Revier durch seine hohen Decken, hellen Wände, weißen Stuckverzierungen und sogar durch etwas buntes Glas. Es hat etwas Prachtvolles und Schönes an sich, aber alles Filigrane und Künstlerische wird überschattet von der Arbeit, die innerhalb dieser Mauern verrichtet wird.

Tische stehen dicht gedrängt in dem gewölbeartigen Raum, und im hinteren Teil erstreckt sich eine Fensterfront, so platziert, dass die Person in dem Büro auf der anderen Seite ein Auge darauf werfen kann, was hier vor sich geht. Diese Person ist der Chief, und wie gewöhnlich sind die Jalousien in ihrem Büro heruntergelassen. Es gibt einen kleinen Tresen mit Backwaren, an dem ständig Kaffee gekocht wird, und eine kleine Gruppe von Tischen für die Sekretärinnen. Dort ist auch mein Platz, eingezwängt in eine Ecke, sodass niemand überhaupt bemerkt, dass ich dort bin – bis auf die Sekretärinnen natürlich, die nichts lieber tun, als mir ihre langweiligen Abschriften aufs Auge zu drücken, und einer Legacy-Polizistin namens Bella, deren Schreibtisch ganz nahe bei meinem steht. Es macht mir nichts aus, wenn sie vergessen, dass ich hier bin. Das macht die Dinge so viel einfacher. Die Geräusche von unzähligen Gesprächen und dem ständigen Klingeln der Telefone verschmelzen zu einem undefinierbaren Summen. Neben dem Großraumbüro gibt es noch kleinere Räume für Verhöre oder private Besprechungen, aber hier in der Haupthalle herrscht eine unablässige Energie, und obwohl ich nur nervigen Papierkram erledige, bin ich doch zumindest hier. Einen Schritt näher an meiner Bestimmung.

Überall laufen Leute umher, führen hitzige Gespräche, dicht aneinandergedrängt, und alle sind scheinbar schrecklich beschäftigt. Ich würde mich gerne ins Getümmel stürzen, jemanden finden, mit dem ich reden kann und der mir verrät, was vor sich geht, mich in einen spannenden neuen Fall einweiht, aber ich weiß, dass das nicht passieren wird. Am Anfang meines Praktikums habe ich genug Tage damit verschwendet, mich wie eine Fünfjährige auf einer Party für die großen Kids zu fühlen, die unbedingt Teil der wichtigen Unterhaltungen und der Frotzeleien werden will. Es hat nicht funktioniert.

Ich scanne meine Marke, um mich einzustempeln, und versuche, mir meine Begeisterung nicht anmerken zu lassen. Es stimmt schon, dass es nicht das ist, was ich mir ursprünglich vorgestellt hatte, als ich an der Waffe ausgebildet wurde und gelernt habe, wie man Bomben entschärft und jemanden vom Springen abhält und Verhandlungen führt. Als ich gelernt habe, wie man sich durch ein Gebäude bewegt und all die Ecken sichert, in denen sich jemand versteckt halten könnte. Ich dachte, ich wäre draußen auf den Straßen der Scar und würde sie wieder sicher machen und in Räume gelangen, in die sonst niemand hineinkommt, weil ich Legacy bin. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, wie naiv ich war, schießt mir das Blut in die Wangen, vor allem, weil ich noch weiter geträumt habe. Ich habe mir vorgestellt, wie ich mit achtzehn auf dem Platz des Chiefs sitze, das Büro voller Infinity Roses und eine Ehrenmedaille in einer gläsernen Vitrine an der Wand.

Niemand spricht mit mir oder gibt mir irgendwelche Anweisungen. Es wird von mir erwartet, dass ich auftauche, mich an meinen Schreibtisch setze, so viel erledige, wie ich eben kann, und dann ohne großes Getue wieder verschwinde. Was ich gelernt habe, seit ich dieses Praktikum begonnen habe, ist, dass ich – auch wenn es nicht einmal ansatzweise so ist, wie ich es mir vorgestellt habe – hier bin. Ich habe den ersten Schritt getan, um meinem Ziel näher zu kommen. Ich werde nur viel länger bis dorthin brauchen, als ich ursprünglich gedacht habe.

Und dann ist da noch eine Sache, die ich mir nur manchmal eingestehe. An den Nachmittagen, die ich hier verbringe, bin ich dem Chief näher, als ich es seit dem Tag vor all den Jahren war, als sie den Mord an meiner Familie aufgeklärt hat. Als sie und Mayor Triton mich bei der Pressekonferenz an den Händen gehalten haben. Sie rauscht vorbei, mit ihrer Assistentin auf den Fersen und umgeben von einer ständigen Entourage von Leuten, die um ihre Aufmerksamkeit buhlen, während ich aus der Entfernung zusehe.

Eines Tages wird sie mich sehen.

Denke ich.

Nein, wahrscheinlich nicht.

Jeanette, eine der Sekretärinnen, kommt zu mir und wirft eine weitere Akte auf die Spitze meines Stapels. „Ich habe noch einen Verrückter-Hutmacher-Bericht für dich“, sagt sie. Jeanette hat zwei Kinder zu Hause, und ich bin ziemlich sicher, dass sie mich bemitleidet. „Den solltest du zuerst bearbeiten. Und leg ihn wieder du weißt schon, wo hin, wenn du mit Lesen fertig bist.“ Sie tippt mit der Fingerspitze auf die Akte. „Körperteile in Kisten. Viel spannender wird’s hier nicht.“

Das geht schon ewig so, noch bevor ich hier angefangen habe. Körperteile tauchen über die ganze Scar verteilt auf, was für mich von besonderem Interesse ist, weil mich alles interessiert, was in der Scar passiert. Bis jetzt hatten wir schon einen Oberschenkel, einen Arm und eine Hand, bei der die Fingerabdrücke aus der Haut geschnitten wurden. Die Körperteile scheinen alle von derselben Person zu stammen, sind in Kisten eingepackt wie ein Geschenk und in Trockeneis konserviert.

Dieser Fall ist mein nachmittäglicher Leckerbissen.

„Danke“, sage ich.

Sie zwinkert mir zu, geht weiter und streicht sich dabei die Falten aus dem grauen Rock. „Nichts zu danken, Süße“, sagt sie.

Ich kann es kaum erwarten, dass sie verschwunden ist, bis ich die Akte öffne. Ich sehe mich Bildern gegenüber, so grotesk, dass mir eigentlich schlecht werden müsste, aber das wird es nicht. Die Fotos faszinieren mich. Bei diesem Anblick würde sogar Urs nach Luft schnappen. Das steht auf einer Stufe mit etwas, das Mally an ihrem absolut schlimmsten Tag anrichten könnte. Und es ist so unwiderstehlich. Ich weiß, dass ich die Berichte eigentlich nur abschreiben und anschließend abheften soll, aber in Augenblicken wie diesen frage ich mich manchmal, ob es nicht auch noch einen anderen Weg für mich gibt. Einen aufregenderen Weg. Vielleicht könnte ich einen Bericht erfinden, aus dem Nichts.

Ich hole einmal tief Luft, und dann, als ich alles wieder beisammenhabe, der Raum sein schwindelerregendes Kaleidoskop beendet hat und ich all die verräterischen Gedanken aus meinem Kopf verbannt habe, lege ich die Akte sorgfältig beiseite. Ich werde auf sie zurückkommen, wenn ich Zeit habe, mich in ihren Inhalt zu vertiefen und darin zu schwelgen.

DREI

BIS SECHS UHR IST AUF DEM REVIER RUHE EINGEKEHRT. Die Tagschicht hat Feierabend, die Nachtschicht ist auf den Straßen, und die Patrouillen sind unterwegs, sodass sich nicht mehr so viele uniformierte Polizisten im Gebäude aufhalten. Von denen, die noch geblieben sind, geht eine ruhige Anspannung aus. Dann und wann klingelt ein Telefon, ein paar Polizisten führen Verhöre in den Nebenräumen, der Rest scheint irgendetwas zu recherchieren oder abzutippen.

Ich sollte los, nach Hause oder zu James oder ins Wonderland, aber stattdessen habe ich meinen Arbeitsplatz auf den Boden neben meinem Schreibtisch verlegt, damit ich mehr Platz habe, um Fotos und eine der riesigen Karten von Monarch auszubreiten, die die Detectives zusammengerollt in einem Korb aufbewahren. Mit einem Bleistift habe ich alle Orte markiert, an denen in Geschenkpapier eingewickelte Kisten mit Körperteilen aufgetaucht sind. Ich sehe mir die Fotos der Karten an, die bei den Paketen gefunden wurden, die verschnörkelte Handschrift, die auffällige schwarze Tinte, die beinahe so aussieht, als wäre sie noch nass.

In Liebe,der Verrückte Hutmacher

Was will er erreichen? Ich nehme einen Bleistift und ziehe Linien, die alle Fundorte miteinander verbinden, dann lehne ich mich zurück.

Interessant … alle Fundorte scheinen an Plätzen zu liegen, die den Magicalisten etwas bedeuten. Außerhalb des Ever Garden, wo Blumen das ganze Jahr über blühen, die Lower Monarch Bridge, wo vor zehn Jahren der Magic March stattfand, und vor dem Zentrum für Zauberstäbe, das kurz nach dem Wahn um die Gute Fee abgerissen wurde und den Gerüchten zufolge über einem riesigen Bett aus Kristallen gestanden haben soll, von denen manche behaupten, sie seien die Quelle der Magie. Die Person, die für diese Verbrechen verantwortlich ist, muss aus der Scar stammen. Aber warum das alles? Als eine Art Drohung gegen ihre Bewohner? Irgendein Amagicalist, der versucht, eine Botschaft zu senden?

Ich höre ein Räuspern und schrecke ertappt aus meinen Gedanken. Genau genommen ist dies eine vertrauliche Akte, die Jeanette mit mir geteilt hat, was sie schon ein paar Mal getan hat, um mich vor tödlicher Langeweile und totaler Verzweiflung zu bewahren. Ich habe mich so daran gewöhnt, unbemerkt zu bleiben, dass ich nicht so diskret vorgegangen bin, wie ich es sollte. Schützend lege ich einen Arm über die Karte und die Akte, dann bemerke ich, wer es ist.

Bella Loyola, die junge Polizistin, die abgesehen vom Chief die einzige andere Legacy im ganzen Gebäude ist, sitzt mir gegenüber. Die Arme verschränkt, zieht sie hinter ihrer Hornbrille eine Augenbraue hoch. In ihrer Weste, der weißen Bluse und der Karohose sieht sie von Kopf bis Fuß wie der büchervernarrte Gutmensch aus, der sie auch ist, obwohl ich zugeben muss, dass es ihr dabei irgendwie gelingt, stylisch zu wirken. Und diese Haare! Dunkelbraun und üppig, zu einem unordentlichen Pferdeschwanz hochgesteckt, dem man ansieht, dass es sie den halben Morgen gekostet hat, ihn genau so hinzubekommen.

Sie lächelt mich herzlich an und wirft mir dabei einen tadelnden Blick zu. „Vertraulich?“, haucht sie lautlos und deutet auf meinen Schreibtisch.

Das sollte mich eigentlich nicht überraschen. Sie hat mich früher schon auf Dinge hingewiesen, die ich falsch mache. Ich glaube, dass sie versucht, auf eine schwesterliche Art hilfreich zu sein, aber ich mag es nicht, mich so zu fühlen, als müsste ich mich vor ihr verantworten. Einmal hat sie sogar mein Kaffeekochen korrigiert. Mit sanfter Stimme hat sie mich darauf hingewiesen, dass die Detectives ihren Kaffee nicht so stark mögen, weil sie ihn den ganzen Tag über trinken. In der Hierarchie auf dem Revier steht sie nur eine Stufe über mir. Was mich betrifft, gibt es eigentlich nur eine einzige Person, die mir sagen kann, was ich zu tun und zu lassen habe – und das ist nicht Bella.

Ich mache eine Handbewegung, als hätte ich sie nicht verstanden, und deute dann über ihre Schulter. Ihr Partner Tony kommt von hinten auf sie zu. Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtet.

„Und? Bereit, runterzugehen und einen Happen zu essen?“, fragt er.

„Oh … ähm … eigentlich arbeite ich grade an dem Bericht über den Fall in den Narrows, den wir gestern abgeschlossen haben. Ich will mit dem ganzen Papierkram nicht zu weit hinterher sein.“ Sie lächelt ihn an.

„Nein, nein, nein“, erwidert er und legt eine Hand auf ihren Ordner. „Wir sollten gehen. Du musst mal lernen, dich zu entspannen. Du bist viel zu gestresst.“

Sie zieht den Ordner unter seinem Ellenbogen wieder heraus. „Geh du ruhig schon“, sagt sie.

„Äh … Officer Loyola“, sage ich, „können Sie mir hier bei etwas helfen?“

Tony sieht finster zu mir hinüber. „Sie will grade Pause machen.“

„Es dauert nur eine Sekunde.“

„Sie ist neu. Ich werde ihr besser helfen. Geh du etwas essen, Tony.“

Er steht da und streckt sich, nimmt mit seinen merkwürdig bepackten Schultern zu viel Platz ein. „Na schön“, brummt er, „aber eines Tages wirst du dich mit mir zu einem richtigen Essen hinsetzen.“

Bella wirft ihm ein angespanntes Lächeln zu, dann kommt sie an meinen Schreibtisch. „Was kann ich für dich tun?“

Als Tony gegangen ist, murmelt sie leise „Danke“ und kehrt an ihren eigenen Platz zurück, wo sie konzentriert auf ihren Papierkram starrt. Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, Tränen in ihren Augen zu sehen.

Ich wende mich wieder meiner Akte zu, ohne etwas zu sagen. Ich kenne dieses Gefühl von Frust und Zorn, wenn man etwas nicht aussprechen kann, was man wirklich gerne loswerden möchte. Ich weiß auch, dass niemand gerne dabei beobachtet wird, während er sich von diesem Gefühl erholt.

Ich versuche, mich wieder auf den Verrückten Hutmacher zu konzentrieren, und bin binnen Sekunden wieder in seinem Bann. Ich hoffe, dass die zerhackte Person ein wirklich schlechter Mensch war, der diese Bestrafung verdient hat. Denn ich finde, dass schlechte Menschen genau dieses Ende finden sollten. Ich bin der Ansicht, wenn du jemandem Leid zufügst, dann solltest du auch leiden.

Vor meinem inneren Auge blitzt das Bild meiner Eltern auf, wie ich sie an jenem Tag gesehen habe, und das meiner Schwester, als ich versehentlich einen Blick auf die Tatortfotos erhascht habe – all das Blut. Es gab für sie keine Gnade, und es sollte auch keine Gnade für Jake Castor geben, diesen Jäger, der ihnen das Leben geraubt hatte, während ich in der Schule gewesen war. Er sagte, er habe einfach nur wissen wollen, wie es sich anfühlt, jemandem das Leben zu nehmen. Er hatte das Kommen und Gehen meiner Mutter schon seit Tagen ausgespäht und wusste, wann sie zu Hause sein würde. Es war sowohl willkürlich als auch geplant. Er wusste nicht, dass auch meine Schwester und mein Vater dort sein würden, beide krank und darum zu Hause. Als er endlich sein Geständnis ablegte, sagte er, dass er in Panik geraten sei, weil sich drei Personen statt einer in der Wohnung aufgehalten hatten. Doch er wusste, dass er sie überwältigen konnte, da sie Legacies waren, und Legacies ohne Magie sind eine leichte Beute.

Damit hatte er recht.

Die Vorstellung, dass er in irgendeinem Gefängnis vor sich hin vegetiert, anstatt in Einzelteilen zu verrotten, macht mich rasend wütend. Aber ich nehme an, alles ist besser als die Alternative – dass er immer noch dort draußen ist. Das verdanke ich dem Chief.

Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass eines Tages ich es sein werde, die Menschen zur Rechenschaft zieht und die Scar wieder zu einem sicheren Ort macht. Ich könnte es sogar schaffen, alle zu vereinen. Ich stelle mir vor, wie ich von einem Floß aus den Menschen zuwinke, eine Konfettiparade die Welt bunt färbt und die Leute mir zujubeln und mir dafür danken, dass ich die Stadt gerettet habe.

Meine Tagträume werden von einer leisen, aber bestimmten Stimme unterbrochen, deren dunkler Bariton durch den ganzen Raum trägt und mir einen Schauer über den Rücken jagt.

„Nehmen Sie die Hände weg“, sagt die Stimme ruhig, trotz dieser Worte. „Ich will den Chief sprechen, sofort.“

„Sie können nicht zu ihr, Sir“, erwidert eine Polizistin mit nasaler Stimme, offensichtlich ungläubig wegen seines Tonfalls und seines Anliegens. „Sie empfängt heute keine Besucher. Und hier gilt ein Hausverbot für Tiere. Es sei denn, es handelt sich um eine unserer K-9-Einheiten, und das ist keine von unseren K-9-Einheiten. Ich muss Sie auffordern, zu gehen und ohne diesen …“

Der Vogel auf der Schulter des Mannes, schlank und tiefschwarz, schnappt nach dem ausgestreckten Finger der Polizistin. Sie zieht ihn weg und weicht einen Schritt zurück, während der Mann dem Vogel über den Kopf streicht und ihm aus seiner Tasche etwas in den Schnabel steckt.

„Hellion“, sagt er, „wir werden sie finden.“

„Das ist Mally Saints Vater“, murmele ich und begreife es erst, als ich die Worte schon gesprochen habe. Und das ist Mally Saints Vogel. Ich habe Hellion noch nie irgendwo anders als auf Mallys Schulter gesehen. Seine glänzenden Augen reichen, um jeden auf Abstand zu ihr zu halten. Offensichtlich ist er eine Art Therapievogel, den Mally bekommen hat, nachdem ihre Mutter bei dem Fall gestorben ist. Zumindest behauptet sie das. Eher ein Wachvogel.

Bella, die sich zu irgendetwas Notizen gemacht hatte und deren Stift noch in ihrem Mundwinkel hängt, ist vollkommen gebannt von der Szene. Sie nimmt den Stift aus dem Mund, sieht in meine Richtung und flüstert: „Du kennst Jack Saint?“

Jack Saint.

„Nein“, hauche ich zurück. „Nur seine Tochter.“

„Ah“, sagt Jack, als sich die Tür zum Büro des Chiefs öffnet. „Da ist sie ja. La Grande Dame.“

Der Chief schreitet aus ihrem Büro, und mir stockt der Atem, zusammen mit allen anderen auf dem Revier. Sie ist umwerfend in dem cremefarbenen Kostüm, das ihr wie auf den schlanken Leib geschneidert ist, und ihre Stilettos, ihr Markenzeichen, klacken in rascher Abfolge auf den Boden, während sie die kurze Distanz zwischen ihnen überwindet.

„Das geht in Ordnung“, sagt sie zu den Polizisten, die ihr dicht gefolgt sind. „Ich komme mit ihm klar.“

„Ma’am.“ Einer der Polizisten zögert.

Der Chief scheucht ihn mit einer Handbewegung fort. „Ich sagte, dass ich klarkomme. Er ist ein alter Freund von mir.“

„Charlene“, begrüßt Jack Saint sie, dessen Körper sich bei ihrem Anblick kaum merklich entspannt. Er ist so groß und dünn, dass seine Anmut überrascht. Er bewegt sich so elastisch wie ein Schatten, jede einzelne seiner Konturen so spitz, dass sie Glas zerschneiden könnte. Aber selbst von hier aus kann ich sehen, dass seine Augen warm und traurig sind, das sanfte Blau des Ozeans vor einem Strand in einer Zeitschrift. Er beugt sich hinunter, um den Chief auf die Wange zu küssen. Hellion verlagert leicht das Gewicht.

Inzwischen hat Bella sich gefährlich weit aus ihrem Stuhl vorgelehnt. Sie beobachtet die beiden mit gebanntem Interesse, hängt an jedem Wort.

„Du wirst noch umfallen“, wispere ich ihr zu.

Sie winkt ab, als ob sie wegen meines Geredes etwas verpassen könnte, aber dann rutscht sie tatsächlich beinahe von ihrem Stuhl und richtet sich mit einem raschen Blick und dem Anflug eines Lächelns in meine Richtung wieder auf.

Und wir müssen tatsächlich etwas verpasst haben, denn jetzt setzen sie sich hin, und der Chief scheint eine Frage zu beantworten.

„Ich werde genau das tun, was ich immer tue“, sagt sie. „Ich werde meinen Job machen.“

Auf dem Revier herrscht Stille, alle Augen sind auf Jack Saint und den Chief gerichtet.