Doppelwacholder - Helmut Robertz - E-Book

Doppelwacholder E-Book

Helmut Robertz

0,0

Beschreibung

Der siebenunddreißigjährige Hein kehrt erst 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft in seine Heimat im Selfkant zurück. Er ist körperlich angeschlagen, muss erst einmal zu Kräften kommen und sich neu orientieren, wie er sein weiteres Leben gestalten will. Die Lebensverhältnisse sind schwierig, die Möglichkeiten begrenzt und die Wirtschaft ist durch die ausbleibende Währungsreform zum Stillstand gekommen. Hein merkt schnell, dass die Welt nicht auf ihn gewartet hat. Als es wieder aufwärts geht, gründet er einen Betrieb und beginnt Schnaps herzustellen, den er an die Gaststätten verkauft. Da steht die niederländische Auftragsverwaltung ins Haus und sein Heimatort wird ein Teil der Niederlande. Bei Nacht und Nebel schafft er das Inventar seines Betriebes in den nächsten Ort, um nicht durch die Grenze vom Großteil seiner Kundschaft abgeschnitten zu werden. Schließlich findet er im Dachgeschoß eines Viehstalles eine neue Bleibe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 108

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Mila

Inhaltsverzeichnis

1. Heimkehr

2. Orientierung

3. Im Keller

4. Währungsreform

5. Kleinbahnfahrt

6. Ein Aprilabend

7. In einer Birgdener Wirtschaft

8. In Gillrath ist was los

9. Ein kalter Februarmorgen

10. Bei Mutti Kriege

11. Was danach kam

1 Heimkehr

Die Dampflok schnaubte mächtig, der Geruch verbrannter Kohle sammelte sich im Waggon. Hein bemerkte, dass in dem alten Wagen nicht mehr alle Scheiben vorhanden waren und deshalb die Gerüche von außen ungehindert hineinströmen konnten. Auch der Fahrtwind war spürbar. Es zog. Aber das störte ihn nicht wirklich. Die Außentemperatur war jetzt im Frühjahr angenehm. Nach der langen Zeit würde ihn die letzte Etappe einer langen Heimfahrt nicht noch aus der Ruhe bringen. Mehr als vier Jahre war er nicht mehr hier gewesen. Und jetzt war er so kurz vor Zuhause.

Sein Äußeres erregte in diesen Tagen des Jahres 1948 kein besonderes Aufsehen. Er hatte sich den linken Arm gebrochen, dementsprechend trug er einen Gipsverband und zusätzlich eine Stütze, die den Arm in waagerechter Haltung fest am Körper fixierte und die Schulter ruhigstellte. Seine Kleidung war abgewetzt und saß schlecht. Die Ärmel waren zu kurz, die Hosenbeine zu lang. Die Hose war im Bund viel zu weit, ein Gürtel sorgte für den nötigen Halt, musste aber durch Hosenträger unterstützt werden. Die Haare waren raspelkurz geschnitten, die letzte Rasur des Bartwuchses lag schon ein paar Tage zurück. Der ganze Mann war hager, unterernährt und sah nicht besonders gesund aus.

Der Zug war gut gefüllt, aber dieses Mal nicht so voll wie sonst häufig in dieser Zeit. Die Städter aus Aachen, Mönchengladbach und Köln kamen zu Hunderten, um bei den Bauern in den Selfkantdörfern Kartoffeln und Gemüse gegen Wertsachen zu tauschen. Diese Hamsterfahrten hatten etwas nachgelassen. Zudem hatten die Bauern im zeitigen Frühjahr noch nicht so viel geerntet, was sie hätten tauschen können. Zeitweise hatte man Güterwaggons an die Lok gehängt, um die Menschenmassen auf den Waggons stehend zu befördern. Die Güterwagen waren eigentlich zum Transport der Ziegel der örtlichen Ziegeleien oder der Zuckerrüben zur Erntezeit im Herbst gedacht, wurden aber für die Hamsterfahrten einfach umfunktioniert.

„Die Fahrkarten bitte…“ tönte es durch den Wagen der Kleinbahn. Der Zug war in Geilenkirchen losgefahren, hatte den Anstieg aus dem Wurmtal heraus mit Mühe geschafft und rollte jetzt über das platte Land auf Gillrath zu. Als der Bahnbedienstete auf ihn zutrat, erkannte er ihn gleich. Schmaler und älter zwar, er mochte wohl ungefähr sechzig Jahre sein, der Schnauzer fehlte, aber kein Zweifel, das war Plum, der gleich neben seinem Elternhaus wohnte. Die Uniform war noch die alte, war aber deutlich zu groß. Einige Aufnäher waren abgetrennt worden, der Stoff hatte dort eine deutlich andere Färbung.

„Ech höb noch keen Fahrkaat, Plum, enns bös an de Wehrer Bahn.“

„Ich habe noch keine Fahrkarte, Herr Plum, einmal bis Wehrer Bahn.“

Der Schaffner musterte ihn aufmerksam, weil der Reisende seinen Namen genannt hatte, aber er kam nicht drauf, woher er ihn kennen könne. Dann dämmerte es ihm.

„Hein? Bös du datt?„Hein? Bist du das?“

„Ja“, entgegnete dieser knapp.

„Om Jodeswille wat bös du dönn jewuurde.“„Mein Gott bist du dünn geworden. Zurück aus der Gefangenschaft?“

„Ja, ich komme gerade an.“

„Dann brauchst du keine Fahrkarte“, bestimmte er knapp und verschloss seine Umhängetasche sofort wieder, die er schon geöffnet hatte.

„Ah“, machte Hein und ließ das Reichsmarkstück, das er bereithielt, wieder in seiner Jackentasche verschwinden.

„Spätheimkehrer sollen ja nicht auch noch für die Heimfahrt bezahlen“, befand Plum. ‚Spätheimkehrer‘, das Wort hörte er zum ersten Mal.

„Die höbbe dech evel lang doa jehaute,“„Da haben sie dich aber lange festgehalten,“ setzte Plum das Gespräch fort.

„Jo ,doa wor et su schuen,“„Ja, es war so schön da“, sagte Hein sarkastisch und lächelte verkniffen.

„Hauptsache, du lebst und bist wieder zu Hause“, antwortete Plum, der merkte, dass dem Gegenüber nicht nach Erzählen zumute war. Arbeiter der Ziegelei Teeuwen, die noch vor Gillrath lag, tauchten vor dem Fenster auf, winkten irgendjemandem im Zug zu und zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Sie standen an einer Weiche, die ein Nebengleis aufs Werksgelände führte. Hagere Gestalten, unterernährt, einem fehlte der linke Arm.

„Ja dann, eine gute Heimkehr, wir sehen uns,“ verabschiedete sich Plum und wandte sich dem nächsten Fahrgast zu. Jetzt drehte sich der Mann um, der in der Reihe vor Hein saß und ihm den Rücken zugewandt hatte. Sein Gesicht war entstellt, er hatte wohl eine schwere Verletzung am Kopf davongetragen.

„Hein van de Bahn?“

„Hein von der Bahn?“ fragte er.

„Ja“, sagte dieser und grübelte jetzt seinerseits, wer das jetzt wieder war.

„Kenn se mech niet mi? Ech bönn Jupp.“

„Kennst Du mich nicht mehr? Ich bin Jupp.“

„Sieker. Jupp“

„Doch klar, Jupp,“ log er, er hatte ihn nicht erkannt, zu sehr hatte die schwere Verletzung das sofortige Erkennen verhindert.

Der Zug hielt in Gillrath, wo nur einzelne Fahrgäste ausstiegen. Nach kurzer Zeit schnaufte die Dampflok wieder los. Jupp hatte bemerkt, dass sein alter Bekannter wegen der Spuren seiner Verletzung verunsichert war, ob er dies ansprechen sollte. Deshalb fing er selber davon an.

„E Joar bön ech en e Lazarett jeweas“

„Ein Jahr bin ich im Lazarett gewesen, fürchterlich. Und das geht auch nie mehr ganz weg. Aber, was soll ich machen?“

„Ja, was hat man uns da angetan?“

„Mein Bruder Fritz und die beiden von Hensgens sind gar nicht mehr nach Hause gekommen. Da geht es uns doch noch besser. Wo warst du, in Russland?“

„Im Kaukasus.“

„Ist das Russland?“

„Ja und nein, ein Teil ist auch Georgien. Wir mussten im Gebirge arbeiten. Auf über 2000 Metern Höhe.

Straßenbau. Eine Knochenarbeit. Hoffentlich nie wieder.

Aber jetzt bin ich auf dem Heimweg und das schon seit Tagen. Immer nur Zugfahren. Ich bin über Kiew und Warschau gefahren. Und dann war erst mal Stopp in Frankfurt. Frankfurt an der Oder. Da kam ich in ein Lager, Gronenfelde, zwei Tage lang. Untersuchungen und Papiere beantragen. Und dann wieder warten, bis alle Papiere fertig waren. Anschließend ging es über Berlin und dann durch die sowjetisch besetzte Zone. Na ja, und jetzt bin ich hier und fast am Ziel.“

„Was ist mit deinem Arm passiert?“

„Gebrochen. Das wird bald wieder.“

Am Bahnhof Birgden füllte sich der Zug. Arbeiter und noch mehr Arbeiterinnen der Weberei Schniewind stiegen zu. Anscheinend war der Betrieb dort drei Jahre nach Ende des Krieges wieder angelaufen. Die Plätze im Waggon reichten kaum noch. Eine Fortsetzung des Gespräches stockte daher. In Birgden waren auffallend viele Häuser beschädigt, einigen fehlte das komplette Dach. Andere standen nur noch als Brandruine. Der Zug rollte weiter. Der nächste Ort Schierwaldenrath war noch stärker zerstört als Birgden. Eigentlich war kein Haus, das Hein zu sehen bekam, unbeschädigt. In Schierwaldenrath gab es eine Pause. Der Zug musste warten bis der Gegenzug aus Tüddern eingetroffen war.

Die Strecke war nur eingleisig. War ein Zug in umgekehrter Fahrtrichtung unterwegs, galt es im zweigleisigen Bahnhof von Schierwaldenrath zu warten, bis die Strecke wieder frei war. Als der Zug schließlich Gangelt erreichte, stiegen viele Fahrgäste aus. Mit den Verbliebenen ging es weiter Richtung Süsterseel, Wehr und Tüddern.

Der Selfkant ist der westlichste Zipfel Deutschlands und ragt ins niederländische Limburg hinein. Neben den bereits genannten Orten Süsterseel, Wehr und Tüddern gehören auch elf weitere größere und kleinere Dörfer zu diesem Gebiet. Der geographische Zipfel von der Landesgrenze bis zu einer Linie von Gangelt nach Saeffelen einschließlich dieser beiden Orte ist der eigentliche Selfkant. Der Name leitet sich vermutlich von Saeffelbachkante ab, gemeint ist das Saeffelbachufer.

Man könnte auch noch weitere Orte diesem Gebiet zurechnen. Unterscheidet die angrenzenden Dörfer doch wenig von den eigentlichen Selfkantorten. Im Laufe der Geschichte hat der Selfkant mehrfach seine Zugehörigkeit wechseln müssen. Gehörte er bis 1815 zum französischen Kanton Sittard, entschied der Wiener Kongress, dass er fortan zum Teil der preußischen Rheinprovinz wurde. Das genannte Gebiet ist etwa 40 Quadratkilometer groß und aufgrund der ländlichen Struktur dünn besiedelt. Es wurde lange von der Landwirtschaft geprägt. Getreide, Kartoffeln und Zuckerrüben wurden hauptsächlich angebaut. Die Verarbeitung des Getreides erfolgte in diversen in diesem Gebiet entstandenen Windmühlen. Eine Eigenheit ist die Sprache der Menschen, die ein Platt sprechen, das holländische, sagen wir limburgische Elemente mit plattdeutschen Begriffen mischt und dabei noch deutliche Einflüsse des Französischen aufweist. So spiegelt sich das Hin und Her der Gegend im Laufe der Geschichte in der Sprache der Menschen. Das Selfkänterplatt ist aber nicht einheitlich, sondern von Ort zu Ort gibt es unterschiedliche Ausdrücke für die gleiche Sache.

In Süsterseel verabschiedete sich auch Jupp. Noch einen guten Kilometer, dann war das Ende einer Reise von mehr als dreitausend Kilometern erreicht. Hein freute sich auf das Zuhause und fühlte sich gleichzeitig unendlich müde. Der Zug fuhr langsam zum Haltepunkt „Wehrer Bahn“. Heins Elternhaus. Der Ort Wehr lag abseits der Bahnstrecke, hatte aber mit der Wehrer Bahn einen eigenen Bahnhof einen knappen Kilometer vom Ort entfernt.

Als Hein aus dem Zug ausstieg, warf er einen Blick auf den Bahnhof. Eigentlich sah das Gebäude so aus, wie es immer ausgesehen hatte. Ein durchaus imposanter zweigeschossiger Bau mit einigen kleinen Turmspitzen aus verzinktem Blech. Dazu zwei Giebel, die die Mauern überragten. Auf der Frontseite war ein weiß getünchter langer Streifen mit dem Schriftzug „Wehrer Bahn“. Die Schrift war aber verwittert, das Weiß war nicht wirklich weiß. Aber auf den ersten Blick war doch alles intakt und erhalten.

Hein stellte fest, dass der Seiteneingang, der gleich zu der Treppe ins Obergeschoß führte, wo die Wohnräume waren, verschlossen war. Also ging er weiter um das Haus herum zum Eingang der Gaststätte. Jetzt sah er doch noch Folgen des Krieges. Ein Geschoss musste ein ziemliches Loch im Mauerwerk des ersten Stockes verursacht haben, war aber bereits notdürftig zugemauert.

In der Gaststube standen zwei Männer an der Theke schweigend vor einem Glas Bier. Die Gaststube hatte sich verändert. Die Theke war einfacher und kürzer als früher. Die Wandvitrine mit der spiegelnden Rückwand war verschwunden. Der Wirt hob kurz den Kopf, als Hein eintrat und grüßte, er erkannte ihn nicht. Hein ging gleich hinter die Theke. Überrascht schaute der Wirt auf, öffnete den Mund und wollte etwas sagen, stockte dann, erkannte seinen Bruder und sagte „Hein“.

„Mattjö,“ erwiderte dieser. Schweigend gaben sich die Männer die Hand und klopften einander auf die Schultern.

„Dat wuurd ever och Tied,“

„Das wurde aber auch langsam Zeit,“ sagte Mattjö, „dass du kommst.“

„Et jing net fröhjer“

„Ja, ging nicht früher“, sagte Hein.

„Wat bössde dönn jewurde,“

„Du bist ganz schön schmal geworden.“

„Tja. Ist Mutter da?“

„Ja“, sagte Mattjö, „die sitzt oben. Willst du ein Bier?“ fragte Mattjö.

„Jetzt nicht, vielleicht später. Mein Magen.“

„Oder ein Schnäpschen? Einen Wacholder?“

Hein winkte ab, verließ die Gaststube und ging die Treppe rauf. Er ging in die Küche, die jetzt gleichzeitig eine Wohnstube war. Dort saß seine Mutter, die schaute überrascht auf, erkannte ihn sofort, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie stand auf und nahm ihn in den Arm.

Sie wollte etwas sagen, schaffte es aber nicht. Ihre Lippen bebten. Wiederholt öffnete sie den Mund, aber es gelang ihr noch nicht zu sprechen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Die beiden verharrten eine Zeitlang in der Umarmung. Nach einiger Zeit sagte sie: „Hein, schön dass du kommst. Ich habe immer gehofft, dass du eines Tages wieder nach Hause kommst.“

„Glaub mir, ich wäre gerne früher gekommen. Andres hat mir eine Postkarte ins Lager geschickt, auf der stand, dass meine Feldpostkarten hier nie angekommen sind“

„Ja, das stimmt. So habe ich nur über Umwege erfahren, dass du noch lebst und in russischer Gefangenschaft bist.“

Die Mutter war sichtlich gealtert. Er rechnete schnell im Kopf durch, wie alt sie jetzt war. Geboren 1872, dann war sie also 76 Jahre. Meine Güte. Sie war aber für ihr Alter noch sehr beweglich. Auch ihr sah man die Strapazen und Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit deutlich an.

„Haben sie dir nichts zu essen gegeben? So wie du aussiehst.“

„Jowahl, evel et joav ömmer nur Zupp“

„Ja, es gab fast immer nur Suppe. Und die wurde immer dünner. Gestern haben sie mich gewogen. Für die Entlassungspapiere. Gerade mal 48 Kilo.“

„Ach Gott, Junge. Willst du jetzt was essen?“ fragte seine Mutter. „Es sind noch Kartoffeln da.“

„Ja gerne, Hauptsache keine Suppe.“

„Hm. Es ist Kartoffelsuppe,“ sagte die Mutter jetzt etwas leiser. „Wenn du willst, kannst du auch noch ein Stück trockenes Brot mit Siepnaat haben.“

„Dann mach ich mir gleich eine Siepnaatschnitte.“

Siepnaat ist ein Zuckerrübensirup, der als Brotaufstrich verwendet wird. Die hier häufig angebauten Zuckerrüben werden in kleine Stücke geschnitten. Aus diesen Rübenschnitzeln wird ein Saft gepresst, der dann solange eingedickt wird, bis er dunkel und streichfähig ist. Er schmeckt würzig und natürlich überwiegend süß.

„Habt ihr noch mal was von Johann gehört?“ fragte Hein.

„Ne, leider gar nicht. Der kommt nicht mehr zurück,“ sagte sie betrübt. Johann war ihr drittältester Sohn. Er war während des Krieges bei Narvik in Norwegen als