Sie kriegen dich - Oliver Pautsch - E-Book

Sie kriegen dich E-Book

Oliver Pautsch

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Beschreibung

Ben hat Angst. Panische Angst. Seit Monaten haben Achim, Hakan und Turbo es auf ihn abgesehen. Sie lauern ihm auf und zocken ihn ab. Eines Tages wird einer seiner Peiniger tot aufgefunden - mit Bens Handy in der Tasche. Plötzlich steht Ben unter Mordverdacht. Was soll er tun? Kein Mensch wird ihm glauben, dass er unschuldig ist! young thriller - Spannung pur!

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Oliver Pautsch, 1965 in Hilden geboren, lernte in Solingen laufen, ging in Hilden zur Schule und studierte in Düsseldorf. Er wohnte und arbeitete lange Jahre in Köln. Heute lebt der Autor mit seiner Frau und drei Kindern wieder in Hilden.

Wenn er behauptet, die Region besser als den Inhalt seiner Schreibtischschublade zu kennen, kann man ihm ruhig Glauben schenken. Der Autor hat in der Region viele Jahre lang Klaviere und Flügel transportiert. Das tut er noch heute manchmal – falls er nicht gerade Romane oder Drehbücher schreibt.

Der Autor freut sich über einen Besuch seiner Heimseite:

www.pautsch.net

Für Kuti

Inhaltsverzeichnis

Prolog –Tonbandprotokoll

Freitag

Eiskalt

Der Dreiklang

Die Baggerkrise

Tonbandprotokoll II

Der Käfig

Im Rudel

Gau – Größter anzunehmender Unfall

Yang

Supergau

Im Zeichen der Zwillinge

Der Retter

Vernehmung

Die Verabredung

Auf der Flucht

Im Käfig

Der schwarze Mercedes

Abschied

Samstag

Eine andere Verabredung

Zusammenstoß im Krankenhaus

Endstation Friedhof

Ringwall II

Friedhof II

Mailboxing

Mailboxing II

Bittere Erkenntnis

Flucht

Nicht in Sicherheit

Yin

Die Säulen des Zen

Sonntag

Parkhotel

Schichtende

In der Falle

Erste Hilfe

Saufkumpan und Waffenbruder

Stunde der Wahrheit

Kameradenschwein

Yin und Yang

She’s the one

Überstunden

Verraten und verkauft

Ein neuer Plan

Rosen - Montag

Der Zug kommt!

Der wilde Ritt

High Noon

She’s definitely the one!

PROLOG – TONBANDPROTOKOLL

»Für die Akten … zum Zeitpunkt dieser Tonbandaufnahme ist es Mittwoch, der 23. Juni, Uhrzeit, Moment … 17 Uhr 25. Mein Name ist Hauptkommissar Joachim Breidenbach. Ist der Befragte, Benjamin Terjung, mit der Tonaufzeichnung seiner Aussage einverstanden? … Benjamin, du musst etwas sagen. Ich brauche dein Einverständnis zur Aufnahme auf Band. Nicken genügt nicht. Na los, sag was!«

»Oh, äh, das geht klar.«

»Du bist mit einer Aufzeichnung einverstanden?«

»Ja.«

»Anzeige von Benjamin Terjung gegen Unbekannt wegen räuberischen Diebstahls. Benjamin, du bist gerade fünfzehn geworden?«

»Am elften Mai.«

»Ist dir klar, dass du eingeschränkt rechtsmündig bist?«

»Nein. Was heißt das?«

»Dass du mir nur die Wahrheit erzählen solltest. Also, was ist gestern passiert?«

»Ich wurde verprügelt und dann wurde mir das Rad geklaut. Ich war auf dem Weg von der Schule nach Hause.«

»Kannst du den oder die Täter beschreiben?«

»Sie waren zu dritt. Das habe ich aber erst später kapiert.«

»Wieso?«

»Weil sich mir zuerst nur der … der Türke und der dünne Typ in den Weg gestellt haben. Der Dünne ist mir vors Rad gegangen.«

»Er ist dir vors Rad gelaufen, meinst du?«

»Nein, das war Absicht. Der hat mich angesehen und sich mir in den Weg gestellt. Ich wollte ausweichen, er ist wieder in meinen Weg gesprungen. Ich bin langsamer geworden und dann sind wir beide gestürzt.«

»Du hast den Jungen also angefahren und bist vom Rad gefallen?«

»Eben nicht! Ich hab den nicht angefahren, der hat nur so getan. Aber das haben der Typ und der Türke dann dauernd gebrüllt.«

»Was haben sie gebrüllt?«

»Na, dass ich den umgefahren hätte. Ich hätte das extra gemacht, hat der Kleinere immer wieder gerufen, hat sich richtig reingesteigert und ist total ausgeflippt.«

»Und der türkische Junge war ein Zeuge?«

»Nee, das war nur ‘ne Show. Ein Trick. Die kannten sich und wollten mich abzocken.«

»Du willst damit sagen, dass der dünne Junge und der Junge, den du ›Türke‹ nennst, sich dir absichtlich in den Weg gestellt haben?«

»Nicht beide. Nur der Dünne, damit ich ihn umfahre. Dem hat aber überhaupt nichts gefehlt. Der hat mich später sogar noch umgehauen.«

»Was ist mit dem Dritten?«

»Sie glauben mir kein Wort, oder?«

»Du sagtest, sie waren zu dritt.«

»Nachdem der dünne Typ den Streit angefangen hatte, fing der Türke damit an, dass er mein Rad konferieren will, oder so.«

»Das hat er gesagt?«

»Ich bin nicht sicher. Ich hatte tierische Angst.«

»Hat er vielleicht ›konfiszieren‹ gesagt?«

»Kann sein.«

»Weißt du, was er mit ›konfiszieren‹ meinte?«

»Nee, ich hab nur begriffen, dass er mir das Rad abnehmen wollte. Das waren Asis. Dann hat mir der Dünne noch eine reingehauen und weg waren sie. Mit dem Rad, natürlich.«

»Was war mit dem dritten Täter?«

»Dem Fettsack?«

»Benjamin, es wäre hilfreich, wenn du die äußerliche Erscheinung der Täter genauer beschreiben könntest, als ›der Dünne‹, ›der Türke‹ und ›der Fettsack‹. Geht das?«

»’tschuldigung.«

»Erzähl weiter. Besondere Merkmale?«

»Also, der Dünne trug ein schwarzes Kapuzenshirt mit so ‘nem chinesischen Zeichen drauf.«

»Yin und Yang vielleicht?

»Kann sein.«

»Das Tai-Chi-Zeichen, ein Kreis mit zwei ineinander fließenden Wellen? War es das?«

»Ich kenn mich da null aus.«

»Also weiter.«

»Können wir ‘ne Pause machen?«

»Wir haben doch gerade erst angefangen!«

»Bitte. Ich muss pinkeln.«

»Von mir aus … Beeil dich.«

Stühlerücken, dann klackt es, als der Kassettenrekorder abgeschaltet wird.

FREITAG

EISKALT

12 UHR 00

»Weber hat die Leiche angefasst«, rief eine Stimme aus der Menge der Schüler, die sich um den Tatort drängten.

Sofort entstand ein Tumult auf dem Schulhof.

»Hab ich nicht!«, brüllte Weber zurück und wollte sich auf den Denunzianten stürzen. Gegenüber dem Haupteingang des Schulgebäudes flatterten Krähen protestierend in den Himmel.

Polizeiobermeister Kürten versuchte die aufgeregten Schüler unter Kontrolle halten. Im Schnee waren bereits mehr als genügend Spuren, die niemals zugeordnet werden konnten.

Scheißkalt, dachte Kürten und sah sich um. Die Schneedecke lag völlig zertrampelt vor ihm. Er hatte die Kripo über Funk angefordert. Sofort, als er den toten Jungen im Müllcontainer neben dem Haupteingang des Gymnasiums gesehen hatte. Ein grauenhafter Anblick. Die Kollegen sollten bereits vor einer halben Stunde angekommen sein. Der plötzliche Wintereinbruch hatte die ganze Stadt überrascht.

Nur zu gern hätte Kürten den Deckel des Müllcontainers geschlossen, um den Schülern den grauenhaften Anblick zu ersparen. Doch er wollte keine Spuren vernichten.

»Weber hat ihn angepackt«, brüllte der Schüler erneut, der einem Frettchen glich. Der beschuldigte Weber drängte wie ein Eisbrecher durch die Menge und ging auf den Schreihals los. Das Frettchen fiel in den Schnee vor den Mülltonnen. Weber stürzte sich auf ihn, er war größer und schwerer. Das Frettchen quiekte erschrocken.

Weber ist zu dick, dachte der Polizist und zerrte die Jungen auseinander. Weber hatte ganze Arbeit geleistet: Das Frettchen war mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen. Sein Blut im Schnee vor dem Container sah schlimm aus. Ein roter Fleck, wie von einem toten Tier. Kürten drückte ein Taschentuch auf die Kopfwunde des Jungen, um die Blutung zu stillen. Das Frettchen schrie wie am Spieß, hinter dem Polizisten begann Weber zu weinen.

»Hab nix angefasst, ehrlich! Ich wollte nur an die Tonne!«

»Verständigen Sie einen Arzt«, rief der Polizist einem älteren Lehrer zu, der vor dem Müllcontainer stand. Doch die Aufsicht konnte sich vom Anblick der Leiche nicht lösen.

In den aufgerissenen Augen des toten Jungen waren Schneeflocken geschmolzen und auf dem Weg über die Wangen wieder gefroren. Der Tote lag im Müllcontainer zwischen blauen Plastiksäcken und losen Papieren, die seine Schultern und den Brustkorb bedeckten, mit Blick in den Himmel und der Schnee fiel ihm ins Gesicht. Sein Körper inmitten des Mülls verrenkt, wie nur Leichen verdreht sein können, wenn sie erstarren. Oder, wie in diesem Fall, zu einer grausigen Momentaufnahme gefroren waren.

Kürten verfluchte sich, allein zum Fundort gefahren zu sein. Doch seit dem Wintereinbruch war das Chaos auf den Straßen kaum noch zu bewältigen gewesen. Alle Kollegen waren unterwegs und Kürten war auf sich allein gestellt. Er vermied den Anblick der gefrorenen Leiche und holte eine Rolle Absperrband aus dem Kofferraum, obwohl es für die Sicherung des Tatorts bereits zu spät war. Das würde Ärger mit den Kollegen von der Kripo geben.

Schülerinnen und Schüler stapften schweigend, manche weinend, durch den Schnee vor dem Container neben dem Haupteingang des Gymnasiums. Einige umarmten sich in Schock und Trauer. Ein dürres Mädchen mit Zöpfen erbrach sich in die Büsche neben dem Gebäude. Mitschülerinnen stützten sie.

Die verwischen alle tatrelevante Spuren, dachte Kürten. »Tun Sie endlich was! Schaffen Sie die Kids hier weg«, rief er dem Lehrer zu, der immer noch völlig überfordert herumstand. Dann wurde das Frettchen bewusstlos. Kürten winkte zwei kräftigen Jungs herbei und wies sie an, den Ohnmächtigen in die Pausenhalle zu bringen, als der mehrstimmige Klingelton eines Handys ertönte. Die Melodie kam Kürten bekannt vor, doch es wollte ihm nicht einfallen, woher. Das Handy verstummte kurz, dann begann die Melodie von vorn. Schüler stapften durch den Schnee und zerrten iPhones, Samsungs und Huaweis aus Taschen und Mänteln.

Natürlich, das ist von Robbie Williams, dachte Kürten und sah sich um. Es klingelte immer weiter.

In einer anderen Ecke des Pausenhofs sahen sich Zwillinge erschrocken an, als die Melodie erneut ertönte.

»Das ist doch … She’s The One«, flüsterte Antonia, die dreißig Minuten ältere und drei Zentimeter größere der beiden Schwestern.

»Benjamins Handy«, antwortete Bella, »den Klingelton hat er am Computer selbst eingespielt.«

Trotz Ihrer unterschiedlichen Frisuren sahen sich die beiden erschrockenen Mädchen sehr ähnlich.

Kürten folgte der Melodie, und mit jedem Schritt wuchs seine Gänsehaut. Der Klingelton kam aus dem Metallcontainer, in dem der tote Junge lag. Kürten hörte in den Container und vermied den Anblick des Jungen, wollte die blassen toten Augen nicht sehen. Doch er musste in die Tasche des Jungen greifen. Denn immer wieder dudelte die Melodie. Kürten fand das Handy und nahm den Anruf an: »Ja? Hallo?« Er zuckte zusammen, als er eine metallisch klingende Roboterstimme hörte: »Der Standort dieses Mobiltelefons wurde geortet.« Die Verbindung brach ab und ein regelmäßiges Tuten ertönte, Polizeiobermeister Kürten sah das Mobiltelefon in seiner Hand und stöhnte auf.

Keine Handschuhe! Ich habe dem Opfer ein Beweisstück ohne Handschuhe entnommen. Wie viele Fehler werde ich heute noch machen? Die Kollegen der Kripo werden mich in der Luft zerreißen!

Es begann wieder zu schneien. Der Schnee rieselte auf blaue Plastiksäcke, Fetzen geschredderter Klassenarbeiten und die weit aufgerissenen Augen eines toten Jungen, dessen Gliedmaßen verdreht und unrichtig im Müll ausgebreitet lagen.

Er ist kaum älter als die Schüler, dachte der Polizist und achtete nicht mehr auf Spuren, als er den Deckel des Müllcontainers schloss. Er konnte keine Sekunde länger in diese geöffneten Augen sehen. Er schien, als würde der tote Junge weinen.

DER DREIKLANG

13 UHR 13

Ben trennte die Verbindung zum Internet, schaltete den Computer aus und verließ den Medienraum. Laut der angezeigten Umgebungskarte, die auf dem Bildschirm angezeigt wurde, musste sich Bens Telefon irgendwo auf dem Schulgelände befinden. Nicht weiter als hundert Meter von Bens Standort entfernt.

Verdammt, wenn mein geklautes Handy hier in der Nähe ist, sind die Typen auch hier, dachte Ben und eilte durch den Flur. Er suchte einen Ausgang, wo sie ihn nicht finden würden. Ben wollte an einem Seitenflügel oder hinten raus, dort war es meistens gut gegangen.

Vor dem Haupteingang waren Sirenen zu hören. Jede Ablenkung, um heil nach Hause zu kommen, war Ben recht. Die Flure rochen nach Reinigungsmitteln.

»Bohnerwachs«, hatte seine Mutter behauptet, die ebenfalls hier zur Schule gegangen war. Doch Bohnerwachs war altmodisches Zeug. Zwischen Bens Schulzeit und der seiner Mutter lagen Welten. Damals gab es keine Computer, geschweige denn Internet. Woher sollte sie wissen, wonach der Boden einer Schule heute roch? Oder wie beschissen Schule heute sein konnte? Und wie gefährlich der Heimweg? Sie hatte keine Ahnung.

Vom Flur zwischen dem Labor und dem Chemieraum im Ostflügel aus sah Ben sich durch die Glastür auf dem Gelände um, entriegelte dann den Notausgang und floh über den Sportplatz in Richtung der Hauptstraße. Vielleicht schaffte er es noch vor dem Gong, hoffte er.

Das grauenhafte »DiDaaDuuu« hörte Ben nicht nur in der Schule. Der Dreiklang begleitete ihn bis in den Schlaf. Er wachte nachts schweißgebadet davon auf. Krümmte sich in Aufzügen, die ähnliche Geräusche machen, wenn sich Türen schlossen oder öffneten. Bestimmte Musikstücke konnte Ben überhaupt nicht mehr hören, ohne sich den Bauch zu halten, bis seine Augen tränten. »DiDaaDuuu« Der Klang war überall.

Ist doch nur ein Dreiklang, versuchte sich Ben selbst zu beruhigen. Doch sein Magen krampfte sich trotzdem jedes Mal zusammen. Wenn die Krämpfe kamen, versteinerte Ben. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich. Ben stellte sich in diesem Moment ein Raumschiff vor.

»Alarmstufe Rot. Alle Decks gesichert, Käpt’n«, dachte er und schloss die Augen. Presste seine Lider fest aufeinander. Gegen die Tränen konnte er erst etwas unternehmen, wenn das Krampfen und Würgen vorbei war. Dann erst konnte er die Hände benutzen und das Rinnsal von der Wange wischen. So eine Angstattacke dauerte meistens nicht länger als dreißig Sekunden. Trotzdem lang genug für die anderen, sich zu wundern, Fragen zu stellen und Ben merkwürdig zu finden.

»Was hast du denn für ‘ne Krankheit?« – Jochen. Mitschüler. Ein Arschloch.

»Ist mit dir alles in Ordnung, Ben?« – Frau Kermeling, die Lehrerin. Nett, jedoch keine Ahnung.

»Ben, kommst du mit in den … oh, okay.« – Abdul, ein Mitschüler, fast Bens Freund. Vielleicht wusste er Bescheid, doch darüber wurde nicht geredet. Wenn Ben die Krämpfe bekam, wartete Abdul. Sogar ohne hinzusehen, um Ben nicht in Verlegenheit zu bringen.

Nach einer halben Minute voller Krämpfe konnte Ben wieder die Augen öffnen und auf »Alarmstufe Grün« schalten. Durchatmen, Tränen wegwischen und einen Weg finden. Einen neuen Weg, den seine Verfolger noch nicht kannten.

Der letzte Gong war der schlimmste. Dann musste Ben die Sicherheit des Gebäudes hinter sich lassen. Die Schule war ein dreistöckiger Klotz mit zwei offiziellen Ausgängen, acht Notausgängen in alle Himmelrichtungen und zwei Treppen zum Keller, Fahrradkeller nicht mitgezählt. Ben kannte sie alle. Die Notausgänge zu benutzen war natürlich streng verboten. Ben war sich immer noch nicht sicher, ob es wirklich einen stummen Alarm gab. Irgendeine zentrale Anlage, die meldete, wenn er sich unerlaubt durch die Hintertür davon machte. Der Hausmeister behauptete es jedenfalls. Drohte mit dem Finger und rollte mit den Augen. Er war Schuld an den beiden Rügen, am Gespräch des Direktors mit Bens Vater und an der Ermahnung, Ben könnte von der Schule fliegen. Damals, bevor die Asis ihn verfolgten, wäre Fliegen für Ben undenkbar gewesen. Doch mittlerweile hatte Fliegen eine neue Bedeutung bekommen. Wer fliegt, betrachtet die Welt von oben. Wer fliegt, muss sich nicht davor fürchten, festgehalten, geschlagen und ausgeraubt zu werden. Ben wünschte sich mehrmals in der Woche, einfach die Arme ausbreiten und abheben zu können. Sein Vater vertrat eine ganz andere Meinung. Als ehemaliger Oberstleutnant der Bundeswehr war er offensiv:

»Geh gefälligst vorn raus, Ben. Wehr dich, verdammt noch mal! Du willst doch nicht von der Schule fliegen, nur weil du ständig die Notausgänge benutzt!«

„DiDaaDuuu.«

Der letzte Gong schoss Ben direkt in den Magen. Vom Lautsprecher aus in Bens Mitte. Da war wieder die Angst. Ein Gefühl, als müsste er sich sofort übergeben und gleichzeitig kacken. Ben frühstückte zwar schon lange nicht mehr, seit ihm regelmäßig aufgelauert wurde. Doch auch ein leerer Magen konnte sich vor Angst verkrampfen.

DIE BAGGERKRISE

13 UHR 47

Bereits von der Hauptstraße aus war das Brummen zu hören. Ben war es zunächst nicht aufgefallen. Erst als er in seine Straße eingebogen und am Garagenhof vorbei war, sah er den Rauch. Auf Höhe des Vorgartens.

Unsere Bude brennt, dachte Ben und rannte los.

Nachbarn standen vor der Einfahrt zu dem Einfamilienhaus, in dem Ben wohnte. Sie tuschelten und schüttelten den Kopf, als Ben das Haus erreichte. Der VW Golf stand nicht in der Einfahrt, sondern war auf der Straße geparkt. Das war ungewöhnlich.

Bens Vater saß fluchend auf dem Sitz eines Baggers, der in der Einfahrt vor sich hinqualmte. Kein richtiger, kein großer Bagger. Eher ein aufgeblasenes Spielzeug, viel kleiner als der Volkswagen der Familie. Der Bagger ruckte auf seinen Ketten vor und zurück. Sein Motor spuckte rußige Wolken durch den senkrechten Auspuff in die Luft. Ein Nachbar begann zu lachen, während Bens Vater an den Steuerknüppeln immer wütender wurde.

»Gehen Sie gefälligst weiter! Hier gibt es ABSOLUT NICHTS zu gaffen!«, rief Wolfgang Terjung durch den Motorlärm.

Das sah die amüsierte Nachbarschaft allerdings ganz anders. Niemand rührte sich vom Fleck.

Ben fand seine Mutter mit verschränkten Armen auf dem Plattenweg im Vorgarten.

»Was ist los?«, wollte Ben wissen.

Der Minibagger ruckelte vorwärts Richtung Garage, jemand spendete Beifall von der Straße. Kurz vor dem Garagentor schwenkte die Baggerschaufel in die Höhe und Putz bröckelte in die Garage, gefolgt von einem heiseren Kreischen, als Bens Vater mit dem Bagger in die Garage fuhr und einen Funken sprühenden Streifen auf der Unterseite des geöffneten Blechtors hinterließ. Die Nachbarn lachten und klatschten schadenfroh. Wieder eine Niederlage des »Oberst Drückeberger«, wie sie den ehemaligen Oberstleutnant der Bundeswehr hinter vorgehaltener Hand nannten.

Aus der Garage war Wolfgang Terjungs Fluchen zu hören.

»Was macht er denn?«, wollte Ben von seiner Mutter wissen.

»Er will ein Loch graben.«

»Wozu?«

»Wir bekommen einen Teich«, antwortete Bens Mutter. Mit ihrer speziellen Stimme, die Ärger bedeutete.

»Einen Teich? Mitten im Winter?«

»Du kennst deinen Vater … Essen ist fertig.«

Rosa Terjung drehte sich um und ging ins Haus.

Ben eilte in die Garage, bevor sich das verbeulte Tor schloss. Die meisten Nachbarn verloren die Lust an dem Spektakel und verschwanden ebenfalls in ihre Häuser.

Das Tor schloss sich knirschend und es wurde dunkel. Der Motor des Baggers erstarb mit einem Husten, die Luft roch nach verbranntem Diesel. Ben orientierte sich am Kabinenlicht im Führerhaus, schaltete die Beleuchtung der Garage ein und ging zu seinem Vater. Der brütete auf dem Fahrersitz über eine in Kunstleder gebundene Kladde. Eine Bedienungsanleitung für Bagger.

»Hast du die Kiste etwa gekauft?«

Bens Vater sah auf. »Nur gemietet.«

»Um einen Teich zu bauen? Jetzt?«

Bens Vater deutete aus dem Führerhaus an die hintere Wand der Garage, wo sich die Tür zum Garten befand. »Meinst du, der Bagger passt da durch?«

Ben betrachtete die Tür, den Bagger und dann wieder die Tür. »Niemals.«

Wolfgang Terjung faltete seine Beine aus dem Führerhaus des Baggers, ging zur Tür, nahm Maß und nickte. »Das ist schlecht, dann muss ich den Vorgarten aufgraben. Mit der Geheimhaltung wird das dann nichts. Oder wir stemmen diese Wand auf und …«

»Mama sagt, Essen ist fertig«, unterbrach Ben eilig.

»Sie ist richtig sauer, oder?«, wollte sein Vater wissen.

Ben nickte stumm, wusste nicht, was er sagen sollte. Ein Loch in der Wand für ein Loch im Garten. Ein Teich im Februar, dachte er. Ein gemieteter Bagger in der Garage, der den Garten nie erreichen wird? Jedenfalls nicht durch diese Tür. Was hast du erwartet? Und was, bitte schön, ist an einem Teich geheim?

Sein Vater seufzte. »Schon gut, gehen wir essen.« Er nahm seinen Sohn bei den Schultern. Hintereinander gingen sie durch die Tür und überquerten die verschneite Terrasse.

»Wo soll der Teich überhaupt hin?«, fragte Ben mit Blick auf die Wiese.

Sein Vater lächelte. »Hör mal, die Sache mit dem Gartenteich ist nur Tarnung für die Nachbarn … Und für Mama.« Er sprach etwas leiser zu seinem Sohn: »Wir bekommen keinen Teich, sondern einen Panikraum.«

Ben schluckte. »Einen was?«

»Ein unterirdischer Sicherheitsraum. So ähnlich wie ein Bunker. Die Metallkiste wird unter der Erde am Haus vergraben und an den Keller angeschlossen. Durch einen Zugang im Keller gehen wir im Ernstfall hinein und sind in Sicherheit. In Amerika sind diese Dinger der Renner. Jeder hat dort einen!«

»Ernstfall? Aber …«

»Du weißt doch, was hier in letzter Zeit los war, mit Einbrüchen und Vandalismus. Der Panikraum ist ein Fluchtpunkt. Er schützt uns vor Einbrechern und anderem Gesindel, bis die Polizei eintrifft. Solche Kerle lachen doch nur über Bewegungsmelder und Alarmanlagen. Rosa wird mir noch dankbar sein, warte es ab«, sagte Bens Vater und zog seine Schuhe aus, um keinen Schnee ins Wohnzimmer zu tragen. »Ich habe den Panikraum für einen Bruchteil des Neupreises bei eBay ersteigert. Wird direkt nach Karneval geliefert. Kommst du?«

Ein Bunker bei eBay, darauf muss man auch erst mal kommen … dachte Ben ungläubig, während sein Vater die Terrassentür sorgfältig verriegelte und die Jalousie herunterließ, obwohl heller Tag war. Ben befürchtete, dass Wolfgang verrückt geworden sein könnte.

TONBANDPROTOKOLL II

14 UHR 44

KLACK

»Läuft das Band wieder?«

»Ja, Ben. Wir können fortfahren. Zwei Jugendliche wollten dich berauben, hast du erzählt.«

»So war es auch … Ehrlich!«

»Du hast ebenfalls angegeben, die Täter waren in Wirklichkeit zu dritt. Also was denn nun?«

KLACK

Polizeiobermeister Werner Kürten schaltete den Rekorder aus und sah seine Kollegin an. »Breidenbach glaubt dem Jungen kein Wort. Und der Junge merkt das natürlich.«

»Seit dem Fall mit dem verschwundenen Mädchen letztes Jahr können Sie Breidenbach nicht mehr ausstehen, nicht wahr?«, sagte Polizeimeisterin Stefanie Schäfer.

»Das tut nichts zur Sache«, antwortete Kürten.

»Oder haben sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie die Anzeige eines anderen Jungen letztes Jahr zuerst auch nicht ernst genommen haben?«

»Was soll das? Verhören Sie mich?«, wollte Kürten wissen. »Sie haben Recht, ich konnte Breidenbach noch nie leiden. Aber nur, weil er ein schlechter Polizist ist.«

Er meint es ernst, stellte Stefanie Schäfer insgeheim fest.

»Breidenbach ist faul, unfähig und ungehobelt«, ergänzte Kürten.

Breidenbach ist bei der Kripo, dachte Stefanie und hütete sich, diesen Punkt laut anzusprechen.

»Aber er ist bei der Kriminalpolizei«, sagte Kürten. »Breidenbach kann es zwar nicht ertragen, wenn andere seinen Job machen. Aber wir müssen es leider tun! Uns und seinen Kollegen von der Kripo bleibt nichts anderes übrig, denn seine Aufklärungsquote ist ein Witz. Sie würden diese Quote mit geschlossenen Augen übertreffen, sogar als Frau … äh, ich meine als Anfängerin … also eben mit links!« Kürten bemerkte, dass er weit über das Ziel hinausgeschossen war und versuchte abzulenken. »Können Sie den Typ etwa leiden?«

Stefanie Schäfer ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.

»Meine Meinung zum Kollegen Breidenbach ist bei dieser Ermittlung Nebensache, denke ich.«

»Ja, natürlich. Persönliche Gefühle sollten eine Ermittlung nicht beeinflussen, niemals.«

Meint er es ironisch, oder ist das sein Ernst?, fragte sich Stefanie und musste sich bemühen nicht über den Kollegen mit der korrekten Dienstauffassung zu lächeln. Kürten war im letzten Jahr ein großes Risiko eingegangen, um ein vermisstes Mädchen und ihren Freund zu retten. Ohne sich um die Dienstordnung oder die Folgen für seine Laufbahn zu kümmern. Erst jetzt begriff Stefanie Schäfer, dass es Breidenbach gewesen sein musste, der den Fall Gartenburg nicht korrekt bearbeitet hatte. Er könnte auch dafür gesorgt haben, dass Werner Kürten wegen seines inoffiziellen Alleingangs in den Niederlanden Ärger bekommen hatte.

»Wir sollten fortfahren, Frau Kollegin.« Kürten ging mit dem tragbaren Kassettenrekorder in der Hand im Hinterzimmer der Wache auf und ab. »Also … Genau hier, in diesem Raum haben Benjamin Terjung und Breidenbach gesessen und letzten Sommer dieses aufgezeichnete Gespräch geführt. Ein Opfer spricht über drei Täter. Den mysteriösen Dritten hat Benjamin später in der Kartei als Armin Maiberg identifiziert.«

Stefanie las aus eine Akte vor: »Maiberg wird als jugendlicher Intensivtäter geführt. Mehrere Verfahren vor dem Jugendgericht wegen Ladendiebstahls, Körperverletzung und so weiter.«

»Und dieser Armin Maiberg wurde heute tot aufgefunden. Erwürgt. Er hatte ein Mobiltelefon in der Tasche. Sie dürfen raten, wessen Telefon das ist.«

»Wenn Sie mich so fragen, gehörte es sicher nicht dem Toten, oder?«, sagte Stefanie Schäfer.

»Richtig, dieses Telefon gehört Benjamin Terjung.«

Kürten hielt Stefanie das Handy in einer durchsichtigen Plastiktüte vor die Nase.

»Armin Maiberg hatte Benjamin sein Mobiltelefon gestohlen.«

»Zusammen mit dem Fahrrad?«, wollte Stefanie Schäfer wissen.

»Nein, die Sache mit dem Fahrrad ist Monate her. Das war letzten Sommer. Aber dieses Mobiltelefon ist noch angemeldet. Ich habe beim Netzbetreiber nachgefragt.«

»Das heißt, Benjamin wurde von Armin zweimal beraubt.«

Kürten nickte. »Mindestens. Ich schätze, dass dieses Trio den Jungen viel öfter ausgenommen hat. Aber das Schlimmste kommt noch …« Kürten stapfte durch den Raum und fuhr fort: »Nach dem Gespräch mit Breidenbach wegen des gestohlenen Fahrrads hat sich Benjamin nie wieder bei der Polizei blickenlassen. Ich habe alle Anzeigen von Juni letzten Jahres bis heute überprüft.«

»Das Problem kennen wir. Er hat sich nicht mehr getraut, weil er Angst vor dieser Bande hatte. Sie haben ihm wahrscheinlich verboten, die Polizei einzuschalten. Sie werden ihm gedroht haben.«

Kürten sah seine Kollegin an. »Möglich. Oder er hatte Angst vor der Polizei.«

Stefanie Schäfer verstand kein Wort. Kürten drückte die PLAY-Taste auf dem Kassettenrekorder. Er hatte das Band so oft gehört, dass er fast glaubte, den Jungen persönlich zu kennen.

»Ich wollte in die andere Richtung, doch der dicke Typ hat mir den Weg abgeschnitten. Die kannten sich, alle drei.«

»Du wolltest vom Unfallort flüchten?«

»Mann, das war kein Unfall. Wie oft soll ich das denn noch sagen … Ach, Scheiße.«

»Setz dich wieder, Benjamin.«

»Ich will nicht mehr. Ich gehe nach Hause!«

»Wir sind noch nicht fertig. Also setz dich hin!«

»Nein!« Stühle rücken, ein Klatschen und ersticktes Stöhnen war zu hören. Dann brach die Aufnahme mit einem heftigen KLACK erneut ab. Stefanie Schäfer sah verblüfft von dem Kassettenrekorder auf. »Breidenbach hat den Jungen geschlagen?«

Kürten schaltete den Rekorder aus. Er bebte vor Wut.

»Verstehen Sie nun, was ich von unserem Herrn Kommissar und seinen Methoden halte? Beweisen kann ich mit dieser Aufnahme vor Gericht allerdings nichts.«

Stefanie stand auf. »Glauben Sie, Benjamin hat Armin … dass er seinen Peiniger erwürgt hat?«

»Das sollten wir ihn selbst fragen. Und zwar, bevor Breidenbach etwas im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum Mord an Armin Maiberg unternimmt.«

DER KÄFIG

14 UHR 44