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Manchmal fühlt sich die Vergangenheit so schlimm an, dass wir die Gegenwart nicht wahrnehmen und uns vor der Zukunft fürchten. Denn selbst das beste Gerüst verliert irgendwann sein Gleichgewicht und bricht zusammen. Doch Erinnerungen verblassen. Die Welt dreht sich weiter, egal wie oft man sie auch anhalten möchte. Mit der Zeit wird vieles erträglicher. Nicht unbedingt, weil die Zeit alle Wunden heilt, sondern weil man einfach nur vergisst, wie groß der Schmerz eigentlich gewesen ist. Aber an diesem Punkt war Leni noch lange nicht. Alles, wonach sie sich sehnte, war ein Neuanfang. Einen Neuanfang ohne Schmerz. Einen Neuanfang ohne ihn. Und dann kam sie: die Gelegenheit der Aussprache. Die Möglichkeit, all das auszusprechen, was sie schon immer sagen wollte. Und auch die Chance auf Rache. Doch würde sie das wirklich tun? Würde sie ihm genau das antun, was er ihr angetan hatte?
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Seitenzahl: 238
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Wir sollten schöne Erinnerungen
immer in unserem Herzen tragen.
Denn nur weil die Gegenwart in Trümmern liegt,
und wir heute wissen, was wir damals nicht wussten,
heißt das nicht, dass wir den Moment
in der Vergangenheit nicht genossen haben.
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
Du kannst dein Kind selbstbewusst erziehen. Du kannst ihm beibringen, nett zu seinen Mitmenschen zu sein, ein Auge auf Schwächere zu haben und für sie einzustehen. Wie grausam manche Menschen, wie grausam andere Kinder sein können, musst du deinem Kind aber erst dann erzählen, wenn es in eine Situation gerät, die es erfordert. Wenn dein Kind das erste Mal von anderen Mitschülern in eine Mülltonne gedrängt wird, sein Atlas in der Schule in Flammen aufgeht oder wenn ein Erwachsener deinem Kind sagt, dass es den Rest des Joghurts doch nicht mehr essen soll, weil es ja sowieso schon dick genug wäre.
Man versucht seine Familie zusammenzuhalten, wünscht seinem Kind eine unbeschwerte Kindheit. Wenn es nicht nötig ist, warum solltest du deinem Kind dann sagen, dass Enttäuschung und vor allem auch Schmerz zum Leben dazu gehören? Warum solltest du auch deinem Kind, dass gerade vielleicht erst in die Grundschule geht, sagen, dass die Wunden, die man nicht sieht, meist die sind, die am meisten schmerzen. Du willst, dass dein Kind glücklich ist. Du willst, dass es die unbeschwerte Zeit genießen kann, bevor sie vorbei ist. Wir versuchen, unsere Kinder so gut es uns möglich ist auf das Leben vorzubereiten. Doch wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann würden wir ihnen nie erzählen, dass es manche Menschen gibt, die ihr Leben lang einsam bleiben, betrogen und verlassen werden. Wir würden unseren Kindern nicht sagen, dass nicht jede Ehe, nicht jede Liebe bis ans Lebensende hält. Es sei denn die Situation erfordert es von uns. Niemals würdest du deinem Kind sagen, dass es aufgrund von Äußerlichkeiten verurteilt werden könnte, es sei denn die Situation erfordert es von dir. Es gibt viele Dinge, die wir beeinflussen können, aber das Verhalten anderer liegt nicht in unserer Macht. Doch ist das Verhalten anderer nicht genau das Verhalten, dass uns am meisten prägt? Die beste Freundin, der erste Beziehungsmensch, deine Eltern, deine Mitschüler. All das hat dich beeinflusst, hat dich zu dem gemacht, der du heute bist.
Ich habe mich oft gefragt, ob es mir geholfen hätte, wenn meine Eltern mich vorgewarnt hätten. Ich habe mich oft gefragt, was passiert wäre, wenn ich mich gewehrt hätte. Wenn ich in der Mülltonne einfach gelacht, den Atlas niemals mit in die Schule gebracht und den Joghurt einfach zu Ende gegessen hätte. Vielleicht hätte ich Verständnis und Mitleid mit den Menschen gehabt, die durch ihr Verhalten scheinbar etwas kompensieren mussten. Vielleicht hätte es mich stärker gemacht und vielleicht, ja vielleicht, hätte es auch einfach nichts geändert. Ich glaube nicht, dass es Kindern hilft, ihnen die Illusion vom perfekten Leben zu nehmen. Im Gegenteil. Ich hätte Albträume gehabt, hätte ich gewusst was auf mich wartet. Hätte ich gewusst, was ich jetzt weiß, hätte ich mich zuhause eingeschlossen. Und doch wäre ich dankbar gewesen. Dankbar für eine Vorwarnung. Eine Vorwarnung oder einen Rat, nicht so naiv zu sein. Nicht zu wissen, wie sich Änderungen meines damaligen Verhaltens auf mein heutiges Leben auswirken könnten, beschäftigt mich. Um ehrlich zu sein, frisst es mich auf, wenn ich darüber nachdenke, dass ich nicht alles getan habe, was ich hätte tun können. Sollte also jemand Testpersonen für eine Zeitmaschine suchen: Hier bin ich.
Doch was würden wir ändern, wenn wir etwas ändern könnten? Diäten. Die zehn Diäten könntest du dir sparen, denn das war nur verschwendete Lebenszeit, in der du das Leben nicht einmal halb so genossen hast wie in dem Moment, in dem du das gegessen hast, auf das du Hunger hattest. Es wäre eine Bereicherung gewesen, schon im Vorfeld zu wissen, dass die Menschen, die dich verletzen werden, am Ende des Tages auch nur pseudo-glücklich sind. Es hätte geholfen zu wissen, dass du dir selbst genug sein kannst. Es hätte geholfen zu wissen, dass es auch nette Menschen da draußen gibt.
Kinder suchen nach Idolen. Kinder suchen nach Liebe und Aufmerksamkeit. Und welches Spielzeug hätte die Industrie dafür besser erfinden können als Barbie und Ken. Das Ding mit Barbie, mit Ken und allen anderen Kinderspielen ist doch, dass es nicht einfach nur ein Spiel ist. Kinder wollen nacheifern und egal wie divers Barbie und Ken werden, sie vermitteln eine falsche Vorstellung von Liebe, von Familie, von Harmonie. Früher war es Barbie, heute sind es Influencer. Jeder sagt seinem Kind, dass es sein und werden kann, wer es will, dass es alles schaffen kann. Aber niemand wird ihnen sagen, dass sie wahrscheinlich niemals so erfolgreich sein werden, dass sich da draußen so viele Fake-Kens tummeln. Ich vermisse das Strahlen in den Augen der Menschen, das Kinder haben, wenn sie glauben, dass sie alles schaffen können. Ich vermisse das naive Denken, alles schaffen zu können, ohne auf das »aber« an der nächsten Ecke zu warten. Was ich definitiv ändern würde, wäre meine Einstellung zu meinem Alter. Denn nur weil ich ein Teenager war, war ich trotzdem noch ein Kind. Und nur weil ich jetzt, zumindest auf dem Papier, volljährig bin – bin ich noch lange nicht erwachsen.
Ich würde gerne Barbie die Schuld für meine Vorstellungen von Liebe geben. Aber Ken war da wohl ebenfalls nicht ganz unschuldig. Und spätestens, wenn man den ersten Herzschmerz irgendwie überstanden hat, kann man dieses »Genieß deine Kindheit, später wirst du sie dir zurückwünschen« verstehen. Ich habe diesen Satz nie verstanden, fand solche Erwachsene anstrengend. Ich war immer der Meinung, dass jeder sein kann, wer er möchte und dass wir selbst für unser Glück verantwortlich sind. In gewisser Weise glaube ich das auch heute noch. Allerdings formen uns Erlebnisse, Enttäuschungen, Schmerz und auch Glück. Sie werden Teil unseres Charakters und bestimmen damit unsere Verhaltensweisen. Man kann sich darüber streiten, ob es besser wäre, als Kind in einer heilen Scheinwelt groß zu werden, um dann später mit Erschrecken feststellen zu müssen, dass diese gar nicht existiert. Oder ob es vorteilhafter wäre, direkt mit den Missständen dieser Welt aufzuwachsen. Egal in welcher Welt wir aufwachsen, an irgendeinem Punkt in unserem Leben stellen wir mit Entsetzen fest, wie die Welt wirklich ist, wie Menschen wirklich sind. Wir stellen fest, dass uns nicht jeder wohlgesonnen ist und bevor wir uns versehen, stehen wir mitten im Chaos des Lebens.
Die Industrie gibt kleinen Menschen die Hoffnung auf das ganz Große. Die Hoffnung auf die große Liebe und die unendliche Freundschaft. Mittlerweile gibt es sogar Filme von Barbie, die auch unschöne Momente zeigen. Aber die Filme werden niemals die Grausamkeit an Herzschmerz, menschlichem Verhalten und menschlichem Versagen zeigen, die man erlebt, wenn man belogen, betrogen und benutzt wurde. War es bei Barbie und Ken Liebe auf den ersten Blick? Wurde Barbie betrogen? Hätte er eine zweite Chance von Barbie bekommen? Der Liebe wegen? Vielleicht war auch Barbie kein Kind von Traurigkeit und ganz vielleicht ist Ken auch nur irgendeiner von vielen. Wir werden es nie erfahren. Das Einzige, was du ganz sicher weißt: Dass es den perfekten Mann nicht im dritten Regal auf der rechten Seite zu kaufen gibt, neben Barbies bester Freundin, der Family Edition und zu einem Sonderpreis von 29,99 €.
Als Kind wird dir beigebracht, wie wichtig Ehrlichkeit ist – das hoffe ich zumindest. Wie paradox, wo unsere Gesellschaft aus Lügen und Geheimnissen besteht. Oft unter dem Vorwand, dass die Wahrheit zu grausam sei, dass sie verletzten würde. Und ja, manchmal sind Lügen so viel besser zu ertragen als die eigentliche Wahrheit. Manchmal ist die Angst, seine Lieben zu verletzten und auf Unverständnis zu stoßen, zu groß. Doch in Wirklichkeit belügen wir uns damit nur selbst, um uns selbst zu schützen. Wir machen uns damit verletzbar und spätestens nach Pretty Little Liars sollte wohl jeder wissen, dass Lügen niemals zielführend sind. Die Tatsache, dass manche Serien nach der dritten Staffel abgesetzt werden sollten, ist allerdings ein anderes Thema. Und? Hast du schon darüber nachgedacht welche (Not)Lügen du schon erzählt hast? Welche du vielleicht noch immer erzählst? Hast du ein schlechtes Gewissen? Wahrscheinlich eher weniger, du hast ja Gründe, hoffentlich gute Absichten. Und falls doch: Jeder um dich herum hat irgendein Geheimnis. Mindestens eins. Jeder lügt zwischendurch, macht anderen etwas vor. Das glaubst du nicht? Wie oft hast du schon gesagt, dass es dir gut geht, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach? Die Gründe für unsere Geheimnisse, für unsere Lügen sind irrelevant. Es ist egal wie gut unsere Absichten sind, denn am Ende des Tages ändert es nichts an der Tatsache, dass wir alle irgendwie nur Schwätzer sind.
Ich frage mich oft, ob die Menschen ihr Leben jemals begreifen, während sie es leben. Es wäre nur schwer ertragbar, wenn wir nicht die Guten unserer Geschichte wären. Deshalb neigen wir dazu, anderen und äußeren Umständen die Schuld an unserem Unglück zu geben. Doch manchmal – ja, nicht oft, aber auch gar nicht so selten – da sind wir sogar selbst schuld an dem, was uns zerreißt. Und ja, viele Dinge können wir nicht beeinflussen, vieles können wir nicht ändern. Doch wir können entscheiden, wie wir damit umgehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Menschen vergessen haben, wie es ist, sich selbst auch mal genug zu sein. Als hätten wir verlernt uns selbst zu akzeptieren, uns selbst zu lieben und uns selbst, wenn es nötig ist, auch mal zu vergeben. Ich habe das Gefühl, dass wir viel zu oft zu laut sind. In Momenten, in denen wir es nicht sein sollten, und zu leise, wenn laut sein nötig wäre.
Man sagt, sprechenden Menschen kann geholfen werden. Aber ist dem wirklich so? Wenn du den Weg nicht kennst oder wissen möchtest, wie dein Gegenüber heißt – ja, dann mag sprechen sicherlich hilfreich sein. Aber davon auszugehen, dass Kommunikation die Lösung aller Mittel ist, ist lächerlich. Probleme an- und auszusprechen hilft nicht immer. Nicht alle Probleme werden dadurch besser. Nicht immer triffst du auf Verständnis und ganz oft findest du keine gemeinsame Lösung. Nicht immer verbessert sich unsere Situation und doch kannst du sagen, dass du es versucht hast. Wenn du es ausgesprochen hast, kannst du sagen, dass du alles gegeben hast. Viele Dinge behalten wir für uns. Viele Dinge, die eigentlich gesagt werden müssten. Dafür sagen wir Dinge, die wir nicht so meinen, sie aber trotzdem erwähnen, weil wir sie vielleicht insgeheim doch immer sagen wollten. Und wenn du dann deinen ganzen Mut zusammennimmst und all die unausgesprochenen Dinge sagst, die du niemals aussprechen aber immer sagen wolltest, dann gibt es keine Garantie für ein gutes Ende. Und nur weil du ausgesprochen hast, was du immer sagen wolltest, heißt das nicht, dass auch für die Zukunft alles gesagt ist. Es gibt Momente, in denen alles gesagt ist und Momente, in denen so viel Unausgesprochenes in der Luft liegt. Vielleicht ist eine Aussprache erleichternd, vielleicht wird es noch schlimmer. Und ganz vielleicht verliert man sogar jemanden, einen geliebten Menschen, durch die Worte, die man gewählt hat. Durch Worte, die man nie aussprechen wollte, aber insgeheim irgendwie doch so meinte.
Wenn Du eine Nachricht schreibst, kannst du sie korrigieren. Du kannst eine Nacht drüber schlafen, bevor du sie verschickst. Du kannst sie zurücknehmen, löschen, sagen, dass du dich falsch ausgedrückt hast. Zur Not war es die Autokorrektur oder an wen anders bestimmt. Doch ausgesprochene Worte kannst du nicht zurücknehmen. Du kannst sie nicht löschen oder die Art und Weise deiner Aussprache ändern. Ausgesprochene Worte bleiben. Sie hallen nach. In genau dem Ton, den du gewählt hast. Und wenn du Dinge nur im Affekt gesagt hast, sind wir doch am Ende genau wieder bei dem Punkt, dass wir Dinge aussprechen, die wir niemals sagen wollten, aber sie trotzdem irgendwie so meinen. Das Leben und die Worte der Menschen um uns herum zeichnen uns. Omas, vorausgesetzt sie sind gute Omas, würden jetzt sagen, dass der ganze Schmerz wieder weg ist, bis man verheiratet ist. Ich hoffe, diese Omas haben Recht. Ich hoffe, es kommt der Tag, an dem alles »weg« ist. Allerdings hoffe ich nicht, dass mein Glück und meine Zufriedenheit mit einer Hochzeit zusammenhängen muss. Und ich hoffe, dass sollte ich irgendwann mal heiraten, da auch wirklich mein Verlobter vorm Altar steht. Dass ich aus vollem Herzen lieben kann und nicht insgeheim hoffe, dass mein bester Freund aufsteht, die Hochzeit verhindert und mit mir durchbrennt, damit ich endlich zu meinem Glück finde. Ich möchte für mich glücklich sein, für niemand anderen. Lassen wir das also lieber mit Omas Weisheiten. Mal ganz abgesehen davon, dass diese aus einem anderen Jahrhundert stammen, in dem Frauen noch abhängig von ihren Männern waren, soll es ja auch Omas geben, die dir mitteilen, dass du selbst die Schuld für alles trägst – und das unabhängig davon, ob du wirklich schuld bist. Ja, keine nette Omi. Aber was soll man dazu sagen, Familie kann man sich eben nicht aussuchen.
Ich habe immer daran geglaubt, dass ich schon irgendwann wissen würde, wer ich bin. Ich hatte gehofft, dass ich mit dem Alter herausfinden würde, was mich und meinen Charakter ausmacht. Doch am Ende des Tages – und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin – dann weiß ich es immer noch nicht. Ich bin die Sprunghaftigkeit in Person. Es gibt Situationen, in denen ich das Beste aus mir rausholen könnte, doch ich schaffe es nicht, mich auch nur ansatzweise von meiner guten Seite zu zeigen. Und dann gibt es schlechte Tage, an denen ich über mich hinauswachse, die Ruhe selbst bin. Aber die sind eher die Seltenheit. Denn meistens zeige ich mich an schlechten Tagen ebenfalls von meiner schlechtesten Seite. Aber es gibt natürlich auch die guten Tage. Tage, an denen alles läuft. Ja, sagen wir mal so, im Lotto ist man da sicher erfolgreicher.
Du kennst sicherlich diese Bewerbungsgespräche, in denen man nach seinen Stärken und Schwächen gefragt wird. Ich halte diese Fragen im Übrigen für überflüssig. Denn sind wir mal ehrlich, wer würde in einem Vorstellungsgespräch zugeben, grundsätzlich unpünktlich, nicht team- oder kritikfähig zu sein? Na gut, jetzt wo ich darüber nachdenke, würde mir tatsächlich die ein oder andere Person einfallen. Doch darum geht es nicht. Wenn ich sage, dass wir bei dieser Art von Gespräch lügen, dann klingt das hart. Doch wenn ich das Wort lügen durch flunkern ersetze, nur damit es niedlicher klingt, dann ändert es die Tatsache, dass wir vorgeben jemand zu sein, der wir nicht sind, trotzdem nicht. Manche können sich besser verkaufen als andere, doch richtig ehrlich ist selten jemand.
Darf ich dir also mein jüngeres Ich vorstellen? Leni, ein Mädchen, dass du in unterschiedlichen Altersstufen in diesem Buch wiederfinden wirst. Die folgende Beschreibung meiner selbst, oder zumindest die Beschreibung von dem Mädchen, dass ich zu sein glaubte, trifft auf alle Lenis zu, die du in diesem Buch finden wirst, egal in welchem Alter. Ich war nie sonderlich groß, aber mit meinen 1,70 Meter auch nicht klein. Ich habe blaue Augen, bin meistens blond, jedoch nicht immer. Meine Haare haben sich immer meiner aktuellen Lebensphase angepasst und ich gehöre zu den Mädchen, die nicht selten nach einem Färbeunfall zum Frisör gehen mussten. Um genau zu sein hatte ich schon alle Haarfarben. Angefangen bei »normalen« Haarfarben über Unfälle, die mir orangene Haare oder welche mit einem Grünstich bescherten. Mit Ansätzen kannte ich mich ebenfalls gut aus. Die meiste Zeit aber habe ich blonde Haare getragen. Allerdings auch hier in allen möglich Farbstufen: von wasserstoffblond bis hin zum Gelbstich. Doch in der Geschichte, die ich dir erzählen möchte, bin ich blond, hellblond um genau zu sein. Meine Figur war nie sportlich. Kurvig, aber nicht mehrgewichtig. Und während sich die Mädels um mich herum Socken in ihre Unterwäsche stecken mussten, damit sie überhaupt eine Oberweite hatten, war ich so gut ausgestattet, dass ich Probleme hatte, die richtige Größe im Geschäft zu finden.
Leni, ein Mädchen, dass sehr viel Humor hat, sich selbst nicht zu ernst nimmt. Ich lache sehr viel, bringe andere zum Lachen und liebe das Leben, egal wie es kommt. Ich bin selbstbewusst, dafür bekannt extrovertiert zu sein und gerne unter Menschen. Es fällt mir nicht schwer, andere Menschen kennenzulernen. Es dauert, bis ich Vertrauen aufbauen kann, bin vorsichtig und mein Herz gebe ich nur schwer in andere Hände. Trotzdem habe ich einen großen Freundeskreis. Ich gebe alles für meine Herzensmenschen. Bis ich mich verliebe dauert es und nachtragend bin ich nie. Mit mir kann man Pferde stehlen. Probleme sind für mich nur Herausforderungen, die man in jedem Fall meistern kann und die ich mit mir selbst ausmache. Ich spreche gerne mit anderen über ihr Befinden, nie aber über meine eigenen Gefühle.
Ja, was soll ich sagen. Wer eine Beschreibung für sein Tinder-Profil haben möchte, kann sich gerne melden. Im sich selbst schönreden, bin ich nämlich ziemlich gut. Eben wie bei diesen Vorstellungsgesprächen, in denen man seinem Gegenüber genau das erzählt, was er hören möchte. Nur, dass bei Tinder wahrscheinlich wenige auf eine ernsthafte Beziehung aus sind. Aber ist das bei Studenten-Jobs am Ende des Tages nicht das Gleiche? Wir wollen diesen Job, eben weil es ein Job ist. Weil er Geld bringt und nicht weil wir dafür brennen. Müsste ich eine Beschreibung für meinen Traummann abgeben, wäre diese der meinen natürlich recht ähnlich. Doch was genau davon ist wahr? Wie viel Wahrheit steckt in dem, was ich wirklich glaubte zu sein? Wahrscheinlich kann das nur Jonathan Frakes von X-Faktor beantworten. Zu meinem Bedauern muss ich aber leider gestehen, dass ich mich sehr lange als genau das Mädchen gesehen habe, dass ich hier beschrieben habe. Diese Leni, egal in welchem Alter, hat sich genau so gesehen.
Ich habe Humor, ja. Einen sehr eigenartigen, dunklen Humor. Nicht jeder versteht ihn. Viele finden ihn aufmüpfig, anmaßend, zickig. Andere finden ihn amüsant. Mir fällt es unglaublich schwer, nicht ironisch oder sarkastisch zu sein. Mein Humor kann verletzend sein. Ich gehöre zu den Menschen, die erst sprechen und dann nachdenken. Die Dinge sagen, die sie nie sagen wollten, sie trotzdem ausgesprochen und irgendwie auch so gemeint haben. Stell dir vor, dass dein Freund gerade mit dir Schluss gemacht hat und du alleine traurig in deinem Zimmer sitzt. Stell dir vor, dass dein Vater an der Tür klopft. Doch statt etwas tröstendem sagt er lediglich mit einem Lächeln im Gesicht: »Was ist los mit dir? Warum liegst du hier so alleine rum? Hast du keinen Freund, oder was?« Ja – wenn man sich genau das vorstellt, dann kann man davon ausgesehen, dass ich das Kind meines Vaters bin und dass genau das mein Humor ist. Rausgeschmissen habe ich ihn trotzdem … war noch etwas zu früh für Humor. Aber mit Humor Grenzen überschreiten, das können wir. Das kann sich allerdings auch als vorteilhaft erweisen, wenn er deinen Ex-Freund, der dich wie einen Haufen Dreck behandelt hat, vor versammelter Mannschaft fragt, was er denn in seinem Leben schon gerissen hätte und wofür er überhaupt zu gebrauchen wäre. Ich habe mich nicht geschämt, ich habe es gefeiert. Und alle anderen auch, denn er hatte es verdient. Es lag nicht nur an mir und an dem, was er mit mir gemacht hatte. Es lag an ihm, an seiner Art, mit Menschen – vor allem mit Mädchen – umzugehen. Mein Vater sprach genau das aus, was alle dachten, aber sich niemand traute zu sagen. Wir sind die Art von Menschen, die aussprechen, was sie denken. Ja, wir reden zu schnell, sollten manchmal eher denken, bevor wir sprechen. Aber am Ende sind wir ehrlich. Ob das immer sinnvoll für ein harmonisches Miteinander ist, sei mal dahingestellt. Wo wir gerade bei Ehrlichkeit sind: Im Übrigen bin ich auch der Meinung, dass man seine eigenen Kinder sehr wohl hässlich finden kann. Oder drücken wir es etwas gesellschaftlich verträglicher aus: nicht so schön und niedlich wie andere Kinder. Im Folgenden also keine Lobeshymnen, wo sie nicht auch angebracht sind.
Ich habe es nun endlich mal geschafft, mich selbst zu reflektieren. Tatsächlich tue ich das mittlerweile sogar oft. Die Vergangenheits-Leni hat das nie getan. Ich war sicher ein Mädchen, das sehr viel gelacht hat, das andere oft zum Lachen gebracht hat. Ich war nie der Klassen-Clown, aber ich wusste, wie ich meine Mitmenschen unterhalten konnte. Ja, ich war extrovertiert, aber richtig selbstbewusst war ich nie. Ich bin unsicher, früher wie auch heute. Und ich versuche das mit allem, was mir möglich ist, zu überspielen. Ich war immer gerne unter Menschen. Mit 17 Jahren war ich davon überzeugt, dass es die Gesellschaft der Menschen um mich herum ist, die mir Freude bereitet. Doch um ehrlich zu sein, war ich nur nicht in der Lage, alleine zu sein. Mir fällt es nicht schwer, fremde Menschen anzusprechen, mich mit ihnen zu unterhalten und ihnen mein Vertrauen zu schenken. Ich baue schnell eine Bindung auf, bezeichne Fremde schnell als Freunde. Ich denke oft, dass diese Freundschaften für immer anhalten werden. Kleiner Spoiler: tun sie nicht. Ich verzeihe schnell, bin aber trotzdem nachtragend. Menschen kommen und gehen und bei einer weniger starken Bindung laufe ich niemandem hinterher. Mit mir kann man definitiv Pferde stehlen, allerdings sollte man schnell genug reiten können, denn ich trete in jedes Fettnäpfchen. Mein Herz verschenke ich an jeden Jungen, der mir irgendwie sympathisch erscheint, egal ob er mir Aufmerksamkeit schenkt oder mich ignoriert. Er muss noch nicht einmal zwingend nett sein. Nett anzuschauen, reicht ebenfalls schon aus. Baby-Face wäre definitiv eine Typ-Beschreibung gewesen, auf die mein jüngeres Ich gestanden hätte. Selbst wenn ich weiß, dass es nicht die große Liebe sein wird, benehme ich mich, als wäre es der Eine. Liebesbriefe an unerreichbare Typen, die mindestens fünf Jahre älter waren, standen an der Tagesordnung. Man könnte jetzt sagen, dass ich mich wenigstens getraut habe. Aber nein. Es war und ist eher unfassbar peinlich. Netflix mag einem mit dem Film »To all the boys I loved before« zwar suggerieren, dass es für Liebesbriefe ein Happy End geben kann, aber in meinem Fall gab es das definitiv nicht. Ich war immer schnell verliebt, aber nie der Typ Mädchen, in den man sich verlieben würde. Ich war immer nur der Kumpel-Typ.
Mit meinen Problemen gehe ich hausieren. Wenn mich etwas nervös macht, aufregt oder bedrückt, kann ich es selten für mich behalten. Ich erzähle es. Ich erzähle es jedem, mit dem ich gerade spreche und der mir über den Weg läuft. Am Ende des Tages hasse ich mich selbst dafür, denn ich wäre gerne ein anderer Mensch. Ich wäre gerne jemand, der schwer Vertrauen fasst und sein Herz nicht jedem vor die Füße wirft. Ich möchte Dinge für mich behalten können, ohne das Gefühl zu haben, dass ich gleich platzen muss. Ich möchte nur mit ausgewählten Menschen über mich und meine Probleme sprechen, stark wirken trotz all der Dinge, die passiert sind. Aber das bin ich nicht. Das war ich nie. Und so sehr ich mir auch wünschen würde zumindest in diesem Punkt zurückhaltender zu sein, muss ich wohl akzeptieren, dass es Dinge an mir gibt, die ich nicht ändern kann. Wenn man so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, oft und viel von seinen Problemen erzählt, dann läuft man Gefahr, irgendwann auf einen Menschen zu treffen, der dir genau dieses Verhalten vorwirft. Und genau so einen Menschen habe ich getroffen. Genau von so einem Menschen musste ich mir anhören: »Wem willst Du das eigentlich noch alles erzählen, so schlimm kann es Dir ja nicht gehen.«
Menschen neigen dazu, sich schlimme Situationen schön zu reden und so gerne ich das heutzutage auch tun würde … mir ging es schlecht. Sehr schlecht. Und mein einziges Ventil war es damals zu reden. Über das was passiert ist. Heute kann ich mich reflektieren, kann darüber nachdenken, wie sinnvoll es ist, jemandem etwas zu erzählen, oder wem ich was genau erzähle. Doch mein damaliges Ich konnte das nicht. Ich habe es nicht anders gelernt, nicht anders vorgelebt bekommen. Wie sollte ich wissen, was das richtige ist. Wie sollte ich wissen, dass es manchmal besser ist, den Mund zu halten. Ob ich es vielen Menschen erzählt habe? Ja, das habe ich. Aber ich habe nie Dinge erfunden, sondern einfach nur darüber gesprochen. Denn über Probleme sprechen hilft doch, oder? Hier sind wir wieder an dem Punkt, dass Gesagtes nicht zurückgenommen werden kann. Worte verletzen Menschen und dieser Satz beeinflusst mich noch heute. Ich frage mich so oft, warum ich nicht einfach den Mund gehalten habe, warum ich nicht einfach still war. Diese Aussage hat mich so sehr verletzt und das tut sie auch heute noch. Oft habe ich darüber nachgedacht, was ich dieser Person heute sagen würde, unabhängig davon wie ich mich seitdem entwickelt habe.
Sie hatte Recht. Ich habe viel und auch mit zu vielen Menschen über meine Probleme gesprochen. Aber niemand sollte für seinen Umgang mit Schmerz verurteilt werden. Und wenn ich beim Sprechen darüber gelacht habe, dass mein Herz in tausend Stücke fällt, dann nicht, weil ich es amüsant fand, sondern weil ich so verzweifelt war. Weil ich gehofft habe, dass Humor die Situation irgendwie erträglicher macht. Weil ich das Gefühl hatte, mich selbst schützen zu können, wenn ich das Unerträgliche ausspreche. Ich habe mich stark gefühlt, wenn ich davon erzählt habe und hatte das Gefühl, zumindest für diesen einen Moment, über all dem zu stehen. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir beide, dass man Menschen immer nur an dem teilhaben lässt, was man sie wissen lassen möchte. Und damit möchte ich nicht sagen, dass ich gelogen habe, sondern dass ich Details ausgelassen habe. Vielleicht hättest du mich besser verstanden, hättest du alles gewusst, vielleicht auch nicht. Aber ich war innerlich leer. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Und obwohl ich mich ohnmächtig von all dem Schmerz gefühlt habe, habe ich gleichzeitig ein Gefühl von Gleichgültigkeit verspürt. Mir war es egal, was mit mir passiert, was mit meinen Mitmenschen passiert, was um mich herum passiert. So viel Schmerz und gleichzeitig so viel Bedeutungslosigkeit. Du hast gehört, was ich gesagt habe, hast mich gesehen, wie ich es getan habe, aber du hast nun mal nicht alles gesehen.
Es mag für dich theatralisch klingen, aber so laut ich in Gesellschaft auch gewesen bin, so leise war ich, wenn ich allein war. Denn neben all dem Gerede war ich genau diejenige, die sich am Ende des Tages in ihrem Zimmer eingeschlossen hat. Ich war diejenige, die leise unter Tränen hinter der Tür zusammengebrochen ist. Ich war die, die nicht vor halb fünf schlafen konnte und nach zwei Stunden wieder aufgestanden ist – und das für Wochen. Ich war diejenige, die heimlich auf der Schultoilette verschwunden ist, weil sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und diejenige, die Angst davor hatte, alles nicht mehr aufrecht halten zu können. Ich habe nichts mehr gespürt, an mir gezweifelt und dann kommst du und zweifelst ebenfalls an mir. An mir und meiner Glaubwürdigkeit. Wenn ich also mit mehreren Personen am Tag über meine Probleme gesprochen habe, statt mit einer einzigen, dann nur, weil ich mich dadurch ein paar Minuten länger lebendig gefühlt habe. Wir sind keine Freunde, waren es nie, und trotzdem haben mir diese Worte so viel genommen. Ich konnte mit deiner Kritik damals nicht umgehen und auch heute noch kann ich sie nicht wirklich ertragen. Da wären wir auch schon beim letzten Punkt: Ich bin, war und werde es vermutlich immer sein: nachtragend. So viel Drama und eine heruntergelassene Hose später wird sich das leider auch nicht ändern.
Familie kann man sich nicht aussuchen, Freunde hingegen schon. Freunde sind Menschen, mit denen man sich gerne umgibt, die einem gut tun. Die immer für einen da sind. Wie gute Kleidung. Jeder hat so seine Lieblingsteile. Und dann gibt es auch die Fehlkäufe. Schrankleichen, die nur als Mottenfänger dienen. Kleidung, die schon nach der ersten Wäsche kaputt ist und bei der man sich müde daran erinnert, dass man sich beim Kauf schon gefragt hat, was man eigentlich damit will. Wir wollen neues ausprobieren, kommen aber trotzdem oft zurück zu unseren Wurzeln. Selten entdecken wir uns neu, oft setzen wir auf das altbewährte. Doch was, wenn die Kleidung irgendwann abgenutzt oder gar kaputt ist? Es gibt Bekanntschaften, bei denen es einfacher ist, alles so zu belassen, wie es ist. Andere, von denen man sich leicht lösen kann und wieder andere, von denen man sich weder trennen kann, noch will.