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Eine der herausragenden Umbrüche aktueller Kirchenentwicklung liegt im Bereich der Professionen. Wie in wenigen anderen gesellschaftlichen Bereichen ändern sich hier die Berufsrollen, wachsen neue Kompetenzerfordernisse heran und zeigt sich die Notwendigkeit des organisationalen Lernens. Denn wenn man sicher sagen kann, dass der Erfolg oder Misserfolg kirchlicher Präsenz an ihrem personalen Angebot liegt - Glaube entsteht und lebt in personalen Beziehungen -, so trifft dies in doppelter Weise für das hauptamtliche Personal zu. Zudem gilt dies in besonderer Weise in der gegenwärtigen Situation der Kirche in Deutschland. Der vorliegende Band umfasst insgesamt acht Forschungsberichte, in denen die personalentwicklerischen und kirchenkulturellen Dimensionen seelsorglich-kirchlicher Ausbildungsgänge im Allgemeinen und Drop-out-Effekte im Besonderen in den Blick genommen und untersucht werden.
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Seitenzahl: 354
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Marius Stelzer
Diversity-Management als Dimensionkirchlicher Personalentwicklung
Herausgegeben von
Prof. Dr. Matthias Sellmann
und Dr. Martin Pott
AngewandtePastoralforschung
07
Marius Stelzer
Diversity-Management als Dimension kirchlicher Personalentwicklung
Evaluation der Seelsorge-Ausbildung am Beispiel des Bistums Münster
echter
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
© 2019 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlaggestaltung Crossmediabureau
E-Book-Herstellung und Auslieferung readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
ISBN 978-3-429-05402-1 (Print)
ISBN 978-3-429-05045-0 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Ekklesio-Diversity als Schmiermittel der personalen Wertschöpfungskette seelsorglicher Berufe
Rolle – Amt – Lebensstil. Konfigurationen von Diversität im Berufsfeld katholischer Seelsorgerinnen und Seelsorger. Eine Bestandsaufnahme
Lebensstile und Wertvorstellungen im relevanten Feld kirchlicher Personalgewinnung
Menschliche Reife: Persönlichkeitsentwicklung und (Homo-)Sexualität
Die Diskussion um die Dynamik von Stadt und Land in der Seelsorge
Die Seelsorgestudie 2012-2014. Eine pastoraltheologisch/- soziologische Relektüre mit dem Focus auf die Ausbildung des zukünftigen Seelsorgepersonals
Kirchenkulturen und Hauskulturen
Der pastorale Qualifikationsrahmen. Überlegungen und Vorschläge zur Strukturierung pastoraler Ausbildungsprozesse
Anhang
Methodenbericht: Theoretische und Methodische Grundlagen und Bezüge; Entwicklung der Fragekomplexe
Die Lebensführungstypologie. Eine integrative Typologie der Lebensführungen in der BRD
Editorial
Die vorliegende Publikation ist eine Sammlung von insgesamt acht einzelnen Forschungsberichten, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Diversity Management als Dimension kirchlicher Personalentwicklung: Evaluation der Ausbildung von Priestern und Pastoralreferentinnen und –referenten im Bistum Münster“ entstanden sind. Zusammen mit dem Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP) der Ruhr-Universität Bochum initiierten die Hauptabteilung Seelsorge-Personal, das Priesterseminar Collegium Borromaeum und das Institut für Diakonat und Pastorale Dienste der Diözese Münster eine Evaluation der Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Prof. Dr. Matthias Sellmann und Personaldezernent Hans-Bernd Köppen verantworteten als zuständige Leiter der Projektpartner das gesamte Forschungsprojekt und übertrugen mir die Forschungsleitung und Autorenschaft. Das Ergebnis liegt seit geraumer Zeit allen Projektbeteiligten in Form eines Dossiers vor. Mit diesem Sammelband werden die Erkenntnisse nun einem breiteren Leserkreis zugänglich gemacht.
Die Relevanz der Studie bringt Prof. Sellmann in der Projektbeschreibung wie folgt zum Ausdruck:
„Eine der herausragendsten Umbrüche aktueller Kirchenentwicklung liegt im Bereich der Professionen. Wie in wenigen anderen gesellschaftlichen Bereichen ändern sich hier die Berufsrollen, wachsen neue Kompetenzerfordernisse heran und zeigt sich die Notwendigkeit des organisationalen Lernens. Denn wenn man sicher sagen kann, dass der Erfolg oder Misserfolg kirchlicher Präsenz an ihrem personalen Angebot liegt – Glaube entsteht und lebt in personalen Beziehungen – so gilt dies in doppelter Weise für das hauptamtliche Personal. In Zusammenarbeit mit dem Münsteraner Institut für Diakonat und Pastorale Dienste (IDP) und dem Collegium Borromaeum nimmt dieses Projekt personalentwicklerische Dimensionen im Allgemeinen und die Drop-out-Effekte kirchlicher Ausbildungsgänge im Besonderen in den Blick. Als Tool des Wissenstransfers entsteht ein Modell, wie eine integrierte Wertschöpfungskette kirchlicher Personalentwicklung auszusehen hätte: vom Recruiting und Employer Branding über die Gestaltung der Ausbildung bis hin zur Einsatzplanung.“1
Von hier aus ergeben sich schwerpunktmäßig folgende Forschungsthemen:
• Auswertung von Inhalt und Struktur der gegenwärtigen SeelsorgerInnenausbildung im Bistum Münster, insbesondere innerhalb der Berufseinführung (zweite Bildungsphase).
• Analyse von Sozialisations- und Selektionsprozessen von Bewerberinnen und Bewerbern in Bezug auf die Unternehmenskultur „Kirche“ im diözesanen wie pfarrlichen Kontext.
• Gewinnung theoretischer Annahmen auf Basis qualitativer Interviews in Bezug auf die personale Wertschöpfungskette mit dem Focus auf Ausbildung, aber auch auf Personalakquise, Personaleinsatz und –entwicklung.
Herzstück der Studie sind knapp zwanzig qualitative Interviews mit jungen Frauen und Männern, die während der Ausbildung zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus der Ausbildung ausgestiegen sind. Im Zentrum für alle ausbildungsrelevanten Fragen und Themen steht dabei die einfache Frage, auf welche zukünftige Leitidee und Sozialgestalt einer Kirche hin Priester und Pastoralreferent/innen (im Bistum Münster bilden Gemeindereferent/innen und Pastoralreferent/innen eine gemeinsame Berufsgruppe mit gemeinsamer Berufsbezeichnung) ausgebildet werden sollen. In Zusammenarbeit mit der Leitung des Priesterseminars und des Instituts für Diakonat und Pastorale Dienste, mit den beauftragten Ausbildungsreferent/innen sowie den Projektverantwortlichen der Ruhr-Universität Bochum und der Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Bischöflichen Generalvikariat Münster wurde zu Beginn des Projektes die gesamte Forschungsarchitektur festgelegt und das Forschungsvorgehen beraten. Die erste Konferenz diesbezüglich tagte im September 2013. Mit einer gemeinsamen Reflexionskonferenz konnte im April 2018 in Münster das Forschungsprojekt abgeschlossen und dieses Buchprojekt als Abschluss entschieden werden.
Das über drei Jahre andauernde Forschungsprojekt hat eine eigene Dynamik entwickelt, die auch dem methodologischen Selbstverständnis qualitativer Sozialforschung geschuldet ist. Dies gilt vor allem für das abduktive Paradigma in der Pastoraltheologie, wonach unter anderem aus den gewonnenen Erkenntnissen neue Hypothesen zu formuliert werden und den Anomalien in den Texten als Kristallisationspunkte neuen Wissens Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dabei spielen seelsorgliche und forscherische Intuition, methodisches Geschick, manche Zufälle, gedeihliche Teamarbeit in der Projektgruppe und im Team der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Bochumer Zentrum für angewandte Pastoralforschung und nicht zuletzt ein großer Vertrauensvorschuss seitens der Verantwortlichen und der Mitarbeitenden eine große Rolle. Allen Beteiligten, allen voran Prof. Dr. Matthias Sellmann und Domkapitular Hans-Bernd Köppen, sei für ihre Unterstützung herzlich Dank gesagt. Dies gilt vor allem mit Blick auf das freie Forschen im gesamten Forschungsprojekt.
Zu diesem Band: Dieses Buch ist in Form und Inhalt eher wie ein wissenschaftliches Journal angelegt, das zu einem Schwerpunktthema verschiedene Fachartikel beinhaltet. Die einzelnen Forschungsbeiträge in diesem Band folgen keiner inhaltlichen Dramaturgie; die Reihenfolge der Lektüre bleibt dem Leser überlassen. Dennoch bildet der erste Beitrag als Pilotbeitrag den sozialwissenschaftlichen und pastoraltheologischen „Schlüssel“ zum Forschungsanliegen, weil in diesem die Basis für das Verständnis der nachfolgenden Aufsätze gelegt wird. Studienbericht 1 ist ein Plädoyer für eine vielfältige und diakonale lokale Kirche und setzt damit das Vorzeichen für die weiteren Überlegungen in den einzelnen Beiträgen.
Sozialwissenschaftliche Erhebungs- und Auswertungsmethoden werden in der Theologie insgesamt gern kritisch beäugt. Wir wissen aus Erfahrung, dass pastoraltheologisch-soziologische Forschung, vor allem die Fremdperspektive aus anderen Wissenschaften (allen voran Humanwissenschaften), kritisch angefragt wurde und wird. Daher wird im Anhang ein ausführlicher Methodenbericht über Methodologie und den konkreten Methoden zur Datengewinnung und –auswertung aufgeführt. Dabei ist bewusst, dass diese Studie nur einen Ausschnitt des gesamten Ausbildungsthemas beleuchten und nur einen Teil des gesamten Studienmaterials verarbeiten und anbieten kann.
Ein wichtiges Werkzeug in dieser Studie ist die Analyse sozialer Ungleichheit mithilfe von Lebensstilen und Werteeinstellungen. Dr. Marko Heyse vom Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ich haben in sehr produktiver und kollegialer Zusammenarbeit ein theoretisch fundiertes, replizierbares und empirisch nachvollziehbares Lebensstilmodell entwickelt, das genauso solide und aussagekräftig ist wie marktübliche Lebensstilmodelle. Eine Beschreibung von Theorie und Methodik des Lebensstilmodells sowie die einzelnen Milieubeschreibungen sind diesem Berichtssystem ebenfalls angehängt. Auch hier sei die Vorablektüre empfohlen.
Hinweise: Zu keinem Zeitpunkt wurde die Forschungsarbeit seitens kirchlicher, universitärer oder anderer über Drittmittelförderung beteiligter Institutionen oder Autoritäten beeinflusst oder eingeschränkt. Namen und Adressen der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden über die Sekretariate der Ausbildungshäuser zur Verfügung gestellt. Die Stichprobe der Studienteilnehmenden ging deutlich über die Diözese Münster hinaus. Keiner der Ausbildungsverantwortlichen bzw. Akteure in der Projektgruppe und auch keiner der Studienteilnehmer erfuhr, zu wem Kontakt aufgenommen werden konnte (und zu wem nicht) und mit wem ein Interview geführt wurde. Alle beteiligten Teilnehmenden wurden vorab über das Forschungsvorhaben informiert (Forschungsthema, Datenerhebung und Auswertung, Anonymisierung). Jeder Studienteilnehmer hatte das Recht, jederzeit das Interview ohne Gründe abzubrechen oder im Nachgang die Verwendung der Interviewdaten zu untersagen. Alle Teilnehmenden erhielten erst am Ende des Interviews als Dank ein kleines Präsent.
Diese Studie konnte mit einem Druckkostenzuschuss der Diözese Münster und des ZAP Bochum veröffentlicht werden. Ich danke Generalvikar Dr. Klaus Winterkamp und Prof. Sellmann für die großzügige Unterstützung. Nicht zuletzt danke ich Stephanie Heckenkamp-Grohs, Christoph Schulte und Johannes Lohre für ihre Unterstützung bei der Durchsicht und Korrektur der Studienmanuskripte für die Drucklegung.
Münster, im Advent 2018
Marius Stelzer
1 Projektbeschreibung Matthias Sellmann, Zentrum für angewandte Pastoralforschung, www.zapbochum.de (Aufruf: Juni 2018).
Ekklesio-Diversity als Schmiermittel der personalen Wertschöpfungskette seelsorglicher Berufe
Abstract: Der vorliegende Beitrag1 geht der Frage nach, wie sich der pastorale Nahbereich als volkskirchliche Struktur im Lebensstilmodell einzeichnen lässt. Basis der Untersuchung sind qualitative Befunde, die innerhalb eines Beratungsprozesses einer Großpfarrei generiert wurden. Diese Befunde werden durch Erkenntnisse der neuen Kirchengeschichte angereichert, um daraufhin eine Leitidee einer zukünftigen, vielfältigen Sozialstruktur kirchlichen Lebens zu skizzieren, auf die hin Seelsorgende ausgebildet werden könnten. Der Schlüssel zu allem pastoralen Handeln ist hierbei das Paradigma der radikalen Diakonie, das im Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert wird.
Die soziale Gestalt der katholischen Kirche in ihren Gemeinden ist milieuverengt. Das ist das Ergebnis der Sinus-Kirchenstudie aus dem Jahr 2005 und des Trendmonitors 20102 als auch der empirische Befund innerhalb des kirchlichen Personals.3 Im Gefolge dieser pastoraltheologischen Erkenntnisse hat es viele gute Gehversuche einer milieusensiblen Kirche sowie Tagungen, Kongresse und Best-Practices-Veranstaltungen gegeben. Der große Gewinn ist, mit Hilfe der Milieustudien ganzheitliche Bilder der gegenwärtigen Lebenswelten zu zeichnen, diese Erkundungen als Substrate religiöser Fragen und Sehnsüchte zu dechiffrieren und für die Seelsorge fruchtbar zu machen. Zugleich hat es diesbezüglich im Laufe der letzten zehn Jahre nicht nur Übersättigungs- oder Übermüdungserscheinungen hinsichtlich der Rezeption und Anwendung des Lebensweltenansatzes innerhalb der Pastoral gegeben, sondern es wurden und werden zugleich Überforderungssignale sichtbar.
Im Rahmen eines wissenschaftlichen Beratungsprozesses in einer Großpfarrei im Bistum Münster konnten wir qualitativ ermitteln, wie sich im pastoralen Feld einzelner (Kirchturm-)Gemeinden unter dem Dach einer Pfarrei die soziale Struktur von Kirche verdichtet hat: „Gemeinde“ lässt sich als ein Engagement- und Nahbereich skizzieren, der sich personell aus Engagierten konservativer und etablierter Milieus (überwiegend ehrenamtliches Engagement von Frauen im sozialen Bereich; Männer: eher Verwaltung, Kirchenvorstand etc.), aus Engagierten in der alt geworden bürgerlichen Mitte (oftmals Engagement in Pfarreiräten und in Kinder/Jugendkatechese), aus Engagierten des konventionellen Kleinbürgertums (Verbandsarbeit: kfd, KAB, Kolping) sowie der Traditionellen (Gottesdienstbesucherinnen) und Benachteiligten (Partizipation als Nutzer der sozialen Dienste wie Kleiderkammern, Sozialbüros) speist. Empirisch gesehen bilden die Generationen jenseits des 50. Lebensjahres die Hauptkohorten dieser Sozialform der Gemeinden in der Pfarrei. Natürlich engagieren sich auch Jugendliche, die höchstwahrscheinlich im Sinus-Jugendmodell die konservativ-bürgerliche Gruppe bilden: Messdiener, Jugendgruppen, Liturgie- und Musikkreise, Verbandler. Für diese Jugendlichen stellt dieser kirchliche Nahbereich einen sicheren, weil heimatlichen und konsistenten Partizipationsraum dar.
Anhand des eigens entwickelten Lebensstilmodells, der Lebensführungstypologie lässt sich dieser qualitative Befund veranschaulichen. Dieser Befund beruht auf knapp 20 offene Einzelfragen, die insgesamt sieben ehrenamtlichen Gemeindeteams an den Kirchorten der Pfarrei gestellt wurden. Auf die Fragen nach den bisherigen Aufgaben und den zukünftigen Zielen, die sich das Gemeindeteam jeweils setzt, antworteten praktisch alle Teams, man wolle das bewahren und erhalten, was da ist. Ein Gemeindeteam hat dem Fragebogen die persönlichen Steckbriefe der Teammitglieder beigefügt. Mit Hilfe dieser Hinweise und mit Blick auf die Konstellationen der anderen Gemeindeteams konnte in dieses Lebensstilmodell das Carré gemeindlicher Partizipation hineinmodelliert werden:
Abbildung 1: Das soziale Feld der klassischen Pfarrei im Lebensstilmodell (eigene Darstellung).
Das hier eingezeichnete soziale Feld der klassischen Pfarrei mit ihren Gemeindeorten und -gremien ist ein Resultat kirchengeschichtlicher Faktoren. Im Folgenden werden diese Hintergründe aufgezeigt, weil bis in die Gegenwart hinein die theologische und pastorale Ausbildung des Seelsorgepersonals auf genau dieser volkskirchlichen Leitidee und den damit korrespondierenden kirchlichen Rollenmustern, Kompetenzprofilen und Handlungsfeldern beruht.
Das Zugehörigkeitsparadigma im katholischen Milieu
Die oben im Lebensstilmodell skizzierte Form kirchlicher Zugehörigkeit liegt zum einen in einem Kirchenbild und priesterlichen Rollenbild der pianischen Epoche begründet, in der „die Gemeinschaft des Kirchlichen die Selbstverständlichkeit und die Freiheit das Unselbstverständliche“ war.4 Religiös-kirchliche Zugehörigkeit war die Norm; der Priester war als patriarchalischer Pfarrherr (Pastor bonus) die autoritäre und prominente Vermittlungsinstanz von Glaubensinhalten und Sakramenten. Die volkskirchliche Alltagsfrömmigkeit dieses katholischen Milieus war gekennzeichnet von der Praxis des häuslichen Gebets, der regelmäßigen Beichte, der sonntäglichen Messfeier, von Sakramentenempfang, Volksmissionen, Prozessionen und religiösem Brauchtum. Extra ecclesiam nulla salus.5
Der Kirchenhistoriker Norbert Köster vertritt die These, dass die Generation der Bischöfe, die für die pastorale Nachkriegsordnung verantwortlich zeichnete, vielfach von eigenen Fronterfahrungen in beiden Weltkriegen geprägt war. Am Beispiel Bischof Michael Kellers weist er nach, wie sich diese Erfahrungen in dessen individueller Spiritualität niederschlugen und programmatisch für Pastoral, für Frömmigkeitspraxis und Priesterbild wurden.6 Angesichts des wahrgenommenen finalen Kampfes von Gut gegen Böse habe Bischof Keller trotz leidvoller Kriegserfahrungen das Bild des sich aufopfernden Soldaten, des Gotteskämpfers im Dienst Christi, verinnerlicht. Daraus resultiert auch seine pastorale Praxis nach 1945, viele Abpfarrungen vorzunehmen, aber auch bischöfliche Internate und Bildungseinrichtungen sowie die diözesane Verbandsarbeit zu fördern. Diese kirchlichen Orte, vor allem die vielen (neuen) Gemeinden, dienten als Bollwerke bzw. Wagenburgen im Kampf gegen die sich abzeichnende Säkularisierung. An der Front dieser Verteidigungslinien fand dieser finale Entscheidungskampf „Gut gegen Böse“ angesichts einer Gesellschaft, die zunehmend entchristlicht war, statt. Hier liegt die Wurzel der sozialen Dynamik, die bis heute anhält, nämlich die der Pfarrei als geschlossenes System, in dem gilt: Wer mitmacht, gehört dazu, wer nicht mitmacht, ist draußen.7
Die starke These Kösters von der transgenerationalen Weitergabe traumatischer Erfahrungen in der Kirche kann ein weiteres Verstehensmuster liefern, warum gegenwärtig die nach-nachfolgende Generation der Seelsorgenden und der kirchlichen Verantwortungsträger die „Zuflucht im „Ideal der historischen Kontinuität“ suchen und in der Treue zur Tradition ihre Identität durch Abgrenzung bilden.8
Diakonie als Identitätsparadigma
Das zweite Vatikanische Konzil dokumentierte die pastorale Wende der Kirche. Der Umgang mit dem Communio-Begriff und seiner pastoralen Entfaltung ist hier relevant: Lumen Gentium und Gaudium et Spes priorisieren den diakonalen Charakter sowie den Christusbezug der Kirche (LG1, GS1) und bezeichnet kirchliche Gemeinschaft als Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe (LG 8). Der Mensch rückt in den Mittelpunkt. In der Würzburger Synode wird die Leitidee der „Kirche als Hoffnungsgemeinschaft“ für die Kirche in Deutschland stark gemacht.9 Diese Idee korrespondiert deutlich mit der Leitidee des Konzils. Der diakonische Ansatz kirchlicher Gemeinschaft versandet jedoch vielfach in der sozialen Realität von Pfarrei und Gemeinde als Harmoniegemeinschaft: Wer mitmacht, erlebt Kirche. Das Rollenverständnis des Pfarrers als Vater der Pfarrfamilie wurzelt zugleich im seinerzeit bewährten Rollenbild des Pfarrherrn der pianischen Epoche, während mit den neuen pastoralen Laienberufen und den ständigen Diakonen weitere berufliche Rollen die pastorale Dynamik beleben. Nicht zuletzt trägt der gesellschaftliche Wandel seit den 1960er Jahren dazu bei, dass Seelsorgende zunehmend unter Modernisierungsstress geraten. Kurzum: Bei allen guten Ansätzen von Konzil und Synode: vor dem Hintergrund des Parochialprinzips hat die Innen-Außen-Struktur kirchlicher Gemeinden in der Variation als Pfarrfamilie weiter Bestand.
Die Sinus-Studien der letzten zehn Jahre weisen auf, wie stark sich das soziale Feld der Gemeinde verkleinert hat. Traditionelle Milieus, Teile der konservativen und etablierten oberen Schichten sowie die Bürgerliche Mitte konnten 2005 noch als Partizipationsgrößen kirchlich-gemeindlichen Lebens identifiziert werden. In einem Update 2010 wurde deutlich, dass auch die bürgerliche Mitte nur noch marginal am kirchlichen Gemeindeleben partizipierte. Hier schließt sich der Kreis zum aktuellen Befund: gemeindliches Leben ist für moderne Lebenswelten nicht mehr relevant - und auch in den relevanten Milieus ist dessen Legitimität schwach geworden. Zugleich schienen im Pontifikat Benedikts XVI. inhaltlich und ästhetisch Frömmigkeitsformen der pianischen Epoche eine Renaissance zu erleben.
Seelsorgende im Modernisierungsstress
Es zeigt sich gegenwärtig, dass sich die Herausforderungen der Gegenwart auf Dienst und Leben der Seelsorgenden auswirken. Dies gilt in besonderer Weise für das Kerngeschäft der territorialen Seelsorge. Die Seelsorgestudie 2014 zeigt:
„In der Territorialseelsorge Tätige empfinden eine geringere Arbeitszufriedenheit, eine deutlich höhere Arbeitsbelastung und eine geringere Autonomie als Seelsorgende in kategorialen Tätigkeitsfeldern […]. Priester in der Territorialseelsorge haben zum Beispiel auch eine geringere Lebenszufriedenheit, schlechtere Werte in gesundheitsrelevanten Variablen und deutlich höhere Burnoutwerte. Ihre Arbeitszeit liegt im Mittel vier Stunden höher“.10
Die Größe einer pastoralen Einheit wirkt sich den Diagnosen der Seelsorgestudie nach kaum auf die psychologische Gesundheit, auf Belastungswahrnehmung und Zufriedenheit von Seelsorgenden aus. Viele Seelsorgende sind mit ihrer Tätigkeit eher zufrieden, gleichwohl sind sie eher unzufrieden mit Organisation, Struktur und Leitung der Diözese (Leitung, Prioritätensetzung, Zukunftsstrategien).11 Es drängt sich die Hypothese auf, dass Seelsorgende durchaus über Lösungswissen und Handlungsstrategien für diversifizierte Formen des zeitgenössischen Kircheseins im Territorium verfügen, jedoch binnenkirchliche Resterwartungen in Gemeinden und Diözesanleitungen diesen Gestaltungstransfer eher verhindern – und dieser Umstand berufliche Belastungen und Unzufriedenheit fördert. Man darf gespannt sein, ob die qualitativen Interviews der Seelsorgestudie hierauf Antworten geben.
Schließlich zeigt sich bei genauem Hinsehen, dass pastorale Planungsprozesse aus eben dieser Leitidee von Kirche und Gemeinde heraus entwickelt werden. Die Lektüre zahlreicher lokaler Pastoralpläne offenbart auch, dass faktisch alle Pläne hinsichtlich einer Zukunftsvision von Kirche auf genau diese Leitidee kirchlichen Gemeindelebens wiederum abzielen.12 Hier kommt wiederum der qualitative Befund des oben genannten Coaching-Prozesses zum Tragen: Alle ehrenamtlichen Gemeindeteams an den Kirchtürmen wurden befragt, was ihre wichtigsten Aufgaben in den vergangenen zwei Jahren gewesen seien und welche Ziele sie für die kommenden Jahre sähen. Unabhängig voneinander war die Antwort aller Teams signifikant: Bewahren und Erhalten des kirchlichen Lebens vor Ort.
Ekklesio-Diversity als Kennzeichen einer zeitgenössischen Kirche
Von diesen Erkenntnissen ausgehend entwickelten wir mit Hilfe der Lebensführungstypologie eine Leitidee von Kirche, die die starken Grenzziehungen zwischen dem ‚Innen und Außen’ der volkskirchlichen Grundstruktur aufhebt. Denn im Rahmen der qualitativen Interviews der Ausbildungsstudie hat sich durchgängig gezeigt, dass für viele Befragte die kirchliche Kultur innerhalb dieses pastoralen Handlungsquadrats nicht nur lebensstilistisch, sondern auch vom pastoralen Professionsanspruch her gesehen nicht relevant, nicht attraktiv und nicht interessant ist. Man fragt sich zu Recht, wie es die wenigen jungen Seelsorgerinnen und Seelsorger, junge Priester vor allem, in ihrem Minderheitenstatus inmitten eines überalterten Klerus und inmitten einer alternden Gottesdienstgemeinde überhaupt aushalten, ohne aus dem System auszusteigen.13
Ausgangspunkt der Überlegungen ist der pastoraltheologisch-diakonische Ansatz des Konzils (LG1), den Hans Hobelsberger aufzeigt: Kirche dient nicht sich selbst, sondern der kreativen und handlungsbezogenen Konfrontation von Evangelium und menschlicher Existenz (Rainer Bucher) und damit dem Heil des Menschen, dem Gelingen des Lebens (Glaubensbekenntnis von Nizäa).14 Diakonie ist daher der Rahmendiskurs jeglichen pastoralen Engagements. Das bedeutet, neben dem gemeindlichen Leben an den Kirchtürmen, vor Ort weitere Orte und Gelegenheiten zu fördern, zu entdecken oder zu gründen, an denen Menschen Leben und Glauben um des Heiles willen teilen. Das sind klassischerweise: Schulgemeinden, Altenpflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten, Hochschulen. Das sind darüber hinaus temporäre Eventgemeinden (Geistliche Konzerte, Performances, Installationen, Kirchentage) oder auch En-passant-Gemeinden (Klöster, Stadt- und Jugendkirchen) und viele andere mehr. Die folgende Grafik zeigt exemplarisch Orte und Gelegenheiten im Milieupanorama einer Kommune/Pfarrei:
Abbildung 2: Verortung von Gemeinden im Lebensstilmodell (eigene Darstellung).
Die zentrale und unverzichtbare Anforderung: Diese Orte und Gelegenheiten sind nicht die Rekrutierungsfelder für die klassische Gemeindepastoral. Der Rekrutierungsgedanke widerspricht fundamental dem diakonischen Ansatz. Sie sind auch nicht Satelliten der Gemeindepastoral. Es entsteht vielmehr ein nachbarschaftliches Prinzip gleichberechtigter kirchlicher Orte und Gelegenheiten unter dem Dach der Pfarrei. Um es exemplarisch zu verdeutlichen: Die Pastoral beispielsweise in einer KiTa ist nicht dazu da, dass die Kinder sonntags in den Kindergottesdienst kommen. Und die Kinder in der KiTa sind nicht die „besten Missionare“, um irgendwie die Eltern pastoral zu erreichen, damit sie sich „in der Gemeinde“ engagieren. Pastoral in der KiTa ist um der Kinder willen da: deren Freuden und Hoffnungen, Trauer und Ängste, Sorgen und Fragen anzunehmen, ernst zu nehmen und diese Lebensfragen kreativ mit dem Evangelium zu konfrontieren, d. h. kindgemäße und entwicklungsgemäße Formen der religionspädagogischfrühkindlichen Erziehung zu entwickeln. Erzählen und feiern, ausprobieren und integrieren sind vermutlich hier die wichtigsten pastoralen Ausdrucksformen. Weitere existenzielle Anliegen diakonischer Pastoral zeigt die folgende Grafik:
Abbildung 3: Konfrontation von Existenz/Biografie und Evangelium (eigene Darstellung).
Aus diesen Annahmen erwachsen neue Ansprüche an die Ausbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die hier in Stichpunkten aufgeführt sind (aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben):
Erste Konsequenzen
Organisation: Denken in Netzwerken, Komplexitätsmanagement, Zeitmanagement, Führungskräfteentwicklung, Strukturkompetenz, Systemisches Denken und systematisches Handeln, Gründungskompetenz zur Entwicklung menschennaher Orte und Gelegenheiten
Rezeption: Lebensstile erfassen, pastorale Responsivität, Empathie, geographische und planerische Kompetenz.
Profession: Teamfähigkeit, Rollenidentität, Komplexitätsfähigkeit, Ambiguitätstoleranz, psychosoziale und geistliche Gesundheit, Lebenslanges Lernen, Ausbildung und Einsatz nach individuellen Neigungen und pastoralen Anforderungen, Führungskräfteentwicklung, partizipative Leitung, Theologische Kompetenz, Selbstwirksamkeit und Widerstandskraft.15
Partizipation: Management freiwilligen Engagements: Motivation und Gewinnung, ehrenamtliche Personalentwicklung und –qualifizierung.
Kommunikation und Artikulation: Inhalte und Strategien kirchlicher Verkündigung in der Vielfalt pastoraler Orte entwickeln, biografische Resonanzfähigkeit, Kampagnenkompetenz in Wort, Schrift und Bild, Ritualkompetenz.
Man merkt: das bloße Eliminieren des Rekrutierungsgedankens, der seit der pianischen Epoche in der DNA pastoralen Personals verankert ist, setzt einen Paradigmenwechsel in der Seelsorge in Gang, von dem nicht nur die Ausbildung pastoraler Mitarbeiter/innen, sondern auch die Personalgewinnung (Berufungspastoral), der Personaleinsatz, die Personalentwicklung, berufliche Weiterbildung und Ruhestandsplanung betroffen ist. Wenn das Modell gleichberechtigter, nachbarschaftlicher Orte und Gelegenheiten unter dem klaren Vorzeichen radikaler Diakonie realistisch ist, dann wäre es möglich, innerhalb der großen Teams großer Territorialpfarreien neue kategoriale Orte zu schaffen, Schwerpunkte zu setzen, berufliche Spezialisierungen zu ermöglichen, Transparenz und Teamarbeit zu fördern und Verzahnungen mit nicht-kirchlichen Akteuren und Institutionen zu provozieren „um das Heil der Menschen willen.“
Wir bräuchten auch nicht mehr Generalisten in der Seelsorgerschaft, die allen alles werden, sondern hier wird Ausbildung modifizierter und modularisierter angelegt sein müssen, um professionalisierte und spezialisierte Seelsorgende gezielt in Einsatzfeldern (Orte und Gelegenheiten) einsetzen zu können – um des Heiles der Menschen willen. Ubi salus ibi ecclesia.
Literatur
Bucher, R., Die Gemeinde nach dem Scheitern der Gemeindetheologie. Perspektiven einer zentralen Sozialform der Kirche, in: Sellmann, M. (Hg.), Gemeinde ohne Zukunft? Theologische Debatten und praktische Modelle, Freiburg i.Br. 2013, S. 19-54.
Hobelsberger, H., Jugendpastoral des Engagements. Eine praktisch-theologische Reflexion und Konzeption des sozialen Handelns Jugendlicher Würzburg 2006 (SThPS 67).
Höhn, H.J., Fremde Heimat Kirche. Glauben in der Welt von heute, Freiburg i. Br. 2012.
Jacobs, C., Warum sie „anders“ werden. Vorboten einer neuen Generation von Seelsorgern, in: Diakonia 41 (2010) S. 313-322.
Ders. (u.a.), Überraschend zufrieden bei knappen Ressourcen. Ergebnisse der deutschen Seelsorgestudie, in: Herder-Korrespondenz 69 (6/2015) S. 294-298.
Köster, N., Kampf gegen die Säkularisierung. Weltkriegserfahrung und Pastoral bei Bischof Michael Keller (1896-1961). Unveröffentlichtes Manuskript zur Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster am 15. Januar 2015.
Köster, N., Der lange Schatten. Kriegsenkel als Seelsorgerinnen und Seelsorger, in: Herder-Korrespondenz 70 (6/2016), S. 23-26.
Sellmann, M., Milieuverengung als Gottesverengung, in: Lebendige Seelsorge 57 (4/2006) S. 284-289.
Stelzer, M., Wie lernen Seelsorger? Milieuspezifische Weiterbildung als strategisches Instrument kirchlicher Personalentwicklung (Angewandte Pastoralforschung 1), Würzburg 2014.
1 Dieser Beitrag wurde in Lebendige Seelsorge 68 (1/2017) veröffentlicht.
2 Vgl. hierzu exemplarisch der Diskurs zur Sinus-Kirchenstudie in: Lebendige Seelsorge 57 (4/2006), „Kirche in (aus) Milieus“, darin u.a. Sellmann, M., Milieuverengung als Gottesverengung, S. 284-289.
3 Vgl. zum Milieuspektrum der Seelsorgenden: Stelzer, M., Wie lernen Seelsorger? Milieuspezifische Weiterbildung als strategisches Instrument kirchlicher Personalentwicklung (Angewandte Pastoralforschung 1), Würzburg 2014, S. 151ff..
4 Vgl. hierzu und im Folgenden: Bucher, R., Die Gemeinde nach dem Scheitern der Gemeindetheologie. Perspektiven einer zentralen Sozialform der Kirche, in: Sellmann, M. (Hg.), Gemeinde ohne Zukunft? Theologische Debatten und praktische Modelle, Freiburg i.Br. 2013, S. 19-54.
5 Vgl. Bucher, ebd, S. 22.
6 Vgl. hierzu: Köster, N., Kampf gegen die Säkularisierung. Weltkriegserfahrung und Pastoral bei Bischof Michael Keller (1896-1961). Unveröffentlichtes Manuskript zur Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster am 15. Januar 2015; sowie: Köster, N., Der lange Schatten. Kriegsenkel als Seelsorgerinnen und Seelsorger, in: Herder-Korrespondenz 70 (6/2016), S. 23-26.
7 vgl. Köster, N. Kampf gegen die Säkularisierung, Abschnitt 6.4.
8 Vgl. Höhn, H.-J., Fremde Heimat Kirche. Glauben in der Welt von heute, Freiburg, i.Br. 2012, S. 47-54, S. 50.
9 Federführender Autor des Hauptdokuments „Unsere Hoffnung“ war Johann Baptist Metz.
10 Jacobs, C. (u.a.), Überraschend zufrieden bei knappen Ressourcen. Ergebnisse der deutschen Seelsorgestudie, in: Herder-Korrespondenz 69 (6/2015) S. 294-298, hier: S. 295.
11 Vgl. ebd.
12 Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bochumer Zentrum für angewandte Pastoralforschung hat über 100 Pastoralpläne einer deutschen Diözese systematisch gelesen und analysiert. Auf meine Anfrage, wie viele Pläne denn auf genau diese Sozialform hinarbeiten, sagte sie, dass nahezu ausschließlich alle Pläne dies täten.
13 Vgl. Jacobs, C., Warum sie „anders“ werden. Vorboten einer neuen Generation von Seelsorgern, in: Diakonia 41 (2010) S. 313-322, hier: S. 314.
14 Vgl. Hobelsberger, H., Jugendpastoral des Engagements. Eine praktisch-theologische Reflexion und Konzeption des sozialen Handelns Jugendlicher (SThPS 67), Würzburg 2006, S. 152-162. Hobelsberger bezieht sich vor allem auf die Aussage im Glaubensbekenntnis von Nizäa/Konstantinopel „Für uns, und zu unserem Heil ist Gott Mensch geworden“.
15 Diese beiden Variablen erwiesen sich als äußerst bedeutsam mit Blick auf die Lebenszufriedenheit und das Kohärenzgefühl von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, vgl. Jacobs, C., Überraschend zufrieden, S. 295.
Rolle – Amt – Lebensstil. Konfigurationen von Diversität im Berufsfeld katholischer Seelsorgerinnen und Seelsorger. Eine Bestandsaufnahme
Abstract: Im gegenwärtigen Kulturwandel der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum kommt der Professionsforschung als Grundlagenforschung für Personalentwicklung eine wichtige Aufgabe zu. Die Fragen und Herausforderungen zu kirchlicher Organisation, zur Wahrnehmung und Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, zu Leitung, Partizipation und Teamarbeit, zur Entwicklung künftiger Visionen und Strategien seelsorglicher Arbeit, zum Umgang mit Ansprüchen und Belastungen in der Seelsorge, zu Themen und Lernweisen der beruflichen Weiterbildung, zu Kommunikation und Artikulation des Evangeliums und nicht zuletzt zu den individuellen Rollenverständnissen lassen sich in Bezug auf die Seelsorgenden aus mindestens drei Blickwinkeln betrachten: aus der Perspektive der beruflichen Rolle, des kirchlichen Amtsverständnisses (dem Bild von Kirche) und des milieutypischen Werteverständnisses (und die damit zusammenhängenden Strategien der individuellen Alltagsinszenierung und -ästhetik). Der vorliegende Beitrag bündelt zahlreiche Erkenntnisse unterschiedlichster Studien und versucht eine Art synoptische Übersicht zu Dienst und Leben, Amtsverständnis und Lebensstil von Seelsorgenden zusammenzustellen. Der Rückgriff auf diese unterschiedlichen Mindsets ist unverzichtbar, will man gegenwärtig und auf Zukunft hin neue pastorale Rollenbilder und Aufgabenprofile und damit pastorale Ausbildung konfigurieren.
Die pastoralsoziologische Forschung hat gezeigt, dass die drei in der Überschrift genannten Bereiche Rolle, Amt und Lebensstil in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen.1 Damit wird es möglich, aus unterschiedlichen Studienzusammenhängen die Grundcharakteristika der beruflichen Rollen darzustellen und aufzuschlüsseln. Das Gliederungsprinzip dieser Übersicht sind die sieben Themenfelder zur Kirchenentwicklung, die von Matthias Sellmann als unverzichtbar herausgestellt wurden: Organisation – Rezeption – Profession – Partizipation – Kommunikation - Artikulation – Innovation.2
Zum Verständnis ist wichtig: Die priesterlichen Rollen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung und die damit korrespondierenden Lebensstile unterliegen zeit- und kirchengeschichtlichen Prägungen. Vor allem das Zweite Vatikanische Konzil ist hier ein Motor für die Anreicherung der ererbten Priesterrolle des Trienter Konzils (dem „Pastor bonus“), für die Aufteilung seelsorgelicher Aufgaben an weitere Berufsträger (Seelsorgehelferinnen, GemeindeassistentInnen, Pastoralreferenten, Ständige Diakone). Ein weiterer Motor für den Wandel der Priesterrolle ist der fortschreitende Priestermangel seit den 1970er Jahren. Paul Zulehner beschreibt diese Entwicklung wie folgt:
„Den Ausgangspunkt bildet das tridentinische Amtsbild vom Guten Hirten: Der Priester, der sich um die ihm anvertrauten Gläubigen seelsorglich sorgt (und sie dazu kennen muss) und ihnen für ihren Lebensweg die Sakramente reicht. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dieses herkömmliche Amtsbild angereichert. Neben der Verantwortung für die Sakramente wurde die Verkündigung des Wortes Gottes betont. Die Aufwertung der Laien fügte den Gemeindepriestern neue Aufgaben hinzu. Das Bild vom Priester, der Gemeinden gründet und leitet, wurde geprägt. Der Priestermangel wiederum formt die angereicherte Priesterrolle spürbar um: Jetzt verlagert sich der Schwerpunkt priesterlicher Aktivitäten von der Person auf die Organisation oftmals mehrerer Gemeinden. Der Priester wird zum Coach der vielen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden, verliert damit den Zugang zur Seelsorge bei den kleinen Leuten.“3
Abbildung 4: Amtstheologische Entwicklungen / Wandel der Priesterrolle seit dem Konzil (Quelle: Zulehner, Modernisierungsstress, Abb 8).
Der hier vorliegende Beitrag zeigt in tabellarischer Form eine Art Synopse dieser Wechselwirkungen. Die Tabelle beinhaltet die Erkenntnisse zahlreicher Studien. Der Übersichtlichkeit halber werden diese nicht einzeln vermerkt, sondern als Quellen am Ende des Dokuments aufgezählt.
Die nachfolgende Grafik fasst die Überlappungen der einzelnen Typologien zusammen. Die Zusammenhänge der Typologien sind signifikant.4
Abbildung 5: Empirische Verortung beruflicher Rollen und priesterlicher Amtsverständnisse im Lebensstilmodell der Sinus-Milieus 2001-2010; Quelle: eigene Berechnungen; Grafik: Sinus-Institut 2010.
Priester pflegen überwiegend einen konservativen Lebensstil (Sinus-Typologie) und inkorporieren die entsprechende Lebenslogik. Sie sind zudem vielfach zeitlose Kleriker (Zulehner-Typologie). Die wenigen Frauen (Pastoralreferentinnen) in diesem Milieu sind ebenfalls signifikant überrepräsentiert im Milieu der Konservativen. Pastoralreferenten und Diakone sind hier praktisch nicht anzutreffen.
Einige Priester sind Etablierte. Sie zeichnen sich eher durch das Amtsverständnis des zeitoffenen Gottesmannes (mit der Nähe zu Postmateriellen) oder des zeitnahen Kirchenmanns aus (eher Nähe zum konservativen Milieu).
Pastoralreferenten sind überwiegend dem Milieu der Postmateriellen zuzuordnen. Sie inkorporieren den Priestertyp des zeitgemäßen Gemeindeleiters.
Diakone sind vornehmlich dem Milieu der Traditionellen zuzuordnen. Dies entspricht hinsichtlich der sozialen Lage bzw. beruflichen Stellung vielfach dem jeweiligen Hauptberuf der Diakone (Mittelschicht / Untere Mittelschicht). Diakone sind ebenfalls zeigemäße Gemeindeleiter, werden sich vermutlich der individuellen Motivation von den Pastoralreferenten insofern unterscheiden, als dass sie „aus der Gemeinde – für die Gemeinde“ ihren Dienst tun bzw. sich zum diakonalen Amt berufen fühlen.
Ausbildung
Mit Blick auf pastorale Ausbildung ist es unumgänglich, die amtstheologischen Entwicklungen zu berücksichtigen, die sich nicht nur im räumlich-ästhetischen Programmen seelsorglicher Ausbildung (Gestalt der Priesterseminare, Laieninstitute) niederschlagen, sondern auch formal in gegenwärtig relevanten Themen und Formaten pastoraler Ausbildung. Zu berücksichtigen sind hierbei auch die offenen und verborgenen individuellen Amtsverständnisse, die darüber hinaus auch Denken und Handeln der für die Ausbildung verantwortlichen Akteure kennzeichnen. Das heißt: Neben der Frage, auf welche Leitidee von Kirche zukünftig ausgebildet werden soll (siehe Pilotbericht in diesem Band) ist die Frage wichtig, auf Basis welcher Amtsverständnisse bislang ausgebildet wurde, wie sich berufliche Rollen und Identitäten zukünftig weiter entwickeln im Zusammenhang mit pastoraler Ausbildung.
Literatur
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Sellmann, M., Die kirchenbildende Kraft des Wortes Gottes in den aktuellen Reformprozessen der deutschen Diözesen, in: Damberg, W. (Hg.), Gottes Wort in der Geschichte. Reformation und Reform in der Kirche, Freiburg i.Br. 2015, S. 298- 316.
Stelzer, M., Wie lernen Seelsorger? Milieuspezifische Weiterbildung als strategisches Instrument kirchlicher Personalentwicklung, Würzburg 2014 (Angewandte Pastoralforschung, Bd. 1).
Wippermann, C., Milieus in Bewegung. Werte, Sinn, Religion und Ästhetik in Deutschland, Würzburg 2011.
Wippermann, C., Magalhaes, I. (Hgg.), MDG Milieuhandbuch „Religiöse und Kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus 2005“, München 2005.
Zulehner, P.-M., Patzelt, E., Samariter - Prophet - Levit. Diakone im deutschsprachigen Raum; eine empirische Studie, Ostfildern 2003.
Zulehner, P.-M., Priester im Modernisierungsstress, Ostfildern 2001.
Zulehner, P.-M., Hennersperger, A., „Sie gehen und werden nicht matt“ (Jes 40,31). Priester in heutiger Kultur. Ergebnisse der Studie Priester 2000©, Ostfildern 2001 (2. Auflage).
Zulehner, P.-M., Renner, K., Ortssuche. Umfrage unter Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten im deutschsprachigen Raum, Ostfildern 2006.
Zulehner, P.-M., Wirklich ein Priestermangel? Zur Lage der pastoralen Berufe im deutschsprachigen Raum, in Herder-Korrespondenz spezial 1 (2009), S. 36-40.
1 Vgl. Stelzer, M., Wie lernen Seelsorger? Milieuspezifische Weiterbildung als strategisches Instrument kirchlicher Personalentwicklung, Würzburg 2014 (Angewandte Pastoralforschung Bd. 1), S. 175.
2 Vgl. zu diesen Linien: Sellmann, M., Die kirchenbildende Kraft des Wortes Gottes in den aktuellen Reformprozessen der deutschen Diözesen, in: Damberg, W. (Hg.), Gottes Wort in der Geschichte. Reformation und Reform in der Kirche, Freiburg i.Br. 2015, S. 298-316.
3 Zulehner, P.-M., Priester im Modernisierungsstress. Forschungsbericht der Studie Priester 2000©, Ostfildern 2001, S. 34f..
4 Stelzer, M., Wie lernen Seelsorger? S. 151-178.
Lebensstile und Wertvorstellungen im relevanten Feld kirchlicher Personalgewinnung
Abstract: Die junge Generation der 20-29-jährigen Frauen und Männer weist eine große Vielfalt an Lebensstilen bzw. Milieuorientierungen auf. Mit Hilfe der Lebensführungstypologie lässt sich zugleich analysieren: In Bezug auf das Lebensalter können typische Verdichtungen im jungen Segment der „Biografischen Offenheit“ identifiziert werden. Gleichwohl zeigt sich auch, dass die in Frage kommende Gruppe gleichaltriger junger Katholiken, die sich als sehr gläubig-religiös bezeichnen, von der Grundgesamtheit deutlich abweicht. Der Befund ist relevant für kirchliche Personalgewinnung und –planung, wenn es darum geht, von Beginn der personalen Wertschöpfungskette an auf Diversity im Personaltableau zu achten.
Einführung
Seit vielen Jahrzehnten nimmt in der kirchlichen Sozialforschung die Erforschung von Dienst und Leben pastoraler Mitarbeiter einen zentralen Stellenwert ein. In vielen Studiensystemen wird dabei auch der Blick auf die nachwachsende Generation von Seelsorgerinnen und Seelsorgern gelegt. Dabei wird sinnvollerweise auch die soziale Herkunft analysiert. So unter anderem in Jakob Crottoginis psychologisch-pädagogischer Untersuchung über den Priesternachwuchs in verschiedenen Ländern Europas 1955.
1 Angesichts des Mangels an Priesternachwuchs im deutschsprachigen Raum untersucht der Autor die fördernden und hemmenden Faktoren von Beruf und Berufung aus psychologisch-pädagogischer Perspektive. In den Synodenumfragen der 1970er Jahre wird ebenfalls die Gruppe der Priesteramtskandidaten gezielt befragt.2 In dieser sowie in der Crottogini-Studie spielt die Berufsstellung des Vaters und die Größe des Herkunftsortes eine wichtige Rolle, um Rückschlüsse auf die soziale Stellung der Kandidaten zu ziehen. Auch Paul M. Zulehner nimmt in der Studie Priester 2000 die Gruppe der Priesterkandidaten in den Blick.3 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang zudem die Studie „Theologiestudierende im Berufswahlprozess“ in Münster 1998-2000.4
Forschungsanliegen
Was jedoch bislang fehlt, ist eine Analyse hinsichtlich des Potenzials der Generation, die gegenwärtig das Rekrutierungsfeld für die berufliche Arbeitswelt insgesamt bildet, nämlich die Kohorte der 20-29-jährigen Frauen und Männer. In diesem Studienbericht werden mit Hilfe der Daten der Markt/Media-Studie „Best 4 Planning“ lebensstilistische Akzente dieser relevanten Altersgruppe untersucht. Dabei wird der Schwerpunkt auf eine Untergliederung der Zielgruppe in gläubig-religiöse und nicht-gläubig-religiöse junge Erwachsene gelegt, um relevante Merkmale für die Zielgruppe der seelsorglichen Berufe im Vergleich zur Gruppe der Gleichaltrigen zu untersuchen.
Ergebnisse
Die Stichprobe der 20-29-Jährigen im Lebensstilmodell
Grundgesamtheit der Sekundäranalysen sind zunächst 45348 Befragte der deutschen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren. Mit Hilfe ausgewählter Variablen zu Werteeinstellungen und Lebensstilen ergibt sich folgende Aufteilung und Anordnung der Lebensstilgruppen im Sozialen Raum:
Lebensführungstypen Deutschland 2015
n=45348
Abbildung 6: Lebensführungstypen in der BRD 2015, n=45348, eigene Darstellung, Datenbasis: best4planning II 2014.
Die Altersgruppe der 20-29-jährigen Frauen und Männer umfasst eine Teilstichprobe von 6301 Befragten in der gesamten Studie. Hier ergibt sich ein zu den theoretischen Grundannahmen des Lebensstilmodells (siehe Anhang) adäquates Verteilungsmuster dieser Alterskohorte im Milieumodell. In der Phase der biografischen Offenheit befinden sich knapp die Hälfte aller Befragten (45,3%). Alle anderen befinden sich in den älteren Milieugruppen (biografische Konsolidierung/Etablierung/Schließung). Dabei ist ein altersbedingtes Gefälle der Gruppengrößen festzustellen. Modernität hängt eng mit dem Lebensalter zusammen. Mit zunehmender biografischer Konsolidierung und Schließung wird der Anteil 20-29-jähriger Frauen und Männer im Lebensstilmodell geringer. Dieser Befund ist als normal zu betrachten. Wir können von der Struktur einer Normstichprobe mit Blick auf diese Altersgruppe sprechen.
Lebensführungstypen Deutschland 2015
20-29-jährige Frauen und Männer
n=6301, gewichtet
Abbildung 7: Lebensführungstypen BRD 2015, 20-29-jährige Frauen und Männer, n=6301, eigene Darstellung, Daten: best4planning II 2014.
Mittels eines weiteren Filters werden in der Altersgruppe der 20-29jährigen Frauen und Männer alle Katholiken auf ihre typischen Lebensstile hin untersucht (n=1936). Die Verteilung im Spektrum aller Lebensstile weist praktisch nur geringfügige prozentuale Abweichungen zur Gesamtgruppe dieser Alterskohorte auf.
Lebensführungstypen Deutschland 2015
20-29-jährige Frauen und Männer, katholisch
n=1936, gewichtet
Abbildung 8: Lebensführungstypen BRD 2015, 20-29-jährige Katholiken, n=1936, eigene Darstellung, Daten: best4planning II 2014.
Wir setzen einen weiteren Filter und untersuchen die Lebensstilorientierung derjenigen, die sich voll und ganz als religiös-gläubige Menschen bezeichnen („Ich bin ein religiös-gläubiger Mensch: trifft voll und ganz zu). Hier reduziert sich zwar die Stichprobe auf 137 Personen, gleichwohl lassen sich überraschende Ergebnisse darstellen: Im Vergleich zu den ersten Diagnosen zeigt sich ein deutlich abweichendes Bild hinsichtlich der Besetzung der einzelnen Lebensstilgruppen: Die Kohorte „Biografische Offenheit“ (Avantgardisten, Pragmatische, Unterhaltungsorientierte) ist deutlich schwächer besetzt. Nur 16,4% finden sich hier wieder. Der Vergleichswert in der Kontrollgruppe beträgt 45,3%.
Die Kohorten „Konsolidierung“ und „Etablierung“ sind deutlich stärker besetzt. Teilweise sind Lebensstilgruppen doppelt so stark besetzt wie in der Kontrollgruppe aller 20-29-jährigen. Hierbei stechen besonders die Gruppen der Soliden Konventionellen, Bürgerlich-Leistungsorientierten, Statusbewusst Arrivierten und Defensiv-Benachteiligten hervor.
Die Gruppe der moderaten Religiös-Gläubigen (Skalenwert 2= trifft eher zu) ist ebenfalls im bürgerlichen Milieu stark. Mit Blick auf das Aktivierungspotenzial sind in dieser Gruppe die gehobenen modern-akademischen Milieus Intellektuelle, Avantgardisten, Leistungsorientierte und Pragmatische interessant (jeweils ca. 14%!).(siehe Tabelle im Anhang).
Die nachfolgende Grafik gibt die Verteilung sowie die Über- und Unterfrequentierungen der Religiös-Gläubigen im Lebensstilmodell wieder:
Lebensführungstypen Deutschland 2015
20-29-jährige Frauen und Männer, katholisch,
gläubig-religiös=trifft voll und ganz zu
n=137, gewichtet
Abbildung 9: Lebensführungstypen BRD 2015, 20-29jährige Katholiken, gläubig-religiös (trifft voll und ganz zu), n=137, eigene Darstellung, Daten: best4planning II 2015).
Empirischer Vergleich der Testgruppe mit der Kontrollgruppe
Der Mittelwert des Lebensalters weist nur einen geringen Unterschied auf, der nicht signifikant ist (MW Religiöse: 24,39 Jahre, MW Nicht-Religiöse: 24,64 Jahre, Median 24 bzw. 25 Jahre); die Verteilung ist in beiden Gruppen gleichmäßig gestreut (siehe Tabelle im Anhang).
Die Geschlechter teilen sich hingegen sehr unterschiedlich auf: In der Kontrollgruppe (alle 20-29-jährige) ist das Verhältnis ausgewogen bei leichtem Überhang der Männer (51,7% männlich, 48,3% weiblich). Religiös-Gläubige (Testgruppe) teilen sich auf in 30,1% männlich und 69,9% weiblich. Das ist eine erhebliche Abweichung gegenüber der Kontrollgruppe.
Bezüglich des Familienstandes sind bei den Religiös-Gläubigen deutlich mehr Personen verheiratet (23,9%) bzw. weniger Personen ledig (76,1%) als in der Kontrollgruppe (16,0% verheiratet, 83,2% ledig).5
Das gesamte Bildungsniveau (Zusammenschau der Bildungsabschlüsse) ist durchaus vergleichbar, gleichwohl in der Gruppe der Religiös-Gläubigen mehr Hauptschulabschlüsse vorhanden sind. Aber insgesamt sind die Bildungsspektren beider Gruppen vergleichbar, d.h. die leichten Unterschiede sind nicht signifikant.
Hinsichtlich des Einkommens sind Religiös-Gläubige etwas besser ausgestattet. Dieser Unterschied ist jedoch ebenfalls nicht signifikant.
Fasst man jedoch Bildung, Einkommen und berufliche Stellung zusammen (Indexbildung zur Variable „Sozioökonomischer Status“ in Best for Planning), dann ergeben sich sehr signifikante Unterschiede. Das heißt: alles in allem ist der sozioökonomische Status Religiös-Gläubiger gegenüber der Kontrollgruppe leicht höher, dies aber signifikant.
Werteeinstellungen: Was ist wichtig im Leben?
Wir untersuchen zudem die Werteeinstellungen und –präferenzen der drei Zielgruppen. Die Studie befragt fünfzehn unterschiedliche „Aspekte des Lebens“ hinsichtlich ihrer Wichtigkeit. Die Fragebatterie weist inhaltlich eine Nähe zum Speyerer Werteinventar von Helmut Klages auf.
Abbildung 10: Mittelwertvergleich „Aspekte des Lebens I“, Daten: best4planning II 2014.
Abbildung 11: Mittelwertvergleich "Aspekte des Lebens II", Daten: best4planning II 2014.
Die Analyse der Mittelwerte zeigt: in einigen Bereichen sind sich alle drei Gruppen sehr ähnlich: Aufgeschlossenheit für neue Entwicklungen, Selbstverwirklichung, Erfolg im Beruf, großer Freundeskreis, Spaß und Freude. Zugleich werden signifikante Unterschiede sichtbar, besonders im Hinblick auf die Gruppe der gläubig-religiösen Katholiken in der Alterskohorte. Gläubig-Religiöse sind eher auf Sicherheit im täglichen Leben bedacht. Leistung spielt eine etwas stärkere Rolle, ebenso die Frage nach Arbeitsplatzsicherheit. Typische Postmaterielle Werte spielen bei Gläubig-Religiosen eine wichtigere Rolle als bei den Altersgenossen: Kulturelles Leben, soziales Engagement, und eine gute, vielseitige Bildung. Gleiches gilt für familiäre Werte: Kinder haben, Familie und Partnerschaft. Signifikant ist der schwächere Mittelwert in Bezug auf „viel Erleben.“ Dass Glaube und Religion eine entsprechend wichtige Rolle spielen und daher hoch bewertet werden, ist erwartbar.
Persönlichkeitsfaktoren: Wie ticken junge Katholiken?
Mit Hilfe der Medienstudie können wir die darin erzeugte „Persönlichkeitsfaktoren“ untersuchen. Diese Dimensionen wurden auf Basis unterschiedlicher Variablen als Indizes gebildet. In Teilen sind die oben aufgeführten Werte-Items in diesen Faktoren enthalten, zugleich auch weitere Variablen aus dem Datensatz, so dass uns hier verdichtete Daten zur Verfügung stehen. Die Faktoren sind: Rationalismus/Pflichtbewusstsein, Gesellschaftliches Engagement, Familienorientierung, Aufstiegsorientierung, sowie die Werte Lebensfreude/ Spaß/Neugierde. Die Befunde stellen sich wie folgt dar:
Tabelle 1: Persönlichkeitsfaktoren und Glaube/Religion (Quelle: best4planning II 2014).
Rationalismus und Pflichtbewusstsein ist bei Gläubig-Religiösen höchstsignifikant höher ausgeprägt als bei der Kontrollgruppe. Was die Prozentangaben verdeutlichen, konnte mit Hilfe einer Konfigurationsfrequenzanalyse6 (KFA) auf Signifikanz hin kontrolliert werden (p≤0,001). (siehe Tabelle im Anhang).
Ähnlich verhält es sich mit der Dimension „Gesellschaftliches Engagement“. Auch hier unterscheiden sich die Prozentwerte deutlich, d.h. signifikant (p<0,05).
Auch die Familienorientierung (und vermutlich die Wichtigkeit von Cocooning- und Harmoniewerten, Well-Being) ist innerhalb der Gläubig-Religiösen deutlich höher als bei allen andere Befragten der gleichen Altersgruppe (p≤0,001).
Gläubig-Religiöse sind zudem deutlich aufstiegsorientierter als die Altersgenossen. Deren Aufstiegsorientierung ist vergleichsweise hoch (gemessen in den vier Kategorien), aber sichtbar unter dem Niveau der Gläubig-Religiösen. Die KFA weist aber nur für die erste Konfiguration eine höchst signifikante Überbelegung aus (gemessen an der Gesamtzahl). Der Persönlichkeitsfaktor „Lebensfreude, Spaß, Neugierde“ ist hingegen innerhalb der Vergleichsgruppe höchstsignifikant höher ausgeprägt als bei den Gläubig-Religiösen. Mit Hilfe der KFA lautet der Befund: Die deutliche Unterbesetzung im höchsten Rang der Dimension „Lebensfreude“ ist hochsignifikant, die hohe Besetzung im zweiten Rang (hoch) ist gegenüber der Kontrollgruppe ebenfalls hochsignifikant. Hedonistische Werte sind in der Tat zweitrangig.
Diskussion
Biografische Offenheit vs. Biografische Konsolidierung
Nicht nur auf den ersten Blick scheint es so, dass Glaube und Religion in der untersuchten Altersgruppe Effekte auf Lebensstil und Werteeinstellungen ausüben. Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen der Eigenschaft, sich selbst als sehr gläubig-religiösen Menschen zu bezeichnen und der Ausprägung eines insgesamt konsolidierenden Lebensstils. Religiös-Gläubige junge Erwachsene sind signifikant weniger häufig im Segment der biografischen Offenheit anzutreffen als Gleichaltrige. Insgesamt gesehen wäre es normal, im Alter von 20-29 Jahren eine Lebensführungsstrategie aufzuweisen, die unabhängig von der sozialen Lage, biografisch offen ist. Man kann entwicklungspsychologisch davon ausgehen, dass in dieser noch langen Phase der Postadoleszenz genau diese Entwicklungsaufgaben anstehen, die sich unter dem Begriff „Das Leben ausprobieren“ zusammenfassen lassen. Dazu gehören Erfahrungen im Gelingen und Scheitern erster Lebensentwürfe (Rollenexploration), sei es, ein Studienfach oder Ausbildungsplatz zu wechseln, einen Studienschwerpunkt zu ändern, sich verschiedenen Freundeskreisen anzuschließen, kulturelle Ausdrucksformen und Stile zu entdecken, mit Gleichgesinnten ähnliche Kulturmuster zu antizipieren, um auf diese Weise einen eigenen Stil oder Geschmack zu entwickeln (Autonomieentwicklung). Diese Entwicklungsaufgaben beziehen sich auch auf Liebe und Partnerschaft, nämlich auf die Frage, den Sinn, die Schönheit und die Formen der eigenen Sexualität (genetische und körperliche Sexualität, sexuelle Identität, sexuelle Präferenz) zu entdecken, auszuprobieren und in die eigene Persönlichkeit zu integrieren (personelle, ganzheitliche Sexualität).7
In der Ungebundenheit des jungen Erwachsenenalters, empirisch gesehen vor der Etappe der biografischen Konsolidierung (die normalerweise mit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt beginnt bzw. mit der Weichenstellung einer bestimmten, individuell adäquaten Lebens- und Partnerschaftsform verbunden ist), geht es demnach um eine selbst verantwortete, fundamentale Programmierung des eigenen individuellen Lebensentwurfes.
Ein großer Teil der Religiös-Gläubigen in dieser Altersgruppe steht biografisch gesehen vor genau diesen Aufgaben, lebensstilistisch gesehen sind sie jedoch „adult“ und befinden sich unlängst in den Phasen von Konsolidierung bzw. Etablierung. Sie scheinen auf unterschiedlicher Weise bereits im Leben angekommen zu sein. Dies ist jedoch nicht typisch. Die Frage nach den Ursachen und Wirkungen muss hier offen bleiben.
Religiosität und Geschlecht
Was hervorsticht, ist der starke Unterschied bezüglich der Selbsteinschätzung „religiös-gläubig“ und dem Geschlecht. Dieses Muster zeigt sich in vielen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen – auch in Bezug auf die Gesamtbevölkerung der BRD.8 Dieses Muster lautet: Frauen schätzen sich häufiger als religiös ein als Männer dies tun. Diese signifikanten Unterschiede können auch mit Hilfe der Daten im ALLBUS belegt werden, gleichwohl sind die Unterschiede der ALL- BUS-Daten deutlich moderater – insbesondere mit Blick auf die hier relevante Altersgruppe.9
Sampling von Pragmatismus und bürgerlichen Werten
Insgesamt gesehen zeigen sich jedoch deutliche Tendenzen hin zu Formen der Verbürgerlichung der Religiös-Gläubigen. Diese Hinweise verdichten sich in den Angaben zu den Persönlichkeitsfaktoren. Dabei lassen sich starke Anzeichen für den generationentypischen Pragmatismus der „Generation Y“ ablesen: Ehrgeiz, Leistungsstreben, Rationalismus. Zugleich dominieren in der Testgruppe Harmoniewerte zuun