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Jemand scheint unter allen Umständen verhindern zu wollen, dass die Zwillingsschwestern Antonia und Isabella ihre Ergebnisse des "Jugend-forscht"-Projekts präsentieren. Und scheut dabei selbst vor einem Mordversuch nicht zurück ... young thriller - Spannung pur!
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Seitenzahl: 172
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Oliver Pautsch, 1965 in Hilden geboren, lernte in Solingen laufen, ging in Hilden zur Schule und studierte in Düsseldorf. Er wohnte und arbeitete lange Jahre in Köln. Heute lebt der Autor mit seiner Frau und drei Kindern wieder in Hilden.
Wenn er behauptet, die Region besser als den Inhalt seiner Schreibtischschublade zu kennen, kann man ihm ruhig Glauben schenken. Der Autor hat in der Region viele Jahre lang Klaviere und Flügel transportiert. Das tut er noch heute manchmal – falls er nicht gerade Romane oder Drehbücher schreibt.
Der Autor freut sich über einen Besuch seiner Heimseite: www.pautsch.net
Für Adrian Enzo Kind – von deinem stolzen Padrino! (zehn Jahre zu spät, sorry ;-)
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° ich mache nicht mehr mit ich bin raus °
* aber wieso denn *
° weil das total °
* bella vorsicht *
Der Wagen war aus der Seitenstraße gekommen. Isabella hatte keine Chance. Sie prallte ungebremst auf die Fahrerseite des Autos, wurde zurückgeschleudert und schlug mit dem Kopf auf den Boden.
Dieser Moment brannte sich Antonia wie in Zeitlupe ein: die zusammengekniffenen Lippen und geschlossenen Augen ihrer Schwester Isabella, die über den Lenker des Fahrrads fliegt und auf den weißen Kleinbus knallt.
»Und du hast keine Ahnung, was für ein Auto das war?«, fragt eine Stimme. Antonia starrt auf den Fleck auf der Straße. Nicht wirklich rot, eher dunkelbraun, fast schwarz. Das Blut ihrer Zwillingsschwester. Es versetzt Antonia einen Stich, zusehen zu müssen, wie ein Feuerwehrmann etwas aus einem Papiersack darüberschüttet, das wie Katzenstreu aussieht und den Fleck mit einer staubigen Schicht bedeckt. Dann kommt ein anderer Feuerwehrmann mit einem Besen.
Ein Besen!
Ey, hör sofort auf! Das ist das Blut meiner Schwester!, will Antonia schreien. Doch die uniformierte Beamtin dreht Antonias Kopf ganz sanft zu sich, indem sie ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger nimmt. Die Hände der Polizistin riechen gut, nach irgendeiner Creme, die Antonia kennt. Sie blinzelt. Weil sie nicht darauf kommt, woher ihr der Geruch bekannt vorkommt.
»Antonia, du musst mir bitte einen Moment lang zuhören und antworten«, sagt die Frau.
»Was ist das für eine Creme?«, fragt Antonia.
»Bitte?«
»Die riecht so gut. Was ist das?«
Die Beamtin sieht irritiert auf ihre Hände. Als sie Antonia wieder anschaut, ist die weg.
Nein, nicht verschwunden, sondern ohnmächtig von der kleinen Backsteinmauer gerutscht, auf das Polizeimeisterin Stefanie Schäfer die Zwillingsschwester des Unfallopfers gesetzt hatte. Damit nicht passiert, was nun doch geschieht: Antonia Cardascia sinkt bewusstlos zu Boden. Die Beamtin springt auf und ruft den Notarzt, der kurz zuvor erklärt hatte, dem Mädchen gehe es für eine erste Vernehmung vor Ort gut genug.
Der Mann kann sich auf was gefasst machen!, denkt die Polizistin besorgt.
Gloria saß zusammengesunken auf dem Sofa und starrte auf den Boden. Die unregelmäßigen Stücke Carraramarmors verschwammen vor ihren Augen. Der Boden im Haus war der ganze Stolz ihres Ex-Mannes gewesen. Als er noch dort wohnte.
Kurz zuvor hatte Hans »Ich komme sofort!« gerufen und die Verbindung unterbrochen. Als würde das etwas ändern. Neue Tränen verschleierten Glorias Augen. Die beiden Beamten im Wohnzimmer wippten unbehaglich auf den Absätzen. Der größere Polizist mit den rötlichen Haaren nickte ihr auf eine Art zu, die sie noch hoffnungsloser machte. Obwohl das sicher nicht seine Absicht war.
»Kommen Sie«, sagte er leise. Doch für Gloria klang diese vorsichtige Aufforderung wie ein laut gerufener Befehl. Wie der letzte Ruf vor ihrer eigenen Hinrichtung. Denn sollte eins der Mädchen sterben, Gloria wüsste nicht, wie sie weiterleben könnte.
»Sagen Sie mir doch was. Irgendetwas!«, flehte sie.
»Wir wissen selbst nichts Näheres«, antwortete der kleinere Beamte. Er sah unglücklich aus. Was Gloria schlagartig wütend machte, denn schließlich lagen IHRE Töchter im Krankenhaus!
»Ehi idioti, che cosa aspettate ancora?«, schoss sie eine Salve auf die verblüfften Beamten ab, sprang auf und eilte in den Flur, um Schuhe und Jacke zu holen.
Den »Idiot« in »Worauf wartet ihr Idioten denn noch?« schienen die beiden nicht verstanden zu haben. Falls doch, ließen sie es sich nicht anmerken. Sie behandelten Gloria auf dem Weg ins Krankenhaus mit Nachsicht und Einfühlungsvermögen.
»Wie?«, fragte die Frau erneut und sah über den Rand ihrer Brille.
Selten dämlich sah sie aus, fand Gloria und wiederholte: »Cardascia!«
»Wie schreibt man das?«, wollte die Frau am Empfang der Klinik wissen.
Wie man’s spricht, war Gloria versucht, ihren Standardscherz auf diese häufig gestellte Frage zu machen. Aber nach Scherzen stand ihr nicht der Sinn. Schließlich lagen irgendwo hier in der Klinik ihre Töchter! Also buchstabierte sie geduldig: »C - A - R - D - A - S - C - I - A«
»Momentchen, nicht so schnell …«
Gloria sah erst rot, als die langsamste Rezeptionistin der Welt in ihrem Glaskasten mit hochgezogenen Augenbrauen und Blick auf den Monitor ihres Computers murmelte: »Kadascha … ts, das würde ich aber anders schreiben.«
»WO SIND MEINE TÖCHTER?!«
Die Rezeptionistin zuckte zusammen und beeilte sich, der Furie vor dem Tresen die gewünschte Antwort zukommen zu lassen.
Laut ihrer Auskunft lag Isabella auf der Intensivstation und Antonia auf einer normalen Station. Gloria spurtete durch das Foyer des Krankenhauses. Sie hatte bereits entschieden, dass sie sich zuerst nach Bellas Zustand erkundigen würde. Die Beamten hatten ihr wenigstens versichern können, dass Toni nicht verletzt und nur wegen des Schocks ohnmächtig geworden war. Außerdem war Antonia die robustere der beiden Mädchen, drei Zentimeter größer und knapp dreizehn Minuten älter als Bella, Glorias Sorgenkind.
Antonia wachte schmatzend auf und sah sich um. Sie wusste sofort, wo sie war. Ihre Tante Rosa hatte in der Klinik als Krankenschwester gearbeitet. Die Zwillinge hatten sie oft besucht, weil einer ihrer ersten Berufswünsche Ärztin gewesen war. Lange, bevor sie sich dann der Biologie mit Leib und Seele verschrieben hatten.
Was ist passiert?, fragte sich Antonia und bereits eine Sekunde später jagte das unauslöschbare Bild der schrecklichen Zeitlupe von Bellas Unfall durch ihren Kopf.
Ein Schock der Erkenntnis durchzuckte Antonia und sie schwang die Beine aus dem Bett.
»Antonia, warte! Bleib liegen!« Eine Hand hielt sie fest. Doch Antonia sah sich nicht nach der männlichen Stimme um, sondern riss sich los: »Bella, ich muss …«
Rolf Herder eilte um das Bett herum und stellte sich ihr in den Weg. Der Biologielehrer der Zwillinge versuchte ein Lächeln, was ihm nicht wirklich gelang, wie Antonia fand. Er sah eher so aus, als habe er gerade in einen tierisch sauren Apfel gebissen.
»Was machen Sie hier?« Herder wollte etwas sagen, doch Antonia erwartete keine Antwort auf ihre Frage. »Ich muss sofort nach Bella sehen. Ich muss mich um sie kümmern!«
Diese beiden Sätze konnte man durchaus als Antonias Lebensmotto bezeichnen – oder ihre Geißel. Denn die Sorge um Antonias »kleine« Schwester war im Clan der Cardascias schon sprichwörtlich. Selbst in der Schule war das bekannt. Auch wenn es nur drei Zentimeter und dreizehn Minuten waren, die Isabella kleiner und jünger war. Irgendwie hatte sich die Familie bei der Zuordnung von Eigenschaften für Antonia als Erstgeborene »groß«, »beschützend«, »vernünftig« und »besonnen« ausgesucht. Und da besonders eineiige Zwillinge gern in Gegensatzpaare unterteilt werden (selbst wenn, oder vielleicht gerade weil kaum jemand in der Lage ist, sie wirklich auseinanderzuhalten), galt Isabella als »klein«, »kindisch«, »launisch« und »versponnen«. Bella war die reine impulsive Intuition, hieß es immer. Und Antonia sollte der besonnene Kopf des Duos sein? Was für ein grandioser Unsinn! Fanden übrigens beide.
Einen Unterschied gab es allerdings bei den wirklich sehr ähnlich aussehenden Mädchen: Isabella war stur wie ein Stein! Nur deshalb hatten die beiden Mädchen bis vor einem knappen Jahr total unterschiedlich ausgesehen, denn Bella hatte sich die Haare rappelkurz geschnitten und so weiß blondiert, dass sie auf dem Schulhof weithin sichtbar geleuchtet hatte. Völlig anders als Toni mit ihren Cardascia-typischen roten Locken. Antonia ihre Schwester lange nicht überzeugen können, welche Vorteile sich die Zwillinge damit verspielten. Erst als Bella auf Jochen stand und er (natürlich!) die vernünftigere und nicht so durchgeknallte Antonia bevorzugte, hatte Bella den Nachteil der Ungleichheit begriffen. Sie hatte mit den Wasserstoffperoxyd-Attacken auf ihre Haare aufgehört und sich die Mähne wieder wachsen lassen. Unauffällig hatten sich die beiden Mädels auf jeweils die Hälfte ihrer Lieblingsklamotten geeinigt und waren sich im Verlauf eines halben Jahres so ähnlich geworden, wie es nur ging. Was bereits kurz darauf dazu führte, dass sich der Notendurchschnitt beider Mädchen um fast zwei Punkte verbesserte. Denn was die zwei fast identisch aussehenden Zwillinge ganz sicher nicht tun mussten, war, Nachmittage lang zusammenzuhocken und sich gegenseitig auf den neuesten Stand ihrer Schulbildung zu bringen. Oder sich ihre Defizite in schweißtreibenden Nachhilfesitzungen auszutreiben.
Definitely not!, wie Jochen sagen würde. Der nicht die leiseste Ahnung davon hatte, dass er eine ganze Weile lang mit Isabella knutschte, obwohl er die andere Schwester zu lieben glaubte. Das ging so lange, bis Isabella das Interesse an dem spillerigen Jungen mit den Sommersprossen verlor und Antonia ihn wieder übernahm, ohne dass der arme Kerl das mitbekam. Obwohl sich Jochen natürlich darüber wunderte, dass seine große Liebe ständig die Handlungen der Filme vergaß, die sie vorher unbedingt hatte sehen wollen. Auch war die Lieblingsmusik seiner rothaarigen Freundin einem ständigen, kaum nachvollziehbaren Wechsel unterzogen. Wäre Jochen romantischer veranlagt gewesen, hätte ihm ebenfalls auffallen können, dass bei solchen Fragen wie: »Wo haben wir zum ersten Mal dies und das getan?«, bei Antonia oft Unklarheit herrschte. Es gab oft unterschiedliche Antworten, da sich Antonia und Isabella weder in schulischen noch in Liebesdingen gegenseitig Nachhilfe gaben. Was Jochen nicht weiter störte. Was schließlich allerdings dazu führte, dass der erste Freund der Mädels einer gewissen Oberflächlichkeit überführt wurde. Ein Todesurteil für jede Liebe. Da Antonia Probleme damit hatte, die Beziehung zu beenden, übernahm das Isabella. Schließlich hatte sie den armen Kerl ja auch aufgerissen. Ob Jochen jemals davon erfahren hat, dass er eigentlich mit zwei Mädchen zusammen gewesen war?
Definitely not!
Und wenn es nach den Zwillingen ging, würde das auch so bleiben.
Herder hatte Antonia nicht aufhalten können, sich auf der Intensivstation nach dem Zustand ihrer Schwester zu erkundigen, und war ihr bis zum Eingang gefolgt.
»Hör mal, Antonia. Ich kann leider nicht mit rein, das dürfen nur Familienmitglieder, also …« Er druckste einen Augenblick herum, der Antonia ungeduldig machte. »Bestell deiner Schwester meine besten Grüße, wenn sie wieder …« Er brach ab, als hätte er sich fast verplappert.
»Wenn sie wieder was?«, wollte Antonia wissen, auf einmal zusätzlich zu ihrer unerträglichen Sorge alarmiert.
Was wusste Herder? Doch der Lehrer verabschiedete sich wortlos mit einem weiteren »Saurer-Apfel-Biss«-Lächeln. So sehr ihr dieser Mann in den letzten Monaten ans Herz gewachsen war, nun hatte Antonia das Bedürfnis, ihm unflätige Flüche hinterherzuschreien. Doch da erkannte sie ihre Mutter durch das kleine Fenster, brach in Tränen aus und klingelte Sturm auf der Intensivstation.
Wenige Sekunden standen sich Mutter und Tochter gegenüber. Antonia verstand zunächst kaum etwas, da Glorias Italienisch wie der Klang einer Vespa von den Wänden des Flurs widerhallte. Gloria sprach immer nur dann in ihrer Muttersprache, wenn sie wirklich wütend oder aufgeregt war. Insofern waren die dürftigen Italienischkenntnisse der Zwillinge verzeihlich. Auch Hans, ihr Vater, hatte anlässlich der Tiraden in der Heimatsprache seiner Frau eher den Kopf eingezogen, anstatt den Wunsch zu verspüren, sich diese eigentlich wohlklingende Sprache anzueignen.
Glorias zentrale Frage war Antonia natürlich klar. Auch ohne den Schwall italienischer Satzkaskaden zu verstehen: »Was ist passiert!?«
»Wir hatten einen Unfall. Bella ist angefahren worden. Wie geht es ihr?«, wollte Antonia wissen.
»Nicht gut«, antwortete Gloria.
Etwas in Antonias Innerem zog sich angstvoll zusammen. Da war er wieder: dieser verdammte Film in Zeitlupe, wie Bella mit dem Kopf gegen den Wagen knallt.
»Die Ärztin sprach von einem Schädel-Hirn-Trauma. Das muss so was Ähnliches wie ein Bruch des Schädels sein … Madonna!« Gloria schlug die Hände vor ihr Gesicht und begann zu schluchzen.
Antonia nahm sie in den Arm. »Bella wird schon wieder …«, sagte sie leise.
»Come lo vuoi sappere tu?«, stieß Gloria wütend hervor. Diesmal verstand Antonia jedes Wort.
»Woher ich das weiß? Bella MUSS einfach wieder gesund werden!«, sagte sie, schluckte ihre eigene Angst trocken hinunter und flüsterte: »Komm, wir suchen den Arzt und lassen uns alles genau erklären.«
Rolf Herder stand auf dem Parkplatz der Klinik und hatte auf einmal den fast unwiderstehlichen Drang, eine Zigarette zu rauchen, obwohl er dieses Laster schon vor über zehn Jahren aufgegeben hatte. Der Biologielehrer steckte den Schlüssel ins Schloss der Fahrertür und hielt plötzlich inne. Er sah an der Fassade des Klinikgebäudes hinauf. Irgendwo dort oben rang eine seiner Schülerinnen mit dem Tod. Herder fühlte nicht zum ersten Mal so etwas wie ein schlechtes Gewissen in sich aufkeimen. Er senkte den Blick und unterdrückte das unangenehme Gefühl. Bei dem Gedanken daran, was in der nächsten Zeit noch alles zu erledigen war, stöhnte Herder leise auf und öffnete die Wagentür mit einem energischen Ruck.
Hat sie wirklich »Koma« gesagt?, dachte Antonia und starrte den Mann im weißen Kittel an, ohne zu verstehen, wovon er redete. Das Wort »Koma« wiederholte er dabei noch einige Male.
Oh Gott, Koma! Tod auf Raten! Erst liegt man bewegungslos in einem Bett … Und dann stirbt man! Bella …
Antonias Knie wurden weich und alles drehte sich auf einmal. Fast wäre sie umgekippt und auf den Boden des Klinikflurs gestürzt. Doch Gloria stützte sie. Es dauerte eine Weile, bis Gloria und der Arzt zu Antonia durchdringen konnten.
»Künstlich! Es ist nur künstlich!«, rief Gloria und hielt ihre schluchzende Tochter fest bei den Schultern gepackt. »Sie haben deine Schwester nur in einen komaähnlichen Zustand versetzt. Absichtlich!«
»Absichtlich?«, schluchzte Antonia. Durch den Tränenschleier funkelte sie den Arzt böse an. Der hatte tatsächlich noch die Stirn zu lächeln! Doch bevor Antonias Wut über das absichtlich herbeigeführte Schicksal ihrer Zwillingsschwester aus dem Ruder laufen konnte, sagte der Arzt mit einer sanften Stimme etwas, das Antonia beruhigte.
»Koma ist griechisch und bedeutet ›tiefer Schlaf‹. Die Bezeichnung ›künstliches Koma‹ ist eigentlich un-20 zutreffend, denn genau genommen handelt es sich um eine Art Langzeitnarkose. Wir haben deine Schwester in Schlaf versetzt. Das ist ein kontrollierter Zustand, aus dem wir sie jederzeit wieder aufwecken können. Du musst dir keine Sorgen machen.«
»Aber wieso haben Sie das getan?«, wollte Antonia wissen. Ein Lidschlag, weniger als eine Sekunde lang Unsicherheit im Blick des Arztes verrieten ihr, dass der Mann nicht ganz die Wahrheit zu sagen schien, wenn es darum ging, sich keine Sorgen um Bellas Leben machen zu müssen. Bevor der Arzt antworten konnte, übernahm Gloria die Aufgabe, Antonia über den Zustand ihrer Schwester die Wahrheit zu sagen: »Toni … Bella ist bei dem Zusammenstoß mit dem Kopf aufgeschlagen …«
»Das weiß ich, Mama!«, bellte Antonia. »Ich war dabei!«
Und da war sie wieder, die Zeitlupe vom Zusammenstoß mit dem Wagen. Isabella hatte das Gesicht im allerletzten Moment noch wegdrehen können, bevor ihr Kopf an den Wagen schlug. Durch die Wucht des Aufpralls ging ein Zittern durch Isabellas ganzen Körper. Dann federte sie zurück und machte einen Zeitlupenflug in Richtung Boden, den Antonia aber nicht mehr verfolgte, denn jemand rüttelte an ihrem Arm. Und da war noch etwas an diesem Auto, das sie ablenkte. Doch was war es bloß? Antonia wollte sich den Moment merken, ihn behalten, aber …
»Toni, hörst du mir zu? Hey, ich rede mit dir!« Gloria rüttelte ihre Tochter.
»Was?« Antonia sah auf.
»Deine Mutter will dir erklären, dass wir Isabellas Kopfverletzung auf diese Art am besten heilen können«, fügte der Arzt hinzu. Er war sichtlich erleichtert, die schlechte Nachricht der Schädelverletzung nicht bis in die letzte Einzelheit vor Antonia ausbreiten zu müssen. »Ich schlage vor, Sie beide fahren jetzt erst einmal nach Hause und erholen sich«, sagte der Arzt.
»Aber …« Gloria deutete überfordert in Richtung des Zimmers, wo die verletzte Bella lag.
»Hier können Sie nichts tun, Frau Cardascia. Wir melden uns sofort, wenn sich Isabellas Zustand ändert. Versprochen!« Der Arzt deutete mit dem Kopf zu Antonia, die sich auf eine Bank gesetzt hatte und aus dem Fenster starrte. »Im Moment braucht Antonia Sie viel dringender. Wir kümmern uns um Isabella. Einverstanden?«
Gloria nickte zögernd. Irgendwo piepte es. Der Arzt verabschiedete sich eilig und verschwand hinter einer Tür.
Gloria setzte sich neben Antonia auf die Bank am Fenster und wischte ihrer Tochter die Tränen aus dem Gesicht. Einen Augenblick später begann Antonia zu erzählen:
»Herder hatte uns empfohlen, einen Freund von ihm zu besuchen. Der wohnt in der Berliner Straße, also fast um die Ecke. Er hatte ihm von unserem Projekt für ›Jugend forscht‹ erzählt. Niederberg züchtet Karnivoren seit über dreißig Jahren!«
»Karnivoren?«, fragte Gloria matt.
»Du weißt schon. Fleischfressende Pflanzen.«
Gloria nickte nur. Antonia fuhr fort: »Herder hat es ja sicher gut gemeint, aber dieser Typ war die absolute Katastrophe! Total versoffen und ungepflegt. Und im ganzen Haus hat es ekelhaft gestunken!«
Wie immer, wenn es um das ›Jugend-forscht‹-Projekt ging, lief Antonia aus dem Ruder. Gloria sah auf und erkannte sich selbst. Das überbordende Temperament und die glühenden Augen. Doch die Tatsache, dass es nur zwei und nicht mehr vier Augen waren, die beim Thema fleischfressende Pflanzen zu leuchten begannen, stürzten Gloria wieder in das dunkle Loch der Furcht. Warfen sie zurück auf die Sorge um ihre Tochter Bella, von der zu diesem Zeitpunkt niemand wissen konnte, ob sie jemals wieder das Bewusstsein zurückerlangen würde!
Zur gleichen Zeit, als Gloria und Antonia auf dem Flur der Intensivstation um das Wohl von Isabella bangten, bemühte sich ein ziemlich angetrunkener Richard Niederberg in die Jacke zu kommen, ohne einen der beeindruckenden Ausleger seiner Kannenpflanzen der Gattung Nepenthes in seinem Wintergarten abzubrechen. Er suchte seine Zigaretten, fand auf dem kleinen Tisch neben dem künstlichen Wasserfall aber nur das silberne Feuerzeug mit seinem Monogramm, das Richards Frau Anne ihrem Mann vor vielen Jahren geschenkt hatte, und steckte es in die Jackentasche. Dann verließ er das Haus.
Richard Niederberg hatte die Zwillinge verschreckt, das war ihm klar. Ein zerzauster Mann in fleckigem Bademantel war nicht gerade das, was die Mädchen sich unter einem Fachmann für Karnivoren, speziell der Gattung Nepenthes vorgestellt hatten.
»Was für ein Glücksfall!«, hatte eins der beiden Mädchen gerufen, als er die Tür geöffnet hatte.
»Was? Glücksfall? Wieso?«, hatte der verkaterte Mann gefragt und geblinzelt, doch es blieben zwei – zwei identische Mädchen, die da vor ihm standen. Er hatte sie hereingebeten. Und eine kurze Zeit lang ging er als Fachmann durch. Etwas verschroben, zwar aber eben doch als eine Koryphäe.
Das änderte sich, als die Mädchen durch den Flur in seine Küche sehen konnten. Zu einem gewissen Teil hätte sogar hier noch die Theorie des genialen, aber etwas unordentlichen Wissenschaftlers funktioniert. Wenn dem ganzen Gerümpel in der verwahrlosten Küche nicht ein dermaßen furchtbarer Geruch entstiegen wäre, dass eins der Mädchen sich sogar ihren T-Shirt-Ärmel vor das – wirklich schöne – Gesicht gehalten hatte.
»Puh, stinkt das hier!«
Richard roch den Gestank nach vergammeltem Essen und Abfall schon lange nicht mehr. Seit seine Frau ihre Koffer gepackt und ihn verlassen hatte, widmete er sich nur noch zwei Dingen: seinen Pflanzen und der Sorge um seinen immer mit Bier gefüllten Kühlschrank, Richards neuem Hauptnahrungsmittel.
Das Mädchen, das sich als Isabella vorgestellt hatte, war schließlich, ungeachtet der chaotischen Zustände in seiner Wohnung durch Richards Wohnzimmer, vorbei an mehreren Haufen dreckiger Wäsche in den Wintergarten gestürmt.
Mit weit aufgerissenen Augen hatte sie den lateinischen Namen gemurmelt, während sie die schlanken Kannen der Nepenthes tentaculata vorsichtig gestreichelt hatte. Obwohl diese Kannenpflanze eigentlich über den Boden rankt, hatte Richard das Prachtstück seiner Sammlung in etwa drei Meter Höhe in einen mit Sphaghnummoos und Korkeichenrinde verkleideten künstlichen Baumstamm gepflanzt. In seinem Wintergarten war nicht genug Platz, um die große Pflanze frei über den Boden wachsen zu lassen. Außerdem fand er, dass die von den fleischigen Blättern an dünnen roten Rankenfortsätzen herabhängenden Gefäße, die wie natürliche Trinkbecher aussahen, aus der Höhe viel besser zur Geltung kamen. Immerhin wurden die als Kannen bezeichneten Gefäße der Nepenthes tentaculata dreißig Zentimeter lang, bei einem Durchmesser von bis zu acht Zentimetern.
Isabella sah über den nach innen umgekrempelten, wulstigen Rand hinweg in die Kanne hinein.