Donau, Schwarzes Meer, Dnipro - Norbert Lattrich - E-Book

Donau, Schwarzes Meer, Dnipro E-Book

Norbert Lattrich

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Beschreibung

Mit dem Fahrrad von seiner Heimat im Unterallgäu die Donau entlang bis zum Schwarzen Meer, vom Donau-Delta bis zum Dnipro-Delta in der Ukraine, den Dnipro aufwärts bis Kyjiw, von dort weiter nach Tschernihiw, der Partnerstadt Memmingens, und durch Galizien in der Westukraine bis Lwiw - diese Reise hat der Autor im Frühjahr und Sommer 2013 unternommen. In seinem Bericht nimmt er den Leser mit auf diese Reise, die heute kriegsbedingt nicht mehr so möglich wäre. Er lässt ihn teilhaben an den vielen Begegnungen und Eindrücken, die er gesammelt hat und die er einfühlsam und immer mit einer Portion Humor schildert. Das Buch möchte allen Mut machen, die mit dem Gedanken spielen, selbst eine große Fahrradreise auch in unbekannte und touristisch weniger erschlossene Regionen zu unternehmen.

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung und Widmung

Die Route

Prolog

Donau

Schwarzes Meer

Dnipro

Desna, Westukraine

Nachlese

Anhang

Die Etappen

Kleine Statistik

Dniprova Zirka, Zeitung vom 27. Juni 2013 (Übersetzung)

Literatur

Danksagung und Widmung

Besonders danken möchte ich meiner lieben Frau Keum Soon, die sich drei Monate lang allein um Haus und Garten gekümmert hat. Sie hat meine Reise mit so großem Interesse zu Hause mitverfolgt, mir damit immer wieder Ermutigung und Kraft gegeben und schließlich den letzten Abschnitt auf dem Schiff mit mir geteilt.

Danke auch an Elmar, der nicht ganz ohne Stress mein Fahrrad in München am Busbahnhof entgegengenommen hat.

Danke an Larissa für die Übersetzung des Zeitungsartikels in „Dniprova Zirka“.

Ich möchte dieses Buch allen widmen, die mir auf der ganzen Reise begegnet sind, die mich freundlich aufgenommen und bewirtet haben.

Nicht zuletzt widme ich dieses Buch dem ukrainischen Volk, das gerade unter größtem Leiden und mit bewundernswerter Tapferkeit seine Freiheit verteidigt.

Im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen München und Kyjiw wurde vor über 25 Jahren der Verein „Brücke nach Kyiv e. V.“ gegründet, der in Partnerschaft mit dem Samariter Bund der Ukraine dort Not leidende Menschen unterstützt und diese Arbeit auch unter den extrem erschwerten Bedingungen nach Kriegsbeginn mit großem Engagement weiterführt. Für jeden Verkauf dieses Buches (Print oder eBook) kommt ein Euro dem Verein „Brücke nach Kyiv“ (https://brueckenachkyiv.de/) zugute.

Die Route

Prolog

Oft, wenn ich an einem der kleinen Flüsse nahe unserer Wohnung vorbeikomme, schaue ich auf das dahinfließende Wasser. Irgendwann fließt es in die Donau, viel später landet es im Schwarzen Meer. Wie gern möchte ich einfach dem Verlauf des Wassers folgen! Ein Wunsch, der schon seit undenklichen Zeiten Menschen bewegt und Anstoß gegeben hat zum Austausch mit fremden Kulturen. Als das Radreisebuch „Donauradweg 4 – Von Budapest nach Sulina“ in der Bikeline-Reihe erscheint, wird aus dem Wunsch jetzt, im Jahre 2013, langsam ein konkreter Plan. Andere Bücher aus der gleichen Reihe sind mir schon oft gute Begleiter auf Radtouren gewesen, auch bin ich schon bis Budapest geradelt. Und als sich in der Arbeit die Möglichkeit ergibt, eine viermonatige Auszeit zu nehmen, gelangt die Umsetzung des Plans in greifbare Nähe. Bei – aus Erfahrung realistischer – Planung von 500 Kilometern pro Woche bin ich spätestens nach sechs Wochen am Schwarzen Meer und habe immer noch viele Wochen Zeit.

Mit Blick in die Vergangenheit

Das Donaudelta befindet sich zum überwiegenden Teil auf rumänischem Gebiet, doch auch die Ukraine hat Anteil daran. Und mit der Ukraine fühle ich mich gleich mehrfach verbunden. Mein Vater hat wenig von seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg gesprochen, doch hat er unter anderem auch erwähnt, dass er in Kyjiw gewesen sei. Auch für ihn möchte ich diese Reise machen in eines der Länder, die er nur in schrecklichen Zeiten kennengelernt hat und gern in besseren Zeiten wiedergesehen hätte.

Bei der Arbeit habe ich mit einige Kolleginnen und Kollegen aus Russland und aus der Ukraine zu tun, die mir zum Teil liebe Freunde geworden sind. Im Grunde weiß ich wenig über ihre Heimatländer, doch habe ich ein sehr beklemmendes Gefühl, wenn ich daran denke, dass mein Vater und deren Väter oder Großväter im gleichen Krieg waren, in denselben Krieg gezwungen wurden und vielleicht sogar direkt gegeneinander gekämpft haben: eine Vorstellung, die mir Schmerzen bereitet. Ich möchte heutigen Menschen dort begegnen, möchte ihr Land kennenlernen und umgekehrt den Menschen in meinem Land, in meinem Umkreis von den Menschen berichten, die einmal als unsere Feinde galten.

Städtepartnerschaft

Und schließlich, ich lebe in der Nähe von Memmingen: Eine der Partnerstädte von Memmingen ist Tschernihiw in der Ukraine, etwa 150 Kilometer nördlich von Kyjiw gelegen. Vielleicht ergibt sich durch diese Städtepartnerschaft die Gelegenheit zu besonderen Begegnungen und Eindrücken. In einem kurzen Gespräch mit Herrn Dr. Holzinger, dem Memminger Oberbürgermeister, erläutere ich ihm meinen Plan, er verweist mich an die Mitarbeiterin im Rathaus, die für Städtepartnerschaften zuständig ist. Er hebt noch die große Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Deutschfreundlichkeit insgesamt hervor, die er bei seinen Besuchen in Tschernihiw erfahren durfte. Später kontaktiere ich die genannte Mitarbeiterin; sie zeigt sich sehr interessiert und sagt, sie werde mich in Tschernihiw bei den dort im Rathaus Zuständigen ankündigen.

Tipps und Ratschläge

Und zuletzt erzählt mir mein Kollege Elmar, dass sein Bruder Helmut vor nicht langer Zeit mit dem Rad die Donautour bis zum Delta gemacht hat und von dort über Odesa und Cherson, am Schwarzen Meer entlang, bis auf die Krim gefahren ist. Ich kenne Helmut nicht persönlich, aber ich telefoniere mit ihm und lasse mir von seinen Erfahrungen berichten und einige Tipps geben. Jedenfalls ist es offenbar grundsätzlich möglich, in der Ukraine Fahrradreisen zu unternehmen. Ja, Helmut sagt sogar, dass er sich auf ukrainischen Straßen immer sicherer gefühlt hat als auf den meisten deutschen Straßen; die LKW seien sehr vorsichtig gefahren und rücksichtsvoll gegenüber ihm als Radfahrer gewesen. Seine Schilderungen geben mir Sicherheit und Zuversicht. Es kostet einige Abende, an denen ich die Straßenkarte der gesamten Ukraine, Maßstab 1:750.000, studiere. Aber der Plan nimmt konkretere Form an. Ich werde es irgendwie bis Kyjiw schaffen. Und ich sehe mich in der Lage, für Keum Soon, meine Frau, einen Flug nach Kyjiw zu buchen und ihr zuzusichern, dass ich sie am 1. Juli um 16:00 Uhr am Flughafen Boryspil abholen werde. Genau drei Monate nach meinem Start. Bis dahin: ein völlig offener Zeitplan...

Donau

Dienstag, 2. April

Sontheim

Es geht los!

Noch ein gutes Frühstück zu Hause; das Gepäck habe ich bereits am Vorabend gepackt und am Fahrrad angebracht.

Abschied nehmen von meiner lieben Frau Keum Soon; am 1. Juli sehen wir uns erst wieder – in Kyjiw Boryspil am Flughafen. Der Termin steht fest. Alles dazwischen ist offen. Gut, bis zum Schwarzen Meer markiert der Verlauf der Donau meine Reiseroute, aber wann ich dort ankomme und wo ich dann weiterfahre – das ist alles offen. Was werden mir die nächsten drei Monate bringen?

Gegen halb zehn beginnt meine Reise. Es ist bedeckt, kalt, kaum über null Grad. Aber wenigstens liegt kein Schnee mehr, und es fällt auch kein Niederschlag. Im letzten Moment entscheide ich mich noch, statt der speziellen Fahrradhandschuhe die warmen Winterhandschuhe anzuziehen – eine goldrichtige Entscheidung, es herrscht Gegenwind, da werden die Hände sehr schnell kalt.

Kurzfristig entscheide ich mich noch für einen kleinen Umweg, um mich bei unseren Freunden zu verabschieden. Fridtjof ist nicht zu Hause, aber Nicole und die beiden Mädchen sind daheim. „Ich bin auf dem Weg nach Kyjiw“, sage ich, gerade erst wenige Kilometer von zu Hause gefahren. Wie das klingt! Ich lasse mich gern von guten Wünschen lieber Menschen begleiten, ich weiß auch, dass es bis Budapest noch mehrere Gelegenheiten gibt, Freunde zu treffen. Danach wartet dann nur noch Unbekanntes auf mich.

Mein Weg führt mich den Günztal-Radweg entlang bis Günzburg – ich treffe zum ersten Mal auf die Donau, die mich nun die nächsten Wochen begleiten wird. Mein Proviant, bestehend aus einigen Käsebroten, bleibt weitgehend unangetastet – Kälte und Wind laden nicht dazu ein, zwischendurch Picknick zu machen.

Das heutige Ziel ist Donauwörth. Dort habe ich mich bei Freunden angemeldet; die erste Nacht werde ich bei ihnen verbringen. Ein optimistisch gesetztes Ziel: Noch bin ich nicht ganz so gut in Form, und fast ständiger heftiger Gegenwind verhindert ebenfalls ein zügiges Vorankommen. Versuche, unterwegs Susanne telefonisch zu erreichen, scheitern zunächst. Das Handy kommt mit der Kälte nicht zurecht. Ich muss auf meine Körperwärme setzen und stopfe das Handy schließlich in meine Unterhose.

Um nicht zu spät anzukommen, beschließe ich, ab Gundelfingen für die letzten 40 Kilometer doch auf die Bahn umzusteigen. Eine umständliche Sache mit dem Gepäck. Und gleich am ersten Tag kapituliert: Nicht die ganze Strecke von zu Hause bis Kyjiw mit dem Fahrrad geschafft. Es soll allerdings meine einzige Zugfahrt bis Kyjiw bleiben. Gegen 18 Uhr komme ich bei Susanne an. Im Zug war es mir noch gelungen, sie telefonisch zu erreichen und ihr meine voraussichtliche Ankunftszeit mitzuteilen. Als ich ankomme, ist sie überrascht, dass ich schon da bin, sie hatte mich erst eine Stunde später erwartet. In der Osternacht, zwei Tage vorher, waren die Uhren gerade auf Sommerzeit umgestellt worden, und das hat ihren Zeitplan etwas durcheinander gebracht. Umgekehrt, so erzählt sie mir, hatte sie allerdings auch in der Osternacht schon Probleme gehabt – eine Funkuhr, die sich automatisch umgestellt hatte, hatte sie zusätzlich noch um eine Stunde zurückgestellt, so dass sie noch eine Stunde früher, nämlich bereits um drei Uhr, zur Auferstehungsfeier in der Osternacht gekommen war, die um fünf Uhr begonnen hat.

Der Abend dauert dann etwas länger, es gibt gutes Abendessen, heißen Tee und viel zu reden.

Mittwoch, 3. April

Donauwörth

Nach ruhiger Nacht und gutem Schlaf ein ausgiebiges Frühstück genossen; um zehn Uhr fahre ich los.

Die äußeren Bedingungen sind unverändert: kalt, Gegenwind, keine Sonne. Die Vegetation ist noch sehr winterlich, nur Krokus und Huflattich blühen. Meist fahre ich direkt an der hier schon recht breiten Donau entlang. Es fällt auf, dass am Ufer viele Bäume durch Verbiss von Bibern zu Fall gekommen sind. Aber ich sehe noch sehr viel mehr von Menschen gefällte Bäume, und angesichts der zuletzt viel diskutierten Frage um die Schäden, die von Bibern verursacht werden, drängt sich mir die Frage auf, wer denn nun der größere Schadensverursacher ist.

Vohburg, ein hübsches Städtchen mit historischem Kern, erreiche ich gegen 17 Uhr. Um diese Jahreszeit ist es kein Problem, ein Hotelzimmer zu finden, und im Restaurant des Hotels gibt es auch gutes Essen.

Donnerstag, 4. April

Vohburg

„Ah, der erste Fahrrad-Tourist!“ werde ich bei Auschecken von der Dame an der Rezeption begrüßt, als ich mit meinen Packtaschen komme. Bisher war das Wetter nicht einladend, verständlich daher, dass noch nicht viele Radfahrer unterwegs sind.

Meine Brote, die ich von daheim mitgenommen habe, habe ich immer noch nicht aufgegessen. Es ist einfach zu kalt und zu ungemütlich, um zwischendurch Picknick zu machen. Abends freue ich mich auf warmes Essen, und beim Frühstück gibt es hier ein reichliches Büfett. Es ist Osterzeit, und es gibt auch einen großen Korb mit Ostereiern, aus dem ich mich gern bediene.

Heute Abend steht die nächste Begegnung mit einem Freund an: In Regensburg treffe ich Hans, mit dem ich vor zehn Jahren einmal zusammen in einem Projekt gearbeitet habe. Inzwischen ist er Rentner, bessert aber seine Rente als Freischaffender auf, ist immer noch im gleichen Projekt, ein Abschluss ist weiter nicht absehbar. Aber alle zwei Wochen führt ihn die Projektarbeit für einige Tage nach Wien, das er sehr liebt. Bei gutem italienischen Essen und Wein reden wir viel über die alte Zeit.

Mit nötiger Bettschwere nach 70 Kilometern Fahrt, reichlich Essen und Trinken, komme ich in meinem Zimmer im Hotel „Zum fröhlichen Türken“ an – das Zimmer ist ganz neu und erst bei der gerade abgeschlossenen Erweiterung des Hotels entstanden. In der Nacht werde ich plötzlich unsanft geweckt; eine Gruppe unterhält sich lautstark auf der Straße unmittelbar unter meinem Fenster. Beinahe hätte ich Wasser aus dem Fenster geschüttet, um sie zu vertreiben, war aber letztlich zu bequem, um aufzustehen.

Freitag, 5. April

Regensburg

Der erste Tag mit weniger Gegenwind – so komme ich zügig voran. Am Ende fahre ich weiter, als ich eigentlich geplant hatte. In den Dörfern hinter Deggendorf haben die Pensionen, an denen ich vorbeifahre, noch nicht geöffnet, und so fahre ich bis Vilshofen, mit 117 Kilometern die bis - her längste Etappe meiner Tour.

In der Pension Sagerer, direkt am Donauufer finde ich hier schnell ein Zimmer.

Die Qualität des Abendessens in einem griechischen Restaurant ist nicht sehr zufriedenstellend; im übrigen wirkt der vielleicht sechzehnjährige Junge, der mich bedient, überfordert. Mineralwasser in der Flasche gibt es gar nicht; das Besteck drapiert er falsch. Aber ich werde jedenfalls satt. Und das Zimmer in der Pension ist, im Gegensatz zur vorigen Nacht, erstaunlich ruhig, und ich schlafe hervorragend.

Samstag, 6. April

Vilshofen

Als ich das Fenster an diesem Morgen öffnen will, verstehe ich, warum es so traumhaft ruhig war. Es lässt sich nur schwer öffnen, und dann die Überraschung: das Fenster ist gar kein Fenster, sondern komplett zugemauert. Die hinter dem Fensterflügel befindliche Jalousie war heruntergelassen, so hatte ich das am Vorabend nicht sehen können. Im übrigen habe ich hier eine ganze Suite für mich allein, zwei größere Zimmer mit insgesamt drei Betten!

Mit einem anderen Gast komme ich beim Frühstück ins Gespräch, auch ein Fahrrad-Tourist, der in Burghausen in Oberbayern gestartet war und nun auf dem Weg in seine Heimat an der deutschen Ostsee ist.

Der Pensionswirt erzählt noch von einer kanadischen Managerin, die eine Auszeit von einem Jahr genommen hatte und eine Weltreise mit dem Fahrrad angetreten hat. Im Februar ist sie – Eis, Schnee und Kälte trotzend – auch in seiner Pension abgestiegen und bei minus zehn Grad losgefahren. Dagegen ist meine Tour ja eine Kurzreise!

Die Fahrt beginnt bei leichtem Nieselregen, der aber bald aufhört; tagsüber bleibt es dann fast trocken. Aber Sonne habe ich immer noch nicht gesehen.

Am späten Vormittag erreiche ich Passau. Ich telefoniere mit Ursula und Fritz, Freunden von uns, die dort wohnen. Wenn ich in Passau übernachtet hätte, hätte ich sie gewiss besucht. Aber gestern wäre mir Passau zu weit gewesen, und heute, nach zwanzig Kilometern, ist es natürlich zu früh, schon wieder Station zu machen. Sie wohnen etwas außerhalb vom Zentrum, es geht kräftig bergauf, und mir ist es zu beschwerlich hinaufzufahren – und ihnen ist es ihrerseits zu beschwerlich, in die Innenstadt herunterzukommen. So bleibt es bei einem telefonischen Gruß; ihre guten Wünsche für meine weitere Reise begleiten mich jedenfalls.

Noch am Vormittag passiere ich die Grenze nach Österreich – für die nächsten mindestens drei Monate habe ich nun Deutschland verlassen. So wird mir erst nach und nach bewusst, was für eine Reise vor mir liegt. Zunächst bringt diese Grenze wenig Änderung: gleiche Währung, fast gleiche Sprache. Der Zustand der Radwege macht generell in Österreich einen positiveren Eindruck als in Deutschland, wo es immer wieder Schlaglöcher und unklare Beschilderung gibt. Auch habe ich in Deutschland gefunden, wie gut es ist, dass es Sportvereine gibt: Beim Einfahren in eine Ortschaft auf Radwegen gibt es, im Gegensatz zu Autostraßen, meist keine Ortsschilder – aber in jedem Ort gibt es einen Sportplatz mit großem Vereinsheim, auf dem in großen Lettern der Name des Vereins und damit der Ortsname steht. Das erleichtert doch sehr die Orientierung, wenn man wie ich ohne Navi unterwegs ist!

Auf einigen Streckenabschnitten, so zwischen Vilshofen und Passau, zwischen Engelhardszell und Schlögen, führt der Radweg über Straßen mit viel Autoverkehr. Das letztere Stück hätte ich auf der linken Donauseite fahren können, dann hätte ich aber die Fähre nehmen müssen, um auf die Schlögener Seite zu gelangen. So bin ich vor einigen Jahren schon einmal gefahren. Aber auch hier an der Straße ist die Landschaft gerade im Bereich der Schlögener Schlinge besonders schön, wo sich die die Donau in zwei scharfen Biegungen durch die bewaldete Hügellandschaft schlängelt.

Unterwegs esse ich endlich die letzte Reste meines bereits von Sontheim mitgenommenen Proviants auf.

Im großen Wellness-Hotel „Schlögener Schlinge“ finde ich mein Nachtquartier. Einer Angestellten, eine sehr junge Frau, die mir den Platz zeigt, wo ich mein Fahrrad sicher abstellen kann, erzähle ich von meinen Reiseplänen. Sie schaut mich fast neidisch an: „Das würde ich auch gern mal machen – aber nicht mit dem Fahrrad.“ „Womit denn dann?“ frage ich zurück. „Zu Fuß,“ ist ihre Antwort. Oh, dafür müsste man wohl ein ganzes Jahr einplanen...

Im Hotel wähle ich Halbpension; das Restaurant macht einen sehr guten Eindruck, und tatsächlich kann ich ein opulentes Vier-Gänge-Menü genießen.

Sonntag, 7. April

Schlögen

Vor dem Frühstück nutze ich noch das Schwimmbad in diesem wirklich luxuriösen Hotel – allerdings nur für ein paar kurze Bahnen.

Immer noch sehe ich keinen Sonnenstrahl, aber es ist trocken, die Landschaft wunderschön, durch Wälder und Auen zieht sich der Weg an der Donau entlang. Am Weg ist man an vielen Stellen noch mit Wartungsarbeiten beschäftigt; der Winter ist gerade vorbei, vor einer Woche noch hat es auch hier kräftig geschneit. Jetzt wird die Straße ausgebessert, Waldarbeiten werden ausgeführt. An einer Stelle habe ich Glück: wegen Baumfällarbeiten war die Strecke noch am Vortag komplett gesperrt. Die parallel verlaufende Bundesstraße ist für Fahrräder gesperrt, ich hätte auf eine Fähre ausweichen müssen.

Am Nachmittag erreiche ich Mettensdorf; hier hatte ich, als ich vor zwölf Jahren schon einmal die Strecke von Passau nach Budapest geradelt war, in der „Untermühle“ ein exquisites Mittagessen bekommen. Damals hatte es heftig geregnet, völlig durchnässt kam ich an diesem kleinen, aber sehr feinen Restaurant an, und ohne zu zögern habe ich Halt gemacht. Ein Gast, der gerade dort speiste, sprach mich an: „Sie haben Glück, hier gelandet zu sein. Eine bessere Küche gibt es bis Wien nicht mehr.“ Und beim Abschied hatte der Wirt gesagt: “Wenn Sie das nächste Mal kommen, dann sagen Sie bitte rechtzeitig Bescheid. Dann kümmern wir uns auch um besseres Wetter!“ Heute sollte also dieses „nächste Mal“ sein, diesmal würde ich auch in der Pension, die zur Untermühle gehört, übernachten.

Ich erinnere mich nicht mehr ganz gut, wie es seinerzeit hier ausgesehen hat, aber die öde Landschaft, durchzogen von mächtigen Deichen, zeigt mir, dass hier nichts mehr so ist wie damals im April 2001. Einige Schilder klären mich über das Schicksal des Dorfes auf, und langsam wird mir klar: das ganze Dorf existiert nicht mehr. Ich lerne ein neues Wort: abgesiedelt. Das große Hochwasser von 2002 hat das Dorf vollständig zerstört, niemand wohnt mehr hier. Kaum noch ein Haus steht. Ich bin traurig, aber es hilft nichts, ich muss weiterfahren. Erst in Grein, das ich erst nach 121 Kilometern Tagesleistung erreiche, habe ich die Chance, eine Unterkunft zu finden.

Es gibt starke Steigungen in Grein; gleich beim Einfahren in den Ort vom Hafenbereich ins Zentrum gibt es eine extreme Steigung von vielleicht 30%, die ich zu spät bemerke. Ich stürze und stoße mit dem (behelmten) Kopf gegen ein Stahlgeländer. Außer einer abgesprungenen Kette ist nichts passiert. Noch am selben Tag hatte ich gedacht, dass ich bisher Glück gehabt und den Helm nicht nötig hatte.

Auf jeden Fall hat die Lage Grein vor den schlimmen Zerstörungen des Hochwassers gerettet – doch mir fällt es jetzt mit meinen ermüdeten Beinen schwer, noch den Berg zur Brucknerstraße hinaufzufahren, wo es laut Hinweisschildern Privatpensionen gibt. Gegen acht Uhr finde ich dort tatsächlich in einer der Pensionen ein Zimmer; dieses muss allerdings erst gerichtet werden, und so gehe ich, verschwitzt wie ich bin und ohne geduscht und mich umgezogen zu haben, in eine Pizzeria zum Abendessen.

Montag, 8. April

Grein

Im Frühstücksraum gibt es zwei Tische. Einer ist mit einer vierköpfigen Familie aus Litauen belegt; am anderen sitzt eine junge Frau, mein Platz ist ihr gegenüber. Sie sei auch Radfahrerin, sagt die Wirtin, „und ihr Radfahrer vertragt euch ja!“ Die andere Radfahrerin heißt Marion, ist 25 Jahre alt und seit drei Wochen von Straßburg, ihrer Heimat, mit Ziel Istanbul unterwegs. Bis Mitte Juni möchte sie dort sein. Sie hat ein Zelt dabei, hat, wie sich herausstellt, am Vorabend in derselben Pizzeria wie ich zu Abend gegessen, hat in Vilshofen in derselben Pension übernachtet wie ich. Heute werden wir ein Stück gemeinsam fahren. Als ich von meinem Ziel Kyjiw spreche und leichte Bedenken äußere, ob ich wirklich mit dem Fahrrad durch die Ukraine vom Schwarzen Meer bis Kyjiw fahre, sagt sie nur: „Warum nicht?“ Für sie ist es eine klare Sache, dass man überallhin kommen kann, wo man hin will. Sie ist Sozialpädagogin, war zuletzt befristet angestellt und hat nun, ohne neuen Job, viel Zeit. Sie war eine Woche vor mir gestartet, hat noch die kälteste Zeit mitbekommen. In Vilshofen war sie schon vor Ostern gewesen. Als sie dort losfuhr, hat es so geschneit, dass sie an diesem Tag nur bis Passau, etwa zwanzig Kilometer, fahren konnte.

Beim Frühstück kommt die Wirtin immer wieder dazu und erzählt:

Von einem jungen Mann, der ihr Gast war auf seiner Wanderung in den Tibet. Sie verfolgt seinen Blog im Internet; bisher ist er bis in die Türkei gekommen. Sie zweifelt sehr, dass er es noch bis in den Tibet schafft.

Ein anderer Mann, der auch ihr Gast war, ist zu Fuß von Österreich nach Jerusalem gepilgert. Er wollte unbedingt den ganzen Weg ausschließlich zu Fuß zurücklegen. In Istanbul wäre er beinahe gescheitert: Die großen Brücken sind nur für Autoverkehr zugelassen. Aber es wurde gerade ein U-Bahn-Tunnel unter dem Bosporus gebaut, der Durchstich war bereits gemacht, und mit dem Bauleiter durfte er zu Fuß von der europäischen auf die asiatische Seite der Stadt gehen und konnte dort den Weg nach Jerusalem fortsetzen. Er habe ein Buch darüber geschrieben, sie habe es gelesen und sehr interessant gefunden, erzählt die Wirtin.

Und was die Vermietung von Privatzimmern angeht, so wird es immer weniger im Dorf. In ihrer Straße gibt es noch zwei andere Pensionen. „Die Wirtinnen sind beide älter als ich, eine ist schon über achtzig, und ich bin auch schon 72.“ Und dann gibt es noch die Frau Faltinger, da hatte ich am Vorabend auch geklingelt, aber keiner hat geöffnet. „Da weiß keiner so genau, was mit der ist – meist ist sie im Suff.“

Die „Untermühle“ in Mettensdorf kannte sie natürlich auch. Das sei eines der ersten Häuser gewesen, die der Flut zum Opfer fielen.

Ihre Pension möchte sie weiterführen, so lange es geht. Das Geld ist nicht der Hauptgrund, und ein Nachteil ist, dass man immer zu Hause sein muss. Aber man lernt so viele interessante Leute kennen.

Nach dem Frühstück ist Abfahrt, Marion wartet auf mich, heute werden wir ein Stück zusammen fahren. Es geht wunderbar abwärts, aber dann ist wieder heftiger Gegenwind, gegen den es sich wie gegen eine Wand fährt. Aber die Sonne scheint! Marion ist mir bald weit voraus, sie wartet und schlägt vor, dass ich vorausfahre, was ich gern annehme.

Gegen Mittg erreichen wir Emmersdorf; am gegenüberliegenden Ufer sehen wir das berühmte Benediktinerstift Melk. Wir trinken noch gemeinsam Kaffee, dann trennen sich unsere Wege. Sie wechselt auf die andere Seite der Donau.

Es geht weiter durch Weinberge: Die Wachau ist Anbaugebiet weltweit geschätzter hochwertiger Weine. Die Arbeiten in den Weinbergen sind in vollem Gange, es herrscht rege Betriebsamkeit. Hin und wieder schrecke ich einen Fasan auf.

In Krems übernachte ich; in einem China-Restaurant gibt es ein gutes Büfett mit viel Gemüse.

Dienstag, 9. April

Krems

Heute herrscht nicht mehr so heftiger Gegenwind, die Landschaft ist weiter sehr attraktiv, wieder geht es durch Weinberge.

Bereits am Vormittag hatte ich für die nächste nächste Nacht ein Zimmer gebucht. Christian, mein Freund, den ich in Wien treffen möchte (und den ich aus dem gleichen Projekt kenne wie Hans in Regensburg), hatte angedeutet, dass in Wien wohl irgendein Kongress sei und womöglich schwer, ein Zimmer zu bekommen. Das Hotel liegt nicht direkt in Wien, sondern in Klosterneuburg – so spare ich mir das Radeln durch die Wiener Innenstadt. Gegen drei Uhr bin ich in meinem Hotelzimmer; mit der S-Bahn fahre ich nach Wien ins Zentrum. Das dauert etwa eine halbe Stunde.

Ich fahre bis zum Karlsplatz, bin erneut beeindruckt von der Karlskirche, freue mich, die Secession wieder einmal zu sehen. Für 18:15 bin ich mit Christian an der U-Bahn-Station Schwedentor verabredet; es bleibt noch Zeit, vorher durch die Innenstadt und am Stephansdom vorbei zu gehen. Die Stadt ist gnadenlos voll, es ist ein heller, sonniger Tag. Zum ersten Mal wird es richtig warm.

In einer Apotheke kaufe ich noch Wundverband und Heilsalbe, weil sich an meinem Gesäß eine wunde Stelle gebildet hat. Es scheint von der gepolsterten Fahrradunterhose zu kommen, die an einer Stelle sehr scheuert. Heute schon hatte ich diese Unterhose weggelassen, und es geht schon besser. In Bratislava wird die Hose im Müll landen.

Christian treffe ich wie verabredet; wir essen in einem griechischen Restaurant und haben viel zu sprechen. Leider möchte ich aber auch rechtzeitig gehen, weil ich am nächsten Morgen früh weiterfahren möchte. Es ist mir wichtig, abends nach meiner Fahrt zu guter Zeit anzukommen, insbesondere wenn es noch hell ist. Und da ich fast nur ostwärts fahre, werden die Abende immer kürzer – auch wenn die Tage insgesamt länger werden.

Mittwoch, 10. April

Klosterneuburg

Am Bahnhof Klosterneuburg-Kierling komme ich kurz nach Beginn der heutigen Fahrt vorbei; dort gibt es auch eine Touristeninformation. Dort würde ich mich gern erkundigen, ob es hier das Gebäude, das Sanatorium, in dem Franz Kafka am 3. Juni 1924 gestorben ist, noch gibt. Oder ob es vielleicht eine Gedenktafel oder irgendetwas gibt, das an den berühmten Patienten erinnert. Doch das Büro ist noch nicht geöffnet, und eine halbe Stunde lang mag ich nicht warten.

Ich nehme die Fähre gleich in der Nähe von Klosterneuburg, um auf die linke Donauseite zu wechseln und damit den Innenstadtbereich von Wien zu umgehen. Es weht ein leichter bis mäßiger Wind aus Nordwest – ich habe erstmalig Rückenwind! Da fährt es sich gut, zumal auch die Sonne wieder scheint. Trotzdem erscheint mir die etwa zwanzig Kilometer lange Strecke zwischen dem Ölhafen an der Stadtgrenze von Wien und Hainburg über den schnurgeraden Damm noch ermüdender als vor zwölf Jahren, als ich diese Strecke zum ersten Mal gefahren bin. Damals standen auf halber Strecke, an einer Wegkreuzung, zwei Frauen und sprachen miteinander: Das war seinerzeit die größte Abwechslung. Heute sehe ich niemanden. Es ändert sich einfach nichts während der ganzen Zeit. Bestimmt ist die Flora und Faun in den Donauauen unterhalb des Damms sehr wertvoll und sehenswert, aber jetzt, im Vorbeifahren, sehe ich vor allem Schneeglöckchen...

Gegen 17 Uhr erreiche ich Bratislava. Zunächst führt der Weg unmittelbar hinter der österreichisch-slowakischen Grenze unter der spektakulären „Brücke des Slowakischen Nationalaufstandes“ hindurch, mit dem Turmrestaurant auf dem Brückenpylon. Ganz Mutige können sich hier mit Seilen gut gesichert auf die schmale auskragende Gehbahn an der Außenseite des Restaurants wagen und die Aussicht aus über 80 Metern Höhe auf die Donau genießen.

Über Stary Most, die alte Brücke, gelange ich schnell ins Zentrum. Dort gibt es ein Ibis-Hotel, das ich zunächst vergeblich suche. Ein Herr auf der Straße spricht mich an, ob er mir helfen könne: „I'm a cyclist, too; can I help you?“ Er zeigt mir den Weg zur Touristeninformation, dort lasse ich mir den Weg zum Ibis-Hotel zeigen. Es liegt recht günstig und zentral, am Fuß der Burg, die sich über der Stadt erhebt und den Regierungssitz des Landes beherbergt. Mit 95 Euro für die Übernachtung mit Frühstück erscheint es mir recht teuer, ich finde aber eine gute Unterkunft. Im „Primi“, einem Restaurant direkt am Donauufer mit mediterraner Küche, esse ich zu Abend. Die Atmosphäre ist recht nett dort, auf Dauer allerdings ist die Musik etwas zu laut.

Beim anschließenden Bummel durch die hübsche Altstadt fallen mir die vielen Konditoreien in der Stadt auf, die auch jetzt, spät am Abend, noch geöffnet sind.

Donnerstag, 11. April

Bratislava

Über die alte Brücke verlasse ich die Innenstadt, wechsele aber später wieder über die zweigeschossige Prístavný Most (Hafenbrücke) auf die andere, die nördliche Donauseite. Diesmal möchte ich nämlich auf der slowakischen Seite fahren und nicht, wie zuvor schon zweimal, auf der ungarischen. Bald hinter der Stadt geht der Weg auf der Dammkrone weiter, der Weg ist asphaltiert und prinzipiell gut zu fahren. Störend sind allerdings die Schranken alle paar hundert Meter, bei denen man über eine kleine Stange auf dem Boden fahren und deswegen den Fahrfluss unterbrechen muss. Diese Spezialität auf Radwegen kenne ich nur aus der Slowakei. Und es herrscht der bisher stärkste Gegenwind, jeden Kilometer muss ich mir erkämpfen. Mehr als zehn Kilometer in der Stunde sind kaum möglich. Zwischendurch wechsele ich auf die Straße, unterhalb vom Damm, dort kann ich, weil der Wind nicht ganz so kräftig ist, etwas besser vorankommen.

An einem Stück ist die Durchfahrt oben auf dem Damm verboten, ich habe die Abzweigung verpasst und fahre verbotswidrig. Als ein Auto hinter mir auftaucht, denke ich, das ist die Polizei. Es sind tatsächlich Polizisten, sie fahren zur Polizeistation, die am Ende dieses verbotenen Weges liegt. Sie grüßen mich recht freundlich.

Trotz des widrigen Wetters strebe ich als heutiges Ziel Komárom in Ungarn an, reserviere am Mittag telefonisch ein Hotelzimmer, damit ich am Abend nicht erst länger suchen muss.

Auf dem letzten Wegstück sind die Beschilderungen zumeist zweisprachig, slowakisch und ungarisch, und ich freue mich, nun das mir wesentlich vertrautere Ungarisch zu lesen.

Komárom selbst ist eine Doppelstadt, mit einem Stadtteil, Komárno, auf der slowakischen, und eben Komárom auf der ungarischen Seite. Es war zu k.u.k.-Zeiten eine einzige Stadt im Kaiserreich Österreich-Ungarn und wurde erst mit der neuen Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg so geteilt.

Erst gegen halb acht Uhr erreiche ich meine Pension; zum Glück gibt es gleich nebenan ein Restaurant, das zu der Pension gehört und in dem ich zu Abend esse. Ich bin einziger Gast. Etwas Sorge bereitet mir, ob ich bezahlen kann. Wegen der späten Ankunft habe ich mich noch nicht um ungarische Forint gekümmert; von früheren Reisen habe ich noch etwas Bargeld. Es reicht aus. Aber es bleiben auch noch ein paar sehr alte Scheine übrig. Später finde ich die gleichen Scheine auf einem Souvenirmarkt neben anderen Antiquitäten angeboten.

Freitag, 12. April

Komárom

Frühstück wird in demselben Restaurant serviert, in dem ich gestern zu Abend gegessen habe. Offenbar ist ein ganzer Bus voll junger Leute in der Pension gelandet; in der Nacht war es zuerst etwas laut. Zum Frühstück komme ich erst nach den jungen Leuten. Es gibt eine Karte mit guter Auswahlmöglichkeit.

Ich wähle einen Umweg über das Städtchen Tata; damit kann ich die Hauptverkehrsstraße am Donauufer, die ich im übrigen auch schon zweimal gefahren bin, ein Stück weit meiden. Es ist zwar mit ein paar kräftigen Steigungen verbunden, aber die verträumte Stadt, in der sich schon die Könige gern aufgehalten haben, hat hübsche Parks und viel Wasser, nämlich mehrere Seen, zu bieten. Beim Uhrturm, einem hölzernen achteckigen Turm aus dem 18. Jahrhundert mit Uhren an der Spitze an vier Seiten, mache ich eine kurze Rast. Zwischendurch gibt es ganz leichten Regen. Die Fahrt zurück auf den eigentlichen Donauradweg führt auch hier durch Weinberge, zuletzt gibt es eine längere Strecke mit deutlichem Gefälle, auf der ich aber trotzdem langsam fahren muss wegen des schlechten Straßenbelags.

In Esztergom komme ich zeitig, gegen vier Uhr, an. Wie schon bei früheren Radfahrten beeindruckt mich der erste Anblick der Basilika beim Hereinfahren in die Stadt. Es ist immer wieder ein toller und mir unvergesslicher Anblick, der sich bei Annäherung an die Stadt von Süden her bietet.

Die Zimmersuche ist nicht ganz einfach. Mehrere Hotels sind belegt, darunter auch das, in dem ich vor zwölf Jahren übernachtet habe. Schließlich finde ich eine nette Pension direkt unterhalb der Basilika.

Abends gehe ich zunächst zur Basilika hinauf, aber nicht mehr in diese beeindruckende Kirche hinein, zu deren Einweihung im Jahre 1856 Franz Liszt die Graner Messe komponiert hat. Der Regen ist nun etwas kräftiger. Viele Gebäude direkt neben der Basilika sind ganz neu renoviert; als ich zuletzt hier war, war einiges in sehr schlechtem Zustand und von einem Hauch von Verfall angeweht. In einem der Gebäude findet gerade ein Kardiologenkongress statt, vermutlich sind deshalb die Hotels belegt. Im Weinkeller „Primás Pince“, direkt unter der Basilika, kehre ich zum Abend ein, bei gutem Essen und natürlich auch bei gutem Wein.

Samstag, 13. April

Esztergom

Beim Frühstück in der Pension sind außer mir noch etwa zehn Gäste. Darunter auch drei oder vier Männer aus Deutschland, die nicht sehr gesprächig sind. Sie sind zur Arbeit hier, seit mehreren Wochen; sie stellen Maschinen in einer Fabrik auf. Später erfahre ich von Dávid, dem Sohn unserer Budapester Freunde, dass etliche ausländische Unternehmen Fabriken in Esztergom haben, darunter auch japanische Autobauer wie Suzuki. Einem slowakischen Gast erzähle ich von meinen Reiseplänen. Er warnt mich: Passen Sie in Rumänien und in der Ukraine auf Polizisten auf. Sie können böse sein. Am besten haben Sie immer genug Bier bei sich, um sie zu besänftigen. Aber einen Kasten Bier kann ich beim besten Willen nicht auch noch auf meinem Fahrrad transportieren.

Durch schöne Gärten geht die Fahrt am Donauufer Richtung Budapest weiter. Es ist frühlingshaft warm, die Sonne scheint. Ich höre den Motor eines ersten Rasenmähers. Sonst nicht gerade mein Lieblingsgeräusch, klingt es mir jetzt wie eine zauberhafte Melodie des Frühlings. Manchmal blühen Veilchen; sie duften im Sonnenschein so stark, dass ich sie dadurch bemerke.

Am rechten Ufer, auf Budaer Seite, geht es ins Zentrum von Budapest. Wieder beeindruckend ist der Blick auf das Parlamentsgebäude am gegenüberliegenden Ufer. Etwas mit Schwierigkeiten verbunden ist es, auf die Elisabethbrücke zu gelangen. Die Busspuren hier sind leider nicht (wie in Paris) für Fahrräder freigegeben; trotzdem fahre ich da ein Stückchen, weil auf den anderen Spuren so starker Autoverkehr herrscht. Schon kommt ein Bus hinter mir; drohendes Hupen. Schließlich erreiche ich doch wohlbehalten die Brücke; auf Pester Seite sind so viele Baustellen, dass ich den letzten Kilometer bis zum Hotel mein Rad schiebe. Das Hotel Soho, nach einer Empfehlung in unserer Tageszeitung ausgewählt, ist sehr angenehm.

Zum ersten Mal bleibe ich mehrere Nächte hintereinander im gleichen Haus, da nehme ich gern den Wäscheservice des Hotels in Anspruch. Unterwäsche habe ich zwar gewöhnlich jeden Abend im Zimmer gewaschen, doch Schlafanzug und andere Kleidung haben dringend eine Wäsche nötig.

Unsere Freunde in Budapest, Mariann und István, haben dort die Musikschule „Kiss Zenede“ gegründet, und ich hatte vorab geschaut, ob es vielleicht in der Zeit meines Aufenthaltes dort Veranstaltungen dieser Schule geben könnte. Es soll am Marczibány tér eine Veranstaltung mit Schülern der Kiss Zenede geben. Mit der U-Bahn fahre ich in diese Richtung, habe mit meinem alten Stadtplan etwas Orientierungsprobleme. Ein freundlicher junger Herr, der mir schon in der U-Bahn behilflich war, klärt mich auf, dass der auf meinem Plan eingezeichnete „Moszkva tér“ nun nicht mehr Moskauer Platz heißt, sondern nun nach dem ehemaligen Ministerpräsidenten des Königreichs Ungarn Széll Kálmán tér. Der junge Herr hat gerade eine Englischprüfung abgelegt (wir sprechen Englisch miteinander) und fährt nun nach Hause, das ist ganz in der Nähe des Marczibány tér. In einer ehemaligen Fabrik und auf dem Platz daneben ist ein großes Kulturgelände entstanden. Im Theater gibt es ein Rock-Konzert, möglicherweise mit Schülern der Kiss Zenede. Ich kaufe nach viel Fragen und Hin und Her eine Eintrittskarte. Um 22 Uhr soll das Konzert beginnen; ich warte so lange. Auch bei Beginn sehe ich nichts, das auf Kiss Zenede hinweist, und die Musik begeistert mich auch nicht gerade. So mache ich mich bald auf den Rückweg zum Hotel.

Sonntag, 14. April

Budapest

Ab 10 Uhr gibt es in Budakeszi, einer kleinen Stadt am westlichen Stadtrand von Budapest, tatsächlich eine Veranstaltung der Kiss Zenede: ein Festival aus Anlass des zwanzigjährigen Bestehens der Musikschule. Vom Hotel fahre ich um 9:45 Uhr mit dem Taxi dorthin, der temperamentvolle Fahrstil und die kurvenreiche Strecke verursachen meinem Magen etwas Probleme. Gegen halb elf bin ich in der Aula des dortigen Gymnasiums. Junge Mädchen, ungefähr sieben bis dreizehn Jahre alt, führen zu drei verschiedenen Musikstücken jeweils etwa zweiminütige Tanzimprovisationen vor. Es ist ein sehr schöner Anblick, die Körperbeherrschung der Mädchen ist imposant.

Mariann ist als Veranstalterin natürlich dabei; wir haben uns lange nicht gesehen, doch als sie mich sieht, erkennt sie mich sofort und ist sehr überrascht. Da man bei einer Radtour immer auch mit Unvorhergesehenem rechnen muss, habe ich nicht vorab Bescheid gegeben, dass ich in Budapest bin. Dávid und Dorottya, ihre beiden Kinder, sind auch dort; sie sind mit der Technik, der Organisation des Ablaufs und mit dem Erstellen von Video-Aufzeichnungen beschäftigt. Sie sind inzwischen erwachsen, ich hätte sie nicht wiedererkannt.

Gern lasse ich noch weitere Darbietungen auf mich wirken, spreche zwischendurch auch mit Mariann, sie lädt mich zum nächsten Abend zum Essen ein. Am frühen Nachmittag verlasse ich das Festival und fahre mit dem Bus zurück in die Innenstadt. Da ich keinen Automaten und auch sonst keine Verkaufsstelle für ein Ticket finden kann, erwarte ich, dass ich das beim Fahrer kaufen kann. Dort gibt es aber auch kein Ticket, der Fahrer zuckt nur mit den Schultern. So fahre ich also schwarz; auch habe ich nicht herausbekommen, wo ich ein Ticket hätte bekommen können.

Vom Széll-Kálmán-Platz gehe ich zur Budaer Burg, von Westen her über etwa 200 Stufen gelange ich auf den Burgberg. Ein wunderbarer Nachmittag! Die Sonne scheint, es ist mindestens frühlingshaft warm, viele Touristen sind hier und genießen, ebenso wie ich, den Blick von der Fischerbastei auf die Donau. Im Café Ruszwurm stärke ich mich mit Kaffee und hervorragendem Kuchen. Dieses Café genieße ich immer wieder, wenn ich in Budapest bin. Die Einrichtung darin stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und ist seither unverändert. Man fühlt sich wie auf dem Plüschsofa in Großmutters guter Stube. An meinem Tisch sitzen noch ein älterer Herr und seine Tochter. Er hat nach der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 Ungarn verlassen und lebt nun in den USA. Er kann noch etwas deutsch, seine Tochter, bereits in den USA geboren, spricht nur Englisch. Er mag etwa 70 Jahre alt sein, ist pensionierter Radiologe, besucht seine Schwester in Hüvösvölgy, dem Viertel, in dem auch Mariann wohnt. Als ich erzählte, dass ich mit dem Fahrrad bereits über tausend Kilometer angereist bin, staunt er und sagt mit unverkennbarem charmanten ungarischen Akzent: Dann dürfen Sie auch zwei Stück Kuchen essen. Mit ärztlicher Erlaubnis also genehmige ich mir gern ein zweites Stück...

In einem koscheren jüdischen Restaurant in der Nähe meines Hotels bekomme ich sehr gutes Abendessen. Es gibt viele freie Plätze, die sich im Laufe des Abends füllen, als eine große Gruppe von etwa dreißig orthodoxen Juden hereinkommt.

Montag, 15. April

Budapest

Vormittags Stadtbummel gemacht, dabei auch Proviant für die nächsten Tage gekauft. Es gibt auffällig viele Buchhandlungen, auch viele Thai-Massagesalons. In der Váci utca, der Haupt-Einkaufsstraße, suche ich das Haus der 1000 Tees, wo ich vor einigen Jahren in einer mit Seidenvorhang abgetrennten Sitzecke exquisiten Grüntee getrunken habe. An der Adresse auf der Visitenkarte, die ich noch von damals habe, gibt es aber kein Teehaus mehr. Die Markthalle beeindruckt mich wieder mit ihrem bunten vielfältigen Angebot, doch scheint mir das Angebot etwas einseitiger geworden zu sein, weniger ausgefallene Lebensmittel, eher Stickereien und damit wohl mehr an Touristen orientiert.