Doggerland. Fester Grund - Maria Adolfsson - E-Book

Doggerland. Fester Grund E-Book

Maria Adolfsson

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Beschreibung

Der 3. Fall für Karen Eiken Hornby im sagenumwobenen Doggerland  Der Sommer hat gerade auf Doggerland Einzug gehalten. Die Musikerin Luna kehrt nach Jahren in den USA und Frankreich zurück in ihre Heimat Doggerland, um ihr neues Album im örtlichen Produktionsstudio aufzunehmen. Ganz Doggerland ist bezaubert von der jungen Frau und dem Ruhm, den sie mitbringt. Auf einer Party verwindet die Sängerin spurlos. Hat sie die Insel heimlich verlassen? Keine Spur deutet auf eine Abreise. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Karen Eiken Hornby soll die Ermittlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit leiten. Denn je mehr an die Medien durchsickert, desto größer wird die Gefahr für die Künstlerin.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Doggerland. Fester Grund

Die Autorin

MARIA ADOLFSSON wurde in Stockholm geboren und ist dort auch aufgewachsen. Viele Jahre hat sie als Pressesprecherin für verschiedene Unternehmen gearbeitet. DOGGERLAND ist ihre Krimiserie um Kommissarin Karen Eiken Hornby, die auf der fiktiven Inselgruppe Doggerland spielt.

Das Buch

TRAUEN SIE SICH NACH DOGGERLAND?Eine Inselgruppe in der Nordsee zwischen Großbritannien und Dänemark, die eigentlich vor 8.000 Jahren versunken ist.Doch nun ist Doggerland wieder aufgetaucht – als ein skandinavisches Land mit einer Felsenküste, viel rauer Natur, einer ausgeprägten Pub-Szene – und einer Serie von unheimlichen Morden.

Maria Adolfsson

Doggerland. Fester Grund

Kriminalroman

Unterhaltung, Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Stefanie Werner

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Paperback 1. Auflage April 2021© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020© Maria Adolfsson 2020 Titel der schwedischen Originalausgabe: Mellan djävulen och havet First published by Wahlström & Widstrand, Stockholm, SwedenUmschlaggestaltung: zero-media, MünchenUmschlagmotive: © FinePic®, MünchenFoto der Autorin: © Caroline AnderssonE-Book powered by pepyrus.vomISBN 978-3-8437-2097-7

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

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Epilog

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Motto

Der Schwache sucht den Teufel –der Starke sucht das Meer.Doggersches Sprichwort

Prolog

Alles rauscht. Raketenartig schießt ihm das Blut aus Armen und Beinen, lässt sie kraftlos zurück. Schnellt hoch in den Kopf, verteilt sich weiter im Kapillarnetz der Haut und bringt das Gesicht im kalten Lichtschein des Bildschirms zum Kochen.

Der Programmpunkt ist kurz, ihr Bild flimmert nur kurz vorbei. Nackt, ernst. Hastig ihr Blick in die Kamera. Nur ein paar Sekunden, vielleicht vier, fünf. Schon vorbei.

Aber er hat es gesehen.

Dieses Arrogante, Selbstverliebte. Das Geheuchelte. Dieser riesige, gottverdammte Bluff. Das Bild einer Person, die sich ihres Wertes bewusst ist. Als ob sie sich wirklich einbildete, dass sie etwas wert sei.

Als wäre sie etwas anderes als eine riesige – miese – Fotze.

Die Fernbedienung fliegt in dem Moment an die Wand, als das Wutgeschrei den Raum füllt.

Ist er wirklich der Einzige, der das sieht? Der diese Fassade durchschaut? Ist er der Einzige, der Gerechtigkeit herstellen kann?

Sein Körper fühlt sich in diesem Sessel schwer an, hält ihn fest, einen Augenblick lang denkt er, er schaffe es nicht. Er schaffe gar nichts mehr. Er wird aufgeben, sie laufen lassen. Es gibt noch viele andere außer ihr, andere nach ihr, andere, gegen die er auch nichts ausrichten kann. Er hat seinen Teil getan, jetzt muss jemand anders den Job übernehmen.

Er kann sie laufen lassen.

Könnte.

Hätte können.

Wenn sie sich ihm nicht so aufgezwungen hätte, über den Fernsehbildschirm in sein Zuhause eingedrungen wäre. Ja, vielleicht hätte er sie laufen lassen können, wenn sie ihn nicht zum Handeln gezwungen hätte. Aber sie will es ja so. Bittet förmlich darum.

Sie soll kriegen, was sie will.

Er wird den Computer hochfahren und sich das Programm noch einmal ansehen. Und dann noch einmal. Immer wieder in dieses Gesicht schauen, bis die Kraft zurückkommt. Ein letztes Mal.

1

Sie ist provokant schön. Große Statur, ganz in Weiß, im Kontrast zu den vielen, zumeist staubig schwarz gekleideten Leuten, die sie betrachten. Eine Schönheit, bei der man das Gefühl hat, sie schwebe ein bisschen über allen anderen. Göttlich erhöht aufgrund ihres Aussehens, ihrer Art zu sprechen, sich zu bewegen, zu gestikulieren und – darauf muss man der Gerechtigkeit halber hinweisen – der Tatsache, dass sie sich rein physisch einen Meter über ihren Zuschauern befindet.

Karen betrachtet die Frau, die auf der anderen Seite des Saals auf der kleinen Bühne steht, und ärgert sich, dass sie überhaupt hergekommen ist.

»Du kannst doch einfach im Studio vorbeischauen«, hat Leo zu ihr gesagt. »Wir feiern, dass die Aufnahmen endlich fertig sind.«

Er hat so froh geklungen, fast ein bisschen atemlos, als er sie am Vormittag angerufen hat. Und natürlich konnte sie da einfach vorbeifahren, wenn sie sowieso in die Stadt musste, um ihm die Schlüssel für das neue Haustürschloss zu bringen. Natürlich nicht aus Neugier, sondern nur, um nett zu sein.

»Dann kannst du sie auch mal kennenlernen«, hat Leo gesagt.

Völlig überflüssig zu sagen, wer damit gemeint war.

Jetzt hält Karen Eiken Hornby den Schlüsselbund in der Jackentasche krampfhaft fest und lässt ihren Blick über die Räumlichkeiten der KGB Productions wandern. Dann entdeckt sie ihn. Leo Friis steht ganz hinten neben der Bühne und lacht über etwas, das die göttlich Erhöhte gerade gesagt hat.

Nur drei Wochen, denkt Karen, dennoch ist jetzt irgendwas anders. Drei Wochen lang hat er immer seltener den Weg nach Hause gefunden. Nächte, in denen er im Studio übernachtet hat. Erkennt sie etwa nach ein paar läppischen Wochen sein Gesicht schon nicht mehr?

Wie müde er aussieht, denkt sie. Und wie glücklich.

Da bemerkt er sie und winkt, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen auf der Bühne richtet.

»Ich höre gleich auf zu reden«, sagt die weiß gekleidete Frau. »Ich will nur noch einmal zum Ausdruck bringen, dass das alles ohne euch nicht möglich gewesen wäre. Danke, dass ihr mich zu meinen Wurzeln zurückgeholt habt und euch gleichzeitig mit mir auf die Reise macht.«

Sie legt eine Kunstpause ein und sieht hinauf zur Decke, während die kleine Gemeinde dasteht und in einer Art Andächtigkeit wartet. Dann senkt sie den Blick wieder, legt den Kopf ein wenig schräg und lächelt zaghaft, bevor sie ihren Auftritt beendet.

»Das einzig Wahrhaftige ist Veränderung. Vergesst das nie.«

Sie hebt ihr Glas, ihr strecken sich Bierflaschen und Weingläser, die in die Luft gehalten werden, entgegen.

»Meine Güte, so viel Weisheit«, sagt Karen leise für sich.

Offenbar nicht leise genug.

»Was gibt es hier zu motzen? Magst du diesen Starrummel nicht?«

Ohne dass sie es bemerkt hat, ist Kore Traavad an ihrer Seite aufgetaucht und hält ihr lächelnd eine Bierflasche hin.

Sofern möglich, sieht er noch zufriedener als Leo aus, denkt sie. Wie eine Katze vor einem Napf mit frischem Ostseehering. Oder wie einer der Teilhaber einer Musikproduktionsfirma, die soeben die letzten Aufnahmen mit einem Weltstar zu Ende gebracht hat. Ein Weltstar, der sich zehn Jahre aus dem Rampenlicht ferngehalten und sich plötzlich zu einem Comeback entschlossen hat.

Sie schüttelt den Kopf.

»Ich werde gleich wieder gehen. Ich bin nur vorbeigekommen, um Leo die neuen Hausschlüssel zu bringen. Ich musste das Schloss in der Haustür auswechseln.«

»Ja, ich hab davon gehört, dass bei euch eingebrochen worden ist. Aber Leo hat gesagt, es sei nichts gestohlen worden.«

»Seine Gitarre nicht, meint er. Allerdings ein bisschen Silber, das ich geerbt habe. Wenn das zählt.«

Neunhundertsechzig Mark und fünfzig Schillinge hat es gekostet, die Schlösser in beiden Häusern auszutauschen. Die Schlosserei hat sechs Stunden dafür gebraucht, Langevik in die Tour des entsprechenden Tages einzuplanen.

Nur ein kurzer Ausflug zum Supermarkt nach Rakne – und schon hatte jemand die Gelegenheit genutzt und die Schlösser zum Wohnhaus und zum Gästehaus aufgebrochen. Ich kann kaum eine Stunde fort gewesen sein, allerhöchstens eineinhalb, hat Karen gedacht, während sie unter Hochspannung alle Räume ablief, wohl wissend, dass sich durchaus noch ein Fremder im Haus befinden könnte.

Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich war, schon gar nicht bei dem Gedanken an den weißen Lieferwagen, der ihr an der Abzweigung entgegengekommen war, als sie mit einem neuen Akkuschrauber, vier Schachteln Holzschrauben und zwei Kisten Rotwein im Kofferraum wieder auf dem Heimweg gewesen war. In dem Moment hatte sie sich nichts dabei gedacht, ihr war nur aufgefallen, dass sie das weiße Auto nicht kannte.

Als sie dann zu Hause war, war die Antwort darauf, was gestohlen worden war, kurz und knapp. Silber.

Auf der Kommode im Wohnzimmer waren nun zwei runde Löcher in der dünnen Staubschicht sichtbar, wo die Kerzenständer vom Ende des 18. Jahrhunderts gestanden hatten. Die Schubladen mit dem Silberbesteck von der bretonischen Verwandtschaft ihrer Mutter lagen ausgeleert auf dem Boden.

Ansonsten schienen die Jungs mit dem Lieferwagen zu dem Urteil gekommen zu sein, dass Karen Eiken Hornbys Besitz nicht besonders wertvoll war. Nicht einmal den relativ neuen Fernseher, den sie sich beim Ausverkauf zwischen den Jahren geleistet hatte, hatten sie mitgehen lassen. Ihre beachtliche Sammlung von Weinen, die von dem Weingut im Alsace stammten, an dem sie selbst einen mickrigen Anteil besaß, war offenbar auch nicht besonders interessant für Diebe, aber dass sie nicht einmal ein paar Flaschen geklaut hatten, deutete darauf hin, dass sie gar nicht bis in den Keller gekommen waren. Vermutlich – damit tröstete sie sich in einem Anfall von verletzter Eitelkeit– hatte sie irgendetwas gestört.

Anfangs beruhigt nach der Feststellung, dass alle Flaschen noch vollzählig und unbeschädigt vorhanden waren, begriff sie schließlich, worauf es die Diebe wirklich abgesehen hatten, und rannte das Schlimmste befürchtend hinüber ins Gästehaus.

Sie hatte einen Kloß im Hals, als sie ein paar Minuten später Leo anrief, um ihm mitzuteilen, dass der Gegenstand fehlte, der ihm am meisten am Herzen lag. Die Gitarre der Gitarren, eine Martin, Baujahr 1932, hatte zwar Leos Zeit auf der Straße überlebt, aber nicht den Aufenthalt in einem Haus, das lächerlich schlechte Schlösser hatte, die vermutlich aus einem ähnlichen Jahr stammten wie das Instrument.

Während das Freizeichen zu hören war, fragte sie sich welche Pflichten sie als Vermieterin wohl habe. Und die Erleichterung, als Leo endlich abnahm und sagte, sie könne beruhigt sein, er habe die Gitarre ins Studio mitgenommen, hat sie dazu bewegt, ihm die neuen Schlüssel sofort vorbeizubringen. Gleich nachdem der Schlosser seine Arbeit beendet hatte, sprang sie ins Auto. Neunhundertsechzig Mark, fünfzig Schillinge und ein paar Kilo Erbmasse ärmer.

Kores Stimme holt sie zurück in die Gegenwart.

»Du bist echt sauer.«

Karen schenkt ihm ein Lächeln und greift zur Flasche.

»Ach was«, sagt sie und nimmt einen Schluck. »Und Glückwunsch an dich. Ich weiß, wie hektisch die vergangene Woche war. Aber jetzt seid ihr komplett fertig, nicht wahr?«

Kore bläst die Wangen auf und pustet die Luft geräuschvoll wieder aus.

»Mit den Aufnahmen, ja. Wenn es mir gelingt zu verhindern, dass einer in letzter Minute noch auf die Idee kommt, Änderungen vorzuschlagen.« Karen sieht in sein müdes Gesicht und will schon den Mund öffnen, um nachzufragen, was er damit meint, aber lässt es. Die Aufnahmen gehen sie nichts an. Und sie will auch nicht länger als nötig bleiben.

»Na, dann drücke ich jetzt die Daumen, dass das Album gut läuft, wenn Release ist«, sagt sie. »Es erscheint frühestens im Herbst, wenn ich es richtig verstanden habe?«

Sie hat von den Plänen schon gehört. Zuerst soll die Top- Neuigkeit lanciert werden: dass Luna nach zehn Jahren Funkstille wieder zurück ist. Vor dem Sommer wird dann eine Single auf den Markt gebracht, die übrigen Lieder folgen auf eine Tournee im Herbst. So ist der Plan, hat Leo gesagt. Wenn alles glattgeht.

Sie hat nur mit halbem Ohr zugehört. Lunas Musik hat sie nie nennenswert interessiert, auch nicht ihre erfolgreichsten Hits; Glitzerpop und aufwendige Bühnenshows. Einfach zu verreißen, schnell vergessen in der Horde anderer, wesentlich größerer Künstler, doch aus irgendeinem Grund hat Luna immer hervorragende Kritiken erhalten und ist im Nachhinein quasi zur Kultfigur erklärt worden. Vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ohne Vorwarnung ganz plötzlich zurückgezogen hat, als sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere war.

Kore nickt.

»Ja, so haben wir uns das gedacht«, sagt er. »Wir hoffen, dass sie ganz groß rauskommt.«

Damals hat mich das einen Dreck interessiert. Und jetzt noch viel weniger, denkt Karen und sieht hinüber zur Bühne, wo Leo gerade etwas sagt, woraufhin Luna den Kopf nach hinten wirft und in Lachen ausbricht.

Die perfekten weißen Zähne kann Karen von hier aus gar nicht sehen. Aber sie weiß, wie Luna lacht.

Was tue ich hier, verdammt noch mal?

»Kore, könntest du Leo die Schlüssel von mir geben?«, fragt sie. »Ich bin ein bisschen in Zeitnot, und es ist ja offensichtlich, dass er beschäftigt ist.«

»Entspann dich, wir feiern. Auch wenn wir nur ein paar Leute sind, gefeiert wird richtig. Eirik kommt auch noch, er wird jeden Moment da sein.«

Kore wirft einen Blick auf seine Armbanduhr und dann zum Eingang, als würde das dazu führen, dass sich sein Freund auf der Stelle materialisiert.

»Das schaff ich nicht. Ich habe Marike versprochen, bei ihr im Atelier vorbeizuschauen, sie will mir etwas von ihrer Arbeit zeigen.«

»Einen Moment wirst du doch noch Zeit haben? Und wenn du nett bist, kannst du sie vielleicht auch noch begrüßen …«

Er wird unterbrochen, als Leo auf die beiden zuläuft, die Weißgekleidete an seiner Seite. Karen sieht, dass er seine Hand auf ihren Rücken gelegt hat, als wolle er sie vorwärts lotsen.

»Hallo Karen«, sagt er. »Ich wollte euch gern mal vorstellen. Das ist Karen, die Polizistin, bei der ich wohne, und das ist also Luna. Mehr muss ich zu ihr wohl nicht sagen.«

Die Polizistin, bei der ich wohne.

Karen streckt die Hand aus, aber anstatt sie zu ergreifen, legt Luna die Handflächen aneinander und verbeugt sich leicht.

»Namaste.«

Das Lächeln, das Karen begegnet, ist so umwerfend schön, dass sie selbst nur dumpf zurückstarren kann. Mit dem Gefühl, selbst immer mehr zu schrumpfen, nimmt sie alle Details staunend wahr. Das reine, ungeschminkte Gesicht, die goldene, offenbar porenfreie Haut. Das hellblonde, kurz geraspelte Haar. Den Mumm hätte ich nie, denkt Karen. Auch nicht, wenn ich zehn Jahre jünger wäre und eine Kopfform wie Nofretete hätte.

Da bemerkt sie, dass sie ihre Hand immer noch ins Leere hält, und zieht sie peinlich berührt zurück.

»Äh … hallo.«

Die Musik aus den Lautsprechern und das Gemurmel, das in dem Moment, als Luna die Bühne verlassen hat, aufkam, liegen nun wie eine dichte Klangdecke über dem Lokal und ertränken Karens hervorgestammelte Silben.

»Karen ist eine alte Freundin von mir«, ruft Kore. »Oder genauer gesagt, eigentlich von Eirik. Sie kennen sich schon seit der Schulzeit.«

Luna nimmt von seiner Bemerkung keinerlei Notiz. Stattdessen hängt ihr Blick an Karen.

»Wie schön, dich kennenzulernen«, sagt sie und beugt sich vor. »Leo hat erzählt, wie froh er ist, dass er bei dir wohnen kann. Dass du ihn praktisch gerettet hast.«

Karen spürt, wie sich ihr Gesicht verspannt, als sie sich zu einem Lächeln zwingt. Sie sucht nach den passenden Worten, während all ihre Gedanken nur darum kreisen, was sie für einen lachhaften Kontrast zu dieser blonden Frau abgibt, die wie eine Statue vor ihr emporragt. Sie bemerkt, dass Luna wohl nur Wasser im Glas hat, und unterdrückt den Impuls, noch einen Schluck Bier direkt aus der Flasche zu trinken.

Nun sag schon was. Steh nicht einfach da wie ein Idiot.

»Ja, ich bin dir dafür genauso dankbar«, fährt Luna fort. »Dass du ihn für mich gerettet hast, meine ich. Diese fantastische Reise hätte ich niemals ohne Leo machen können.«

Ihr leichtes Streicheln über seinen Arm zeugt von Intimität. Zusammengehörigkeit. Seine Hand ruht noch immer auf ihrem Rücken. Leo und Luna. Wie lächerlich. Irgendwas in Karen wehrt sich, und sie sieht ihm direkt in die Augen.

»Ach so, bist du nicht nur Musiker, Leo?«, fragt sie. »Spielst du jetzt auch Reiseleiter?«

Die Göttliche lacht auf. Ein klingendes, glockenreines Lachen, und Leo sieht einen Moment lang irritiert aus.

»Luna meinte doch Reise als …«

Er verstummt.

»Hab ich kapiert«, sagt Karen. »Das war ein Witz.«

Luna hat den Kopf ein wenig schräg gelegt und betrachtet sie. Sieht jetzt nachdenklich aus.

»Ja, Leo hat gesagt, dass du Witz hast«, sagt sie. »Und Biss. Aber als Polizistin braucht man das vielleicht auch. Und als Vermieterin.«

»Ja, vielleicht«, erwidert Karen kurz angebunden. »Es war wirklich nett, dich kennenzulernen, Luna«, schiebt sie hinterher und zwingt sich noch einmal zu lächeln, während sie den Schlüsselbund aus ihrer Tasche angelt. »Aber jetzt muss ich los.«

Dann wendet sie sich an Leo.

»Die wollte ich dir nur geben. Falls du auf die Idee kommst, heute Nacht mal zu Hause zu schlafen.«

Kaum hat sie die Worte über die Lippen gebracht, ärgert sie sich.

Was hat sie damit zu tun, wo Leo Friis seine Nächte verbringt? Oder mit wem.

2

Es ist ungewöhnlich heiß an diesem Sonntagnachmittag, versucht sie sich einzureden. Deshalb fällt es ihr so schwer. Fünfundzwanzig Grad hat das Thermometer angezeigt, als sie vor zwanzig Minuten voller Zuversicht ihre Sneakers geschnürt hat.

Schon die ersten Meter auf dem Kiesweg sind anstrengend gewesen, dann ist sie in nördliche Richtung abgebogen und auf dem Pfad entlang der Küste weitergejoggt. Einen guten Kilometer hatte sie hinter sich, als die Müdigkeit sie mit voller Kraft übermannte. Dann zwang sie sich, wenigstens noch mal so weit zu laufen, bevor sie aufgab und mit zittrigen Beinen auf die flachen Felsen niedersank und sich gegen eine der Krüppelkiefern lehnte.

So heiß ist es doch noch nicht Ende April, hat sie gedacht. Nicht auf Doggerland.

Erschöpft schaut sie geradeaus zum Horizont und fängt an, sich Gedanken zu machen. Systematisch. Beginnt beim Treibhauseffekt, der Erderwärmung und den schmelzenden Polarkappen, und spürt, wie sich die Hoffnungslosigkeit breitmacht, während sie sich den Schweiß von der Stirn wischt. Wartet darauf, dass der Anblick des Meeres wie immer tröstend auf sie wirkt.

Aber nach den letzten alarmierenden Berichten gewinnt sie eher den Eindruck, dass das Wasser, das schäumend gegen die Klippen schlägt oder leise plätschernd auf den Steinstrand, eher um Hilfe ruft als Trost verspricht. Der Zug ist abgefahren, denkt sie. Wenn wir nicht jetzt sofort etwas tun, wird es zu spät sein.

Doch dann wandern ihre Gedanken zu dem, was ihr am Freitagmorgen bevorsteht: Gesundheits- und Fitnesscheck. Die obligatorische jährliche Untersuchung mit Konditionstest und Schießprobe. Die Augen werden kontrolliert, der Alkoholmarker im Blut bestimmt, Blutdruck, Blutbild … Einen kurzen Moment genießt sie die Gewissheit, dass sie die letzten Monate zumindest, was Alkohol angeht, fast abstinent gewesen ist. Sogar ihr Zigarettenkonsum ist weniger geworden. Im Grunde geht er gegen null.

Im Grunde.

Und natürlich hat sie sich fit gehalten; alle Übungen gemacht, die die Physiotherapeutin ihr gezeigt hat, um die Verletzungen in ihrem Knie zu kompensieren, und das muss sie für den Rest ihres Lebens tun. Hat die Gelegenheit genutzt, auch Arme und Bauch zu trainieren, und gespürt, wie die Kraft in den Muskeln langsam zurückkam.

Aber gejoggt ist sie nicht. Und am Freitag wird nicht ihre Kraft beurteilt, sondern sie wird ein Belastungs-EKG bekommen, mit Elektroden auf dem schweißnassen Körper.

Die werden mich doch nicht aus dem Verkehr ziehen?, denkt sie. Sie wissen ja, warum ich im Herbst kein Konditionstraining machen konnte. Erst das Knie und dann Schnee und Eis … Da taucht das Bild ihres unbenutzten Ergometers im Keller auf, sie verdrängt es, so schnell es geht. Denkt kurz an die Mammografie, die jetzt allen Beamtinnen der Doggerlandpolizei angeboten wird und die sie jetzt zum ersten Mal vornehmen lassen will. Sie wird den Kopf aus dem Sand ziehen und diese fiese Brustpresse durchstehen. Denkt an die kleine Verhärtung in einer Brust, die sie kürzlich beim Duschen entdeckt hat. Hart und beweglich. So etwas hat sie noch nie gehabt.

Doch jetzt sollte sie keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Sich lieber auf die Schießprobe einstellen. Die bereitet ihr nämlich keine Angst.

Am Morgen hatte sie plötzlich innegehalten, als sie ihr Spiegelbild gesehen hat. Mit der Zahnbürste in der Hand ist sie mit einem Mal stehen geblieben und hat das käsige Gesicht vor sich angestarrt, anstatt ihre tägliche Morgenroutine im Bad schnell und schludrig zu absolvieren. Sie hat Grimassen gezogen und festgestellt, dass die Krähenfüße seit ihrer letzten eingehenden Betrachtung tiefer geworden sind und dass sie um die Wangenknochen müde aussieht. Und ihr ist bewusst, dass die gestrige Bekanntschaft mit Luna ihre Selbstzweifel noch mehr befeuert hat. Dieses ätherische, weiß gekleidete Geschöpf, das alle verzaubert.

Alle, außer einer säuerlichen Kriminalinspektorin von Langevik.

Und dann dieser Streit mit Leo. War es überhaupt ein richtiger Streit? Er ist noch mit ihr zum Auto gekommen. Hat versucht, sie zum Bleiben zu bewegen. Sich gewundert, warum sie so sauer war.

»Warum kann sie sich nicht wie ein normaler Mensch vorstellen?«, hat Karen gefaucht.

»Sie gibt Leuten nie die Hand«, hat Leo geantwortet. »Die meisten Sängerinnen haben Angst, sich Bazillen einzufangen. Außerdem ist sie offenbar seit ein paar Jahren schon Buddhistin«, hat er hinterhergeschoben.

So wie sie an dir klebt, hat sie wohl kaum Angst vor Bazillen, hat Karen gedacht, aber sich glücklicherweise verkniffen, es auszusprechen. Nur beobachtet, wie er die Schlüssel in die Jackentasche gesteckt hat, und sich gedacht, dass es sicher noch dauern würde, bis er sie benutzen wird.

An diesem Morgen hat sie von ihm zumindest noch nichts gesehen. Von Sigrid auch nicht, fällt ihr ein, und sie versucht, die Sorge zu beherrschen, die sie verspürt, seit sie durch den Türspalt des kleinen Schlafzimmers gesehen hat, dass Sigrids Bett leer ist. Dass ihr Bett nicht gemacht war, ließ keine Rückschlüsse zu. Das ist immer so.

Sigrid ist erwachsen, versucht sie sich einzureden. Sowohl sie als auch Leo haben das Recht zu kommen und zu gehen, wann sie allein es wollen. Zwei Untermieter, mehr nicht. Zwei Seelen, die im Wind trieben, als sie an ihre Tür geklopft und Unterschlupf in ihrem Leben gesucht haben.

Warum zum Teufel musste ich ihnen die Tür öffnen?

Zwanzig Minuten später bleibt sie an der Steintreppe stehen und sucht Halt am Geländer. Es rauscht in ihren Ohren. Eine Hitzewelle durchfährt ihren Körper, erreicht den Siedepunkt, als sie ins Gesicht schießt. In dem Moment, als sie ihre Stirn an das kalte Eisengeländer lehnt, hört sie, wie die Tür zum Gästehaus geöffnet wird. Na, so was, denkt sie. Bist du heute Nacht doch nach Hause gekommen.

Im nächsten Moment ertönt Leos Stimme.

»Aber hast du mal die anderen angerufen? Irgendwer muss doch wissen, wo sie ist. Brynn oder Gordon? Vielleicht Billy? Er weiß doch sicher, was sie vorhat.«

In den nächsten stillen Sekunden, während Leo der Antwort seines Gesprächspartners lauscht, nutzt Karen die Gelegenheit, die Treppe hinaufzusteigen und durch die Tür zu verschwinden, ohne sich umzudrehen. Als sie im Badezimmer im ersten Stock steht, hört sie Leos Stimme wieder.

»Sie hat das bestimmt ganz einfach vergessen, vermutlich meldet sie sich demnächst bei uns. Oder sie taucht morgen auf. Ich bin ehrlich gesagt ganz froh, dass ich heute nicht schon wieder ins Studio fahren muss. Hab einen fetten Kater, du nicht?«

»Was war das denn?«, fragt Karen, als sie sich kurze Zeit darauf, frisch geduscht und mit Gesichtscreme dick eingeschmiert, die sie ganz hinten im Schrank gefunden hat, am Küchentisch niederlässt.

Riecht ein bisschen muffig, denkt sie.

»Luna«, sagt Leo. »Wir hätten heute noch die letzten Änderungen klären wollen, aber Kore erreicht sie einfach nicht.«

»Ich dachte, ihr wart fertig? War das nicht der Anlass für euer Fest?«

»Im Grunde schon. Doch Luna hatte gestern noch eine Idee, die wir vor ihrer Abreise ausprobieren wollten.«

»Dann fährt sie wieder nach Hause?«, fragt Karen und versucht, die Erleichterung in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Leo legt den Kopf in den Nacken und gähnt. »Ja, übermorgen«, sagt er. »Und sie wird sicher nicht vor Ende des nächsten Monats zurückkommen können. Aber heute Vormittag sollte sie eigentlich mit Kore reden und einen Termin ausmachen, an dem wir uns im Studio noch einmal zusammensetzen. Wir haben nur noch heute und morgen Zeit.«

»Sie schläft bestimmt. Vielleicht hat sie so einen Kater wie du?«

»Luna? Die trinkt doch keinen Tropfen.«

Nein, natürlich tut sie das nicht, denkt Karen und greift nach der Teekanne.

»Ja, nur jede Menge Saft und anderes komisches Zeug«, fährt Leo fort. »Wusstest du, dass man Gras essen kann? Oder zumindest trinken. Soll wahnsinnig gesund sein.«

»Feel free«, sagt Karen und macht eine Handbewegung in Richtung Küchenfenster. »Du kannst gern mit dem Weißen Gänsefuß unten am Holzschuppen anfangen und dich zum Hof vorfuttern.«

Leo schnaubt. »Bist du immer noch sauer?«, fragt er und schneidet sich eine Scheibe von dem Brot ab, das seit ihrem Frühstück vor ein paar Stunden draußen liegt. »Möchtest du auch eins?«, schiebt er hinterher und hält fragend das Messer in die Luft.

»Nein, danke. Oder doch. Schneid mir auch eine Scheibe ab.«

»Was war denn eigentlich los? Ich meine, gestern.«

»Nichts. Ich war nur so müde. Und habe mich da so … so fremd gefühlt. Das ist nicht mein Ding.«

»Wieso? Gute Musik, gutes Essen und eine volle Bar. Und Leute, die gut drauf sind, weil sie einen super Job gemacht haben. Und das ist plötzlich nicht ›dein Ding‹?«

Sie antwortet nicht.

»Wie auch immer, ich muss heute wohl nicht mehr in die Stadt«, sagt Leo und gähnt noch einmal. »Ohne Luna können wir nichts machen. Schlimmstenfalls müssen wir morgen ganz früh anfangen, ansonsten können wir die Änderungen in die Tonne stampfen, sagt Kore. Ende der Woche geht die nächste Band ins Studio.«

»Und wo wohnt sie? Im Hotel?«

»Nein, um Gottes willen. In einer gemieteten Villa unten auf Frisel. Wir hätten sonst nie geheim halten können, dass sie hier ist. Alle, die an dem Projekt mitarbeiten, mussten Geheimhaltungsklauseln unterschreiben. Du hast auch versprochen, den Mund zu halten, nicht wahr?«

Er sieht sie ernst an.

»Ja, ich habe zu keiner Menschenseele ein Wort darüber verloren. Aber ist denn jemand zu ihr hingefahren? Ich meine, zu dieser Villa nach Frisel? Sie könnte ja trotzdem da sein, auch wenn sie nicht ans Handy geht. Vielleicht hatte sie einen Unfall, oder hat eine Überdosis genommen …«

»Ach, Quatsch, Unsinn, sie ist ja rein wie Schnee.« Leo schüttelt verärgert den Kopf. Dann sieht er sie beunruhigt an. »Kore will am Abend dort vorbeischauen, wenn sie bis dahin nichts von sich hören lässt. Warum? Meinst du, wir müssen uns Sorgen machen?«

»Ich meine gar nichts. Absolut gar nichts.«

Aber ich frage mich, warum Kore gerade heute angerufen hat, um sich zu erkundigen, wo Luna abgeblieben ist, denkt sie.

In dem Moment geht die Haustür auf, und eine Mischung aus Erleichterung und Ärger überkommt sie, als sie Sigrids Stimme hört.

»Hallo? Ist jemand zu Hause?«

Leo zwinkert Karen warnend zu. »Entspann dich«, sagt er. »Sie ist jetzt neunzehn.« Dann beugt er sich vor und kneift die Augen zusammen. »Was für Zeug hast du eigentlich im Gesicht?«

3

»Stopp, ich fahre«, sagt sie und nimmt Leo den Autoschlüssel aus der Hand. »Du hast bestimmt noch Restalkohol im Blut.«

Sofort spürt sie es wieder, diesen freien Fall. Dieselben Worte wie vor knapp elf Jahren. Sie fällt, sucht Halt. Hört aus der Ferne Leos Gemotze, als sie die Fahrertür öffnet.

Dann kommt sie zurück an die Wasseroberfläche.

»Okay«, sagt sie kurz und macht Platz. »Aber du hältst die Geschwindigkeitsregeln ein, ich habe keine Lust, heute noch mit Kollegen reden zu müssen.«

»Meinst du wirklich, dass jetzt Verkehrsbullen unterwegs sind? Um die Zeit, am Sonntag?«

Vermutlich hat Leo recht; die Kollegen haben zwei Nächte am Stück durchgearbeitet und jetzt hoffentlich frei, das haben sie sich wirklich verdient. Die Alkoholkontrollen an Sonntagen sind vermutlich schon vor dem Mittagessen durchgeführt worden. Und jetzt ist es bereits halb sieben am Abend.

Die Entscheidung, Kores Wunsch zu erfüllen, basiert zu gleichen Teilen auf Verärgerung wie auf schlechtem Gewissen. Trotz ihrer guten Vorsätze hat Karen es sich nicht verkneifen können, Sigrid vorzuhalten, sie hätte doch wenigstens eine SMS schicken und mitteilen können, dass sie nicht zu Hause übernachtet. Sie muss doch wissen, dass sie sich Sorgen machen.

»Lass mich da raus«, hat Leos Rücken signalisiert. Er ist aufgestanden, als Sigrid in der Küchentür stand, und hat sich dann an die Spüle gestellt, um neues Teewasser aufzusetzen.

»Ich habe bei jemand anderem übernachtet.«

»Bei Klara?«

»Nein, bei einem Typen, wenn es für dich wichtig ist.«

»Was für ein Typ?«

»Einer … aus dem Klub. Er ist mit dem Inhaber befreundet.«

»Ein ›Typ‹? Hat der auch einen Namen?«

»Ja, Keris, warum? Keris Gudmundson.«

»Und was macht er beruflich? Ich meine, hat er überhaupt einen Job?«

»Er ist Koch. Steht in der Küche. Er kocht unglaublich gut.«

»Im Klub? Ich dachte, da serviert ihr …«

»Nein, im ›P27‹ am Parkvej. Da ist er schon seit ein paar Jahren.«

Da ist Karen die Kinnlade heruntergefallen. Das »P27« ist keine kleine Klitsche. Im Gegenteil, man munkelt, dass dieses hippe Restaurant möglicherweise das erste Sternerestaurant im ganzen Land werden könne. Und dieser Keris, mit dem Sigrid die Nacht verbracht hat, kocht genau da schon seit ein paar Jahren.

Seit ein paar Jahren …

Misch dich nicht ein, hat sie versucht, sich selbst zu ermahnen. Lass es jetzt gut sein, du bist nicht ihre Mutter. Halt einfach den Mund.

Und natürlich hat sie es nicht getan.

»Koch«, hat sie gesagt. »Kein schlechter Beruf. Wie alt ist er denn?«, hat sie mit gespielter Beiläufigkeit hinterhergeschoben.

»Warum? Ich glaube, siebenundzwanzig.«

Und gerade da, als Karen tief Luft geholt hat, um sich über den viel zu großen Altersunterschied auszulassen, hat Sigrid sich entspannt zurückgelehnt. Ihren Blick zwischen Karen und Leo hin- und herwandern lassen.

»Acht Jahre«, hat sie grinsend gesagt. »Das ist wirklich ungeheuerlich, oder?«

Und genau da hat Kore angerufen.

Instinktiv wollte sie sofort Nein sagen. Hatte nicht die geringste Lust, die ganze Strecke bis Dunker zu fahren und dann die Fähre nach Frisel zu nehmen, um sich ohne Einladung Zugang zu einer Luxusvilla zu verschaffen. Ihr war es doch scheißegal, ob Luna sich gemeldet hatte oder nicht, und was aus der Fertigstellung des Albums wurde. Doch nach dieser Niederlage gegen Sigrid wollte Karen Eiken Hornby zeigen, dass sie kein Unmensch war.

Kein bisschen.

Außerdem war jetzt ihre Neugier geweckt.

»Ich hab mich schon auf den Weg gemacht«, hat Kore gesagt, »aber es wäre gut zu wissen, dass Leo und du dazukommt.«

»Wenn ihr euch solche Sorgen macht, verstehe ich nicht, warum ihr nicht schon längst runtergefahren seid.«

»Ich mag die Vorstellung nicht, ohne Grund die Häuser anderer Leute zu betreten. Und was sollen wir tun, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Falls sie verletzt ist, oder …«

»Ja, was wohl? Vielleicht den Notruf wählen? Aber ich kann mitkommen, wenn du unbedingt willst. In einer Stunde können wir dort sein.«

Leo fährt gut. Es nervt geradezu, wie korrekt er sich an die erlaubte Höchstgeschwindigkeit hält, stellt Karen fest, als sie das Tachometer kontrolliert.

»Woran denkst du?«, fragt er. »Immer noch an Sigrid?«

»Nein, nur an die Vergänglichkeit des Lebens«, murmelt sie und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »In dreizehn Minuten geht die nächste Fähre … Danach müssen wir wieder eine halbe Stunde warten.«

»Willst du damit sagen, dass …?«

Leo stockt mitten im Satz. Dann tritt er das Gaspedal durch.

Neben der Einfahrt hockt Kore in seinem Wagen. Als Leo Karens grünen Ford Ranger dahinter parkt, öffnet Kore die Tür und steigt aus. Er sieht müde aus, denkt Karen und stellt fest, dass sein schwarzes Haar über der blassen Stirn tatsächlich einmal sauber nach hinten gekämmt ist. Heute kein Kajalstrich, keine Zöpfe, kein Schal um den Hals, keine Ohrringe. Nur die Tattoos auf den dünnen Unterarmen und der Nasenring sind zu sehen.

Er schmeißt die Zigarette auf den Boden und nimmt Karen in den Arm.

»Voll nice, dass ihr da seid.«

»Bringen wir es hinter uns«, sagt Karen und sieht zum Haus hinauf. »Hast du die Schlüssel?«

»Ja. Brynn hat einen Ersatzschlüssel bekommen, um das Haus vorzubereiten, bevor Luna eingezogen ist.«

»Wenn ich Leo richtig verstanden habe, gehört es einem Freund von Brynn?«

Kore nickt. »Er heißt Ole Henriksen. Die meiste Zeit des Jahres verbringt er in Palm Springs. Er kommt nur in den Sommermonaten nach Hause. Das Haus steht also die meiste Zeit leer, daher fand er die Idee gut, uns auszuhelfen.«

»Ja, ich habe gehört, dass sie nicht im Hotel untergebracht werden konnte«, sagt Karen. »Unsere kleine Primadonna ist hier ja offenbar inkognito.«

Kore scheint die Ironie in ihrer Bemerkung zu überhören.

»Ja, war alles nicht so einfach«, sagt er, »aber wir haben dann doch eine gute Lösung gefunden. Bislang zumindest.«

»Dann hat noch kein Journalist Wind davon bekommen, dass sie sich hier aufhält?«

Er sieht sie mit großen Augen an. »Was denkst du denn? Das hättest du gemerkt. Hast du eigentlich eine Ahnung, wie berühmt sie ist?«

Karen zuckt mit den Schultern. Doch, schon. Klar weiß sie das.

Luna ist vermutlich die berühmteste Person, der ich jemals beinahe die Hand hätte schütteln dürfen, welche Ehre, denkt sie und sieht zu, wie Kore eine Ausweiskarte an das Lesegerät der Haustür hält, einen Code eintippt und dann die Tür öffnet. Dann zieht er einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche, geht vor zur Alarmanlage, die an der Wand im Flur installiert ist, und gibt schnell eine zehnziffrige Nummer in den Steuerapparat ein.

Karen bemerkt, dass seine Hand leicht zittert, und erst da begreift sie, wie sehr er unter Strom steht. Wegen der Aufnahmen, die jetzt nicht rechtzeitig fertig werden? Oder macht er sich ernsthaft Sorgen um Luna? Sie kennen sich seit ihrer Jugend; das ist auch der Grund, warum sich diese international bekannte Sängerin überraschend entschieden hat, ihre Musik bei KGB Productions aufzunehmen. Und zudem nach Doggerland heimzukehren, um ihr Comeback nach zehn Jahren Bühnenabstinenz vorzubereiten.

Natürlich macht er sich Sorgen, denkt sie und hat fast ein schlechtes Gewissen.

»Hallo«, ruft sie ins Haus. »Ist jemand zu Hause?«

Sie öffnet die Tür rechts vom Flur und sieht in eine Gästetoilette, die ihr größer als ihr eigenes Schlafzimmer vorkommt. Ordentlich gestapelte Handtücher, ein leerer Papierkorb. Ein trockenes Waschbecken, stellt sie fest, nachdem sie mit der Handfläche über die Keramik gefahren ist.

»Wir teilen uns auf, aber fasst nichts an«, sagt sie.

»Wollen wir nicht erst zusammen das Erdgeschoss ablaufen?«, fragt Leo und bleibt im Flur stehen, während Karen schon auf der ersten Treppenstufe nach oben steht.

»Macht ihr zwei das, ich schaue mir die Schlafzimmer an. Ich gehe davon aus, dass die sich oben befinden.«

»Hallo Luna, bist du hier oben?«, ruft sie, während sie die Treppen hinaufsteigt und dann an die erste Tür klopft.

Sie drückt die Klinke hinunter und schaut in einen Raum, der ein Arbeitszimmer zu sein scheint. Er ist leer.

Dieselbe Prozedur beim nächsten Zimmer. Klopfen, warten, öffnen. Der Reihe nach betritt Karen vier gleich große, ganz offensichtlich unbenutzte Schlafzimmer und bewegt sich dann weiter bis zum Ende des Flurs. Noch einmal klopft sie, dann schiebt sie die doppelflüglige Eichentür auf.

Das Zimmer hat mindestens fünfzig Quadratmeter. Sie registriert das riesige Doppelbett, das ordentlich aussieht, der Überwurf reicht übers Fußende. Betrachtet die Schiebetüren des Kleiderschranks, der sich über die gesamte linke Wand erstreckt, rechts eine Sitzgruppe mit dem Fernsehbildschirm vor der Wand und die hauchdünnen weißen Vorhänge, die im Wind wehen, weil die Balkontüren vor ihr offen stehen.

Nur ein paar Schritte und dann Erleichterung: Lunas Körper liegt nicht zerschmettert auf dem mit Steinplatten gepflasterten Patio unten vor dem Haus. Auch im Badezimmer nebenan findet sie keine ohnmächtig gewordene Luna, stellt Karen schnell fest, als sie einen Blick hineinwirft. Ihr fällt auf, dass die Toilettenartikel auf dem Regal über dem Doppelwaschbecken unaufgeräumt sind, auf dem Boden drei noch feuchte Handtücher und im Abfalleimer benutzte Kosmetiktücher und Wattepads liegen. Die durchsichtige Plastikhülle von einem Tampon ist auf den Boden gesegelt.

Karen geht zurück ins Schlafzimmer und stellt fest, dass sich ganz eindeutig vor kurzer Zeit jemand hier aufgehalten hat. Reihenweise weiße Kleider im Kleiderschrank, Bücher auf dem Nachttisch, ein wollweißer Pullover über der Armlehne eines Sofas.

Dies alles spricht eine deutliche Sprache, Luna hat hier übernachtet. Vielleicht nicht in der letzten Nacht, denkt Karen und wirft einen Blick aufs Bett, aber sicher in den Wochen, die sie hier untergebracht war. Alles ist ein bisschen unordentlich, doch kein Vergleich zu ihrem eigenen Zuhause, und es gibt keinerlei Anzeichen für irgendeine Art von Streit.

Karen verlässt das Schlafzimmer und geht wieder in den Flur, vor zu einem bodentiefen Fenster. Plötzlich hat sie eine Eingebung und holt ihr Fernglas heraus, richtet es leicht nach unten und presst ihr Auge vor das Okular, doch sieht nichts als Schwarz. Sie dreht es schärfer, aber gibt schnell wieder auf. Stattdessen stützt sie sich nun mit den Armen auf dem schmiedeeisernen Geländer ab und schielt runter ins Erdgeschoss, das aus einem einzigen großen Raum zu bestehen scheint, mit der Küche an einer Seite und dem Wohnzimmer auf der anderen. Als einzigen Raumteiler bemerkt sie mittig die großen Wände eines eingemauerten Kaminofens, der offenbar von jeder Seite zugänglich ist.

Drei Ledersofas in elfenbeinfarbenem Weißton stehen über Eck davor. Auf dem Couchtisch türmen sich noch halb gefüllte Gläser und Flaschen, daneben ein Aschenbecher voller Kippen. Ein paar Zeitungen sind vom Stapel daneben nach unten auf den Teppich gerutscht.

Leo steht vor den Glastüren und sieht über die Dachterrasse hinaus auf den Garten, während Kore sich auf den Hocker vor dem Flügel gesetzt hat, der sich am anderen Ende des Raumes befindet. Noch ein Aschenbecher und zwei Gläser stehen auf dem schwarzen Klavierlack. Immer wieder fährt er sich durchs Haar und sieht hinauf ins Obergeschoss. Als er Karen entdeckt, springt er auf, schüttelt den Kopf und sieht sie fragend an. Sie erwidert seine Geste.

Dann gehen sie zu dritt hinaus in den Garten und lassen sich in den blau lasierten amerikanischen Adirondack Chairs nieder. Sie überlegen gemeinsam, was sie gesehen oder auch nicht gesehen haben. Kein Handy, keine Handtasche, auch nicht das bodenlange weiße Kleid, das Luna im Studio getragen hat. Zumindest ist es Karen bei ihrem schnellen Check nicht aufgefallen. Aber wer weiß, denkt sie, die unzähligen Kreationen in Weiß im Kleiderschrank sahen sich alle verblüffend ähnlich, zumindest was die Farbe anbelangt. Vielleicht hat Luna sogar noch mehr Klamotten dabeigehabt.

Hat sie alles freiwillig hiergelassen oder hat jemand sie dazu gezwungen? Keine Spuren von Streit, nichts deutet auf Gewalt oder Entführung hin.

»Wer putzt hier?«, fragt Karen. »Sie selbst wohl kaum, nehme ich an.« Karen bemüht sich, neutral zu klingen.

»Ich glaube, es gibt eine Art Haushaltshilfe, die putzt und einkauft, aber ich habe keine Ahnung, wie sie heißt. Ich kann Brynn fragen, er hat alles in die Wege geleitet.«

»Warum ist er eigentlich nicht mitgekommen?«, fragt Karen. »Er kennt doch den Hausbesitzer.«

Brynn Englund. Einer der Gründer von KGB Productions, mit seinem Bruder Gordon und Kore. Karen hat die Brüder bei verschiedenen Anlässen getroffen, doch kennt keinen von beiden näher. Mit Leo und irgendeinem Billy haben sie Luna nach dem Fest im Studio hierher begleitet. Um noch eine Änderung der Songauswahl zu besprechen, wie Leo erzählt hat.

»Er ist mit seiner Freundin noch in der Entbindungsklinik. Deshalb musste er gestern ja auch weg. Billy war nüchtern und hat ihn chauffiert. Offenbar ist das Baby noch nicht auf der Welt, und Brynn hockt da mit dem Smartphone in der einen Hand und der Lachgasmaske in der anderen.«

»Und was ist mit seinem Bruder?«

Kore muss lachen. »Gordon? Er kann sich vermutlich noch an jede Tonspur, die er irgendwann mal aufgenommen hat, im Detail erinnern, aber er hat nicht die geringste Peilung, wo sich sein Arsch gerade befindet. Und noch viel weniger, wer bei wem putzt.«

»Und Billy? Ist das der blonde Typ aus dem Studio? Ein großer, schlanker Kerl, der um Luna herumgeschwänzelt ist wie ein nervöses Huhn. Der Handtaschenträger?«

Leo schaut sie leicht verärgert an.

»Ihr persönlicher Assistent, würde er sich wohl selbst nennen«, sagt Kore gelassen. »Aber du hast recht, ich könnte Billy fragen, ob er weiß, wie die Putzfrau heißt.«

Vermutlich hat sie freibekommen, schließlich ist Sonntag. Auf jeden Fall hat hier keiner aufgeräumt, seit Kore und Leo das Haus gegen drei Uhr morgens verlassen haben und mit einem Taxi nach Hause gefahren sind. Das ist noch nicht einmal einen Tag her, denkt Karen. Was mache ich hier eigentlich?

»Und ihr seid euch ganz sicher, dass zu dem Zeitpunkt niemand sonst hier war? Als ihr zwei gefahren seid?«

»Brynn und Billy waren ja schon Stunden zuvor aufgebrochen. Und andere Leute waren nicht dabei. Es waren nur wir vier. Ja, und Luna eben.«

»Könnte sie zu ihren Eltern nach Hause gefahren sein?«, fragt Karen und wirft einen Blick auf die Uhr. »Ich schätze, sie wohnen hier noch?«

»Kaum«, antwortet Kore. »Sie hat eher Angst gehabt, dass die mitbekommen könnten, dass sie hier ist. Ich glaube, sie haben gar keinen Kontakt mehr.«

Möglicherweise, denkt Karen. Oder auch nicht. Noch ist es etwas zu früh, aber wenn Luna sich nicht in Kürze meldet, werden sie gezwungen sein, nach ihr zu suchen, und die Eltern stehen ganz oben auf der Liste der Personen, die vernommen werden müssen.

»Und andere Menschen? Sie ist doch hier aufgewachsen und muss noch jede Menge alte Freunde auf den Inseln haben.«

»Glaub ich kaum«, erwidert Leo. »Sie hat ihre Kindheit auf dem Land in der Nähe von Ravenby verbracht, ist aber mitten in der neunten Klasse von der Schule abgegangen und von zu Hause abgehauen. Und sie wird kaum älter als zwanzig gewesen sein, als sie in die USA gezogen ist. Soweit ich weiß, hat sie seitdem keinen Fuß mehr auf Doggerland gesetzt. Bis jetzt. Zumindest hat sie es selbst so gesagt.«

»Aber zu dir hatte sie ja offenbar noch Kontakt über die Jahre«, sagt Karen und schaut Kore an. »Zu anderen vielleicht auch.«

»Kann schon sein, darüber hat sie nicht gesprochen. Zudem war unser Kontakt wirklich sehr sporadisch. Ich war total überrascht, als sie sich plötzlich gemeldet hat. Wäre KGB in den vergangenen Jahren nicht so erfolgreich gewesen, hätte ich sie sicherlich nie mehr wiedergesehen.«

»Und was ist mit ihrem Privatleben? Mann? Kinder?«

»Geschieden, aber sie hat offenbar noch Kontakt zu ihrem Ex. Jarred Kostas heißt er. Brynn hat ihn mal kennengelernt und wollte versuchen, ihn irgendwie zu erreichen«, fährt Kore fort.

»Und Kinder …?«

»Ich glaube, sie haben vier oder fünf. Aus verschiedenen Ländern adoptiert. Jarred und seine Neue kümmern sich um sie, während Luna hier bei uns ist. Er ist der Einzige, der Bescheid weiß, dass sie sich in Doggerland aufhält. Offiziell ist sie auf einer Art Retreat an einem geheimen Ort. Solche Trips macht sie hin und wieder.«

Retreat, denkt Karen und hat das Bild von benutzten Gläsern und überquellenden Aschenbechern vor Augen. Vielleicht ist Luna auch einfach aufgewacht, hat das Elend angesehen und die Flucht ergriffen. Und liegt jetzt in einem Spa in den Alpen und trinkt Gerstengrasmartinis.

Dann fallen ihr die Kleider und die Koffer wieder ein, die sie oben in den Kleiderschränken bemerkt hat.

»Vielleicht ist sie einfach abgereist«, sagt sie, ohne wirklich überzeugt zu klingen. »Flüge und Fährlisten werde ich morgen checken. Im Moment können wir jedenfalls nicht viel mehr tun. Schließlich ist sie ein erwachsener Mensch, im Haus finden sich keine Hinweise auf eine Gewalttat, und es sind noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen. Wenn wir bis morgen nichts von ihr gehört haben, werden wir die nächsten Schritte einleiten.«

»Dann können wir nur abwarten und hoffen, dass sie auftaucht?«

»Ja, das hoffen wir«, erwidert Karen.

Obwohl ich nicht die Daumen drücke, denkt sie.

4

Als sie sich schwungvoll auf den Bürostuhl wirft, gerät der ins Schwanken, und sie kann sich gerade noch an der Schreibtischkante festhalten, bevor er umkippt. Es ist halb neun, Montagmorgen, und der Wetterbericht meldet jetzt schon 23 Grad in Dunker.

»Ganz Doggerland steht heute erneut ein wunderbarer Tag mit sommerlichen Temperaturen bevor«, hat der Meteorologe verkündet.

Stöhnend stellt Karen ihre Tasche unter dem Schreibtisch ab.

»Was ist denn mit dir los? Bist du den ganzen Weg von Langevik hierher gerannt?«

Karl Björken ist hinter ihr aufgetaucht und betrachtet ihre hochroten Wangen über die Kante seines Kaffeebechers.

»Ich bin die Treppe hochgelaufen«, erklärt sie tonlos. »Normalerweise macht mir das gar nichts aus, doch offenbar ist meine Kondition völlig im Eimer.«

»Tja, wir sind ja jetzt ein paar Etagen weiter oben«, erwidert Karl wohlmeinend, und sie nimmt seine Ausrede mit Dankbarkeit auf.

Fünf Stockwerke in einem bereits kochend heißen Treppenhaus.

»Hab den Termin beim Gesundheitscheck am Freitag«, sagt sie, »dann werde ich meinen Rüffel schon bekommen.«

Gesundheits- und Fitnesscheck für die Angestellten der Polizeibehörde, abgekürzt GFC und meist in Kombination mit einem tiefen Seufzer ausgesprochen, zumindest von den Kollegen, deren Erinnerungen an die Zeit auf der Polizeiakademie langsam, aber sicher zu verblassen beginnen.

»Ich bin für morgen bestellt«, sagt Karl. »Kein Tropfen Alkohol seit zwei Wochen und jeden Tag zehn Kilometer Joggen seit dem ersten April. Ich hoffe, morgen Abend ist der Zinnober vorbei, und ich kann zum gewohnten Alltag übergehen«, fügt er grinsend hinzu.

Karen zieht müde lächelnd einen Mundwinkel hoch und beschließt, ihren eigenen missglückten Versuch zu joggen von heute Morgen nicht zu erwähnen. Sich in absehbarer Zeit wieder zurücklehnen und zu den alten Routinen übergehen zu können, ist für sie noch lange kein Thema.

»Was ist übers Wochenende denn reingekommen?«, fragt sie stattdessen.

»Ich habe noch nicht alles durchgelesen, aber offenbar nur das Übliche: ein paar Einbrüche in Einfamilienhäuser, hier und da eine Überdosis, und dann wie immer zahlreiche besoffene Jugendliche. In Ravenby hat es eine große Schlägerei in einer Kneipe gegeben, oben auf Noorö eine Messerstecherei und ein paar Hausfriedensbrüche. Und ein Typ ist in Grunder aufs Dach eines Hauses gestiegen und hat da die ganze Nacht lang geheult. Sechs Nachbarn haben sich beschwert.«

»Mit anderen Worten: Vollmond«, sagt Karen, beugt sich vor und stellt ihren Computer an. »Sonst nichts? Du weißt, was ich meine.«

Karl sieht sie mit großen Augen an. »Meinst du, ich hätte das nicht erwähnt? Nein, auch an diesem Wochenende hat er sich zurückgehalten. Obwohl es so warm ist. Ich vermute fast, er ist für irgendeine andere Sache in den Knast gewandert. Oder lebt gar nicht mehr.«

»Ja, die Hoffnung stirbt nie«, erwidert sie gedankenverloren, während das Logo der Doggerlandpolizei auf ihrem Bildschirm auftaucht und sie als Nächstes das interne Berichtsprogramm PIR öffnet. »Aber sicherheitshalber schaue ich selbst noch einmal ins PIR, falls Smeed auf die Idee kommt, mich abzufragen.«

»Wollen wir später zusammen mittagessen? Um eins im Biergarten vom ›Magasin‹?«, ruft Karl, als er schon auf seinen Schreibtisch ein paar Meter entfernt zusteuert, und Karen hebt die Hand über den Kopf mit dem Daumen hoch.

Als das Telefon ein paar Stunden später klingelt, hat Karen jede kleine Meldung, die im PIR gelistet ist, durchgeschaut und festgestellt, dass keine Frau namens Luna Johns oder auch Lena Johanson, wie sie früher hieß, bevor sie ihren Namen geändert hat, ein Vergehen gemeldet hat oder selbst als Opfer eines Verbrechens genannt worden ist.

Doch diese Mitteilung scheint Kore nicht sehr zu beruhigen, als sie ihn kurz darauf am Telefon informiert.

»Sie hätte sich auf jeden Fall irgendwie melden müssen«, sagt er mit einer Anspannung in der Stimme, die Karen von ihm gar nicht kennt. »Irgendwas stimmt da nicht.«

»Und euch ist auch nichts mehr eingefallen? Bemerkungen von ihr, die eine Erklärung wären …?«

»Nein«, fällt Kore ihr ins Wort, »aber Brynn hat rausgekriegt, wie die Putzfrau heißt. Ich hab auch ihre Nummer.«

»Gut«, sagt Karen und fischt einen Stift aus einem Becher, der auf ihrem Schreibtisch steht.

»Calita Lita. So heißt sie offenbar.«

»Ja, irgendwie heißt man eben«, sagt Karen trocken und notiert Namen und Telefonnummer. »Ich werde sie anrufen und fragen, ob sie mehr weiß. Und«, fügt sie hinzu, »ich habe Passagierlisten von allen Fähren und Flugzeugen angefordert, die Dunker und Ravenby in den letzten 24 Stunden verlassen haben. Weißt du vielleicht, welcher Name in ihrem Pass steht? Luna Johns oder Lena Johanson?«

»Lena Johanson. Sie hat den Künstlernamen nie offiziell angenommen. Ich nehme an, unter ihrem alten Namen kann sie sich freier bewegen.«

»Keine Frage. Und mit welcher Fluggesellschaft ist sie hergeflogen? Und an welchem Tag genau?«

»Mit keiner Gesellschaft. Sie ist am dritten April mit einem Privatboot hergekommen.«

»Privatboot?«

»Ja. Mit einer Jacht. Jarred Kostas, ihr Ex-Mann, hat sie von Frankreich rübergefahren. Er hat wohl ein Haus in der Bretagne, und Luna war dort mit den Kindern im Urlaub, bevor sie herkam.«

»Und das Boot? Oder die Jacht, wo befindet die sich jetzt? Und wo hält sich Jarred Kostas auf?«

»Ich glaube, er ist noch in Frankreich, oder er ist mittlerweile schon wieder nach Los Angeles zurückgeflogen. Soviel ich weiß, hat er Luna aus der Bretagne hergebracht und ist dann sofort wieder zurückgefahren. Er ist der Einzige, dem sie vertraut, hat sie gesagt.«

Karen verzieht genervt das Gesicht. Hat diese ganze Heimlichtuerei wirklich mit ihrer Angst davor zu tun, von den Massenmedien aufgespürt zu werden, oder ist das nicht eher ein Anfall von ganz normalem Größenwahn? Diese Frau scheint auf jeden Fall die untrügliche Gabe zu haben, ihre Umgebung dazu zu bringen, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Die meisten Ex-Männer würden vermutlich nicht einmal Geld für eine Busfahrkarte herausrücken.

»Okay«, sagt sie. »Ich melde mich, wenn ich mit meinem Chef gesprochen habe und weiß, wie wir vorgehen. Es kann sein, dass ich alle vernehmen muss, die auf dem Fest waren.«

»Dann gibt es ganz übles Gerede.«

»Ich will auf jeden Fall mit denen reden, die sie nach Hause in die Villa begleitet haben. Dann sehen wir weiter. Aber wenn sie nichts von sich hören lässt und sich die Sache nicht in Luft auflöst, dann müssen wir eine Fahndung rausgeben.«

Ein paar Sekunden Stille, dann ein tiefer Seufzer am anderen Ende der Leitung.

»Klar, kann ich verstehen. Aber dir ist klar, dass die Medien ganz groß darauf anspringen werden? Es ist zwar Jahre her, dass sie in den Charts war, aber für viele ist sie heute noch eine Kultfigur. Und dann noch die Nachricht, dass sie verschwunden ist …«

Kore hält inne, und Karen kann hören, wie er nach Luft schnappt, bevor er das ausspricht, worum ihre Gedanken schon in den letzten Stunden gekreist sind.

»Und was ist, wenn sie jemand gekidnappt hat?«

Eine Viertelstunde später äußert der Chef der Kripo, Jounas Smeed, dieselben Befürchtungen.

»Dann können wir nur beten, dass sich niemand bei uns meldet und ein Lösegeld fordert. Ich nehme an, sie ist gut betucht.«

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