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Unerwartet, aber heiß ersehnt: Annie ist schwanger! Dabei dachte die hübsche Hebamme immer, sie könne keine Kinder bekommen. Doch eine Urlaubsromanze mit einem Traummann hat alles geändert. Der aus heiterem Himmel in Cornwall auftaucht: Dr. Castillo – ihr neuer Boss!
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Seitenzahl: 195
IMPRESSUM
Dr. Daddy und die Liebe erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2009 by Harlequin Books S.A. Originaltitel: „Spanish Doctor, Pregnant Midwife“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBENBand 36 - 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Michaela Rabe
Umschlagsmotive: "Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 6/2024
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751529808
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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In der spanischen Kapelle war es angenehm kühl. Annie glitt auf eine der Kirchenbänke und spürte, wie die andächtige Stille sie mit dem ersehnten Frieden erfüllte.
Noch zwei Tage, dann endete ihr Urlaub, und sie würde nach England zurückkehren müssen. In Penhally Bay wartete Arbeit auf sie – und die Realität, die sie hier unter südlicher Sonne weit von sich geschoben hatte.
Die Auszeit war dringend nötig gewesen. Ihre Eltern hatten sie zwar bedrängt, sie wenigstens auf einem Teil der Kreuzfahrt zu begleiten, die sie über Weihnachten und Neujahr gebucht hatten. Doch sie hatte sanft, aber bestimmt abgelehnt. Nach der Trennung von ihrem Verlobten Robert hätte es ihr gerade noch gefehlt, allein unter glücklichen Familien auf einem Luxusdampfer festzusitzen. Oder schlimmer noch, Weihnachten bei ihrer Schwester Fiona und ihrer jungen Familie in Schottland zu verbringen.
Selbst über die Feiertage in Penhally Bay zu bleiben, hätte sie nur schwer ertragen.
Aber die Ferien in dem kleinen andalusischen Dorf mit seinen blendend weiß getünchten Häusern hatten ihr gutgetan. Sie hatte die engen Gassen erkundet und war stundenlang über die Hügel gewandert, sodass sie abends todmüde ins Bett fiel. Bedrückende Träume hatten so keine Chance gehabt.
Natürlich würde die innere Leere nie ganz verschwinden, aber gegen Ende ihres Urlaubs war Annie so weit, dass sie wieder nach vorn blicken konnte. Was auch immer ihr die Zukunft bringen mochte.
Eine Gruppe aufgeregt flüsternder Kinder, begleitet von einer hochschwangeren Frau, brachte Leben in die stillen Räume. Als Annie die süßen Gesichter mit der olivfarbenen Haut und den glänzenden schwarzen Haaren sah, zog sich ihr das Herz zusammen. Besonders ein Mädchen erregte ihre Aufmerksamkeit. Anders als die anderen schwieg es und blickte sich nur mit großen ernsten Augen um. Gleichzeitig hielt es sich ein bisschen abseits, trotz wiederholter Bemühungen der Schwangeren, sie in den Kreis der Kinder zu holen.
Annie spürte die vertraute Sehnsucht in sich aufsteigen und betrachtete neidisch den runden Leib der werdenden Mutter. Der Geburtstermin schien nicht mehr weit, und Annie hätte sonst was gegeben, um an ihrer Stelle zu sein.
An Adoption hatte sie auch schon gedacht. Es gab wer weiß wie viele Kinder, die Liebe brauchten, und davon hatte Annie nun wirklich viel zu verschenken. Sie war überzeugt, dass sie eine gute Mutter sein würde, gäbe man ihr nur die Chance dazu.
Sie seufzte. Leider schienen Männer damit ihre Probleme zu haben. Nachdem sie sich mehr schlecht als recht damit abgefunden hatte, dass sie keine Kinder bekommen konnte, hatte sie Robert vorgeschlagen, eines zu adoptieren. Er reagierte abwehrend und schien sich mit der Idee überhaupt nicht anfreunden zu können. Im Gegenteil, im Verlauf der folgenden Monate zog er sich mehr und mehr von ihr zurück, bis sie ihm schließlich die Wahrheit entlockte: Eine Zukunft ohne eigene Kinder konnte er sich nicht vorstellen.
Als er sie verließ, war sie am Boden zerstört. Auf Mutterglück verzichten zu müssen, war schon ein hartes Los, aber dass nun auch der Mann, der sie hatte heiraten wollen, plötzlich entdeckte, dass er sie nicht bedingungslos lieben konnte … Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihr.
Trotzdem wollte sie sich nicht unterkriegen lassen. Sie würde sich auf ihre Arbeit als Hebamme konzentrieren und ihre Liebe all den Winzlingen geben, die sie auf die Welt holte. Und sie würde etwas aus ihrem Leben machen. Ein neues Jahr, ein neuer Anfang.
Annie straffte die Schultern, nahm ihre Handtasche und stand auf. Sie war schon auf dem Weg zum Ausgang, als hinter ihr ein Schmerzensschrei ertönte. Alarmiert fuhr sie herum und sah, wie die Schwangere sich krümmte, beide Hände auf den geschwollenen Bauch gepresst.
Augenblicklich war Annie an ihrer Seite. „Was ist los? Geht es Ihnen nicht gut?“
Die Frau sah sie an, Schmerz und Furcht in den großen braunen Augen. „Bebé“, keuchte sie.
„Wann soll Ihr Baby kommen?“, fragte Annie ruhig, aber die Frau schüttelte den Kopf. Anscheinend sprach sie kein Englisch. Annie verkniff sich einen frustrierten Seufzer. Ihre Spanischkenntnisse waren leider mehr als mager. Sie brauchte einen Dolmetscher, und zwar schnell.
„Sie sagt, Baby kommt. Jetzt.“
Annie legte die Hand auf den Bauch der Schwangeren, spürte die Kontraktionen und fing an zu zählen. Die Wehen kamen kurz hintereinander, alle zwei Minuten. Ja, das Baby war auf dem Weg.
Annie ging neben dem Mädchen, das sie angesprochen hatte, in die Hocke. „Wie heißt du, Sweetheart?“
„María.“ Sie deutete auf die Frau. „Das ist Señora Lopez.“
„Okay, María, kannst du mir helfen?“ Als die Kleine nickte, fuhr Annie mit erhobener Stimme fort, um das Geschnatter der anderen Kinder zu übertönen: „Hat sie noch mehr Kinder?“
María nickte wieder. „Drei.“
„Frag sie bitte, ob es normale Geburten waren. Dann brauche ich jemanden, der ein Handy dabeihat. Wir müssen einen Krankenwagen rufen.“
Eine alte Frau mit verwittertem Gesicht griff in die Tasche ihres voluminösen schwarzen Rocks und förderte ein Handy zutage. Annie verstand kein Wort von dem, was sie hineinmurmelte. Hoffentlich verständigt sie den Notdienst.
In der Zwischenzeit hatte María mit der werdenden Mutter geredet und hörte nun aufmerksam zu, während diese antwortete.
„Sie sagt, alle ihre Kinder kommen schnell. Baby soll erst in einer Woche kommen.“
„Danke, María, das hast du gut gemacht. Jetzt brauchen wir einen Raum, wo Mrs Lopez sich hinlegen kann. Gibt es hier so etwas?“
Während das Mädchen in die Menge fragte, die sich inzwischen um sie herum gebildet hatte, spürte Annie, wie Mrs Lopez ihre Hand umklammerte, als die nächste Wehe sie erschütterte. Es schien unvermeidlich, dass das Baby hier zur Welt kam. Annie vermutete, dass der Krankenwagen noch eine Weile brauchen würde. In den schmalen, gewundenen Gassen konnte man nicht schnell fahren.
Auf einmal teilte sich die Schar der unaufhörlich schwatzenden Frauen, und ein hochgewachsener dunkelhaariger Mann erschien. Die braunen Augen und die ausgeprägten Wangenknochen waren das Erste, was Annie an ihm auffielen. Dann wurde sie Zeugin, wie er in schnellem Spanisch mit der werdenden Mutter sprach, die immer noch Annies Hand hielt. Sekunden später entspannte sie sich sichtlich.
„Mi hijo“, sagte die alte Frau mit dem Handy. „Médico.“
Mein Sohn. Arzt. Auch Annie verspürte grenzenlose Erleichterung. Jetzt trug sie nicht mehr allein die Verantwortung, und vielleicht sprach er sogar Englisch. María gab zwar ihr Bestes, aber es dauerte quälend lange, bis sie Annies Fragen und Anweisungen übersetzt hatte.
Der Mann beugte sich hinab und schwang die Frau auf seine Arme, als wäre sie federleicht. Seine Mutter bedeutete ihm, ihr zu folgen, und die anderen Frauen kümmerten sich derweil um die Kinder. Annie fiel auf, dass die kleine María allerdings wie selbstverständlich mitging.
„Ich bin Hebamme“, sprach Annie den dunkelhaarigen Mann an. „Sprechen Sie Englisch?“
Er blieb kurz stehen und sah auf sie hinunter. „Sí. Ja, ich spreche Englisch. Ich bin Dr. Rafael Castillo, Geburtshelfer und Gynäkologe. Meine Mutter hat einen Krankenwagen gerufen, aber er wird noch eine Zeit lang brauchen. Er muss erst aus der Stadt kommen, und die Straßen sind nicht besonders gut. Haben Sie sie schon untersucht?“
„Dazu war bisher keine Gelegenheit, aber die Abstände zwischen den Wehen sind gering. Die Geburt steht kurz bevor.“
Er nickte. „Ich glaube, Sie haben recht.“ Als er lächelte, entblößte er ebenmäßige weiße Zähne. „Sieht ganz so aus, als müssten wir beide das Baby auf die Welt holen – und zwar hier.“
Noch während er sprach, schrie Señora Lopez wieder auf und stieß ein paar Worte hervor.
Sie hatten das Priesterzimmer erreicht, und Dr. Castillo legte seine Patientin auf die schmale Liege, die dort stand. Dabei sprach er ruhig auf sie ein.
„Sie sagt, das Baby kommt“, wandte er sich dann an Annie, wobei er sich das Jackett auszog und zügig die Ärmel seines weißen Hemds aufrollte. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Annie entdeckte ein Waschbecken in der Ecke und ging hinüber, um sich Hände und Arme zu waschen. Dr. Castillo folgte ihr. Noch während er sich die Seife von der Haut spülte, machte Annie sich daran, die Frau zu untersuchen.
„Das Köpfchen, Dr. Castillo! Ich kann das Baby holen, wenn Sie ihr sagen, was sie tun muss.“ Sie wandte sich an María. „Kannst du mir ein paar Handtücher oder Laken besorgen? Irgendetwas, worin ich das Baby einwickeln kann?“
Als María losrannte, wandte Annie sich wieder an den Arzt. „In der wievielten Woche ist sie?“
„In der neununddreißigsten.“ Er sprach mit deutlichem Akzent, aber sein Englisch war perfekt.
„Und das weiß sie genau?“
„Ja. Sie heißt übrigens Sofía.“ Als er sich wieder der Patientin zuwandte und etwas zu ihr sagte, musste Annie kein Spanisch können, um zu verstehen, dass er sie bat zu pressen.
In dem Moment, in dem María und die Mutter des Arztes an der Tür erschienen, in den Armen einen Stapel Tücher und Schals, wurde die Schulter des Babys sichtbar. Doch dann ging es zu Annies Entsetzen nicht weiter. Das Baby steckte im Geburtskanal fest. Ihr Herz fing an zu rasen. Wo blieb der Krankenwagen?
Im selben Augenblick wurde ihr klar, dass es ihnen auch nichts nützen würde, wenn er in den nächsten Minuten auftauchte. In ihrem jetzigen Zustand war Sofía nicht transportfähig.
Annie blickte auf und sah direkt in Rafael Castillos braune Augen.
„Was ist?“, fragte er ruhig.
„Das Baby steckt fest. Ich glaube, wir haben hier eine Schulterlage.“
Sein besorgter Ausdruck verriet, dass er den Ernst der Situation erfasst hatte. Weitab von jedem Krankenhaus, ohne die notwendigen Instrumente, bestand die Gefahr, dass sie das Baby verloren.
Annie trat beiseite, damit er Sofía untersuchen konnte. María und die ältere Frau beobachteten derweil stumm das Geschehen. Weitere Minuten verstrichen, und die Presswehen blieben ohne Wirkung. Das Baby bewegte sich keinen Millimeter.
„Ich werde meine Mutter bitten, mir zu helfen, Sofías Beine Richtung Schultern zu ziehen“, verkündete Rafael schließlich mit grimmiger Miene. „Sie drücken gleichzeitig so fest es geht auf das Schambein.“
Er klang kompetent und besonnen, und auf einmal war Annie sicher, dass nur er Mutter und Kind retten konnte.
Sobald Sofías Beine in der richtigen Position lagen, folgte Annie seinen Anweisungen. Mit einem schmerzerfüllten Aufschrei presste Sofía ein letztes Mal, und das Baby glitt in Annies Arme. Sekunden danach ertönte sein erster empörter Schrei.
Annie und Rafael sahen sich über die erschöpfte Mutter hinweg an. Ihre Blicke verfingen sich, dann lächelte er breit, und in seinen Augenwinkeln erschienen Lachfältchen. Unwillkürlich hielt Annie den Atem an.
„Ein gesundes Mädchen“, sagte er da und brach den Zauber, der sie für einen winzigen Moment gefangen gehalten hatte. Dann wandte er sich an die Mutter, um die Worte auf Spanisch zu wiederholen.
Annie vergewisserte sich rasch, dass das Neugeborene frei atmen konnte, und wickelte es in ein Tuch, bevor sie es seiner Mutter reichte.
„¡Muchas gracias!,Rafael“, flüsterte Sofía bewegt und schmiegte ihr Kind an sich. Sie sah auf, suchte Annies Blick. „¡Mil gracias!, Señora.“
Draußen ertönte die Sirene des Krankenwagens und wurde schnell lauter. Wenig später stürmten auch schon die Sanitäter ins Zimmer.
Rafael erstattete Bericht, und Annie betrachtete ihn dabei. Er war wirklich der attraktivste Mann, dem sie je begegnet war! Sein welliges schwarzes Haar trug er etwas zu lang, und eine Locke war ihm in die Stirn gefallen. Ungeduldig schob er sie mit seinen langen, schlanken Fingern beiseite.
Er hatte hohe Wangenknochen, eine leicht gebogene Nase, und in seinem olivbraunen Gesicht erstrahlten seine ebenmäßigen Zähne blendend weiß. Unter dem weißen Hemd zeichnete sich ein muskulöser Oberkörper ab, und die maßgeschneiderte Hose umfing lange, kräftige Beine, die auf ein regelmäßiges Training im Fitnessstudio schließen ließen. Alles in allem strahlte er ein Sex-Appeal aus, dem Annie sich nicht entziehen konnte. Jemanden wie Dr. Rafael Castillo hatte sie bisher nicht kennengelernt. Der Mann war atemberaubend!
„Gut gemacht“, sagte er jetzt zu ihr. „Entschuldigen Sie, aber ich weiß noch nicht mal Ihren Namen.“
„Annie“, antwortete sie. „Annie Thomas. Sie brauchen mir nicht zu danken, ich bin froh, dass ich helfen konnte. Allerdings weiß ich nicht, ob ich es ohne Sie geschafft hätte … zusammen mit meinen beiden Helferinnen hier.“ Lächelnd deutete sie mit dem Kopf auf die alte Frau und das Mädchen, die sich entzückt über das Baby beugten.
„Meine Mutter hat mich angerufen. Zum Glück hatte ich in einem Café in der Nähe auf sie gewartet. Sie wollte hier nur ein Gebet sprechen, bevor wir zum Mittagessen nach Hause fahren.“
Da richtete sich seine Mutter auf und blickte zu ihnen herüber. Rafael stellte sie einander vor. Señora Castillo nickte heftig und redete gestenreich auf ihren Sohn ein.
„Sie sagt, Sie müssen unbedingt mit uns zu Mittag essen.“
Sofía wurde mit ihrem Baby auf eine Trage gelegt, und Rafael half dabei.
„Sollten wir Sofía nicht ins Krankenhaus begleiten?“, fragte Annie.
Seine weißen Zähne blitzten auf, als er sie lächelnd ansah. „Das übernehme ich. Für Sie ist kein Platz im Wagen. Außerdem haben Sie Urlaub, nicht? Ich bin sicher, dass Sie Besseres zu tun haben – selbst wenn Sie sich nicht dazu entschließen können, meiner Familie beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten.“
Unerwartet war Annie enttäuscht. Ob es nun daran lag, dass sie ihre Patientin nicht wie gewohnt bis zum Schluss betreuen konnte, oder daran, dass Rafael für immer aus ihrem Leben verschwinden würde, konnte sie nicht sagen. Ach, eigentlich war sie überhaupt nicht in Stimmung für ein romantisches Abenteuer. Das würde doch nur mit Herzschmerz enden. Und davon hatte sie vorerst mehr als genug!
„Was ist mit der Kleinen?“ Sie warf einen Blick auf María, die sie mit ihren großen dunkelbraunen Augen aufmerksam beobachtete.
Rafael lachte auf und kniff das Mädchen liebevoll ins Kinn. „María fährt mit meiner Mutter nach Hause. Die ganze Familie trifft sich zu Neujahr hier. Vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal und kommen doch zu uns, und ich sehe Sie nachher wieder?“
Als er fragend eine Augenbraue hochzog, rieselte ihr ein verwirrender Schauer über den Rücken. Was war an diesem Mann, dass sie sich unter seinem Blick befangen und auf eine ungewohnt scheue Weise weiblich fühlte? Sie hatte ihn doch gerade erst kennengelernt!
Vielleicht lag es an seinen tiefgründigen dunklen Augen und dem beeindruckenden männlichen Körper? Ihre Alarmglocken klingelten, wenn sie ihn nur ansah, und sie wusste, dass es klüger war, so viel Abstand wie möglich zu ihm zu halten. Und zwar schon bald!
Sie öffnete den Mund, um dankend abzulehnen, aber so weit kam sie nicht. Mit einem selbstsicheren Lächeln fügte er hinzu: „Eigentlich können Sie nicht Nein sagen. Mamá würde es nicht zulassen. Sagen wir, ihr Wort ist Gesetz.“ Er wandte sich zum Gehen. „Der Krankenwagen fährt gleich ab, ich muss gehen.“
Doch dann hielt er inne und sah Annie intensiv an. „Ich hoffe sehr, dass Sie kommen werden“, sagte er leise. Gleich darauf hatte er mit langen Schritten das Zimmer verlassen.
Annie war noch immer leicht benommen von den beunruhigenden Gefühlen, die er in ihr auslöste, da spürte sie, wie jemand ihren Arm umfasste und daran zog. Es war klar, was Mamá Castillo wollte. Und als dann auch noch María ihre schmale Hand in Annies schob, wusste sie, dass sie mit der Familie Castillo essen würde, ob sie nun wollte oder nicht.
Allerdings hatte sie heute nichts Besonderes vor, und wenn sie ehrlich war, so hatte sie genug vom Alleinsein. War es nicht einer ihrer guten Vorsätze zum neuen Jahr gewesen, sich wieder ins Leben zu wagen und das Beste daraus zu machen?
Über den wahren Grund, warum sie mitgehen wollte, mochte sie nicht zu lange nachdenken. Die Aussicht, Rafael zu sehen, lockte sie mit unwiderstehlicher Kraft. Und warum auch nicht? Bald würde sie sowieso wieder abreisen und niemanden von hier jemals wiedersehen. Wozu also vernünftig sein? Sie hatte doch nichts zu verlieren.
„Gut, dann komme ich gern“, sagte sie.
Und als María für sie übersetzte, glitt ein zufriedenes Lächeln über die verwitterten Züge von Señora Castillo.
Annie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie zum Haus der Castillos kommen würden. Daher konnte sie ihre Überraschung kaum verbergen, als Mamá Castillo ihren faltenreichen Rock hob, ein kleines Moped bestieg und Annie bedeutete, sich hinter sie zu setzen.
Annie blickte zu María hinüber.
Das Mädchen nickte. „Sie sagt, sie nimmt Sie mit. Ich laufe. Es ist nicht weit.“ María deutete auf eine enge Gasse, an deren Ende mehrere weiß getünchte Häuser im Sonnenlicht schimmerten. „Da oben.“
„Kann ich nicht mit dir gehen?“
„Nein, Sie fahren mit Großmutter. Sie sagt, es ist zu weit und zu heiß in der Sonne für Sie.“
Widerspruch schien bei Mamá Castillo zwecklos. Ihr Gesicht verriet, dass sie erwartete, dass sie endlich aufstieg. Annie fügte sich widerstrebend.
Als sie den Hügel hinaufknatterten, stoben Hühner und Ziegen in alle Richtungen davon. Mehr als einmal kniff Annie erschrocken die Augen zusammen. Die Fahrt dauerte keine zehn Minuten, und Mamá Castillo drosselte nicht ein einziges Mal die Geschwindigkeit.
Endlich hielten sie vor einer beeindruckenden Finca, und Annie glitt erleichtert vom Moped. Es hatte Momente gegeben, da war sie nicht sicher gewesen, ob sie die wilde Fahrt überleben würde!
Kaum hatte sie wieder sicheren Boden unter den Füßen, war sie von Männern und Frauen umringt und hatte das Gefühl, als hätte sich das halbe Dorf versammelt, um sie zu begrüßen. Zwei junge Männer besaßen eine verblüffende Ähnlichkeit mit Rafael, und auch in den Gesichtern von mindestens einem halben Dutzend Frauen glaubte sie seine Züge wiederzuerkennen. Unzählige Kinder tobten lachend und kreischend über den Hof.
Überwältigt von dem Lärm und verlegen durch die plötzliche Aufmerksamkeit so vieler Menschen trat Annie einen Schritt zurück. Warum hatte sie nur zugestimmt, hierherzukommen?
Da löste sich eine wunderschöne Frau mit üppigem dunklen Haar und haselnussbraunen Augen aus der Menge und kam auf sie zu. „Willkommen bei uns zu Hause“, sagte sie freundlich und streckte ihr die Hand entgegen. „Mamá hat mir erzählt, dass Sie Sofía bei der Geburt ihres Babys geholfen haben. Sofía ist meine Cousine, wir stehen also tief in Ihrer Schuld.“
Die schwarzhaarige Schönheit musste Rafaels Schwester sein. Sie hatte die gleichen ausgeprägten Wangenknochen und den sinnlichen Mund.
„Nein, nein“, beeilte Annie sich zu versichern. „Ich bin froh, dass ich helfen konnte.“
„Ich heiße Catalina“, stellte die andere sich vor. „Ich habe gehört, dass Rafael auch dabei war.“ Sie erhob sich auf die Zehenspitzen, um Annie über die Schulter zu blicken. „Wo ist mein Bruder jetzt?“
„Er hat Sofía und ihr Baby ins Krankenhaus begleitet. Sobald er dort nicht mehr gebraucht wird, kommt er hierher.“
Catalina zog einen Schmollmund. „Typisch Rafael, er hat immer zu tun. Er wollte bei uns ein paar Tage Ferien machen, trotzdem sehen wir ihn kaum. Pah! Aber da er sich um unsere Cousine kümmert, werde ich ihm nicht den Kopf abreißen.“
Und dann führte sie Annie in eine riesige Küche. Eine lange Tafel bog sich förmlich unter der Last der Speisen, genug, um fünf Großfamilien satt zu machen. Überall verteilt standen bunt glasierte Keramikschüsseln mit Obst und Oliven zwischen schwarzen Eisenpfannen voll goldgelber Paella, in Tomaten und Kräutern geschmortem Kaninchen und Tapas-Platten mit Hackbällchen, würziger Wurst, deftigem Schinken und blassgelbem Käse. Andere Gerichte wiederum kannte Annie nicht, aber bei dem köstlichen Duft lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Bald saß sie inmitten der gastfreundlichen Familie und genoss die herzliche Aufmerksamkeit, die alle ihr entgegenbrachten. Es spielte keine Rolle, dass die Wenigsten Englisch sprachen. Wie sich herausstellte, waren die beiden jungen Männer tatsächlich Rafaels Brüder, und Catalina verriet ihr, dass sie noch zwei Schwestern hätten.
Die kleine María war, sobald Annie Platz genommen hatte, schüchtern lächelnd auf den Stuhl neben ihr gerutscht und wich nicht mehr von ihrer Seite. Annie sah sich am Tisch um und fragte sich, zu wem das Mädchen wohl gehören mochte. Aber da alle Kinder mit jedem vertraut schienen, fand sie darauf keine Antwort.
In einem stillen Moment, in dem niemand auf sie achtete, überlegte sie, wie es wohl wäre, Teil einer solchen Familie zu sein. Sofort überkam sie wieder die erdrückende Traurigkeit, und sie schloss rasch die Augen, um die Tränen zurückzudrängen. Dieses Glück würde sie nie erfahren.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war Rafael da. Er betrachtete sie, die rabenschwarzen Brauen verwundert zusammengezogen. Sein Blick jedoch war so eindringlich, dass sie glaubte, er könne bis auf den Grund ihrer Seele sehen.
Gleichzeitig hatte sie den flüchtigen Eindruck, dass sich in der Tiefe dieser dunklen Augen ebenfalls ein Kummer verbarg, der ihrem nicht nachstand. Doch sie verscheuchte den Gedanken sofort wieder. Weshalb sollte dieser dynamische, attraktive Mann unglücklich sein? Soweit Annie es beurteilen konnte, besaß er alles, was man sich wünschen konnte. Ihr Blick schweifte wieder über die lebhafte Familie, die lachend und schwatzend das Festmahl genoss. Nun, zumindest alles, was wirklich zählte …
Er beugte sich über sie. „Nicht traurig sein, Annie Thomas“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Der Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase, und sein warmer Atem auf ihrer Wange war wie eine Liebkosung. Ihr Herz machte einen Satz. Was war bloß an diesem Mann, dass sie sich in seiner Nähe wie ein schwärmerisch verliebtes Schulmädchen fühlte?
Sie konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt ein Mann sie so sehr beeindruckt hatte. Ehrlich gesagt hatte noch keiner sie so fasziniert wie dieser hier … auch Robert nicht. Oder lag es an der spanischen Sonne und den zwei Gläsern Sangria, die sie zum Essen getrunken hatte? Was auch immer, sie freute sich jedenfalls unbeschreiblich, ihn zu sehen.
„Wie geht es Sofía?“ Annie hatte beschlossen, seine Bemerkung zu ignorieren.
„Mutter und Kind sind wohlauf“, antwortete er. „Sie bat mich, Ihnen noch einmal zu danken.“ Dann wandte er sich zu seiner Familie um, sagte etwas, und auf einmal erhoben alle ihre Gläser. „Auf Sofía! Auf Annie!“
Ein vielstimmiger Chor wiederholte seinen Toast, und alle Anwesenden lächelten Annie an. Verlegen ließ sie die Ehrung über sich ergehen. Rafaels breitem Lächeln nach zu urteilen, schien er ihr Unbehagen auch noch zu genießen.
Plötzlich wollte sie Abstand zwischen sich und diesen verwirrenden Mann bringen. Und zwar so viel wie möglich!
Hastig stand Annie auf und hätte dabei fast ihr Weinglas umgestoßen. „Vielen Dank für das Essen, aber ich muss jetzt gehen“, sagte sie atemlos.
Ihr Kreislauf dankte ihr die heftige Bewegung mit unerwarteter Benommenheit, und sie schwankte leicht. Sofort umfasste Rafael ihr Handgelenk, um sie zu stützen.
Die Berührung brannte wie Feuer auf ihrer Haut, und ihr Herz schlug unwillkürlich schneller.
„Ich bringe Sie zurück. Wo wohnen Sie?“