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Der 2. Fall für Karen Eiken Hornby im sagenumwobenen Doggerland Es ist Weihnachten, als ein Toter auf Noorö, der nördlichsten Insel von Doggerland, gefunden wird. Karen Eiken Hornby stürzt sich in die Ermittlungen - erleichtert, auf Weihnachten verzichten zu können. Ein weiterer Mord zeigt eine Verbindung zu einer örtlichen Whiskydestillerie, aber am meisten beunruhigt Karen, dass ihre eigene Familie in den Fall verwickelt zu sein scheinen. Der Fall wird mehr und mehr zu einem Balanceakt zwischen Karens Privatleben und ihrer Rolle als Polizistin.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Doggerland. Tiefer Fall
MARIA ADOLFSSON wurde in Stockholm geboren und ist dort auch aufgewachsen. Viele Jahre hat sie als Pressesprecherin für verschiedene Unternehmen gearbeitet. DOGGERLAND ist ihre Krimiserie um Kommissarin Karen Eiken Hornby, die auf der fiktiven Inselgruppe Doggerland spielt.
Karen Eiken Hornby ist eigentlich immer noch nicht gesund, zwei Monate nachdem sie bei ihrem letzten Fall schwer verletzt wurde. Nun wird sie aber dennoch in den Dienst gerufen, als von der Polizei auf Noorö die Nachricht über einen Todesfall kommt. Da viele Kollegen der Doggerschen Kriminalpolizei grippekrank im Bett liegen und Hornbys Vorgesetzter Jounas Smeed einen Urlaub im Süden gebucht hat, muss sie einspringen. Der pensionierte Hochschullehrer Fredrik Stuub ist bei einem Sturz in eine mit Wasser gefüllte Kiesgrube zu Tode gekommen. Seine Schwester Gertrud hat ihn gefunden. Bei der Obduktion wird klar, dass der Mann erst erschlagen und dann in die Grube geworfen worden ist. Als Hornby Stuubs Haus aufsucht, findet sie es durchwühlt vor. Und schon bald entwickelt sich dieser Fall zu Karen Eiken Hornbys ganz persönlichem Albtraum …
Entdecken Sie Doggerland: Eine Inselgruppe in der Nordsee, die es schon lange nicht mehr gibt – aber in diesem Krimi schon.
Maria Adolfsson
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Stefanie Werner
Ullstein
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Die Arbeit der Übersetzerin im vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Das schwedische Original erschien 2019 unter dem Titel Stormvarningbei Wahlström & Widstrand, Stockholm.
List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
© by Maria Adolfsson, 2019First published by Wahlström & Widstrand, Stockholm, Sweden© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotiv: FinePic®,München;GettyImages/ James O‘NeilAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-8437-2098-4E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
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Epilog
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
»Der Fromme betet bei Flaute,der Sünder bei Gegenwind,der Fischer im Sturm.«
(Doggersches Sprichwort)
Leicht angewidert wirft sie einen Blick auf ihr Handy. Lehnt sich zurück, als wäre der Anblick allein schon bedrohlich. Steht auf und dreht eine halbe Runde um den Küchentisch, stellt sich in die Tür und starrt hinüber ins Wohnzimmer. Dann geht sie in entgegengesetzter Richtung eine halbe Runde zurück. Versucht, das Smartphone dabei keines Blickes zu würdigen, ignoriert die stumme Aufforderung dieses schwarzen Displays. Auf halbem Weg in den Flur bleibt sie abrupt stehen, sieht mit leerem Blick zum Fenster hinüber. Wie leicht es wäre, es einfach zu lassen. Auf diese säuselnde Stimme zu hören, die ihr zuflüstert, dass sie es nicht tun muss. Dass es auch nicht richtig sei. Die Stimme bekommt jetzt einen schärferen Unterton und ermahnt sie klar und deutlich, vernünftig zu sein, denn sie würde alles aufs Spiel setzen.
Sie zögert. Dreht sich um und sieht verstohlen zur Speisekammer. Sehr verlockend, sich jetzt einfach eine Flasche Rotwein zu schnappen, sich vor die Glotze zu hocken und den ganzen Mist hier zu vergessen.
Natürlich wäre das besser. Es wäre das Richtige.
Dennoch ist ihr klar, dass sie gleich zum Handy greifen und dieses verfluchte Gespräch führen wird. Das Gespräch, das sie den Job kosten wird, wenn es jemand erfährt. Vielleicht sogar viel mehr als das, wenn ihr Gesprächspartner seine Chance darin wittert, sich stattdessen von einem ganz anderen Problem zu befreien. Von ihr nämlich.
Nein, das ist verkehrt, denkt Kriminalinspektorin Karen Eiken Hornby und greift zu ihrem Handy.
Absolut verkehrt, aber dennoch die einzige Chance.
Vier Wochen zuvor
Erster Weihnachtstag
Es sind nur wenige Grad minus, dennoch greift die raue Luft die Lungen an, und sie bleibt kurz stehen, um durch die Fasern ihres Schals zu atmen. Verärgert muss sich Gertrud Stuub eingestehen, dass sie kurz davor gewesen ist, zu fluchen, und sie bekreuzigt sich rasch. Ihr Blick irrt, mit zunehmender Beklommenheit, zwischen dem Waldstück am Bergrücken und dem schmalen Schotterweg, auf dem sie geht, hin und her. Hastige Blicke in die andere Richtung. Und dabei die Gedanken, die schier unerträglich sind.
Das bildest du dir nur ein, denkt sie und spürt, wie der Druck in der Luftröhre schwächer wird. Tatsächlich hat Fredrik nie zugesagt zu kommen, du bist einfach davon ausgegangen, dass er auftauchen würde. Und trotzdem rennst du durch die Gegend wie eine verrückte Alte. Sie zwingt sich still zu stehen und noch ein paarmal durch den Wollschal zu atmen, bevor sie, so schnell sie es wagt, auf dem unebenen Kiesweg weiterhastet, wo Pfützen zu Spiegeln aus trügerischem Eis erstarrt sind.
Auf der linken Seite der Hang mit den kahlen Baumstämmen, dazwischen erkennt sie die blaue Silhouette des Getryggen. Steil, unpassierbar für jemanden in ihrem Alter. Für jemanden in Fredriks Alter. So dumm wird er doch nicht gewesen sein, denkt sie und versucht, den Gedanken zu verdrängen. Die Alternative auf der anderen Seite ist nicht besser. Ein paar Meter weiter rechts ist die Welt einfach zu Ende.
Widerwillig dreht sie den Kopf. Solange sie ihren Blick auf einen Punkt in der Ferne heftet, wirkt der See ganz normal, wie er da friedlich in den ersten Morgenstrahlen der blassen Dezembersonne ruht. Ein etwas abgelegenes Gewässer mitten im Wald. Aber wenn man den Weg verlässt, nur ein paar wenige Schritte, und nach unten schaut, dann sieht man die schroffen Wände der Grube, die unbarmherzig steil in die schwarze Tiefe abfallen. Gertrud geht nicht vom Weg ab. Nichts könnte sie dazu bewegen, sich freiwillig diesem Abgrund zu nähern.
»Er kommt hier jeden Tag vorbei«, sagt sie laut zu sich selbst und erschrickt, als sie ihre piepsige Stimme hört und die kompakte Stille, die die Worte schluckt. Seinen Namen zu rufen, bringt sie nicht fertig, sie will nicht hören, wie er klingt. Wenn er irgendwo hier ist, dann wird sie ihn finden.
Er kennt dieses Fleckchen Erde doch, redet sie sich ein. Weiß genau, wohin er seine Füße setzen muss, und Sammy weiß das auch. Vermutlich sind die beiden längst daheim, und er hockt in der warmen Küche mit einer Kanne Kaffee und den Resten des Weihnachtsgebäcks. Gottlos und völlig unbekümmert von Himmel und Hölle. Das würde ihm ähnlich sehen. Nein, jetzt kehre ich um und höre mit diesem Unsinn auf, denkt sie und wirft einen Blick über die Schulter, auf den Weg, der schon hinter ihr liegt. Auf der anderen Seite, gesteht sie sich widerwillig ein, ist der Heimweg jetzt genauso lang wie die restliche Runde um die Grube.
Schwer seufzend setzt sie sich wieder in Bewegung und bekreuzigt sich noch einmal, während sie die Rücksichtslosigkeit ihres Bruders ganz allgemein tief in ihrem Inneren verflucht und seine vollständig fehlende Gottesfurcht im Besonderen. Von Fredrik werden die Holzbänke in der Kirche nicht abgenutzt, das ist ihr vollkommen klar, doch zur Christmette kommt er normalerweise schon. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund tauchen die meisten gottlosen Menschen, die während des ganzen Jahres keinen Fuß über die Schwelle eines Gotteshauses setzen, es sei denn, sie sind zu Hochzeiten oder Taufen eingeladen, dann auf. Vielleicht hat er auch ganz einfach verschlafen.
Weiter vorn erkennt sie jetzt den Wendeplatz, wo der breite Weg zur Fernstraße beginnt. Oder endet. Es ist Jahre her, dass dort irgendwelche Transporter unterwegs waren, und die Risse im Asphalt werden von Jahr zu Jahr tiefer und breiter. Es gibt keinen Grund, die Straße hier oben zu sanieren; die einzigen Menschen, die sie benutzen, sind Leute, die hier Abfall und Sperrmüll abladen anstatt bei den Wertstoffhöfen unten bei Valby. Geiziges, unehrliches Volk, das alles tun würde, um ein paar Mark und Schillinge zu sparen. Doch nicht einmal die haben die Stirn, am ersten Weihnachtstag hier aufzutauchen, denkt sie. Keiner ist blöd genug, sich hier herumzutreiben, außer Fredrik. Heutzutage lassen sich nicht mal mehr die Jugendlichen zu einem verbotenen Bad im gesundheitsschädlichen Wasser der Grube verleiten. Instinktiv fährt sie mit der Hand über ihren Mantel, um festzustellen, ob ihr Handy noch in der Tasche liegt. Kein Mensch würde sie hier finden, wenn sie jetzt stürzte und sich verletzte, schon gar nicht um diese Jahreszeit.
Eigentlich hätte er einen Denkzettel verdient, müsste ausrutschen und sich wehtun, denkt sie. Natürlich nicht ernsthaft, nur so, dass er endlich begreift, dass er zu alt ist, um allein durch diese Einöde zu stapfen. Wie von selbst fährt ihre Hand an die Brust als Buße für diesen verbotenen Gedanken, und jetzt ruft sie doch.
»Hallo! Fredrik!«
In der nächsten Sekunde erstarrt sie.
Ein unglücklich winselnder, kläffender Laut jagt ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Und im selben Moment, in dem sie den schwarz-weißen Border Collie in der Ferne erblickt, wird es ihr schlagartig klar. Die lange Leine schleift auf dem Boden, während Sammy verzweifelt an der Grubenkante vor- und zurückrennt, sich kurz hinlegt, dann wieder aufspringt und sein trostloses Hin und Her fortsetzt, dabei in ständiger Gefahr, selbst hinunterzustürzen. Einen Moment lang scheint es, als wolle der Hund versuchen, den Steilhang hinunterzulaufen, doch die Geräusche, die er von der Person, die sich nähert, wahrnimmt, halten ihn ab. Er hebt den Kopf und spitzt die Ohren. Dann erkennt Sammy Gertrud und rennt ihr bellend entgegen. Mit gekrümmtem Rücken wedelt das unglückliche Tier um sie herum, rennt zwischen ihr und dem Abhang hin und her, treibt sie vorwärts. Widerwillig folgt sie ihm, während sie laut für sich betet.
»Lieber, guter Gott, verlass mich bitte nicht.«
Von dort, wo sie – den Fäustling vor den Mund gepresst – am Weg stehen bleibt, kann sie ihren Bruder nicht sehen. Einen schwindelnden Moment lang durchfährt sie vergebliche Hoffnung. Vielleicht ist es gar nicht Fredrik, der dort unten liegt. Vielleicht ist es nur Sammys alter zerbissener Tennisball, den der Hund immer mit sich herumtragen muss. Vielleicht hat Fredrik ihn aus Versehen in die falsche Richtung geworfen und nicht zum Berg hin, wie er es normalerweise tut. Und als sie sich mit pochendem Herzen dem Abgrund nähert und den Hals reckt, kann sie ihn noch immer nicht sehen.
Erst als Gertrud Stuub sich, ein letztes hoffnungsvolles Gebet murmelnd, auf den Bauch legt, bedächtig vor an die Kante robbt und in die Grube blickt, schwindet die letzte Hoffnung.
Karen Eiken Hornby zieht die Tür hinter sich zu und tastet in der Jackentasche nach ihrer Zigarettenschachtel. Sie holt eine Kippe heraus und zündet sie an. Die Ellenbogen auf das kalte Treppengeländer gestützt, nimmt sie einen tiefen Zug und spürt, wie ihr Puls sich langsam beruhigt. Sie starrt vor sich ins Leere.
Draußen ist es bereits stockdunkel, obwohl es gerade erst halb fünf geworden ist, aber die Dezemberluft ist ungewöhnlich mild. Das Licht, das aus dem Küchenfenster dringt, erhellt die große Eberesche und den Erdboden um sie herum. Nur vereinzelt sind noch kleine Reste der zehn Zentimeter dicken Schneeschicht vorhanden, die den Boden in der vergangenen Woche bedeckt hat, jetzt aber zerschmilzt. Was während der kurzzeitigen Minusgrade in den Nächten und den frühen Morgenstunden noch gefrieren konnte, taut nun unter der grauen Schafwolldecke, der der Himmel in den letzten Tagen ähnelte, ebenso schnell wieder auf. Von drinnen dringen das Geräusch von klapperndem Porzellan, Lachen und das nächste Schnapslied durch das geschlossene Fenster.
Sie muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die sieben Personen, die dort am Tisch sitzen, nun die Gläser heben, sie wieder senken und dann gemeinsam trinken. Karen wartet auf das Klirren, das folgt, wenn sie die Gläser wieder auf der Tischplatte abstellen. Und da ist es auch schon.
Wie soll ich das jetzt noch zwei Tage aushalten, denkt sie.
Nirgendwo im Haus gibt es eine Rückzugsmöglichkeit. Ihre Mutter und Harry durften das große Schlafzimmer beziehen, mit gemischten Gefühlen hat Karen ihnen das Doppelbett überlassen. Sie selbst ist ins Gästezimmer nebenan umgezogen und wird demnächst, nun schon die dritte Nacht in Folge, versuchen, die Geräusche, die durch die Wand dringen, zu ignorieren.
Sie fanden die Idee gut, als sie vor ein paar Wochen in der »Grube«, einer Kneipe in Dunker, bei ein paar Gläsern Wein Pläne für die Feiertage geschmiedet haben. Heiligabend und erster Weihnachtstag bei Karen in Langevik, gemeinsam mit ein paar Freunden. Ihre Mutter und Harry würden so oder so anreisen, und je mehr Leute da waren, desto netter. Marike hat versichert, dass sie auf dem Sofa im Wohnzimmer nächtigen könne und dass sie Rotkohl und Krustenbraten mitbringen werde. Kore und Eirik würden das Sofa bei Leo im Gästehaus benutzen und versprachen, für in Meerrettich eingelegten Hering, Graved Lachs und selbst gemachten Senf zu sorgen. Ihre Mutter hat am Telefon vorgeschlagen, Weihnachtsgebäck und Roggenbrot zu backen, sobald sie vor Ort war, und Karen selbst musste eigentlich nur noch eine größere Menge Wacholderbier herstellen und den Branntwein würzen. Zwei Tage mit gutem Essen, netter Gesellschaft und langen Spaziergängen im Schnee, denn der sollte demnächst fallen.
Jetzt lauscht sie dem Lachen im Haus. Tatsächlich ist es genauso lustig, wie sie es sich vorgestellt haben. Genau so, wie es sein soll. Doch sie will lieber alleine sein. In die Stille eintauchen, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
Nur noch eine Nacht, das überstehst du auch noch, redet sie sich ein und inhaliert noch einmal tief. Kore, Eirik und Marike werden morgen bestimmt gleich nach dem Frühstück abreisen. Aber ihre Mutter und Harry werden noch eine Nacht länger bleiben, fällt ihr ein. Der Flieger zurück nach Spanien geht erst übermorgen. Noch zwei Morgen, an denen sie so tun wird, als würde sie Harrys liebevolle Klapse auf den Po ihrer Mutter nicht bemerken und das Schmatzen ihrer heimlichen Küsse nicht hören, sobald sie ihnen den Rücken zuwendet. Noch einmal sechsunddreißig Stunden, in denen sie den säuerlichen Kommentar, der ihr auf der Zunge liegt, unterdrücken muss, wenn ihre Mutter den bald sechsundsiebzigjährigen Harry Lampard ihren »neuen Freund« nennt.
Und dann Sigrid.
Warum ist das Mädel eigentlich nicht bei seinem Vater geblieben? Wo Sigrid doch nach jahrelanger Sendepause nun endlich wieder mit ihm spricht. Schließlich haben wir Weihnachten, das feiert man zu Hause mit seiner Familie, denkt Karen verärgert und zieht so kraftvoll an ihrer Zigarette, dass sie sich an den Fingerspitzen verbrennt.
»Ich bleibe nicht lange«, hatte Sigrid behauptet, als sie vor drei Stunden beschwingt und völlig unangemeldet in Karens Küche auftauchte. Sie wolle nur mal kurz vorbeischauen.
Und dann diese Wärme, die Karen unmittelbar durchströmte, sie konnte nichts dagegen tun. Diese unvernünftige, beängstigende Freude, die sie immer überkommt, wenn sie Sigrid trifft. Und mit ihr all das, was es in ihrem Leben nicht mehr gibt.
»Ich bleibe nicht lange.« Wie Sigrid es sich vorstellt, nach zwei Gläsern Wacholderbier und mindestens einem Schnaps die zwei Kilometer zu ihrem Haus am anderen Ende vom Dorf heimzukommen, ist Karen egal. Heute Abend ist sie nicht im Dienst. Sie ist nur müde.
Und dann dieses verfluchte Knie. Diese anhaltende Erinnerung daran, was geschehen ist, und was hätte geschehen können. Karen verlagert ihr Gewicht auf das rechte Bein und spürt, wie es in der Hüfte zieht. Gut zwei Monate ist es jetzt her, doch sie ist noch nicht ganz wiederhergestellt. Vier Wochen im Krankenhaus in Thysted und dann die Reha zu Hause. Die schmerzhaften Übungen beim Physiotherapeuten in Dunker dreimal wöchentlich. Brav hat sie all das getan, was sie ihr aufgetragen haben, hat ihre Übungen regelmäßig gemacht, zweimal täglich. Trotzdem kann sie das linke Bein nach wie vor nur kurzzeitig belasten. Und sie ist es so leid, den anderen, die da gemütlich in der warmen Küche sitzen, die Stimmung zu verderben. Es ist so ermüdend, den Schein zu wahren, ihr Hals schwillt zu, der Schmerz plagt sie unaufhörlich, die Wahl, ob sie noch eine Schmerztablette oder einen Schnaps zum Hering schluckt, das verkrampfte Lächeln, nein, ich habe keine Schmerzen mehr, bin nur noch etwas steif. Und Mutters misstrauische Blicke.
Bis zum Dreikönigstag ist sie noch krankgeschrieben, nur noch zwölf Tage, eingeschlossen in ihren vier Wänden zwischen viel zu vielen Gedanken. Gleich nach den Feiertagen wird sie ihre Arbeit wieder aufnehmen, und wenn sie ins Büro kriechen muss. Eine erneute Verlängerung der Krankschreibung, die der Arzt schon ausstellen wollte, hat sie Gott sei Dank verhindern können. Immerhin kann ich gut lügen, geht es ihr durch den Kopf.
Die Geräuschkulisse wird für ein paar Sekunden lauter, als die Tür aufspringt und dann wieder geschlossen wird, ein bisschen unsanft, sodass das Küchenfenster klappert. Ohne sich umzudrehen, weiß sie, dass es Leo ist. Sie sieht im Augenwinkel die Flamme des Feuerzeugs, hört ihn den ersten Zug nehmen und wie er nach einer kurzen Pause den Rauch wieder ausstößt. Er hält ihr die Schachtel hin, und sie bedient sich.
»Die Zeit vergeht«, sagt er. »Vielleicht ist das ein kleiner Trost.«
Ist es so offensichtlich?, denkt sie. Und ich habe immer gedacht, ich hätte ein Pokerface.
»Wie philosophisch«, brummt sie. »Hast du davon noch mehr auf Lager?«
»Alkohol ist da ganz hilfreich. Zeit und Alkohol. Dreht sich zu Weihnachten nicht sowieso alles darum?«, fragt er schmunzelnd.
Sie sieht ihm kurz in die Augen und versucht, den Mund nicht zu verziehen.
»Na, wenn es einer weiß, dann du«, antwortet sie trocken. »Haben dich auch die Zeit und der Alkohol getröstet, als du da unter der Laderampe gewohnt hast?«
»Na ja, Wein, Weib und Gesang waren es sicher nicht.«
Sie rauchen schweigend. Karen dreht den Kopf und sieht, dass Eirik und Marike den Tisch abräumen, während Harry mit der noch nicht abgewaschenen Kanne Wasser in die Kaffeemaschine gießt. Sie seufzt.
»Er ist nett«, sagt Leo. »Dein neuer Stiefpapa.«
Es brennt, als sie den Rauch herausprustet.
»Stiefpapa! Jetzt kannst du dich wirklich …«
»Und Eleanor ist ganz im Glück«, fährt er fort.
»Danke, das ist bei mir auch schon angekommen. Du weißt, dünne Wände.«
Leo zieht an seiner Zigarette und sieht geradeaus in die Dunkelheit.
»Dann musst du einfach bei mir einziehen, wenn Kore und Eirik morgen abreisen«, sagt er nach einer Weile.
»Bei dir?«
»Ja, die zwei sagen, dass das Schlafsofa sehr bequem sei, wenn man ein paar Kissen in den Rücken über den Stahlrahmen legt. Schlimmstenfalls ist in meinem Bett auch noch Platz.«
Erstaunt sieht sie ihn kurz von der Seite an; das sieht Leo gar nicht ähnlich. Es passt auch nicht zu ihm, mit ihnen Weihnachten zu feiern, Schnapslieder zu singen und andächtig zu lauschen, wenn Harry ausführlich darlegt, wie man den Dachboden ausbauen oder den Schuppen winterfest machen könnte, um mehr Platz zu bekommen. Ohne Karens zunehmende Verärgerung zu bemerken, haben Leo und Harry Pläne für ihr Haus geschmiedet und dabei immer wieder die Gläser gefüllt. Wie sie vorgehen sollte, wie viel der Umbau kosten würde, wie sehr er den Wert des Hauses steigern würde, jetzt, da die alten Fischerhäuser in Langevik so gefragt waren. Insbesondere Häuser wie das von Karen, mit eigenem Bootssteg und Geräteschuppen am Strand.
Vermutlich sind derartige Überlegungen für Harry Lampard völlig normal: Ihre Mutter hat erzählt, dass er in Birmingham ein erfolgreiches Bauunternehmen betrieben hat, bevor er sich zur Ruhe setzte und an die Costa del Sol übersiedelte. Aber dass Leo Friis voller Aufmerksamkeit dasitzen und zuhören würde …
Was weiß er schon über Dämmung, Dachpfannen und tragende Wände?, denkt Karen und drückt die erst halb gerauchte Zigarette am Geländer aus. Auf der anderen Seite, was weiß ich schon über Leo Friis?, denkt sie im nächsten Moment. Es ist erst ein paar Monate her, dass er kein Dach über dem Kopf hatte und mit einem Einkaufswagen durch Dunker zog und Pfandflaschen aufsammelte.
»Willst du damit vorschlagen, dass ich bei dir einziehe?«, fragt sie ihn. »Als ich mich das letzte Mal umgeschaut habe, war es immer noch mein Haus.«
Leo zuckt mit den Schultern, als ob er ein großzügiges Zugeständnis mache.
»Das ich miete, stimmt. Natürlich für eine lächerliche Summe, und einen richtigen Mietvertrag habe ich auch nicht«, fügt er hinzu. »Aber ich nehme mal an, dass du den Zöllner damit nicht behelligen willst …«
Karen holt einmal tief Luft.
»Fahr runter«, sagt er eilig, als er ihren verärgerten Gesichtsausdruck sieht. »Es war ein Scherz, Karen.«
Und eine Sekunde lang fragt sie sich, ob er das mit dem Bett oder das mit dem Zöllner meint.
Dann drückt er seine Zigarette in dem umgedrehten Terrakottatopf aus, der neben der Tür steht.
»Wollen wir wieder reingehen?«
Widerwillig lässt sie das Geländer los.
»Zeit und Alkohol«, seufzt sie.
Zwanzig Minuten später ist die Geschirrspülmaschine gefüllt, der Kaffee eingeschenkt und das weihnachtliche Safrangebäck auf dem Tisch im Wohnzimmer platziert.
Marike scheint ungewöhnlicherweise hervorragend gelaunt zu sein, ihr dänischer Akzent schlägt an diesem Abend kaum durch. Doch Karen weiß, dass allein eine verpatzte Glasur an ihrer Keramik diese gut gelaunte Freundin in eine Furie verwandeln kann, die in unverständlichem nordjütländischem Kauderwelsch flucht. Aber heute Abend strahlt Marike Estrup, keine Spur von Nervosität, die langsam, aber sicher angekrochen kommen wird, je näher die Vernissage in New York rückt. Karen lehnt sich in ihrem Sessel bequem zurück. Hier und jetzt. Zeit und Alkohol.
Jemand hat eine Flasche Groths Whisky und einen Vogelbeerlikör herausgeholt, und alle haben ein Plätzchen gefunden, entweder auf dem grünen Sofa, in einem der gut eingesessenen Ohrensessel oder auf der alten Brautkiste, die Karen noch immer nicht auf den Dachboden gebracht hat. Das war das Erste, was sie tun wollte, als sie das Haus von ihrer Mutter übernahm. Diese alte Schabracke nach oben verfrachten. Neun Jahre ist das jetzt her.
Sigrid sitzt inzwischen im Schneidersitz auf dem Boden, die Ellenbogen auf den Couchtisch gestützt. Karen betrachtet ihr langes schwarzes Haar – so oft gefärbt, dass jeglicher Glanz verschwunden ist –, die reichlich mit Ornamenten versehenen dünnen Arme, den Ring in der Nase. Er glitzert im Lichtschein der Kerze im Messingständer, als Sigrid eifrig zu Kores Worten nickt. Äußerlich sind sich Sigrid und Kore tatsächlich verblüffend ähnlich, fällt Karen auf. Zumindest was Haarfarbe, Tattoos und Piercing angeht. Das würde Sigrids Vater nicht gerne hören, denkt sie und nippt zufrieden an ihrem Glas.
Eirik hingegen ist der krasse Gegensatz seines Freundes. Zur Feier des Tages hat er einen rosafarbenen Pullover über das weiße Hemd gezogen, und dazu trägt er eine stilvolle, grau gestreifte Krawatte. Die Bügelfalte in seiner grauen Hose ist perfekt. Wie immer. Guter alter Eirik, denkt sie. In seiner Kleiderwahl ebenso verlässlich wie in seiner Freundschaft: Ohne ihn würde sie heute hier nicht sitzen. Es brennt in ihrem Hals, und sie lässt ihren Blick weiterwandern. Mit Schaudern stellt sie jetzt erst fest, dass ihre Mutter und Harry wieder Pullover im Partnerlook tragen, diesmal mit einem Weihnachtsmotiv in Form eines dekorierten Wacholderstrauchs. Auf jeden Fall scheinen sie glücklich zu sein.
Ihr Ärger ist verflogen und hat einer Art wehrloser Empfindsamkeit Platz gemacht. Jetzt, unter den Nachwirkungen von Wut und Frustration, hier in der Wärme der Kerzen und des Whiskys und mit einem willenlosen Kater auf dem Schoß, muss sie die Waffen strecken. Hat nicht mehr die Kraft, sich gegen all das zu wehren, was ihr Verderben sein wird, wenn sie sich nicht vorsieht.
»Sie ist nicht deine Tochter, denk daran.«
Susanne Smeeds letzte Worte klingen noch immer in ihren Ohren.
Still betrachtet sie die Tochter, die nicht ihre ist, das Mädchen, das sie erst vor ein paar Monaten unter ihre Fittiche genommen hat. Durchnässt und fiebrig hat Sigrid auf der Treppe vor dem Haus gehockt, das sie ganz plötzlich übernehmen sollte. Ohne die Kraft zu irgendeiner Form von Widerstand ist sie Karen nach Hause gefolgt, hat sich mit warmem Tee, Zwieback und Paracetamol versorgen lassen, bis sie die Grippe überwunden hatte.
Und irgendwie ist sie nie wieder richtig ausgezogen.
Offiziell wohnt Sigrid zwar in dem Haus, das ihre Mutter ihr hinterlassen hat, aber den Großteil der Zeit, in der sie nicht schläft, verbringt sie immer noch bei Karen. Sie sagt jedes Mal, sie bleibe nicht lang, doch dann wird es trotzdem spät. Sie benutzt das Gästezimmer, sooft sie sich zu fragen traut. Wie eine Katze, die man verscheucht und die doch am nächsten Tag wieder vor der Haustür hockt.
Genau wie du, denkt Karen und streicht ihrem grauen Kater über den Bauch, während sie eine Zottel findet und sein Fell gedankenverloren mit den Fingernägeln entfilzt. Rufus ist auch aus dem Nichts aufgetaucht und hat beschlossen zu bleiben. Leo hingegen hat sie eingeladen, als kombinierter Haus- und Katzensitter für die Zeit einer Urlaubsreise bei ihr zu wohnen. Eine Reise, aus der nichts wurde. Aber auch er scheint keine Eile zu haben, sich wieder auf den Weg zu machen. Auf der anderen Seite bieten sich ihm auch nicht viele Alternativen.
Wie kam es eigentlich so weit? Wann wurde aus meinem Zuhause ein Zufluchtsort für alle Heimatlosen?, denkt sie und nippt an ihrem Whisky.
Sie selbst hört es gar nicht. Aber Marike, die von der Toilette zurückkommt und nun in der Küchentür steht, hält Karens Handy in der Hand.
»Es hat in deiner Jackentasche geklingelt. Das Gespräch solltest du wohl annehmen«, fügt sie hinzu und wirft einen vielsagenden Blick aufs Display, bevor sie es ihr hinhält.
»Jounas Smeed«, liest Karen gerade noch, bevor die Klingeltöne verstummen. Sie seufzt.
»Sag nicht, dass es Papa war«, meint Sigrid, doch Karen bestätigt ihre Vermutung mit einem Nicken.
»Hat er es bei dir auch probiert?«, fragt sie Sigrid.
Sigrid angelt ihr Handy aus der Hosentasche und schüttelt den Kopf.
»Nein, keine Anrufe in Abwesenheit«, antwortet sie. »Was will er wohl jetzt schon wieder? Ich bin doch wirklich gestern und heute bei ihm gewesen!«, stöhnt sie genervt.
»Vielleicht will er dir nur frohe Weihnachten wünschen«, versucht Eleanor es behutsam.
»Außerdem geht morgen sein Flug nach Thailand«, fährt Sigrid fort. »Wochenlang hat er mich überreden wollen mitzukommen! Reicht es denn nicht, dass wir jetzt schon Weihnachten zusammen gefeiert haben? Soll ich jetzt auch noch an so einem blöden Kokospalmenstrand hocken? Was hat er eigentlich für ein Problem?«
Sigrid fuchtelt verzweifelt durch die Luft und reißt die Augen auf, um zu unterstreichen, dass sie wirklich alles getan hat, was man von einer Tochter erwarten kann, wenn sie versucht, die angeschlagene Beziehung zu ihrem Vater zu kitten.
Sie sieht aus, als wäre sie elf und nicht bald neunzehn, kommt es Karen in den Sinn.
Seufzend steht sie auf und geht hinüber in die Küche. Zwei Sekunden gibt sie sich Bedenkzeit, dann drückt sie auf Rückruf. Wenn es nicht um seine Tochter geht, kann es nur einen einzigen Grund geben, warum der Leiter der Kriminalpolizei Doggerland Karen Eiken Hornby am ersten Weihnachtstag anruft. Sicher nicht, um ihr frohe Weihnachten zu wünschen.
Nein, Demut ist zu viel gesagt, denkt sie zwei Minuten später. Demut hat Jounas Smeed wohl in seinem ganzen Leben noch nicht empfunden. Aber die Stimme am anderen Ende der Leitung ist nicht ganz so forsch und hat auch nicht diesen Schulmeisterton, an den sie sich mittlerweile gewöhnt hat.
»Hallo, Eiken, danke für deinen Rückruf. Es tut mir wirklich leid, dass ich dich am ersten Weihnachtstag stören muss. Hast du schon den einen oder anderen Schnaps intus?«
»Genau genommen zwei. Und selbst?«
Jounas Smeed scheint die Frage nicht wahrzunehmen, oder er meint, ihr keine Antwort schuldig zu sein.
»Und ich habe gehört, dass deine Eltern zu Besuch sind«, fährt er fort, und jetzt hört Karen ganz klar die Anspannung in seiner Stimme.
»Na ja«, erwidert sie trocken, »mein Vater ist ja seit vielen Jahren tot, das heißt, er ist nicht da, aber meine Mutter ist mit … einem guten Freund gekommen.«
»Ach so. Ja, mir ist schon klar, dass ihr mitten beim Feiern seid …«
Karen wartet ab, ob er noch ein Wort sagt, doch ihr Chef meint offenbar, dass sie jetzt an der Reihe sei, den Small Talk fortzusetzen.
»Schon«, antwortet sie. »Aber du rufst sicher nicht an, um meinen Alkoholkonsum oder meine Verwandtschaftsbeziehungen abzufragen, stimmt’s?«
Jounas Smeed muss lachen. Dann räuspert er sich, und da ist er auch schon wieder, der übliche Tonfall.
»Natürlich nicht«, antwortet er kurz angebunden. »Wir haben einen Mordfall am Hals. Und ausgerechnet oben auf Noorö.«
»Auf Noorö. Und es handelt sich nicht um Totschlag durch Trunkenheit? Da könnte doch die Polizei vor Ort ermitteln.«
»Offenbar nicht. Das Mordopfer ist ein alter Lehrer, wenn ich es richtig verstanden habe, und die Tat geschah während der Christmette.«
Karen zieht sich einen Küchenstuhl vom Tisch weg und lässt sich schwerfällig nieder.
»In der Kirche? Wie zum Teufel konnte das denn passieren?«
»Nein, nein, nicht direkt in der Christmette, aber gleichzeitig. Auf jeden Fall in aller Herrgottsfrühe. Und der Gerichtsmediziner, der vor Ort war, hat etwas gefunden, was er uns zeigen will. Ich bin noch nicht über alle Details informiert.«
»Und inwiefern betrifft mich das? Ich bin immer noch krankgeschrieben, das weißt du.«
Sie stellt diese Frage, obwohl sie sich die Antwort denken kann. Ein bisschen darf er sich schon quälen. Die Belohnung ist ein tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung.
»Die Sache ist die: Wir haben einen enorm hohen Krankenstand in der Abteilung. Die halbe Mannschaft liegt mit Grippe im Bett, die andere Hälfte ist über Weihnachten und Silvester verreist. Ich selbst sollte morgen eigentlich auch ein Flugzeug nach Thailand besteigen. Zumindest war das der Plan«, schiebt er hinterher und klingt ziemlich deprimiert.
Karen steht auf und starrt durchs Küchenfenster in die Dunkelheit. Sieht die Zweige der Eberesche dicht an der Scheibe und weiß, dass sie nicht vergessen darf, sie vor dem nächsten Sturm zurückzuschneiden.
»Dann möchtest du, dass ich die Ermittlungen leite«, schlussfolgert sie. »Dass ich den Krankenstand und mein Weihnachtsfest vorzeitig beende.«
Mit keiner Silbe verrät sie die Erleichterung, die sie beschleicht. Soll Jounas Smeed ruhig denken, dass sie ihm einen riesigen Gefallen tut, das wird ihr irgendwann noch gelegen kommen. Einen Moment lang befürchtet sie, dass sie den Bogen überspannt hat.
»Na ja, ich dachte, einen Versuch ist es vielleicht wert«, sagt ihr Chef emotionslos, ohne auch nur einen Hauch der Wärme, die vorher noch durchklang. »Aber natürlich habe ich Verständnis, wenn du gerade nicht …«
»Kein Problem«, fällt Karen ihm ins Wort. »Ich übernehme den Job.«
Ein paar Sekunden lang herrscht Totenstille am anderen Ende der Leitung.
»Meinst du das ernst? Bist du dir ganz sicher? Ich kann meine Reise immer noch stornieren und selbst nach Noorö fahren.«
Natürlich kannst du das, denkt sie, aber du hast dich entschieden, lieber bei mir anzurufen, obwohl ich vermutlich der letzte Mensch auf der Welt bin, vor dem du katzbuckeln willst. Du musst schon ziemlich heiß auf Cocktails am Pool sein, wenn es dir das wert ist, dass du mir einen Gefallen schuldest.
»Fahr«, sagt sie. »Ich übernehme den Job. Aber meinst du im Ernst, dass kein Kollege von der Kripo zur Verfügung steht? Kann keiner von uns mitkommen?«
»Kein Ermittler, aber ich habe natürlich mit Brodal und Larsen gesprochen, die Gott sei Dank beide daheim und gesund sind.«
Innerlich seufzt Karen. Weder der Rechtsmediziner noch der Chef der Spurensicherung werden begeistert sein, während der Feiertage nach Noorö abkommandiert zu werden. Besonders Kneought Brodal nicht, denkt sie. Er wird es gar nicht witzig finden.
»Sie werden morgen ganz früh aufbrechen«, fährt Smeed fort. »Nicht ideal, aber jetzt ist es ja sowieso schon dunkel, und der Tatort ist abgesperrt und bewacht, heißt es. Und die Leiche ist bereits in die lokale Krankenstation in Lysvik gebracht worden, dort gibt es wohl einen Kühlraum. Ungewöhnlich, wie ich finde.«
»Findest du? Warum denn? So was brauchen sie doch, falls die Fähre mal nicht fährt«, sagt sie. »Grundsätzlich kann es da oben immer mal passieren, dass sie mehrere Tage von der Außenwelt abgeschnitten sind.«
»Stimmt schon«, gibt er zu, »aber das ist schon lange nicht mehr vorgekommen. Hast du da oben nicht Familie? Ich meine mich zu erinnern, dass du so was mal erwähnt hast.«
»Ja, mein Vater stammt von Noorö, und als Kind habe ich viel Zeit bei seiner Familie verbracht, aber das ist schon viele Jahre her. Ich habe die Verwandtschaft seit Ewigkeiten nicht gesehen.«
»Na, dann passt es ja hervorragend, dass jemand mit Ortskenntnis ermittelt«, sagt Jounas Smeed, als wolle er sich selbst überzeugen, wieder einmal eine rationale Entscheidung getroffen zu haben. »Wie schnell kannst du vor Ort sein?«
»Ich kann morgen früh losfahren, genau wie Kneought und Sören, früher nicht. Es sei denn, du schickst mir einen Chauffeur. Ich habe ja was getrunken.«
Dann hatte es doch einen Grund, dass du dich erkundigt hast, ob ich schon einen Weihnachtsschnaps zu mir genommen habe, denkt sie. Du Miststück.
»Nein, es reicht völlig, wenn du dich morgen früh auf den Weg machst«, erwidert er schnell. »Die Kollegen vor Ort dürfen so lange die Stellung halten. Du musst übrigens Kontakt zu Thorstein Byle aufnehmen, er ist der Leiter der Polizeidienststelle auf Noorö. Am besten rufst du ihn heute Abend schon an. Mit Byle und seinen Jungs musst du dich begnügen, bis ich jemanden von der Kripo aufgetrieben habe, den ich dir als Verstärkung schicken kann. Ich meine, sollte es sich bestätigen, dass es sich um Mord handelt.«
»Okay, muss ich sonst noch was wissen?«
»Ja, auch wenn ich im Urlaub bin, möchte ich natürlich, dass du mich auf dem Laufenden hältst. Ich habe das Handy immer an, du kannst jederzeit anrufen.«
»War das alles?«
Sie hört, wie ihr Chef tief Luft holt, dann wird es noch einmal ein paar Sekunden mucksmäuschenstill. Schließlich wird Karen weich.
»Sigrid ist auf einen Sprung vorbeigekommen, aber sie wird demnächst aufbrechen und nach Hause gehen«, sagt sie. »Sie lässt übrigens grüßen.«
Jounas Smeed atmet wieder aus.
»Grüße zurück«, erwidert er. »Und … danke, Eiken«, fügt er hinzu.
»Du liebe Güte, können die denn nicht wen anders dorthin schicken? Haben sie dir nicht schon genug zugemutet? Und auch noch an den Feiertagen!«
Eleanor Eiken hat sich aufs Bett gesetzt und sieht ihrer Tochter zu, die einen Stapel dunkelblauer T-Shirts aus einem Kleiderschrank in die große Reisetasche, die auf dem Bett liegt, bugsiert. Karen arbeitet zielstrebig und mit Tempo, und ihr langes, dunkles Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, fällt ihr bei jeder Bewegung ins Gesicht, wenn sie den Kopf zwischen Kleiderschrank und Bett hin- und herdreht.
»Alle sind krank oder verreist«, antwortet Karen und stopft BH und Slips in ihre Kulturtasche. »Ich bin die Einzige, die im Moment verfügbar ist.«
»Verfügbar!« Eleanor schleudert das Wort aus ihrem Mund. »Du bist nicht verfügbar, du bist immer noch krankgeschrieben. Glaubst du etwa, ich merke nicht, dass du immer noch Schmerzen hast?«
Karen bleibt wie angewurzelt stehen und sieht ihrer Mutter ins Gesicht. Will gerade leugnen, was sie behauptet hat, doch wird bereits unterbrochen, bevor sie zu Wort kommt.
»Oh nein, mein Schäfchen, so leicht kannst du dein altes Muttertier nicht an der Nase herumführen. Wenn du nicht acht gibst, wirst du einen Hexenschuss bekommen, weil du ständig das rechte Bein überbelastest. Ich selbst habe mir einen Bandscheibenvorfall geholt, weil ich dich immer auf der Hüfte getragen habe, als du klein warst, du kannst mir glauben, ich weiß, wovon ich rede.«
Karen lässt sich neben ihrer Mutter aufs Bett sinken.
»O.k., ich habe hin und wieder noch Schmerzen«, sagt sie, »aber es wird mit jedem Tag besser. Und ihr reist übermorgen ja sowieso ab, wir verpassen also nur einen gemeinsamen Tag.«
Eleanor seufzt.
»Ich gehöre nicht zu denen, die jammern, aber mir gefällt es überhaupt nicht, dass du noch Schmerzen hast. Und außerdem siehst du mir viel zu froh aus«, schiebt sie hinterher.
Karen dreht den Kopf zu ihr und sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Zu froh?«
»Du weißt genau, was ich meine. Du kannst es gar nicht erwarten, von hier zu verschwinden. Und alle sitzen zu lassen, die sich um dich kümmern, lieber hockst du einsam in einem Hotelzimmer.«
Karen zuckt mit den Schultern.
»Du kennst mich.«
»Ich kannte dich, du hast dich verändert.«
»Und du weißt ganz genau, warum«, sagt Karen kurz angebunden.
»Stimmt, Karen. Ich weiß genau, warum. Aber langsam ist es an der Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Du bist noch nicht tot.«
Nein, ich nicht, denkt Karen. Ich habe überlebt.
Sie steht auf und beginnt wieder zu packen.
»Tja, wenn du unbedingt an diesen gottverlassenen Ort reisen musst, dann solltest du wenigstens Ingeborg und Lars einen Besuch abstatten«, sagt Eleanor nach einer Weile. »Sie würden es dir nie verzeihen. Und mir auch nicht.«
»Und seit wann interessiert es dich, was Tante Ingeborg meint? Wenn ich mich recht erinnere, bist du ans andere Ende des Landes gezogen, um dir Papas Verwandtschaft auf Noorö vom Hals zu halten.«
»Du weißt ganz genau, dass …«
» … ihr nach Langevik übergesiedelt seid, weil er dieses Haus und die Angelrechte von seinem Großvater mütterlicherseits geerbt hat. Aber gib zu, dass dir damals ein Stein vom Herzen fiel!«
Widerwillig verzieht Eleanor den Mund.
»Na ja, so wie es da oben zuging«, erwidert sie. »Dass ich es überhaupt so lange ausgehalten habe … Stell dir vor, du wohnst mit deinen Schwiegereltern in einem Haus und nur dreihundert Meter von der Schwägerin entfernt. Wohin du dich auch gedreht und gewendet hast, tauchte jemand aus der Familie Eiken auf. Die ganze Sippe, alles Schlawiner, im Schuppen wurde fleißig schwarz Schnaps gebrannt, aber vor dem Essen sprach man das Tischgebet, und jeden Sonntag mussten wir in die Kirche. Ich hätte mich vermutlich ins Meer gestürzt, wenn wir diesen fürchterlichen Ort nicht verlassen hätten.«
Karen betrachtet lächelnd ihre Mutter. Eleanor Eiken, geborene Wood, zu drei Vierteln englische Wurzeln, ein Viertel skandinavisch. Als Tochter eines Arztes aus Ravenby hatte sie sich vermutlich niemals vorstellen können, welche Quälerei sie durch die Heirat mit Walter Eiken erwartete. Dennoch hörte Karen ihre Mutter über ihr Dasein als Fischersfrau in Langevik niemals klagen, als sie noch ein Kind war. Fisch auszunehmen und von Robben zerfressene Netze zu flicken, ertrug Eleanor mit stoischer Ruhe. Und weder Herbststürme, eisiger Winterfrost, ausbleibender Fischfang noch die ständigen Geldsorgen verleiteten sie dazu, ihrem Missmut Ausdruck zu geben. Aber die ersten Jahre mit Walters Familie oben auf Noorö hatten den Bogen überspannt.
»Ich werde Tante Ingeborg herzliche Grüße von dir sagen und ihr ausrichten, dass sie dich gern in Spanien besuchen kann«, sagt Karen breit grinsend.
»Wage es nicht. Wann fährst du los?«
Karen versucht, ihre Reisetasche zu schließen, und presst mit aller Kraft den Inhalt zusammen, bis der Reißverschluss zugeht.
»Morgen früh, bevor ihr aufgestanden seid. Aber jetzt gehen wir runter zu den andern und feiern den Rest von Weihnachten.«
Als Karen ein paar Stunden später, nach einer letzten Zigarette, die Haustür hinter sich zuzieht und einen Blick auf die Uhr wirft, ist ihr klar, dass ihr nicht gerade viele Stunden Schlaf bevorstehen. Ihre Mutter und Harry sind schon vor gut einer Stunde nach oben ins Schlafzimmer gegangen, und Karen hofft, dass sie inzwischen beide eingeschlafen sind. Leo, Eirik und Kore haben sich ins Gästehaus verzogen, leise Musik dringt noch durch die Fenster.
Sie hängt ihre Jacke auf, geht zur Spüle und nimmt sich ein Glas Wasser. Bevor sie das Licht in der Küche ausmacht, wirft sie noch einen Blick ins Wohnzimmer. Vom Sofa ertönen gleichmäßige Atemzüge, mitunter von Schnarchgeräuschen in zwei verschiedenen Tonlagen durchsetzt. Sigrid hat es geschafft, Marike zu überreden, den wenigen Platz mit ihr zu teilen, und jetzt bezahlt sie den Preis dafür, da sie ein Paar Füße mit rot lackierten Nägeln im Nacken hat.
Karen bleibt noch einen Augenblick vor dem Zimmer stehen, bevor sie die Tür ins Schloss zieht. Sachte, um niemanden zu wecken, steigt sie die knarrenden Treppenstufen hinauf.
Karen Eiken Hornby wirft einen Blick auf das Armaturenbrett und fädelt auf die Autobahn ein. Er ist Viertel vor sieben, eine Stunde später als geplant, doch nach dieser Stunde, die sie sich mit der Schlummertaste noch gegönnt hat, fühlt sie sich erstaunlich ausgeschlafen. Nach zwei Wochen Tauwetter sind die Straßen schnee- und eisfrei, und am zweiten Feiertag und um diese Tageszeit sollte es kaum nennenswerten Verkehr auf den Straßen geben. Wenn sie die Fähre in Thorsvik günstig erwischt, müsste sie noch vor dem Mittagessen in Lysvik auf Noorö aufschlagen.
Sie schaltet das Autoradio ein und will schon den Sender wechseln, als die Erkennungsmelodie der Morgenandacht aus den Lautsprechern erklingt. Nach ein paar Versuchen erwischt sie einen Sender, den sie ertragen kann, sie dreht die Lautstärke auf und lehnt sich zurück. Mit den Fingern trommelt sie im Takt zu dem Riff im Gitarren-Intro von »Start me up« und tritt aufs Gas, während sie lauter singt als Mick Jagger.
Ein Gefühl von Freiheit überkommt sie. Zwei Monate erzwungene Untätigkeit, mit schmerzenden Knien ans Haus gefesselt zu sein, die Folgen von gebrochenen Rippen und einer schweren Gehirnerschütterung haben Gedanken und Gefühle in ihr hervorgerufen, die sie zumeist nur gelangweilt, aber ihr auch manch schlaflose, angstvolle Nacht bereitet haben. Ihr verplantes Leben hat sich innerhalb weniger Monate komplett verändert. Der monotone Alltag, bestehend aus langen Arbeitstagen, vereinzelten Besuchen der örtlichen Kneipe und Abenden allein zu Hause, wurde ersetzt durch die pausenlose Anwesenheit anderer Menschen und das immer stärker werdende Gefühl, völlig überrannt zu werden. Sigrid hat ihr eigenes Heim, aber tut so, als existiere es nicht, und wie lange Leo eigentlich vorhat zu bleiben, ist noch nie Gesprächsthema gewesen. Sie selbst hat nicht nachgefragt aus Angst vor seiner Antwort, welche auch immer es sein würde. Sie ist nicht länger allein. Und sie weiß nicht mehr, ob sie das noch sein will.
Seit ein paar Monaten dringen Geräusche, die nicht von ihr stammen, durchs Haus. Jemand klappert in der Küche mit Geschirr, jemand lässt sich Badewasser einlaufen, Musik, die quer übers Grundstück aus dem Gästehaus dröhnt. Stimmen, die aus dem Raum nebenan kommen. Und Gerüche. Frisch gebrühter Kaffee, den nicht sie aufgesetzt hat, Essen, das nicht sie gekocht hat, Schweiß, der nicht von ihr stammt, der Duft des Shampoos von dem noch nassen Haar einer anderen Person. Die Anwesenheit anderer Menschen. Kleine Glücksmomente. Und dann dieses Schwindelgefühl beim Gedanken daran, dass sie das alles schon mal gehabt hat in ihrem Leben. Und wie schnell man alles verlieren kann.
Das Telefonat mit Jounas Smeed war wirklich ihr Rettungsanker. Vom Nichtstun erschöpft, hat sie die Rückkehr an ihre Arbeitsstelle wie einen wohlverdienten Urlaub ersehnt. Eine konkrete Aufgabe, etwas, womit sie klarkommt. Noch macht sie sich über die bevorstehenden Ermittlungen keine Gedanken. Die Information, die sie bislang über die Geschehnisse auf Noorö erhalten hat, ist viel zu dürftig, als dass sie davon Theorien ableiten oder nervös werden könnte. Im Moment spürt sie nur einen rauschhaften Zustand der Erleichterung.
Karen wirft einen Blick auf das Schild, das nur noch 190 Kilometer zum Fährhafen in Thorsvik anzeigt, und zwingt ihre Gedanken zurück zu dem, was vor ihr liegt. Noch spät am gestrigen Abend hat sie den Leiter der Polizeidienststelle auf Noorö, Thorstein Byle, erreicht, und sie haben sich gegen neun Uhr an der Krankenstation in Lysvik verabredet. Er hat ein wenig misstrauisch geklungen, doch damit hat sie gerechnet. In den regionalen Polizeiwachen reagieren die Kollegen in der Regel mit einer Mischung aus Verärgerung und Erleichterung, wenn die Kripo aus der Hauptstadt einen Fall übernimmt.
Noch immer herrscht Widerwillen gegen die neue Rangordnung, und Kollegen aus der Hauptstadt, die aufs Land kommen und sagen, wo es langgeht, werden dort nicht mit Samthandschuhen angefasst. Karen macht sich keine Hoffnungen, dass es in diesem Fall anders sein wird. Wäre sie vorher noch an ihrem Arbeitsplatz gewesen, dann hätte sie sich im Intranet vorab über Thorstein Byle informiert, um möglichst gut vorbereitet zu sein. Jetzt muss sie sich mit ihren Vorurteilen zufriedengeben und mit dem ersten Eindruck, den sie beim gestrigen Telefonat gewonnen hat: ein Kollege der alten Schule, seiner Aussprache nach zu urteilen, auf Noorö geboren. Er hat sich einwandfrei verhalten, doch seiner Stimme konnte Karen anhören, dass ihm die Situation nicht angenehm war.
Scheißegal, denkt Karen, Hauptsache, er spielt mit offenen Karten.
In dem Moment klingelt das Telefon. Karen nimmt den Fuß vom Gaspedal und schiebt sich den Ohrhörer ins Ohr, ohne einen Blick aufs Display zu werfen. Da sie davon ausgeht, dass sie ihre Mutter in der Leitung hat, meldet sie sich nur mit ihrem Vornamen. Doch die Stimme am anderen Ende der Leitung meldet sich ohne jede Spur von mütterlicher Fürsorge und verschwendet auch keine Sekunde mit überflüssigen Höflichkeitsfloskeln.
»Hier ist Brodal. Wo bist du im Moment?«
Karen sieht schnell auf das Schild, das gerade an ihr vorbeirauscht, und antwortet mit automatischem Gehorsam.
»Ich bin auf Höhe der Ausfahrt Ferring. Warum? Sag nicht, dass ihr schon da seid.«
Da ärgert sie sich plötzlich, dass sie nicht so diszipliniert gewesen ist, sich eine Stunde früher auf den Weg zu machen.
»Tja, dann musst du leider umdrehen. Ich kriege den verfluchten Wagen nicht gestartet und brauche jemanden, der mich mitnimmt. Verdammt, was ist das für ein Lärm?«
Karen dreht das Autoradio leise und flucht ebenso, nur im Stillen.
»Und was ist mit Larsen?«, versucht sie es. »Er ist doch auch auf dem Weg nach Noorö.«
»Der ist schon in Thorsvik. Weißt du, wo ich wohne?«
»Irgendwo in Lemdal, glaube ich.«
»Fyrviksgata 18, genau an der Ecke zum Sandeväg. Ich warte draußen.«
»Okay, in einer Viertelstunde bin ich da«, sagt sie verkniffen und dreht das Radio jetzt auf volle Lautstärke.
»You make a grown man cry«, brüllt Jagger.
Das Fahrwerk wird niedergedrückt, und der Wagen beginnt zu schaukeln, als Kneought Brodal stöhnend neben Karen auf dem Beifahrersitz Platz nimmt. Ärgerlich grummelnd zerrt er am Sicherheitsgurt, und Karen zögert einen Moment, dann beugt sie sich zu ihm hinüber und hilft ihm, die Länge zu justieren. Sie kann sich nicht mehr erinnern, wer zuletzt neben ihr gesessen hat, aber wer auch immer das gewesen sein mag, er besaß auf keinen Fall den Körperumfang des Rechtsmediziners. Schließlich gelingt es ihr, den Gurt über seinen beachtlichen Bauch zu spannen.
»Okay, dann fahren wir mal los«, sagt sie und bemerkt selbst die einschmeichelnde, aufgesetzte Heiterkeit in ihrer Stimme.
Kneought Brodal antwortet nicht.
Sie versucht es zwanzig Minuten lang, dann gibt sie auf. In der Regel hat Karen mit Brodal kein Problem. Da sie seit zehn Jahren seine kurzen, schnippischen Antworten auf Fragen zu Mordfällen gewohnt ist, hat sie eine gewisse Resistenz gegen seine schlechte Laune entwickelt. Seine Eigenart, den Menschen zu begegnen, als wären sie Idioten, muss sie nicht persönlich nehmen, der Pathologe spricht alle mit demselben Ton an, egal, ob er mit einem Kriminalassistenten oder dem Leiter der Kripo spricht. Der Einzige, mit dem er etwas respektvoller umgeht, ist der Leiter der Spurensicherung, Sören Larsen. Nein, normalerweise hat sie kein Problem mit Brodal, aber stundenlang neben ihm im Auto eingepfercht zu sein ist etwas anderes.
Nach ein paar einleitenden Fragen, welche Fakten ihm von dem eventuellen Mord an dem pensionierten Lehrer bereits bekannt sind, begreift Karen, dass Brodal nicht mehr weiß als sie und dass er wünschte, er wüsste noch viel weniger, denn dann hätte er – wie er es ihr in verbittertem Ton zu verstehen gibt – sich jetzt am zweiten Weihnachtstag den Lammbraten und den Gagelbranntwein schmecken lassen und müsste nicht durch die Gegend fahren.
»Aber das ist eben der Dank dafür, dass man sich wacker auf den Beinen hält im Gegensatz zu unseren Jungspunden, die es beim kleinsten Windstoß umpustet. Dieses Jahr meint jeder die Grippe zu haben. Kommt einem ja gelegen, wenn du mich fragst.«
Karen wechselt das Thema. Gibt sich Mühe, den griesgrämigen Rechtsmediziner mit Small Talk zu mehr als einsilbigem Gemurre zu bringen. Aber nicht einmal das für die Jahreszeit viel zu milde Wetter oder die Meldung über die viel zu großzügigen Ausgaben des Innenministers unter dem Decknamen »Repräsentationskosten« oder das Gerücht, dass eine Umstrukturierung innerhalb der Polizeibehörde geplant sei, scheinen Kneought Brodal zu interessieren. Und weil Karen Eiken Hornby das alles ebenso wenig interessiert, hält sie nun einfach den Mund.
Während sie auf die Uhr schielt, streckt sie die Hand aus, um die Nachrichten im Radio einzuschalten, und will gerade Brodal fragen, ob er die Morgennachrichten und etwas über den Mord in Skreby gehört hat, da hört sie ein Schnarchen vom Beifahrersitz.
Verkniffen und so schnell sie sich traut, fährt sie weiter, begleitet von den Geräuschen des mühselig Holz sägenden Gerichtsmediziners, die hier und da von Aussetzern der Atmung unterbrochen werden, um sich dann röchelnd fortzusetzen. Erst als es auf der Fähre in Thorsvik zu schaukeln beginnt, erwacht Kneought Brodal mit einem Ruck. Da hat Karen es geschafft, während der achtzehn Minuten langen Wartezeit auf die nächste Abfahrt nicht auf den Speichelfluss zu sehen, der aus seinem linken Mundwinkel rinnt und ähnlich der Schleimspur einer Schnecke auf dem Gurt gelandet ist. Jetzt stößt er eine Reihe von Lauten aus, die teils von der Verwirrtheit durchs plötzliche Aufwachen, teils von Schmerzen durch den nun steifen Nacken herrühren. Vorsichtig knetet er sich den Hinterkopf und gähnt.
»Meine Güte, sitzt man in diesem Karren unbequem.«
»Immerhin ist es dir gelungen, ganze zwei Stunden darin zu schlafen«, antwortet sie nüchtern. »Aber jetzt ist es nicht mehr weit, die Überfahrt über den Sund dauert nur eine Viertelstunde. Ich werde die Gelegenheit nutzen und mir die Beine vertreten und frische Luft schnappen.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, löst sie den Sicherheitsgurt und steigt aus. Sie hört Brodal seine Tür öffnen, aber stellt erleichtert fest, dass er keine Anstalten macht, den Wagen zu verlassen. Dieses verfluchte Walross kann ich nicht mehrmals am Tag angurten, denkt sie und schlägt die Tür hinter sich zu.
Außer ihrem Wagen befinden sich nur noch zwei weitere Fahrzeuge auf der Fähre: ein schwarzer Renault und ein Motorrad. Der Fahrer hockt auf seiner Harley Davidson und hält sich an seinem geschwungenen Lenker fest. Karen erkennt das Logo auf der schwarzen Lederjacke: OP.
Sie weiß, dass diese Buchstabenkombination bewusst mit der doppelten Bedeutung spielt, Odins Predators oder One Percenters. Dass sie an der Westküste von Noorö ihr Hauptquartier haben, ist auch kein Geheimnis. Es ist allerdings ungewöhnlich, nur einen Einzelnen von ihnen zu sehen, denkt Karen und betrachtet den langen grauen Zopf, der über den Rücken des Fahrers hängt.
Vielleicht hat er ja einen einzelnen Auftrag gehabt und irgendeinem armen Typen Angst eingejagt, der sich nicht wehren konnte, denkt sie. Oder er war ganz einfach zu Hause bei seiner Mutter und hat mit ihr Weihnachten gefeiert. Ob der Typ sich nun eher als ein Raubtier betrachtet und dem alten Götterglauben anhängt oder voller Stolz ist, zu den paar Prozent der Motorradklubkultur zu gehören, die für Schwerverbrechen stehen, irgendwo wird er eine arme, alte Mutter haben. Jemanden, der sich gefreut hat, ihn beim Weihnachtsessen in die Arme zu schließen. Vielleicht hat die Mama ihm sogar den Zopf geflochten, denkt sie, denn der sieht auffallend ordentlich aus.
Sie geht vor zum Bug und lehnt sich über die gelbe Reling. Vor ihr türmen sich die Höhenzüge Noorös auf, die von Minute zu Minute beeindruckender werden, aber auf der Backbordseite ist noch immer offenes Meer. Die blasse Dezembersonne hat sich im Osten nun gerade auf den Weg gemacht und scheint doch den Kampf gegen die Wolkenbänke, die von der anderen Seite her kommen, bereits verloren zu haben. Karen widersteht dem Impuls, die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche zu ziehen. Auch wenn man es nicht merkt, sie hat ja aufgehört. Im Prinzip. Zumindest tagsüber. Aber wie gut ihr jetzt eine Zigarette täte, denkt sie und schiebt ihre Hand in die Tasche.
Ein lautes Hupen unterbricht die Bewegung. Karen dreht sich verärgert zu dem schwarzen Renault um, der hinter ihr steht. Der Fahrer gestikuliert entschuldigend und nickt in Richtung von Karens Ford Ranger. Sie macht ein paar Schritte auf ihren Wagen zu.
»Was machst du da? Warum hupst du?«
Kneought Brodal zuckt mit den Schultern und weist auf Karens Handy, das auf dem Fahrersitz liegt.
»Dein Smartphone hat gepiept. Solltest du es als Kommissarin nicht immer bei dir haben? Es könnte doch wichtig sein …«
Die SMS ist von ihrer Mutter.
Habe Sigrid versprochen, dass sie das Gästezimmer ein paar Tage benutzen darf. Viele Grüße von allen.
Sie macht sich nicht die Mühe zu antworten.
Alles sieht viel kleiner aus, als Karen es in Erinnerung hat. Zwar ist sie auch als Erwachsene schon einige Male hier gewesen, doch sind es die Erinnerungen ihrer Kindheit, die ihre Vorstellung davon, wie Lysvik aussieht, prägen: die Fischerhäfen mit den Doggerbooten, den Kuttern, den Trawlern und den Räuchereien. Die Frachtschiffe und die großen, qualmenden Kohleberge oben im Containerhafen. Heutzutage räuchert keiner mehr Hering, Schellfisch oder Aal im Hafen, und an die Kohlenberge, die schon vor Langem abgetragen wurden, erinnert nur noch der schwarze Ruß, der die Häuserfassaden schmutzig grau gefärbt hat. Als ob der sich niemals wegputzen ließe.
Langsam fährt sie die Hauptstraße entlang, die sich vom Hafen durch den langgezogenen Ort erstreckt. Die Praxis des örtlichen Allgemeinmediziners ist schon lange aus dem gelben Holzhaus am Gemüsemarkt in eine moderne Krankenstation umgezogen, die in einem der beiden neuen Stadtviertel liegt. Den Eingang teilt sie sich mit dem Sozialamt, der Angelbehörde, dem Bauaufsichtsamt und der Gemeindeverwaltung, deren Büros alle in der obersten Etage des Gebäudes liegen. Genau gegenüber befindet sich die Polizeiwache. Karen parkt davor und dreht sich seufzend zu Kneought Brodal um, der ungeduldig am Gurtschloss zerrt.
Wie sich herausstellt, erfüllt Thorstein Byle alle Erwartungen. Ein großer, von Wind und Wetter gegerbter Mann in den Sechzigern, mit dünnem Haar, festem Händedruck und einem eisblauen Blick, der irritiert zwischen Karen und Kneought Brodals imposanter Erscheinung hin- und herflackert, als er sie ins Wartezimmer der Krankenstation begleitet. Von hinten nähert sich ihnen ein etwas rundlicher, bereits ergrauter Mann. Er ist leger gekleidet, trägt eine beige Sportjacke und hält eine Kaffeekanne in der Hand.
»Herzlich willkommen! Sven Andersén, ich bin der Arzt, der für diesen Distrikt zuständig ist«, sagt er lächelnd und hält ihnen die Hand hin.
Karen stellt sich vor, und nach kurzem Zögern auch Kneought Brodal, als der keinerlei Anstalten macht, selbst den Mund zu öffnen.
Sie gehen an der Rezeption vorbei, wo jemand versucht hat, Weihnachtsstimmung zu erzeugen, indem er nicht allergene Kunststoff-Wacholderzweige girlandenartig über der Theke aufgehängt hat. Dann gelangen sie in eine kleine Küche. Vier Tassen und eine Schale mit Keksen stehen bereits auf dem Tisch, der von einem rot karierten Wachstuch geschützt wird. Stühle werden vorgezogen und kratzen auf dem Linoleumboden, während die vier sich schweigend niederlassen.
»So, und wie wollen Sie jetzt vorgehen?«, fragt Thorstein Byle nach einer Weile und schiebt die Schale zu Karen, die der Höflichkeit halber zugreift, obwohl sie nicht die geringste Lust auf Kekse verspürt.
»Mein Kollege Brodal wird die Obduktion durchführen und die Todesursache feststellen«, sagt sie und nickt dem Rechtsmediziner zu. »Sollte das Ergebnis Ermittlungen erfordern, werde ich sie leiten. Soweit ich informiert bin, wird die Leiche schon morgen nach Ravenby zur Obduktion überführt?«
»Ja, das ist korrekt«, nickt Sven Andersén. »Der Transport ist für morgen früh angesetzt, wir haben einen Termin in der Gerichtsmedizin um elf Uhr. Ich sage bewusst ›wir‹, da ich hoffe, ich darf daran teilnehmen. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, selbstverständlich.«
Sven Andersén schenkt ihnen Kaffee ein und schaut dabei über seine Brillengläser Kneought Brodal fragend an, der nach ein paar Sekunden Verzögerung anscheinend endlich zum Leben erwacht.
»Ach so, ja sicher, natürlich können Sie mitkommen, wenn Sie Spaß daran haben«, murmelt er, während er die Hand ausstreckt und sich ein paar Kekse nimmt.
»Wir beide werden eng zusammenarbeiten«, sagt Karen und dreht sich zu Thorstein Byle um. »Bis Verstärkung von der Kripo kommt, wird es dauern, daher zähle ich auf Ihre Hilfe. Wie stark ist Ihre Mannschaft hier oben?«
»Alles in allem sind wir sieben Mann auf der Wache. Das heißt, zwei davon sind Frauen. Es gibt eine kleine Wache oben in Skreby und eine in Gudheim, in denen auch ein paar Jungs hocken, aber die sind übers Wochenende geschlossen. Alle wohnen auf der Insel, und im Prinzip sind auch alle verfügbar bis auf einen, der sich auf den Kanarischen Inseln aufhält. Zwei sind abgeordnet, den Tatort zu bewachen, wobei wir ihn bislang vielleicht lieber noch Fundort nennen sollten. Das Gelände ist komplett abgesperrt, ganz nach Vorschrift«, fügt er hinzu. »Auf jeden Fall hat Ihr Kriminaltechniker die Vorgehensweise für gut befunden, als ich ihn vor einer Stunde dorthin gelotst habe.«
»Und wie sieht es mit Fredrik Stuubs Wohnung aus?«
»Dort habe ich auch einen Kollegen platziert. Vor dem Haus, meine ich, wir sind nicht hineingegangen.«
»Perfekt. Dann erzählen Sie doch mal, was Sie bereits wissen, und Herr Andersén kann dann ergänzen.«
Thorstein Byle räuspert sich und beginnt mit tonloser, angespannter Stimme zu sprechen, als würden seine Hausaufgaben abgefragt.
»Das Opfer ist also Fredrik Stuub, Lehrer im Ruhestand und Witwer. Gegen neun Uhr wurde er gestern Morgen von seiner Schwester Gertrud in einer mit Wasser gefüllten Grube, die noch vom Bergbau in Karby übrig geblieben ist, tot aufgefunden. Fredrik Stuub selbst wohnte ganz in der Nähe, etwas nördlich von Skreby.«
Er sieht Karen verunsichert an. Sie nickt, hat alles vor Augen.
»Ich habe Verwandtschaft hier oben und habe als Kind viel Zeit auf der Insel verbracht, daher kenne ich mich recht gut aus.«
In Byles Gesicht blitzt etwas auf, ihm dämmert etwas.
»Eiken Hornby, sagten Sie. Dann sind Sie also mit den Eikens hier auf Noorö verwandt?«
Karen begnügt sich damit, zu nicken, und Thorstein Byle fährt fort, seine Stimme klingt jetzt etwas befreiter.
»Fredrik wurde also von seiner Schwester Gertrud Stuub gefunden, die anfing, sich Sorgen zu machen, als sie ihn nicht ans Telefon bekam. Offenbar war er zur Christmette nicht wie gewohnt aufgetaucht, und sobald es hell wurde, fuhr sie zu seinem Haus, das nicht weit von ihrem entfernt liegt. Da weder Stuub noch sein Hund zugegen waren, machte sie sich Gedanken, dass er gestürzt sein und sich möglicherweise verletzt haben könnte, als er mit dem Tier Gassi ging. Diese Runde um die Grube geht er offenbar jeden Morgen. So habe ich es jedenfalls verstanden, als wir sie trafen, allerdings war sie völlig aufgelöst, sodass es kaum möglich war, viel von ihr zu erfahren.«
Thorstein Byle legt eine Pause ein und trinkt von seinem Kaffee.
»Auf jeden Fall machte sie sich auf den Weg und fand erst den Hund und dann ihren Bruder. Glücklicherweise hatte sie ihr Handy dabei und konnte sofort den Notruf wählen. Der Mitarbeiter aus der Notrufzentrale hat mich auf der Stelle verständigt. Ich wohne selbst in Skreby und war zwanzig vor zehn als Erster vor Ort. Die Jungs mit dem Rettungswagen kamen direkt nach mir. Und du, Sven, du warst so gegen zehn da, stimmt’s?«
»Ein paar Minuten nach zehn«, bestätigt der Arzt und nickt. Byle fährt fort.
»Fredrik Stuub ist über den Abhang gestürzt. Sein Körper lag genau da, wo die Grubenwand einen Vorsprung hat, oberhalb der Wasseroberfläche. Wäre er nur zehn Meter weiter hinten aufgekommen, wäre er im Wasser gelandet und wie ein Stein versunken. Die Jungs vom Rettungsdienst haben es geschafft, mit einer Trage abzusteigen und ihn zu bergen. Die können das, sind ja immer in den Bergen zugange.«
Karen zögert kurz, bevor sie sich Sven Andersén zuwendet.