Doggerland. Fehltritt - Maria Adolfsson - E-Book
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Doggerland. Fehltritt E-Book

Maria Adolfsson

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Beschreibung

Die Doggerland-Trilogie – die neueste Krimientdeckung aus Skandinavien Es ist der Morgen nach dem großen Austernfest. Kommissarin Karen Eiken Hornby, Ende 40, wacht betrunken neben ihrem arroganten Chef in einem Hotelzimmer auf. Etwa zur gleichen Zeit wird eine Frau brutal in ihrem Haus erschlagen. Das Opfer ist ausgerechnet die Ex-Frau des Mannes, mit dem Hornby gerade die Nacht verbracht hat. Ihr Chef kann den Fall nicht übernehmen, da er zu den potentiellen Verdächtigen gehört. Hornby wittert eine große Chance – sie soll den Fall übernehmen und kann endlich zeigen, dass sie mehr drauf hat. Zuvor muss sie jedoch noch ein anderes Alibi für ihren Chef finden. Hornby beginnt zu suchen. Das Mordopfer kam in einem Kollektiv zur Welt. Nahm dort das Unheil seinen Anfang? An der rauen Küste Doggerlands deckt Karen Eiken Hornby eine alte Lüge auf, die das ganze Land erschüttern wird.

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Doggerland. Fehltritt

Die Autorin

MARIA ADOLFSSON wurde in Stockholm geboren und ist dort auch aufgewachsen. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Pressesprecherin für verschiedene Unternehmen.DOGGERLAND. FEHLTRITT ist ihr erster Krimi um Kommissarin Karen Eiken Hornby.

Das Buch

Dieser Krimi spielt auf Doggerland, einer Inselgruppe in der Nordsee zwischen Großbritannien und Dänemark, die eigentlich vor 8.000 Jahren versunken ist. Doch in diesem Krimi existiert Doggerland weiterhin und besteht aus mehreren Inseln. Die Hauptstadt Dunker ist eine Mischung aus London und Stockholm, es gibt eine ausgeprägte Pub-Szene.Karen Eiken Hornby ist vor etlichen Jahren von London nach Doggerland zurückgekehrt, um zu vergessen, was geschehen ist: Bei einem Autounfall, den sie selbst verursacht hat, sind ihr Mann und ihr Sohn gestorben. Seitdem lebt sie zurückgezogen mit ihrem Kater in einem kleinen Haus direkt an der Küste. Mithilfe von Arbeit, Alkohol und unverbindlichem Sex kommt sie irgendwie durch den Alltag, mehr erwartet sie nicht vom Leben. Doch jetzt darf sie zum ersten Mal selbst eine Ermittlung an einem Mordfall leiten. Endlich kann sie zeigen, dass sie viel mehr ist als nur die Assistentin. Vielleicht ist dies die Chance ihres Lebens.

Maria Adolfsson

Doggerland. Fehltritt

Kriminalroman

Unterhaltung, Thriller, Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Stefanie Werner

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-1833-2Alle Rechte vorbehalten.

© by Maria Adolfsson, 2018First published by Wahlström & Widstrand, Stockholm, Sweden© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: ZERO Media, MünchenUmschlagmotiv: FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Caroline AnderssonE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Epilog

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

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Motto

It is not down in any map; true places never are.

Herman Melville, Moby Dick

1

Schon bevor sie die Augen aufschlägt, weiß sie es. Hier stimmt etwas nicht. Hier stimmt etwas ganz und gar nicht.

Sie sollte in einem anderen Bett liegen; egal, in welchem, aber nicht in diesem. Die leichten Schnarchgeräusche neben ihr sollten von jemand anderem stammen, ganz gleich, von wem, bloß nicht von ihm. Und mit einer zweifelsfreien Gewissheit, die alle anderen Gedanken verdrängt, ist ihr klar, dass sie von hier verschwinden muss. Auf der Stelle, bevor er aufwacht.

Vorsichtig und so leise wie möglich schlägt Karen Eiken Hornby das Laken zur Seite und setzt sich auf, ohne auf die andere Seite des Doppelbetts zu schauen. Lässt ihren Blick über das Hotelzimmer wandern und entdeckt ihren Slip und BH neben ihren nackten Füßen auf dem Boden, ihr Kleid auf dem Couchtisch neben der grünen Wildlederjacke, die Handtasche auf einem Sessel. Weiter hinten liegen ihre Sneakers noch hinter der halb geöffneten Badezimmertür.

Sie atmet lautlos, während sie jede kleine Bewegung genau überlegt, um diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen, sie lauscht den tiefen Atemzügen in ihrem Rücken und holt selbst nur still und flach Luft. Kurz besinnt sie sich, um die Welle der Angst, die das mulmige Gefühl im Bauch angestoßen hat, aufzuhalten. Schließlich legt sie los: Noch einmal atmet sie tief durch, dann bückt sie sich nach dem Slip und streift ihn über. Ganz vorsichtig, damit die Matratze nicht erschüttert wird, erhebt sie sich vom Bett und spürt, wie sich der Raum um sie dreht. Sie hält inne. Dann macht sie geduckt ein paar kleine Schritte, sammelt BH und Strumpfhose ein und greift nach ihrem Kleid und der Jacke. Das Unwohlsein nimmt zu. Sie geht hinüber ins Badezimmer und schließt leise die Tür hinter sich. Für den Bruchteil einer Sekunde zögert sie, dann verriegelt sie das Schloss. Als sie das kleine Klacken vom Schließbolzen hört, erschrickt sie und legt das Ohr an die Tür. Doch alle Geräusche, die sie aus dem Hotelzimmer möglicherweise hören könnte, gehen im Hämmern ihres Herzschlags und im Rauschen ihres Bluts im Kopf völlig unter.

Dann dreht sie sich um.

Das Gesicht, das sie im Spiegel über dem Waschbecken ansieht, ist leer und sonderbar fremd. Voller Selbstverachtung betrachtet sie ihre knallroten Wangen und die Reste der verschmierten Mascara unter ihren Augen. Ihr braunes Haar hängt auf einer Seite platt herunter, während die übrigen Strähnen noch im Dutt im Nacken sitzen. Der lange Pony klebt an der verschwitzten Stirn. Niedergeschlagen begutachtet sie diesen jämmerlichen Zustand und flüstert mit ausgetrocknetem Mund:

»Wie kann man nur so blöd sein.«

Die Übelkeit wird schlagartig schlimmer, und sie schafft es gerade noch, sich über das Toilettenbecken zu beugen, bevor sie erbricht. Jetzt ist er wach, denkt sie, während sie hilflos ihrem eigenen Schluchzen lauscht, keuchend aufs nächste Würgen wartet und die Augen schließt, um nicht die Reste der gestrigen Nahrung in der Toilette anschauen zu müssen. Sie wartet ab, aber ihr Magen scheint sich schnell beruhigt zu haben. Kurzfristig erleichtert steht sie auf, dreht den Wasserhahn an und füllt ihre gewölbten Handflächen. Dann spült sie sich den Mund aus und kühlt sich mit dem Wasser das Gesicht, als ihr einfällt, dass die schwarzen Ränder um die Augen nun noch schlimmer aussehen. Doch das ist jetzt auch egal. In dieser Hölle kann es nicht noch heißer werden.

Jetzt ist sie fast fünfzig und hat diesmal wirklich den absoluten Tiefpunkt erreicht. Es fühlt sich an, als sei sie siebzig.

Eine kurze und schmerzlose Flucht ist das Einzige, worauf sie jetzt hofft, nach Hause zu fahren, sich hinzulegen und zu sterben. In ihrem eigenen Bett. Aber erst muss sie hier abhauen und bis zum Auto kommen, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln, ohne von jemandem gesehen zu werden. Ein kleiner Hoffnungsschimmer taucht auf, als ihr der Gedanke kommt, dass sie gerade an diesem Tag eine Chance auf eine Flucht ohne Zeugen haben könnte. Viertel nach sieben in der Frühe, und das am Tag nach dem Austernfest, wenn ganz Dunker im Halbschlaf vor sich hin dämmert.

Sie füllt ein Zahnputzglas mit kaltem Wasser und trinkt gierig, während sie mit der freien Hand den Haargummi abzieht und zusieht, wie viele lange Haare darin hängen bleiben. Sie füllt noch mal nach, streift das Kleid über, stopft BH und Strumpfhose in ihre Handtasche, und will gerade die Türklinke herunterdrücken, als ihr etwas einfällt. Spülen muss sie auch noch. Selbst wenn er von diesem Geräusch wach wird, es führt kein Weg daran vorbei; hier darf nichts mehr an sie erinnern. Zittrig und mit zugekniffenen Augen hört sie auf das Geräusch des Wassers, wie es durch das Toilettenbecken rauscht, und das darauf folgende Blubbern, als der Tank sich wieder füllt. Ein paar Sekunden wartet sie noch ab. Als nur noch leises Rieseln zu hören ist, hängt sie sich die Tasche über die Schulter.

Dann holt sie tief Luft und öffnet die Tür.

Er liegt auf dem Rücken, den Kopf in ihre Richtung, und für einen Moment erstarrt sie vor Schreck. Im Gegenlicht sieht es auf den ersten Blick so aus, als würde er sie anschauen. Doch dann erfüllt ein röchelndes Schnarchen wieder den Raum, und sie zuckt zusammen, als die Schockstarre vergeht.

Sechs Sekunden später hat sie ihre Schuhe in der Hand und die Hotelzimmertür geöffnet. Und als sie dasteht, auf dem Weg in die Freiheit, bewegt sie irgendetwas dazu, sich noch ein letztes Mal umzudrehen. Dieser zwanghafte Impuls, als hätte sie auf der Autobahn gerade eine Unfallstelle passiert und gar nicht hinsehen wollen, dann aber doch zurückgeschaut, bringt sie dazu, ihren Blick über den Mann, der da im Bett liegt, wandern zu lassen. Betrachtet den entspannt geöffneten Mund, hört das leichte Gurgeln, das seine Atemzüge begleitet.

Mit einem Gefühl von Unwirklichkeit starrt Karen Eiken Hornby ihren Chef drei Sekunden lang an, dann zieht sie hinter sich leise die Tür ins Schloss.

2

Der dunkelrote Teppich fühlt sich weich an, als Karen mit nackten Füßen und schnellen Schritten zum Aufzug eilt und den Knopf drückt. Der Puls hämmert an ihren Schläfen, während sie ihren Zeigefinger als Schuhanzieher benutzt und in ihre Sneakers schlüpft. Sie hat sie gerade angezogen, da erklingt auch schon der Signalton, und die Aufzugtüren öffnen sich leise zischend.

Sie hat Glück. Die Rezeption scheint nicht besetzt zu sein, als sie mit einem hastigen Blick zur Seite durch das Foyer zum Ausgang flitzt. Ein plötzlicher kalter Schauer läuft ihr über den Rücken, als sie realisiert, dass sie nicht die geringste Erinnerung daran hat, wie sie eigentlich hierhergekommen ist.

Haben sie wirklich gemeinsam eingecheckt? Und wessen Idee war das?

Erinnerungsfetzen vom vergangenen Abend flimmern vorbei wie kurze Filmsequenzen; das Treffen am Hafen mit Eirik, Kore und Marike, die anschließende Kneipentour mit noch mehr Austern und einem Glas Wein nach dem anderen. Und dann eine ganz schwache Erinnerung an Jounas Smeed, der in den frühen Morgenstunden in einer der Bars aufgetaucht war. Noch ein paar Szenen blitzen auf, als sie auf den Ausgang zugeht: Lachen, Necken, kurz aufflammender Streit, versöhnliche Umarmungen, vom Alkohol katalysiert, und Jounas’ Gesicht nah an ihrem. Viel zu nah.

Auf dem Weg nach draußen, bevor die Drehtüren sie provokant langsam hinausbefördert haben, kommt ihr der nächste schockierende Gedanke: Ob sie jemand beobachtet hat, als sie das Hotel betraten?

Draußen auf der Straße ist die Septemberluft kühl und klar, und sie kann gerade einmal tief durchatmen, bevor sich ihr wieder der Magen umdreht. Sie wirft einen raschen Blick auf die verlassene Straße und überquert sie mit Trippelschritten, die Hand schon vor dem Mund. Im nächsten Moment steht sie auf der anderen Seite der Strandpromenade und beugt sich kotzend übers Geländer, während die Übelkeit langsam vergeht. Dann für eine Sekunde ein Gefühl der Erleichterung, bevor ihr etwas, das sie beim Aufwachen vor zehn Minuten noch unterdrücken konnte, mit voller Tragweite bewusst wird. Das Schlimmste kommt noch: Am Montagmorgen wird sie ihn wiedersehen.

Karen lässt ihren Blick über die Meeresbucht im Osten schweifen. Im Gästehafen wimmelt es nur so von schaukelnden Masten, doch der etwas weiter entfernte Terminal, wo die großen Fähren ablegen, ist so verwaist wie jeden Sonntag. Die Fähre von Esbjerg kommt erst heute Abend gegen zwanzig Uhr an, und seit ein paar Jahren gibt es am Wochenende keine Verbindungen mehr nach Dänemark oder England. Wer die Doggerschen Inseln sonntags verlassen möchte, muss heutzutage in Ravenby ins Flugzeug steigen. Durch die diesige Morgenluft, die sich hartnäckig über dem Meer hält, kann Karen gerade noch den weißen Radarturm eines Kreuzfahrtschiffes erkennen, das weit draußen im Seehafen liegt.

Sie blinzelt zum Horizont, während sie in der Jackentasche nach ihrer Sonnenbrille tastet und innerlich flucht, dass sie nicht da ist, wo sie hingehört. Karen streicht mit der Handfläche von außen über die Jacke und kommt zu dem Schluss, dass sie die Brille entweder am gestrigen Abend verloren oder aber im Hotelzimmer vergessen haben muss. Jetzt muss sie also gezwungenermaßen mindestens die halbe Strecke nach Hause mit der tief stehenden Sonne im Gesicht fahren, durstig, mit flauem Gefühl im Magen und einem hämmernden Kopfschmerz. Sie bräuchte einen doppelten Espresso und zwei Kopfschmerztabletten, um keine Gefahr für den Verkehr darzustellen, doch sie weiß, dass weder die Geschäfte noch die Cafés auf der anderen Seite der Strandegate um diese Zeit geöffnet sind, sie muss sich nicht einmal umdrehen. Am Tag nach Oistra, dem großen Fest, ist sie vermutlich die Einzige in dieser verkaterten Stadt, die schon wach ist, von einzelnen Ratten abgesehen, die in überquellenden Mülleimern und zwischen Austernschalen nach Nahrung suchen. Allein der Gedanke an Essen verursacht ihr wieder Übelkeit.

Karen schließt die Augen und stützt sich mit den Handflächen auf die rauen, kühlen Steine der Mauer. Sie holt mehrmals tief Luft. Der frische Wind tut gut, und die Brise weht ihr das feuchtverklebte Haar ins Gesicht. Sie lässt die Sonne ihren Nacken wärmen und schaut hinunter zum Strand. Eine Schar Lachmöwen schreit zwischen ein paar schlampig zusammengebundenen Mülltüten, die keinen Platz mehr in den extra aufgestellten Mülltonnen fanden. Etwas weiter entfernt sind die Konturen eines weiteren Abfallsacks sichtbar. Doch im nächsten Moment erkennt Karen, dass das ein Mann ist, der sich dort schlafen gelegt hat. Er liegt direkt auf dem Sand und hat sich mit einem Mantel zugedeckt. Neben ihm steht ein Einkaufswagen, vermutlich von einem der Supermärkte geklaut, und darin lagern leere Flaschen und Dosen. Er sieht aus wie einer der Drogenabhängigen, die sich oben an der Galleria hinter dem Marktplatz rumtreiben. Vermutlich wird es ihm genauso ergehen wie ihr, wenn er aufwacht: durstig, verschwitzt und mit der Angst, die der Kater auslöst, wie ein schwerer Rucksack auf den Schultern. Im Gegensatz zu mir allerdings hat er die Nacht ganz unschuldig allein verbracht, ist ihr nächster Gedanke.

Weit entfernt hört sie das Knattern eines Mopeds, das einen halbherzigen Versuch unternimmt, sich in die Geräuschkulisse der tobenden Meeresbrandung zu drängen. Schäumende Wellen schlagen gegen den Pier, der sich unerschrocken weit ins Meer erstreckt, und in der Bucht ist ein ramponiertes Segelschiff an einem der sechs Dalben festgemacht. Karen fragt sich, wie lange es dauern wird, bis die Hafenpolizei rausfährt und es rauswirft. Vermutlich drücken sie bis zum Nachmittag noch ein Auge zu; nicht einmal die sonst so übereifrigen Jungs werden an einem Tag wie diesem schon vor dem Mittagessen ihren Jagdinstinkt verspüren.

Der hintere Teil der Mole ist noch immer in Morgennebel gehüllt, und der Leuchtturm draußen an dem kilometerlangen Wellenbrecher zeigt sich nur mit unscharfen Konturen. Heute Nacht mussten sie richtig dichten Nebel gehabt haben, denkt Karen und kann sich erinnern, dass der Lärm von den Nebelhörnern ungewöhnlich lang ertönte. Und noch eine Erinnerung kommt auf: Jounas, der verärgert aufsteht, um das Fenster zu schließen. Dann kommt er zurück ins Bett. Dieses Bild verdrängt sie ganz schnell und setzt sich eilig in Richtung Parkplatz in Bewegung, der sich in der Redehusgate befindet.

Das Auto steht vorschriftsmäßig geparkt drei Häuserblöcke entfernt, genau da, wo sie es vor einem halben Tag abgestellt hat. Als sie ihren dunkelgrünen Ford Ranger auf dem verlassenen Parkplatz vor dem Rathaus entdeckt, spürt sie Erleichterung. In knapp einer Stunde wird sie in ihrem eigenen Bett liegen, in ihrem eigenen Haus und hinter heruntergelassenen Jalousien genießen, dass der Schlaf ihr ein paar Stunden Zeit schenken wird, in der sie sich nicht mit quälenden Selbstvorwürfen zermartert.

Im nächsten Moment bemerkt sie, dass ihr Autoschlüssel fehlt.

3

»Na, was ist denn hier passiert?«

Die Stimme hinter ihr klingt autoritär und ein wenig herablassend. Karen, die mit der einen Hand in ihrer Handtasche wühlt und sich mit der anderen auf der Motorhaube abstützt, erstarrt.

Sie war neben dem Wagen in die Hocke gegangen und hatte zunehmend hektischer in ihrer Tasche nach dem Schlüssel gekramt. Erfolglos. Alle Fächer und Taschen hatte sie bereits inspiziert und den Boden abgetastet. Am Ende war sie in ihrer Panik dazu übergegangen, jeden einzelnen Gegenstand auszupacken.

Jetzt flucht sie lautlos mit zusammengepresstem Kiefer: Was tut die Polizei zu dieser Uhrzeit hier draußen? Warum muss man Steuergelder und Personalressourcen verschwenden und Streifen einsetzen, wenn sowieso die halbe Stadt schläft? Mit einem tiefen Seufzer erhebt sie sich auf ihre steif gewordenen Beine. Dann dreht sie sich notgedrungen um und versucht verkrampft, ein entspanntes Lächeln aufzusetzen.

Ihr gelingt nur eine hässliche Grimasse.

In den Gesichtern der Beamten spiegelt sich erst Entsetzen, dann Argwohn, als sie die Unordnung sehen.

»Oh, entschuldigen Sie …«, sagt der Ältere von den beiden und tritt geniert einen Schritt zurück.

Hilflos wandert sein Blick zwischen den verschmierten Make-up-Resten in Karens totenblassem Gesicht und dem Inhalt ihrer Handtasche, der überall auf dem Boden verstreut ist, hin und her. Seine jüngere Kollegin hat Karen nur kurz gemustert und wendet sich nun mit großer Neugier den Sachen auf dem Asphalt zu: eine Zeitung vom Vortag, ein Handy, eine halbe Schachtel Zigaretten, etwas, das wie eine schwarze Strumpfhose aussieht, ein Ladegerät, ein zur Hälfte gegessener Apfel, an dem das dunkel verfärbte Fruchtfleisch noch verrät, wo sie abgebissen hat, ein BH und ein Päckchen Kondome.

Karen Eiken Hornby zwingt sich zu einem gekünstelten Lächeln, und spürt, wie ihr Gesicht spannt. Dann unternimmt sie einen Versuch, die Unordnung zu erklären.

»Ich kann meinen Autoschlüssel nicht finden«, sagt sie und atmet beim Sprechen ein, in der Hoffnung, dass auf diese Art ihr Atem den beiden Beamten nicht in die Nase strömt. Die Handtasche sei neu, schiebt sie hinterher.

»Haben Sie in der Stadt übernachtet?«

Die Polizistin ist in die Hocke gegangen und sieht jetzt zu ihr hoch. Dabei lächelt sie verständnisvoll. Karen spürt sofort Verärgerung aufkommen, was weiß diese unausstehlich durchtrainierte kleine Schnecke mit ihrem wippenden Pferdeschwanz schon vom »Übernachten in der Stadt«?

»Wieso?«, fragt sie mit eiskalter Stimme.

Jetzt setzt sie ihren Blick wieder strategisch ein. Sie weiß, dass dieses durchdringende Blau mit dem gelben Rand rund um die Iris die Menschen vor Schreck zum Schweigen bringen kann. Also sieht sie der wesentlich jüngeren Frau direkt in die Augen und zwingt sie damit, den Blick abzuwenden. Doch in derselben Sekunde tut es ihr schon wieder leid. Sie hat den Kampf zwar gewonnen. Aber was sollte das eigentlich?

»Nach dem Oistra-Fest wird es meistens spät, also habe ich bei einer Freundin übernachtet«, fügt Karen hinzu, um die Atmosphäre wieder zu entspannen. »Aber jetzt muss ich mich wieder um meinen Schlüssel kümmern …«

Karen zeigt auf ihre Handtasche und all die kreuz und quer verteilten Sachen, die noch immer das Interesse der Polizistin auf sich ziehen. Im selben Moment streckt sich eine Hand aus, hebt die zusammengeknüllte Strumpfhose vom Boden und schüttelt sie leicht. Klirrend fällt der flache Autoschlüssel auf die Steine. Zwei Sekunden später ertönt das vertraute Piepen, und die Zentralverriegelung springt auf.

»Einmal für die Chefin!«, sagt die Polizeiassistentin Sara Inguldsen, die sich nun wieder aufrichtet und Karen den Wagenschlüssel mit einem schiefen Grinsen überreicht.

Außerstande, irgendein passendes Wort hervorzubringen, nimmt Karen den Schlüssel entgegen und sieht, wie die beiden Beamten ein paar Schritte zurückmachen und offiziell grüßen. Und nun hat offenbar auch Polizeiassistent Björn Lange die Sprache wiedergefunden.

»Fahren Sie vorsichtig, Inspektor Eiken!«

4

Die Autobahn zwischen Dunker und Langevik erstreckt sich sechs Kilometer entlang Heimös südöstlicher Küste, dann überquert sie die lange Halbinsel Skagersnäs und setzt sich in nordöstlicher Richtung noch einmal eineinhalb Kilometer fort. Karen spürt, wie ihr der Schweiß den Rücken hinunterläuft, während sie die Kälte der Klimaanlage gleichzeitig zum Zittern bringt. Karen klammert sich noch fester ans Lenkrad und schielt immer wieder auf den Tachometer. Sie hat zwar ihre Zweifel, ob die Verkehrspolizisten an solch einem Morgen Geschwindigkeitskontrollen vornehmen, aber allein der Gedanke daran, wieder von einem bekannten Gesicht angehalten zu werden und vielleicht auch noch pusten zu müssen, ist etwa ebenso verlockend wie die Vorstellung, noch eine Nacht mit Jounas Smeed zu verbringen. Und meiner Karriere würde es vermutlich ähnlich stark schaden, denkt sie. Denn trotz der relativ großzügigen gesetzlichen Regelung – ein Ergebnis sehr pragmatischer Politiker, die bei einer Änderung mehr zu verlieren als zu gewinnen hätten – würde der Promillegehalt in ihrem Blut heute sicherlich jede Grenze sprengen. Diese Erkenntnis dreht ihr schlagartig den Magen um, und sie drosselt die Geschwindigkeit weiter. Das jetzt bloß nicht. Never.

Es ist wenig Verkehr, Autos überholen sie nur mit mehreren Minuten Abstand. Karen lockert ihren Griff ums Steuer und entspannt ihre Schultern. Später am Tag, wenn sie ein paar Stunden Schlaf hatte, wird sie den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren lassen, sich alles, was geschehen ist, vor Augen führen, sich selbst Rechenschaft ablegen und zu Reue und Askese verurteilen. Dann gibt es ein paar Wochen keinen Tropfen Alkohol, Zigaretten überhaupt nicht mehr, jeden Tag wird gejoggt, Krafttraining gemacht und gesund gegessen. Erst die Ermittlungen, dann die Verurteilung, so ist das bei ihr. Die Gene der Verwandtschaft von Noorö sitzen tief. Nicht so tief, dass sie sie von der Sünde abhalten könnten, aber immerhin bewirken sie, dass sie die schlimmsten Fehltritte mit Reue erfüllen. Nicht aus Furcht vor der Rache Gottes oder der Angst, nicht in den Himmel zu kommen; eher weil sie den Preis im irdischen Leben fürchtet. Diesmal wird der Chef der Kriminalpolizei von Doggerland ihr die Hölle heißmachen. Sticheleien, Grinsen, Andeutungen. Aber ebenso wenig wie sie einfach weiterarbeiten kann, als wäre nichts passiert, hat sie eine Lösung im Visier. Ein paar Wochen Urlaub werden das Problem kaum beseitigen, denn was kommt danach? Auf volles Risiko gehen und die Kündigung einreichen? Die Branche wechseln, und das in ihrem Alter? Nichts davon scheint eine Alternative zu sein, deshalb verdrängt sie den Gedanken an ihre Zukunft, doch sie kann nicht verhindern, dass immer mehr Erinnerungen vom vergangenen Abend auftauchen und sich puzzleartig zusammenfügen.

Der letzte Samstag im September. Sie hatte Marike, Kore und Eirik im »The Rover« auf ein Bier getroffen, bevor das traditionelle Austern-essen begann. Marike war schlecht drauf gewesen, weil ihr eine Glasur beim Brennen misslungen war, und diese Panne zwei Wochen Arbeit zunichtegemacht hatte. In die Rezeptur hatte sie große Hoffnungen gesetzt. Zudem verabscheute Marike Estrup Austern, was sie auch mit einem ungewöhnlich deutlichen dänischen Akzent zum Ausdruck brachte. Mit der Zeit hatten sich die Freunde an Marikes halsbrecherische Mischung aus Dänisch und Doggerisch gewöhnt und festgestellt, dass man an dem Grad, wie sehr ihr Akzent durchschlug, erkennen konnte, in welcher Stimmung sie sich befand; gestern hatte diese Art Geigerzähler riesige Ausschläge verzeichnet, und es war beinahe unmöglich gewesen, ihrem nordjütländischen Schimpfen zu folgen.

Kore und Eirik hingegen waren bester Stimmung gewesen. Zwei Tage zuvor hatten sie den Zuschlag für ein Haus in Thingwalla erhalten und dann den Freitagabend damit verbracht, sich Sorgen über die Tilgung des Kredits zu machen und über die Einrichtung zu streiten, um sich am Ende im Bett wieder zu versöhnen. Dort hatten sie den ganzen Samstag verbracht und sich wieder in einen Kokon aus schillernden Zukunftsplänen eingesponnen. In dem Zustand hatten sie der Reihe nach den Umzug geplant, das darauf folgende Einweihungsfest sowie ihren weiteren Lebensweg bis ins hohe Alter.

Karen selbst hatte einen sehr produktiven Samstag verbracht. Zuerst war sie in den Baumarkt nach Rakne gefahren. Nachdem sie sieben Fenster abgedichtet, das Scharnier in der Tür vom Schuppen ausgewechselt und außerdem eine halbe Stunde mit ihrer Mutter telefoniert hatte, ohne die Stimme zu heben, hatte sie äußerst zufrieden mit sich selbst ihre noch immer sonnengebräunten Freunde im schummrigen Licht der Kneipe betrachtet. Ihr eigener blasser Teint hingegen ließ sie müde wirken, fast schon krank, was Kore auch noch gnadenlos zur Sprache brachte.

»Ja, aber jetzt bin ich auch mal dran«, war ihre Antwort gewesen. »Vermutlich fahre ich am Montag, spätestens am Dienstag los.«

Nur ein paar freie Tage hatte sie Anfang Juni gehabt, den Rest des Sommers hatte sie durchgearbeitet. Sie hatte Ermittlungen allein zu Ende geführt, während die Kollegen im Urlaub waren, sie hatte die abschließenden Berichte geschrieben, alles aufgeräumt und mithilfe von ein paar vorübergehend abgestellten Kollegen aus den umliegenden Bezirken die Stellung gehalten. Auf die vorsichtige Frage, ob sie ihren Urlaub möglicherweise bis zum Ende des Sommers aufschieben könne, oder besser noch gleich in den Herbst, hatte sie sich nicht anmerken lassen, dass ihr das im Grunde hervorragend passte. Karen Eiken Hornby hatte dann den ganzen Sommer lang gearbeitet und sich ausreichend mit Bonuspunkten versorgt, wenn das Geschacher um Weihnachts- und Silvesterurlaub losging.

Sie hatte sich in einem der Sessel im »The Rover« zufrieden zurückgelehnt und ihren Freunden erklärt, dass nun drei Wochen vor ihr lagen, die sie größtenteils im Nordosten Frankreichs zu verbringen gedachte, während sich Dunkelheit und Kälte über die Doggerschen Inseln legten. Dort, auf dem Hof im Elsass, wo ihr ein paar lächerliche Quadratmeter Erde mit ein paar Weinstöcken gehörten, würde sie mit Philipp, Agnés und den anderen hocken und über die Ernte und die Qualität der letzten Jahrgänge fachsimpeln.

Aber erst wollten sie Oistra feiern.

Wie immer wurde das jährliche Fest unten im Hafen eröffnet, wo sich die Einwohner von Dunker und die Touristen an den Tischen drängten. Die Austern waren zwar noch gar nicht richtig groß, aber der erste Samstag nach dem Herbstanfang war der Auftakt zu einer langen Saison – und das wurde ordentlich gefeiert. Berge von verschiedenen Austernsorten schrumpften und wurden ständig nachgefüllt, während Geld den Besitzer wechselte und schweißgebadete Mitarbeiter der Brauerei mit viel Getöse immer wieder neue Tonnen mit Dunkelbier und Gagelbier heranrollten. Dazu wurden üblicherweise nur Schwarzbrot und Butter serviert, aber das gab es gratis, damit die Leute nicht vor Hunger und Alkohol umkippten. Dafür war jedes freie Plätzchen mit Sponsorenreklame beklebt.

Es war ganz einfach so gewesen, wie es sein sollte.

Doch wie ausgelassen und herzlich die Stimmung auch immer ist, Oistra fordert jedes Jahr einen bescheidenen Teil an Opfern, sei es wegen Völlerei, Schlägereien oder der ein oder anderen Lebensmittelvergiftung. Was jedoch nicht zur Tradition gehört, sind Street Food und der billige Wein, der heutzutage in Pappbechern angeboten wird, und genau das wird jedes Jahr von empörten Bürgern angeprangert, die sich unter Überschriften wie »Schützt unser doggersches Kulturerbe« oder »Enttäuschter Senior« zu Wort melden. Was das Unterhaltungsprogramm angeht, vertreten einige den Standpunkt, dass es sich positiv entwickelt hat, andere sind vom Gegenteil überzeugt. Den Kapellen, die noch bis vor zwanzig Jahren allein für die Musik zuständig waren, wird nun von Rockbands Konkurrenz gemacht, die nicht mehr aus der Gegend kommen, sie werden von überallher gebucht. Unerträgliche Talentwettbewerbe, der Lärm von Fahrgeschäften, die extra für das Fest aufgebaut werden, und schrilles Kindergeschrei übertönen zudem ihre volkstümliche Musik.

Gestern Abend hatten Kore und Eirik schon gut und gerne ein Dutzend Austern verdrückt und Karen mindestens die Hälfte, bevor sie den Hafen verließen. Marike hatte angeekelt zugesehen, wie sie die Köpfe in den Nacken legten und gierig den Mund öffneten.

»Mollusken gehören nicht zur Ernährung von Menschen, man kann davon schrecklich krank werden«, erklärte sie mit ihrem dänischen Einschlag, den Mund voller Pulled Pork, was ihre Aussprache noch undeutlicher machte.

»Nein, dieses Zeug hier macht krank, nicht die Austern«, hatte Kore fröhlich geantwortet, sich dann den letzten Schluck Gagelbier in den Hals gekippt und den Plastikbecher in den nächsten Mülleimer geschmissen, während er erfolglos versuchte, ein Rülpsen zu unterdrücken.

»Puh, widerliches Zeug«, sagte er dann und verzog das Gesicht. »Jetzt werde ich mir was Richtiges zum Trinken holen.«

Und dann folgte die übliche Kneipentour, bei der sich zu unzähligen Gläsern Weißwein immer mehr Austern gesellten. Damit man die Spezialitäten vergleichen konnte, servierten einige Bars an der Strandpromenade neben den einheimischen Arten auch französische Bélon-Austern. Es war Sitte in Dunker, dass zwar nationalistische, aber keine fremdenfeindlichen Buhrufe ertönten, sobald jemand die ausländische Konkurrenz bestellte. Und genau da, als sie in der dritten Kneipe ankamen, im »Café Nova«, und Karen gerade ein Glas Chablis und zwei Bélons bestellt hatte, spürte sie plötzlich einen warmen Atem dicht am Ohr und hörte diese tiefe Stimme.

»Kriminalinspektorin Eiken, schieben Sie sich wirklich alles in den Mund?«

Langsam drehte sie sich zu ihrem Chef um und antwortete.

»Nein, Smeed, das hättest du wohl gern.«

Doch eineinhalb Stunden später landeten sie in einem Doppelzimmer im Hotel »Strand«. Langsam nähert sich Karen nun den Erinnerungen an diese Stunden, so wie wenn man einen Stein anhebt und mit Grauen feststellt, was darunter kreucht und fleucht. Sie blinzelt in die Sonne und auf die glänzende Fahrbahn.

Natürlich haben der Alkohol und die allgemein ausgelassene Stimmung eine Rolle gespielt, mit diesem Gedanken versucht sie, die Ereignisse richtig einzuordnen. Doch es war beileibe nicht das erste Mal – weder was sie betraf noch die anderen –, dass das Oistra-Fest dazu führte, dass man mit jemandem im Bett landete und es hinterher zutiefst bereute; es hatte sogar Scheidungen gegeben, die sich darauf zurückführen ließen. Trotzdem kann sie sich nicht daran erinnern, dass sie jemals nach einem One-Night-Stand so eine vernichtende Scham empfunden hat.

Karen wirft einen Blick aufs Meer, während die Straße eine leichte Kurve in Richtung Norden macht. Der Nebel klart jetzt auf, die Sonne ist schon höher gewandert, und das wogende Meer glitzert. Ein paar Mantelmöwen segeln auf dem Wind und sehen aus, als würden sie lieber faul ihre Nahrung verdauen und sich friedlich unterhalten, anstatt nach weiteren Fischen Ausschau zu halten. Karen lässt die Seitenscheibe runter und atmet die salzige Luft ein. Es ist ganz einfach, ich muss nur den Personalleiter anrufen und um meine Versetzung bitten, denkt sie. Vielleicht ist eine Stelle in Ravenby frei oder schlimmstenfalls in Grunder – wie trostlos es da auch sein mochte.

Früher war es auch nicht besser, denkt sie. Unter dem letzten Abteilungsleiter nahm eine Kollegin nach der anderen ihren Hut. Die Assistentin Eva Halvarsson hatte die Hoffnung aufgegeben, irgendwann einmal zur Inspektorin befördert zu werden, und sich dann zur Schutzpolizei versetzen lassen, während sich Anniken Gerber und Inga van Breukelen im Polizeibezirk Frisel bewarben. Karen selbst hat sich durchgebissen, nicht so sehr aus Kampfgeist, sondern eher, weil sie die Energie nicht aufbringen konnte, noch einmal von vorn anzufangen. Nicht schon wieder. Aber vor allem, weil die Arbeit bei der Kriminalpolizei eine sehr effektive Art und Weise ist, ihre Gedanken von dem fernzuhalten, was sie um jeden Preis vergessen will. Mit etwa einem Dutzend männlichen und nun auch zwei weiblichen Kolleginnen bei der Kriminalpolizei von Doggerland ist es ihre Aufgabe, alle Schwerverbrechen auf den Doggerschen Inseln aufzuklären: Heimö, Noorö und Frisel. Der Beschluss, alle Einheiten zentral zu bündeln, wurde vor elf Jahren gefasst und damals von den örtlichen Polizeiposten stark kritisiert, doch die Proteste verstummten immer mehr, als die Aufklärungsrate sukzessive stieg. Leider ist diese Entwicklung auch bei den Schwerverbrechen zu beobachten, was bedeutet, dass die Anzahl der nicht verhafteten Täter nun konstant bleibt. Und auch, dass Karen ihre Erinnerungen in Schach halten kann.

Ihre Qualifikation für diese Aufgaben war natürlich infrage gestellt worden, als sie die Stelle antrat. Ein Examen in Kriminologie von der Londoner Universität konnte nach Ansicht der Kollegen die fehlenden »Sklavenjahre« als Streifenpolizistin natürlich nicht wettmachen. Doch Karens persönliche Aufklärungsrate hatte ihre Kritiker mit den Jahren verstummen lassen. Dennoch merkte sie, dass Jounas Smeed sie nur widerwillig mit Respekt behandelte, als er die Leitung der Abteilung übernahm. Als würde jede Anerkennung ihrer Fähigkeiten ihn selbst disqualifizieren. Stattdessen führte er schon bald etwas ein, das er einen »entspannten Umgang unter uns Bullen« nannte, und dieser saloppe Ton wurde von da an in der Abteilung gepflegt.

Die Belohnung hatte nicht lange auf sich warten lassen: Erleichtert, dass sie nun einen neuen Chef hatten, der den blinden Gehorsam und die Unterwürfigkeit im Handumdrehen abschaffte, schlossen die männlichen Kollegen Jounas Smeed augenblicklich ins Herz und machten aus dem »entspannten Umgang« bald einen Jargon, der unerträglich wurde. An Witze in Form von kleinen Sticheleien und Zweideutigkeiten hatte Karen sich gewöhnt. Zumindest hatte sie aus Selbsterhaltungstrieb gelernt, sich bei Johannisens zahlreichen Schimpfworten über Feministinnen, Frauen am Steuer und Jounas’ nicht enden wollenden philosophischen Exkursen über die Unmöglichkeit, die Denkweise einer Frau zu verstehen, taub zu stellen. Karen verbietet sich bei diesem unsinnigen Gerede jeden Kommentar. Sie weiß, dass Schweigen schwerer wiegt als Protest und gelangweiltes Gähnen viel provokanter ist als lautstarke Gegenargumente. Mit der Zeit hat sie gelernt wegzuhören, sich verkniffen, ihrem Ärger freien Lauf zu lassen, denn ihr ist völlig klar, dass es nur noch schlimmer wird, wenn sie erst in die Falle tappt. Und zudem hat sie festgestellt, dass ihr dieses Verhalten eine gewisse Macht verleiht. Jounas Smeed provoziert sie, indem er ständig etwas tut, das eine Reaktion von ihr hervorrufen soll, sie provoziert ihn, indem sie keine zeigt.

Und jetzt hab ich mit dem Teufel gevögelt, denkt sie. So ein verfluchter Mist!

In dem Moment, als Karen an der Ausfahrt Langevik vorbeifährt, begreift sie, warum sie eigentlich mit ihm im Bett gelandet ist. Der Grund war dieser ständige Kampf zwischen ihnen, dieses Kräftemessen, das sie gestern Abend beide dazu verleitet hatte, alle Spielregeln über Bord zu werfen. Das war dieser unbändige Willen, den anderen zu besiegen. Und im Suff war die Sehnsucht danach, endlich die Oberhand zu gewinnen und den anderen dazu zu bringen, seine Niederlage einzugestehen, in einen lächerlichen Akt der Verführung gemündet, bei dem sich jeder von ihnen als eindeutigen Sieger sehen konnte. Der Rausch hatte alle Gegenargumente beseitigt, jedes warnende Wort einfach abgetan und stattdessen ganz plötzlich ein körperliches Verlangen hervorgerufen. Einen Funken, der ebenso schnell wieder erstarb, wie er entzündet worden war.

Es war nicht einmal guter Sex gewesen, denkt sie, und das nicht ohne Schadenfreude. Ein endloses, ermüdendes Stellungsspiel, eine Position unbequemer als die andere, wahrscheinlich nur, um Eindruck zu schinden. Gelenkig war der Mistkerl auf jeden Fall für sein Alter, gelenkiger als sie zumindest.

Sie wirft einen Blick in den Rückspiegel, setzt den Blinker und biegt ab. Die Abfahrt nach Langevik ist zwar asphaltiert, aber die Geschwindigkeit wird hier auf 60 km/h gedrosselt, daher nimmt Karen brav den Fuß vom Gas, bis die Anzeige auf dem Tachometer passt. Einen Moment lang schweift ihr Blick von der Fahrbahn ab, und sie sieht zu dem steilen Gebirgskamm hinauf, wo sich ein weißes Windkraftwerk ans andere reiht. Die Rotorblätter der Turbinen drehen sich im Gleichtakt, und sie kann das Zischen durch die heruntergelassene Fensterscheibe hören. Heute erstreckt sich der Windpark, der vor sechs Jahren, als er angelegt wurde, Gegenstand zahlreicher Proteste gewesen war, über den ganzen Langevikberg. Die Bewohner des Dorfes, das ein paar Hundert Meter weiter in Richtung Meer liegt, hatten Treffen anberaumt, Unterschriftenlisten in allen Geschäften und neben den Bierhähnen der Kneipen vor Ort ausgelegt. Mittlerweile sind die Proteste längst verstummt, und es ist Jahre her, dass das Windkraftwerk im Dorf für Gesprächsstoff gesorgt hatte.

Karen betrachtet die hohen weißen Türme. Die Bewegungen der schlanken Arme haben etwas Beruhigendes, nahezu Ästhetisches. Sie selbst hatte eigentlich nie etwas gegen diesen Park gehabt, auch nicht, als der Protest in vollem Gange gewesen war. Aber da für Karen Eiken Hornby ein Humpen gutes Bier schon immer auf der Liste der Dinge, die das Leben erträglicher machten, ganz oben gestanden hatte, hatte sie pflichtbewusst ihren Namen auf eine der Unterschriftenlisten gesetzt; wer nicht unterzeichnete, würde den Bierhahn der einzigen Kneipe im Ort versiegen lassen und sich bei den anderen sehr unbeliebt machen. Aber natürlich waren alle Versuche, den Bau zu verhindern, sinnlos gewesen; ein hoher weißer Turm nach dem anderen war am Langevikbergrücken errichtet worden, und Karin war es eigentlich egal gewesen; auch wenn die Turbinengeräusche bei Südwestwind bis zu ihrem Haus zu hören sind. Aber hier, genau unter dem Windkraftwerk an dem sanften Hang, an dem die Häuser weit auseinanderliegen, als seien sie ganz zufällig aussortiert worden, da, wo der Langeviksfluss sich ins Meer hinabschlängelt, ist ein Dauerpfeifen zu hören.

Hundertfünfzig Meter weiter vorn, auf einem hügeligen Grundstück, das zum Fluss hin liegt, ist im selben Moment eine Bewegung in der Ruhe erkennbar. Eine Frau um die fünfzig quält sich die steilen Stufen von dem alten Waschsteg zum Haus hinauf. Sie trägt einen dunklen Bademantel und hat sich ein Handtuch wie einen Turban um den Kopf gewunden. Karen verspürt einen Anflug von Unbehagen, bevor sie das instinktiv aufkommende schlechte Gewissen wieder verdrängen kann. Es gibt bestimmt tausend Gründe, warum ich nicht mit Jounas Smeed hätte ins Bett gehen sollen, aber Susanne ist keiner davon, sagt sie sich. Deren Scheidung musste mittlerweile bestimmt zehn Jahre her sein.

Einen Moment lang spielt sie mit dem Gedanken, als Gruß kurz zu hupen, so wie man es hier im Dorf üblicherweise macht, doch dann beschließt sie, es zu lassen. In der gegenwärtigen Situation verspürt sie nicht die geringste Lust, sich zu erkennen zu geben. Zudem scheint Susanne Smeed sie gar nicht zu bemerken; ihr Blick ist permanent zu Boden gerichtet, und sie macht den Eindruck, als habe sie es eilig, zum Haus hinauf zu kommen. Mit der einen Hand hält sie ihren Morgenmantel geschlossen und bewegt sich mit schnellen Schritten auf ihr Ziel zu. Vermutlich schlottert sie nach dem morgendlichen Sprung ins Wasser vor Kälte, denkt Karin, zurzeit wird das Wasser kaum Plusgrade haben.

Die Gewissheit, dass sie bald zu Hause sein wird, entspannt Karen, und sie spürt, wie die Müdigkeit sie langsam übermannt. Sie versucht noch ein Gähnen zu unterdrücken und blinzelt ein paar Male. In dem Moment bewegt sich etwas am Straßenrand. Eine Katze rennt mit dem raubtiertypisch gesenkten Kopf und vorgeschobenen Schultern über die Straße, wachsam und jederzeit bereit, ihre Beute zu verteidigen, die hilflos aus ihrem Maul baumelt. Ein Adrenalinschub durchflutet Karens Körper, als der Gurt sich sofort durch die abrupte Bremsung strafft.

»Aufpassen«, ermahnt sie sich selbst. »Du weißt, was passieren kann. Wenn es jemand weiß, dann du.«

Sie folgt dem leicht abschüssigen Weg und nähert sich nun der Mitte der Ortschaft. Hier stehen die Häuser zu beiden Straßenseiten dicht an dicht, aber noch immer ist kein Mensch in Sicht. Karen drosselt ihre Geschwindigkeit noch einmal und biegt auf die lange Hauptstraße ab. Vor der einzigen Kneipe von Langevik, dem »Krähennest«, sind die Gartentische durcheinander auf dem gekiesten Platz vor dem Lokal verteilt. Vereinzelt stehen sogar noch Gläser auf den Tischen, und ein paar Möwen flattern zwischen den Resten des Austernessens hin und her. Hier ist es sicher nicht nötig, die Stühle aufeinanderzustapeln und die Tische über Nacht anzuketten, so wie es die Gastwirte drüben in Dunker müssen. Aber der Besitzer der Kneipe, Arild Rasmussen, ist in der Regel trotzdem sehr ordentlich und räumt auf, bevor er sein Lokal abends schließt. Vermutlich hat sich der gute Arild gestern zu viele Schnäpse in der Küche genehmigt, wahrscheinlich wollte er wie alle anderen auch ein bisschen Oistra feiern, denkt sie sich.

Langsam fährt sie am ambulanten Behandlungszentrum vorbei, das nur montags und donnerstags für vier Stunden besetzt ist. Nach dem doggerschen Sozialgesetz ist so ein Zentrum in jedem größeren Ort vorgeschrieben. Karen kommt am Tabakgeschäft vorbei, an der mittlerweile geschlossenen Poststelle, dem geschlossenen Eisenwarenladen und dem permanent von der Schließung bedrohten Lebensmittelgeschäft. Das alte Fischerdorf an der östlichen Küste von Heimö wird künstlich beatmet und lebt von der Demonstrationskultur, die aus den alten Zeiten übrig geblieben ist. Doch die Proteste ließen bald nach, das überschaubare Angebot und die höheren Preise bewegen die meisten dann doch wieder dazu, ihre Prinzipien über den Haufen zu werfen und fortan wie gewohnt die großen Super- und Baumärkte anzusteuern. Nur Arild Rasmussens Tätigkeit scheint davon nicht betroffen zu sein, in seiner Kneipe muss man jeden Abend auf freie Plätze warten.

Am Ende umrundet die Hauptstraße den alten Fischmarkt und führt am Hafen vorbei. Karen folgt der scharfen Kurve und setzt ihre Fahrt auf dem schmalen Kiesweg zwischen Meer und Langevikbergrücken fort. Weiße und graue Steinhäuser wandern die Hügel hinauf, und auf der anderen Seite ragen Stege und Geräteschuppen an der Küste entlang ins Wasser hinaus. Alles zeugt davon, dass Langevik genau wie die anderen küstennahen Ortschaften auf den Doggerschen Inseln früher einmal ausschließlich von Fischern, Seeleuten und dem ein oder anderen Lotsen bewohnt war. Heute gehören die meisten Häuser auf den Grundstücken am Meer IT-Fachleuten, Ingenieuren, die auf Bohrinseln ihr Geld verdienen, und verschiedenen Künstlern. Hinter den einfachen grauen Steinhausfassaden sind die Holzöfen und Teekessel gegen Induktionsherde und Espressokocher ausgetauscht worden. Karen weiß, dass immer mehr Geräteschuppen hinter den Häusern in Wintergärten umgebaut werden; anstelle von großen Vierer- oder Sechser-Ruderbooten verbergen sich nun bequeme, wetterfeste Loungemöbel hinter den Fassaden, auf denen erbarmungslos der Wind liegt. An den warmen Sommerabenden sitzen deren Besitzer dort nun zufrieden mit einem Glas Wein in der Hand und genießen einen umwerfenden Blick aufs Meer, ohne sich Sorgen machen zu müssen, weil wieder Netze kaputt sind oder die verfluchten Robben den halben Fang stibitzt haben.

Und vielleicht hätte sie selbst es genauso gemacht, wenn sie das Geld dafür gehabt hätte. Karen Eiken Hornby hat keinen Hang zur Nostalgie. Von außen sieht fast alles noch so aus wie damals, als sie hier aufgewachsen ist, und dennoch ist nichts, wie es war. Und genau das gefällt ihr ganz besonders.

Als sie in die steile Auffahrt einbiegt und eines der letzten Häuser ansteuert, stellt sie wieder einmal fest, dass sie unbedingt die Kuhle am Zaun mit Erde auffüllen muss, wenn sie sich nicht beim nächsten Mal den Kopf an der Decke anschlagen will, wenn ihr schwerer Wagen das Grundstück erreicht. Mit einem Seufzer der Erleichterung schaltet sie den Motor aus und sitzt ein paar Sekunden still da, bevor sie die Tür öffnet. Wieder überkommt sie eine Welle der Müdigkeit, und ihre Beine fühlen sich bleischwer an, als sie die ersten Schritte den Hang hinauf macht und aufs Haus zugeht. Sie atmet mehrmals tief ein und lässt den Duft des Herbstes, der in der Luft liegt, in ihre Lungen strömen. Hier ist es oft ein paar Grad kälter als in Dunker, und es besteht kein Zweifel daran, dass der Sommer sich seinem Ende zuneigt. Die Birken verfärben sich schon langsam gelblich, und die Eberesche drüben am Geräteschuppen leuchtet rot von all den Beeren.

Auf der Steintreppe vor der Küchentür liegt eine zottelige und riesengroße graue Katze. Als Karen näher kommt, dreht sich das Tier auf den Rücken, streckt sich in voller Länge und gähnt so herzhaft, dass seine spitzen Raubtierzähne zum Vorschein kommen.

»Guten Morgen, Rufus, auch heute wieder keine Mäuse? Wofür hab ich dich eigentlich?«

Im nächsten Moment hat er sich erhoben und reibt sich an Karens Beinen. Noch bevor sie den Schlüssel wieder aus dem Schloss ziehen kann, ist der Kater bereits durch die Tür geschlüpft.

Karen wirft die Handtasche auf den Küchentisch, zieht die Jacke aus und streift gleichzeitig die Schuhe von den Füßen. Dann öffnet sie den Schrank über der Spüle, holt zwei Kopfschmerztabletten heraus und schluckt sie mit einem Glas Wasser hinunter, während sie zerstreut dem Kater, der nun auf der Arbeitsplatte sitzt, über den Rücken streichelt. Das immer lauter werdende und fordernde Miauen schneidet in ihren Kopfschmerz. Pflichtbewusst sucht sie nach einer Dose Katzenfutter. Kaum hat sie das Schälchen vor sich hingestellt, verstummt das Tier, und sie kann entspannt die Schultern sinken lassen. Gleich heute Abend würde sie die Katzenklappe montieren, die sie schließlich kaufen musste, weil alles andere nicht funktioniert hat. Auch wenn es hier genügend Mäuse gibt und Rufus Zugang zu mindestens zwei Schuppen hat, zieht er es offensichtlich vor, etwas standesgemäßer in einer Küche zu speisen und seine Tage auf dem Sofa im Wohnzimmer zu verbringen. Wo er gewohnt hat, bevor er im letzten Frühling Karens Auffahrt hinaufgehinkt kam, weiß sie nicht. Auf die Zettel, die sie an Telefonmasten gehängt und in Briefkästen im Dorf verteilt hat, hat sie nie eine Antwort erhalten. Der Tierarzt hat dem Kater das eine Ohr genäht, ihn kastriert, ein Bein geschient und ihm einen Trichter über den Kopf gezogen, um zu verhindern, dass er die Salbe gegen Pilze abschleckte. Das übel zugerichtete Tier war offensichtlich gekommen, um zu bleiben, und Karen bleibt nichts anderes übrig, als festzustellen, dass der Stellungskrieg beendet ist: Rufus hat das Spiel gewonnen.

Während der Kater vor sich hin schmatzt, befüllt Karen die Kaffeemaschine und schneidet sich ein paar Scheiben Brot ab. Etwas später hat sie die zwei Käsebrote im Magen, hinuntergespült mit einem halben Liter starkem Kaffee. Der hämmernde Kopfschmerz hat sich in einen gleichmäßigen Druck verwandelt, und die Müdigkeit übermannt sie ganz plötzlich. Ohne irgendetwas aufzuräumen, schleppt sie sich die Treppe zum Schlafzimmer hinauf, zieht sich das Kleid über den Kopf und legt sich ins Bett. Ich sollte auf jeden Fall die Zähne putzen, denkt sie noch. Im nächsten Moment ist sie eingeschlafen.

5

Das Geräusch erklingt weit in der Ferne und tastet sich durch mehrere Schichten Schlaf nach und nach in ihr Bewusstsein vor. Als es schließlich zu ihr durchgedrungen ist, glaubt Karen für den Moment, es sei der Radiowecker, und drückt instinktiv auf »Stopp«, doch der nervige Ton verstummt nicht. Die digitalen Ziffern zeigen 13:22 Uhr an, und es dauert noch ein paar Sekunden, bis sie zweierlei begreift: Sie hat den halben Sonntag verschlafen, und das Klingeln stammt von ihrem Handy, das drüben in der Küche liegt.

Verärgert wirft sie die Bettdecke zur Seite, zieht sich den Morgenmantel über, der noch über dem Sessel in der Ecke lag, und hastet stolpernd die Treppe hinunter. Das Signal hält sich hartnäckig, und unter zunehmendem Stress wühlt sie ihre Handtasche durch und bekommt das Handy genau in dem Moment zu fassen, als das Klingeln verstummt. Ein kurzer Blick aufs Display, und sie ist hellwach. Drei verpasste Anrufe, alle von Viggo Haugen, ihrem Chef.

Karen lässt sich auf einen Küchenstuhl sinken und tippt auf die Rückruffunktion, während ihre Gedanken hin und her springen. Was der Polizeichef wohl von ihr will? Sie arbeiten doch gar nicht eng zusammen. Ein Anruf an einem Sonntag. Das kann nichts Gutes bedeuten, so viel ist ihr klar, als sie das Klingeln in der Leitung hört. Beim dritten Ton meldet sich am anderen Ende eine barsche Stimme.

»Haugen.«

»Hallo, hier spricht Karen Eiken Hornby. Ich sehe gerade, dass Sie versucht haben, mich zu erreichen.«

Karen bemüht sich, ihre Stimme zu kontrollieren, damit man ihr nicht anmerkt, dass sie eben erst aufgestanden ist, sie spricht etwas zu laut, und ihre Stimme klingt hell und aufgekratzt.

»Ja, das habe ich. Warum gehen Sie nicht ans Telefon?«

Viggo Haugen klingt leicht verärgert, und sie sucht händeringend nach einer plausiblen Ausrede. Dass sie den halben Sonntag im Bett verbracht und ihren Rausch ausgeschlafen hat, wird sie vor ihm keinesfalls zugeben.

»Ich war ein paar Stunden im Garten und habe das Handy in der Küche liegen lassen«, erklärt sie. »Es ist ja Sonntag«, schiebt sie hinterher, und bereut es sofort wieder, als sie hört, wie das klingt.

»Als Kriminalinspektorin müssen Sie rund um die Uhr erreichbar sein, egal, welchen Wochentag wir haben. Ist Ihnen das nicht bekannt?«

»Doch, natürlich weiß ich das …«

Der Polizeichef fällt ihr mit einem lauten Räuspern ins Wort.

»Na, wie auch immer, es ist etwas passiert, das erfordert, dass Sie mit sofortiger Wirkung im Dienst sind. Eine Frau ist erschlagen in ihrem Haus aufgefunden worden, und es deutet vieles darauf hin, dass es sich um einen Mord handelt. Ich möchte, dass Sie die Ermittlungen leiten.«

Karen spürt, wie sich ihr Rücken durchstreckt und sie mit einem Mal gerade auf dem Stuhl sitzt.

»Aber sicher. Darf ich fragen …?«

»Ich möchte, dass Sie augenblicklich ein Team nach Ihren Bedürfnissen zusammenstellen«, fährt Viggo Haugen fort. »Alle Einzelheiten erfahren Sie vom Kollegen, der Dienst hat.«

»Selbstverständlich. Nur eine Frage …«

»Warum ich Sie anrufe und nicht Jounas«, unterbricht ihr Chef sie nun wieder. »Ich kann verstehen, dass Sie sich das fragen.«

Die Härte in seiner Stimme hat sich etwas gelegt, und Karen hört, dass er tief Luft holt, bevor er spricht.

»Die Sache ist die«, erklärt er zögernd, »die ermordete Frau ist Susanne Smeed. Jounas’ Ex-Frau.«

6

Karen sitzt ein paar Sekunden still da, um diese Information zu verdauen. Das Bild von einer zitternden Frau in einem dunkelbraunen Bademantel zieht vor ihren Augen vorbei.

»Susanne Smeed«, sagt sie tonlos. »Ist es sicher, dass es sich um Mord handelt?«

»Ja, Mord oder Totschlag, das können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt natürlich nicht sagen. Aber ohne Zweifel ist sie niedergeschlagen worden. Zwei unserer Assistenten sind vor Ort, und das konnten sie leider schon eindeutig feststellen.«

Viggo Haugen hat nun zu seinem etwas aufgeregten Tonfall vom Anfang des Gesprächs zurückgefunden, die Nervosität in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

»Ja, Sie werden verstehen, dass Jounas die Ermittlungen auf keinen Fall leiten kann, ebenso wenig wie er seine Rolle als Abteilungsleiter wahrnehmen kann, solange der Fall offen ist. Ich habe bereits mit ihm darüber gesprochen, und er sieht die Sache selbstverständlich ganz genauso. Sie müssen einspringen und diese Aufgabe übernehmen, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind.«

Zwei Sekunden Stille.

»Oder bis uns eine andere Lösung einfällt«, fügt er hinzu und räuspert sich.

Während sie ihm zugehört hat, war sie gedanklich schon einen Schritt weiter. Ohne Frage muss Jounas Smeed vorübergehend den Dienst quittieren. Bis ihnen andere Informationen vorliegen, gehört er zu dem Personenkreis, der als Allererstes verhört werden muss. Und langsam, aber sicher werden Karen alle Konsequenzen klar. Mit wachsendem Unbehagen begreift sie, dass sie diejenige sein wird, die die Vernehmungen ihres Chefs durchführen muss. Desselben Chefs, den sie vor weniger als acht Stunden in einem Hotelzimmer in Dunker schlafend zurückgelassen hat.

Als ob ihre Gedanken sie verraten könnten, spürt sie den intuitiven Drang, das Telefonat mit Viggo Haugen schnellstmöglich zu beenden.

»Ich verstehe«, antwortet sie kurz angebunden. »Ich wohne nicht weit weg von Susanne Smeed, das heißt, ich kann innerhalb einer halben Stunde am Tatort sein. Wissen Sie, ob die Spurensicherung schon dort ist?«

»Ja, wenn noch nicht vor Ort, dann auf jeden Fall unterwegs, der Gerichtsmediziner ebenso, doch sie haben ja ein ganzes Stück zu fahren. Der Notruf kam erst vor einer guten Stunde, wenn ich den Kollegen vom Dienst richtig verstanden habe.«

Es muss also irgendwann zwischen kurz nach acht, als ich sie noch mit eigenen Augen gesehen habe, und kurz vor zwölf, als der Notruf einging, passiert sein, denkt Karen. Eine Spanne von vier Stunden, in der jemand Susanne Smeed totgeschlagen hat. Während ich weniger als zwei Kilometer entfernt meinen Rausch ausgeschlafen habe. Unglaublich!

»Okay, dann werde ich sofort losfahren und die Kollegen verständigen«, sagt sie.

»Ja, und eins noch …«

Der Polizeichef zögert kurz, als würde er nach den richtigen Worten suchen.

»Wie Sie sich vorstellen können, haben wir hier eine äußerst prekäre Situation. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, dass Sie alle Informationen so diskret wie möglich behandeln. Die Medien überlassen Sie komplett mir, keine spontanen Statements und keine weiteren … Ja, ganz einfach alles diskret behandeln, wie gesagt. War ich deutlich genug, Eiken?«

Fahr zur Hölle, du aufgeblasener Arsch, denkt sie.

»Absolut«, antwortet sie.

Sie beenden das Gespräch, und Karen rennt die Treppe hinauf, während ihr tausend Gedanken durch den Kopf schießen. Drei Minuten später steigt sie schon wieder aus der Dusche und bürstet sich die Zähne, gleichzeitig reibt sie sich die Haare trocken. Noch immer spürt sie den Alkohol im Körper.

Ich muss noch etwas essen, bevor ich losfahre, denkt sie. Sonst packe ich das alles nicht. Sie zieht sich eine Jeans an und ein dunkelblaues T-Shirt und flitzt hinunter in die Küche. Im Kühlschrank sind noch Reste von dem Essen, das sie am Samstag gekocht hat: eine Art improvisierten Hühnereintopf, in den einfach alles kam, was der Gefrierschrank hergab. Sie hält die Plastikschale über einen Teller und kippt sie um, dann stellt sie den kalten Klumpen in die Mikrowelle und holt die schwarzen Turnschuhe, die im Flur stehen. Ein kurzer Blick auf die Uhr: zwanzig vor zwei. Vor achtzehn Minuten noch war ich der Meinung, dass mein größtes Problem sei, dass ich mit meinem Chef im Bett war, denkt sie mürrisch, während die Mikrowelle plingt. Und erst jetzt wird ihr klar, dass es auch diesmal wieder nichts mit dem Urlaub in Frankreich werden wird. Die diesjährige Weinernte kann sie vermutlich abhaken.

Genau vierzehn Minuten später legt Karen Eiken Hornby, die kommissarische Leitung der Kripo von Doggerland, den Sicherheitsgurt an. Auf dem Beifahrersitz liegen eine Banane und eine Dose Cola, die sie noch hinter dem Hühnereintopf im Kühlschrank gefunden hat. Bevor sie den Motor anlässt, schiebt sie sich zwei Kaugummis in den Mund, um den Schmacht zu unterdrücken.

Karen fährt rückwärts die Auffahrt hinab, dreht und hört, wie der Kies hinter den Reifen in die Luft fliegt, als sie mit zu viel Gas anfährt. Beim Essen hat sie mit dem Beamten, der Dienst auf dem Kommissariat in Dunker hat, gesprochen und nun ein recht deutliches Bild vor Augen. Um 11.49 Uhr ist der Notruf eingegangen. Ein Nachbar hatte, warum, war noch unklar, bei Susanne Smeeds Haus durch das Küchenfenster geschaut und nur ein paar Füße, Teile der Unterschenkel und einen umgekippten Küchenstuhl gesehen. Der Rest ihres Körpers war von dem großen Küchenschrank verdeckt gewesen. Der Nachbar, ein gewisser Harald Steen, hatte zuerst angenommen, dass Susanne Smeed ohnmächtig geworden oder ausgerutscht sei und sich verletzt haben könne, deshalb verständigte er unter 112 einen Krankenwagen. Der Kollege, der das Gespräch annahm, war allerdings so geistesgegenwärtig gewesen, auch die Polizei zu informieren, die zwei Assistenten losgeschickt hatte, Björn Lange und Sara Inguldsen.

Karen hatte gerade ihre Hühnersuppe hinuntergeschluckt, als der Kollege ihr die Namen nannte. Es hieß, die beiden Beamten hätten sich auf dem Heimweg von einem Einbruchalarm befunden, der von einer Villa knapp zehn Kilometer südlich von Langevik ausgegangen war, und so waren sie die Streife, die den kürzesten Weg zu Susanne Smeeds Haus hatte. Fünfunddreißig Minuten nach dem Anruf waren sie dort gewesen, hatten die Haustür aufgebrochen und sofort festgestellt, dass es sich weder um einen Fall von zu niedrigem Blutzucker noch um einen Sturz handelte.

Björn Lange hatte draußen vor dem Haus gehockt, den Kopf zwischen den Knien vergraben, als Sara Inguldsen das Notarztteam empfing und mitteilte, dass sie umsonst gekommen waren.

»Offenbar sieht es ziemlich schlimm aus«, hatte der Kollege, der Dienst hatte, die Lage beschrieben.

7

Karen stellt sich als Letzte in die Reihe der Wagen, die hintereinander am Rand des lehmigen Grabens parken, der sich an der Straße zu Susannes Haus befindet. Ganz vorn am Zaun steht der schwarze BMW des Gerichtsmediziners und dahinter der weiße Van der Spurensicherung.

Karen steigt aus und bleibt für einen Augenblick dort im Nieselregen stehen. Sieht die Straße hinauf. Auf dem Nachbargrundstück, das etwas tiefer liegt, in Richtung Meer, erkennt sie einen Streifenwagen. Eventuelle Reifenspuren wird man vermutlich nicht sichern können, kommt es ihr in den Sinn. Um diese Zeit sind die meisten Dorfbewohner wieder zum Leben erwacht, sodass mindestens zwanzig Fahrzeuge schon den Weg vor dem Haus passiert haben.

Sie sieht auf, betrachtet die Landschaft. Dieser Teil von Heimö, der hohe Bergrücken, der sich gen Norden erstreckt, der rauschende Fluss, der sich zum Meer hinab schlängelt, die Steinbrücken, die sich über die Flussschlingen beugen, die heidekrautbedeckten Hügel, all das ist ihr von Kindesbeinen an so vertraut.

Jetzt sieht sie die Gegend mit anderen Augen. Ohne ihre Schönheit oder die wohltuende Stille zur Kenntnis zu nehmen, stellt sie nur nüchtern fest, welche Möglichkeiten sich einem Fremden hier bieten, unbemerkt hierherzukommen und ebenso wieder zu verschwinden. Kein wachsames Auge weit und breit, das ihn entdecken würde. Normalerweise wäre das nicht möglich, ohne den einen oder anderen Nachbarn als Zeugen zu haben, denkt sie. Aber an genau diesem Tag, an dem alle ihren Kater ausschlafen, haben die ansonsten so neugierigen Dorfbewohner vermutlich andere Sorgen gehabt, als zu registrieren, welche Autos die Straße entlanggefahren sind.

»Guten Tag, Chefin.«

Björn Lange erhebt sich von der Treppenstufe, als Karen auf das Haus zukommt. Sie stellt fest, dass die Gesichtsfarbe des Polizeiassistenten ein paar Nuancen blasser ist als bei ihrer Begegnung am frühen Morgen, und seine Hand zittert, als sie sich begrüßen.

»Guten Tag«, antwortet sie und lächelt. »Haben Sie das hier verbockt?«

Sie nickt hinüber zur Eingangstür oberhalb der Steintreppe. Eins der in Blei gefassten Glasfenster ist zerschlagen, und an zwei Kanten hat jemand die scharfen Scherben entfernt, die am restlichen Rahmen noch zu sehen sind. Björn Lange nickt und setzt schnell zu einer Erklärung an, als ob er verunsichert sei, ob sie diese Entscheidung infrage stellte.

»Ja, es war abgeschlossen, und wir konnten ja nicht wissen, wie eilig es war. Uns war klar, dass da jemand lag, das Radio lief außerdem noch. Ich hoffe, wir haben keine Beweise vernichtet, aber wir sind davon ausgegangen, dass die Frau Hilfe braucht. Wir konnten ja nicht ahnen, dass es schon zu spät war …«

Er stockt, und Karen nickt und lächelt ihn zu seiner Beruhigung an, während sie sich wirklich fragt, was den sensiblen Björn Lange eigentlich dazu bewogen hat, sich für den Polizeidienst zu bewerben.

»Das haben Sie völlig richtig gemacht«, sagt sie. »Da drinnen sieht es bestimmt nicht lustig aus. Ich muss mich mit Ihnen beiden später noch im Büro unterhalten, aber jetzt würde ich vorschlagen, dass Sie und Inguldsen mal ein paar Stunden freinehmen und etwas essen. Wo ist sie denn eigentlich?«

»Sie ist zu dem Nachbarn, der angerufen hat, hinübergegangen. Der alte Mann war noch da, als wir kamen, und es ging ihm nicht so gut, deshalb wollte sie ihn nach Hause fahren. Er hat wohl Probleme mit der Pumpe.«

Lange macht eine unbeholfene Geste in Richtung Herz, und Karen flucht innerlich. Eine weibliche Polizeiassistentin allein mit einem Zeugen, von dem noch nicht ausgeschlossen werden konnte, dass er nicht zum Kreis der Verdächtigen gehört. Was haben sie sich nur dabei gedacht? Sie selbst weiß zwar zufällig, dass der alte Steen wirklich ernstlich herzkrank ist und kaum in der Lage wäre, ein Katzenjunges um die Ecke zu bringen, doch Björn Lange und Sara Inguldsen können das beim besten Willen nicht ahnen.

»Okay, aber Sie fahren jetzt runter und leisten ihr Gesellschaft«, sagt Karen schnell und verkneift sich jeden belehrenden Kommentar. Nach dem peinlichen Zusammentreffen mit Lange und Inguldsen am Morgen haben die beiden etwas bei ihr gut.

Eine auffällige Hitze und ein leichter Rauchgeruch schlagen Karen entgegen, als sie die Haustür öffnet. Da ist wohl etwas angebrannt, denkt sie, oder ein kleiner Rest von etwas, das gebrannt hat, schwelt noch irgendwo. Sie kommt in einen rechteckigen Flur, von dem eine Treppe in die obere Wohnung führt. Links davon steht eine mahagonifarbene Kommode mit ausgezogenen Schubladen, und auf dem Boden davor liegen Halstücher, Handschuhe, eine Kleiderbürste und andere Dinge, die sie nicht sofort erkennt. Weiter vorn sieht sie durch die Tür ein beigefarbenes Sofa und den Rand eines dicken blauen Wohnzimmerteppichs. Durch die Tür, die links vom Flur abgeht, hört sie diffuse Geräusche und Stimmengemurmel. Über eine große schwarze Tasche gebeugt steht der Kriminaltechniker Sören Larsen mitten im Gang. Als er Karen erblickt, hebt er das Kinn zum Gruß und hält ihr blaue Überzüge für die Schuhe und eine Plastikhaube hin.

»Danke, Sören, ist Brodal da drin?« Sie nickt zur Küchentür, während sie sich die Haare zusammenbindet und die durchsichtige Mütze über den Kopf stülpt. Sören Larsen sieht sie an, hebt die Augenbrauen und nickt still.

Sie weiß, was dieser Blick zu bedeuten hat. Kneought Brodal ist heute schlecht gelaunt. Auch heute wieder.

Karen holt einmal tief Luft und geht auf die Tür zu. Auf den ersten Blick, wenn man von den ausgelegten Stegplatten absieht, sieht alles ganz normal aus. Geradeaus der Herd, eine Arbeitsplatte, eine Spüle und Spülmaschine und weiter oben eine Reihe von grau lasierten Oberschränken. Rechts steht auf einer langen Granitplatte ein glitzerndes, völlig überdimensioniertes Gerät, das Karen für eine Art Kaffeemaschine hält und in den Regalen darüber sieht sie verschiedene Küchenhelfer, Schalen und Kupfertöpfe ordentlich aufgereiht. Gleich links hinter der Tür thront ein hoher blau gestrichener Schrank mit stilisierten biblischen Motiven, eine Besonderheit der doggerschen Volkskunst. Jona und der Wal ist ein beliebtes Motiv, und Karen stellt fest, dass sogar der Künstler, der schon vor mehreren Hundert Jahren Susanne Smeeds Schrank bemalt hat, sich von dieser Erzählung inspirieren ließ. Eine ganz normale, durchaus gemütliche Küche, denkt sie.