Dr. Siri sieht Gespenster - Colin Cotterill - E-Book
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Dr. Siri sieht Gespenster E-Book

Colin Cotterill

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Beschreibung

Mysteriöse Todesfälle im exotischen Laos – Dr. Siris 2. Fall

Für Dr. Siri, den einzigen Leichenbeschauer von ganz Laos, bringt der Frühling in Laos nicht nur große Hitze, sondern auch seltsame Todesfälle: Ein Bär ist aus dem Käfig eines Nobelhotels entwischt und scheint nun die Straßen von Vientiane unsicher zu machen. Denn wer oder was sonst sollte die Obstverkäuferin getötet haben, die offenbar von einer mit Klauen und Zähnen bewehrten Kreatur zerfleischt wurde? Und sie bleibt nicht das einzige Opfer.

Bald werden weitere Frauen mit ähnlichen Wunden aufgefunden und zu Dr. Siri gebracht. Gleichzeitig geben ihm zwei tote Männer Rätsel auf, die auf einem vollständig verbeulten Fahrrad mitten in der Hauptstadt gefunden wurden.

Mit Hilfe seiner beiden Angestellten – des unter einem leichten Down-Syndrom leidenden Mr. Geung und der zupackenden Krankenschwester Dtui – untersucht Siri die Todesfälle. Dabei bekommt er es mit einem abgesetzten König, einer Truppe russischer Zirkusartisten inklusive Dompteur und ein paar Holzpuppen mit einer riesigen Wut im Bauch zu tun  ...

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Seitenzahl: 361

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Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Thirty Three Teeth« bei Soho Press, New York
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Copyright © der Originalausgabe 2005 by Colin Cotterill Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Published in agreement with the author, c/o Baror International Inc., Armonk, New York, U.S.A. Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München Covergestaltung: Roland EschlbeckCovermotive: © Artwork by Lucy Davey / The Artworks ISBN : 978-3-641-02629-5 V004
www.manhattan-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
DEMOKRATISCHE VOLKSREPUBLIK LAOS, MÄRZ 1977
 
Kapitel 1 – TRAUTES HEIM, GLÜCK ALLEIN?
 
Kapitel 2 – ZWEI LEICHEN UND EIN FAHRRAD
 
Kapitel 3 – DER RECHTE BISS
 
Kapitel 4 – LA CAPITALE ROYALE
 
Kapitel 5 – TOTAL VERKOHLT
 
Kapitel 6 – VERBOTENE FRÜCHTE
 
Kapitel 7 – GARTEN DER LÜSTE
 
Kapitel 8 – 999 999 ELEFANTEN
 
Kapitel 9 – DIE EINZIGE TOCHTER
 
Kapitel 10 – DER EXORZISMUS-CONGA
 
Kapitel 11 – TOT ZU SEIN BEDARF ES WENIG
 
Kapitel 12 – DER LIEBESTOLLE RUSSE
 
Kapitel 13 – ZWEITER SONNENAUFGANG
 
Kapitel 14 – DER MANN SEINER TRÄUME
 
Kapitel 15 – LAND OHNE ANWÄLTE
 
Kapitel 16 – DER KRÖTENIMITATOR
 
Kapitel 17 – DER MOND IST AUSGEGANGEN
 
Kapitel 18 – DIE INTHANET-VERBINDUNG
 
Kapitel 19 – DIE SUCHE NACH DTUI
Wärmer
Noch wärmer
Kälter
Eiskalt
 
Kapitel 20 – DER WERTIGER
 
Kapitel 21 – BLINDE PANIK
 
Kapitel 22 – DER MANN, DER SICH DEN KOPF ABRISS
 
Kapitel 23 – NEUJAHR IM APRIL
 
Kapitel 24 – AMÜSIEREN VERBOTEN!
 
Kapitel 25 – EPILOG MAL ZWEI
 
Copyright
Meiner Familie, in Liebe und Dankbarkeit für jahrelange Treue und Unterstützung
DEMOKRATISCHE VOLKSREPUBLIK LAOS, MÄRZ 1977
Das Hammer-und-Sichel-Neon über dem Nachtclub des Lane Xang Hotels summte und sprang flackernd an. Jenseits des Mekong war die Sonne blassrot und bleischwer in Thailand versunken, und die Hotelkellnerinnen entzündeten die kleinen Laternen, die den schlichten himmelblauen Saal in eine geheimnisvolle Höhle verwandelten.
Binnen Stundenfrist würde eine große vietnamesische Delegation hier das Unterhaltungsprogramm des Politbüros der Laotischen Revolutionären Volkspartei über sich ergehen lassen müssen. Die Abgesandten würden arme, pelzbemützte Bauernjungen zu sehen bekommen, die tollpatschig russische Kosakentänze zur Aufführung brachten. Sie würden mittels langer Strohhalme halbvergorenen Reiswhisky aus riesigen Bottichen schlürfen, bis sie kaum noch stehen konnten. Und schließlich würden sie zu peinlichen Tanzeinlagen mit stämmigen jungen Damen genötigt werden, die nicht nur knöchellange Röcke, sondern auch fingerdickes Make-up trugen.
Falls sie diese Lustbarkeiten wohlbehalten überstanden hatten, durften sie sich zur Ruhe betten. Tags darauf dann würden sie, mit mächtigem Brummschädel, ihren Namen unter Dokumente setzen, die den Grundstein für den neuen laotisch-vietnamesischen Freundschaftsvertrag legten, und sich hernach an kaum etwas erinnern.
Aber noch war es nicht so weit. Die unterbesetzte Nachtschicht des Hotels hatte die unterbesetzte Tagschicht abgelöst. Die schwitzende Empfangschefin bügelte in dem verglasten Kabuff hinter der Rezeption ein Hemd. Das Zimmermädchen brachte einem kranken Gast im dritten Stock eine Schüssel Reisbrei.
Hinter dem Haus verschloss ein alter Wachmann in einer Jacke, die so groß war, dass sie ihm bis zu den Knien reichte, das Tor zur Setthathirat Road. Nachts hielt das Tor streunende Hunde und den einen oder anderen Touristen fern, der im Garten vor den glühend heißen Nächten Schutz und Zuflucht suchte. Die zweieinhalb Meter hohe Mauer, die das Anwesen umgab, ließ es bedeutender erscheinen, als es tatsächlich war.
Im schmuddeligen Swimmingpool trieb Laub. Blumen standen säuberlich in Reih und Glied in den Rabatten; sie bekamen mehr Wasser als die Leute draußen an der Straße. Und dann waren da noch die Käfige. Sie waren aus massivem Beton und so niedrig, dass ein Erwachsener sich bücken musste, um hineinzusehen. Zwei von ihnen standen leer. Sie beherbergten nur mehr die Geister der Tiere, die einst hier eingesessen hatten: ein Affe, gefolgt von einem Hirschen, ein wilder Hund, beerbt von einem Pfau.
Doch im harschen Schatten des dritten Käfigs schnaufte etwas. Es bewegte sich nur selten, und wenn, dann höchstens, um sich träge die trockene Haut zu kratzen. Der namenlose Kragenbär wurde wie die Bougainvilleen mit dem Gartenschlauch abgespritzt und bekam von Zeit zu Zeit ein paar Küchenabfälle hingeworfen. Sein Fell war glanzlos und fleckig, wie der Teppich in einem viel begangenen Flur. Allein Buddha wusste, wie das Tier in seinem winzigen Gefängnis so lange hatte überleben können; doch Buddha stand in der sozialistischen Republik seit fünfzehn Monaten in Acht und Bann.
Am frühen Abend und am Wochenende drängten sich die Leute vor dem Käfig und glotzten. Der Bär glotzte zurück, obwohl seine glasigen, blutunterlaufenen Augen die schadenfrohen Gesichter schon lange nicht mehr richtig erkennen konnten. Kinder lachten und zeigten mit dem Finger. Heldenhafte Väter stießen Stöcke durch die Stäbe, aber das schien den Kragenbär nicht im Mindesten zu stören.
 
Am nächsten Tag gab man natürlich dem alten Wachmann die Schuld. »Zu viel Reiswhisky«, hieß es. »Schlamperei.« Der Wachmann stritt selbstredend alles ab. Er schwor Stein und Bein, die Käfigtür wieder verschlossen zu haben. Er habe die Reste des Festessens zu Ehren der Vietnamesen in die Futterschüssel des Tieres geworfen und den Käfig dann verriegelt. Da sei er sich hundertprozentig sicher. Als er gegen vier Uhr seine Runde gemacht habe, sei das Tier jedenfalls noch da gewesen. Er habe nicht die leiseste Ahnung, wie es habe entwischen können und wohin es verschwunden sei. Trotzdem wurde er gefeuert.
Nach einer überstürzten Durchsuchung des Geländes und der Gebäude erklärte der Geschäftsführer seinen Angestellten, das Hotel sei sicher und die Sache nunmehr Angelegenheit der Polizei. Im Übrigen halte er es für das Beste, den Gästen die geglückte Flucht des Bären zu verheimlichen. Für ihn war der Fall damit erledigt.
1
TRAUTES HEIM, GLÜCK ALLEIN?
Der neue Vorort schmorte in der Sonne. Genosse Civilai entstieg seiner aufgeheizten schwarzen Limousine und trat, ohne die Türen zu verriegeln, vor das Betonmausoleum, das man Dr. Siri als neue Bleibe zugewiesen hatte. Tor und Haustür standen offen, sodass er bis in den kleinen Garten sehen konnte. Kein Mobiliar verstellte ihm den Blick.
Er schleuderte seine Sonntagssandalen von den Füßen und betrat das Wohnzimmer. Es schien, als hätten Maler und Bauarbeiter es eben erst verlassen. Die Wände erstrahlten in demselben jungfräulichen Hellblau wie der Flughafen Wattay. Sie waren gänzlich unbefleckt, nirgends hingen Bilder, Plakate oder Fotos von Helden der Revolution. Keine Stuckenten flogen in Formation. Keine Uhr tickte. Hätte er nicht gewusst, dass Siri seit einem Monat hier lebte, hätte er das Haus für unbewohnt gehalten.
Auf seinem Weg durch den Flur kam er an einem kleinen Zimmer vorbei, wo achtlos aufgetürmte Kleider ihm verrieten, dass er im Begriff war, sich einer primitiven Lebensform zu nähern. Im Garten fand er sie. Dr. Siri Paiboun, staatlicher Leichenbeschauer wider Willen, verwirrter Seher und enttäuschter Kommunist in Personalunion, schaukelte sanft in einer zwischen zwei Jackfruitbäumchen aufgespannten Hängematte. Unter der Last eines gewichtigeren Menschen wären die zarten Gewächse zweifellos zusammengebrochen.
In Siris Schatten lag Saloop, seines Zeichens Lebensretter und Straßenköter außer Dienst, und sabberte gemächlich auf die heiße Erde. Er klappte ein Auge auf, befand Civilai für zu alt und zu kahl, um eine Bedrohung darzustellen, und träumte weiter.
Noch vor vier Wochen war der Garten eine Schutthalde gewesen. Jetzt war er ein Dschungel. Siri hatte alles darangesetzt, die Umgebung wiederherzustellen, in der er die letzten vierzig seiner zweiundsiebzig Lebensjahre verbracht hatte. An den vergangenen vier Wochenenden war er mit seinen lieben Kollegen aus der Pathologie durch die Außenbezirke gezogen und hatte dort nach Herzenslust geplündert. Sie hatten eine Unmenge von Bäumen und Sträuchern in diesen bescheidenen Sandkasten verschleppt – der Dank der Partei für Siris Dienste.
»Ich störe hoffentlich nicht«, sagte Civilai, der selbstverständlich genau wusste, dass er störte. Siri schlug langsam seine schaurig grünen Augen auf und sah, dass sein Freund sich über ihn beugte.
»Ah, Boy. Stell er den eisgekühlten Limettensaft dort auf den Tisch, und dann verkrümele er sich spornstreichs in sein Dienstbotengemach.«
Civilai war zwei Tage älter als der Doktor. Die Freunde hatten im Jahr des Hasen das Licht der Welt erblickt und verfügten über die entsprechenden Eigenschaften, Fleiß und Arglist. Nur mit ihren fleischlichen Gelüsten war es nicht weit her: Beide hatten ihre erste Liebe geheiratet und waren ihr ein Leben lang treu geblieben. Womit sie zu einer in Laos eher seltenen Rammlerspezies gehörten.
»So also verbringt die bourgeoise Ärzteschaft den Sonntag? Müsstest du nicht eigentlich Gräben für die Republik ausheben?« Er sank auf die Holzpritsche auf der kleinen Veranda und lehnte sich zurück.
»Ich bin ein gebrechlicher alter Mann, Bruder. Ein Tag körperlicher Arbeit könnte mich direktemang ins Grab befördern. Wie es aussieht, habe ich vermutlich ohnehin keine vier Wochen mehr zu leben. Darum sollten deine Genossen aus dem Politbüro sich schleunigst nach einem Pathologen umsehen, der meinen Posten übernehmen kann.«
Dr. Siri war alles andere als gebrechlich. Es sollte Jahre dauern, bis das Schicksal ihn in Schussweite der schwarzen Bogenschützen des Todes führen würde. Noch flitzte der ebenso gedrungene wie robuste Greis wie eine vorwitzige Wasserratte durch die Gegend. Selbst jüngere Männer hatten bisweilen Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
Sein Verstand war seit einiger Zeit sogar noch schärfer als zuvor. Er war immer schon ein kluger Kopf gewesen; in den vergangenen fünf Monaten jedoch hatte er sich die Sorte Wissen angeeignet, die nicht an Universitäten unterrichtet wird. Aus ihm schleierhaften Gründen war er als laotischer Honorarkonsul ins Geisterreich entsandt worden.
Diese neue Stellung vertrug sich wider Erwarten prächtig mit seiner Tätigkeit als erster und einziger Leichenbeschauer der Demokratischen Volksrepulik Laos. Zwar war es ihm bislang nicht gelungen, die Besuche aus der Geisterwelt zu steuern oder den Verstorbenen gezielte Fragen zu stellen, dennoch bescherten sie ihm regelmäßig wertvolle Hinweise. Was ihm an Erfahrung fehlte (er bekleidete das Amt des Leichenbeschauers erst seit einem knappen Jahr), machte er durch seine Zwiegespräche mit den Toten oftmals mehr als wett. Sein dreidimensionaler Geist hatte eine vierte Dimension hinzugewonnen.
»Wie sollten wir je einen Ersatz für dich finden, kleiner Bruder? Du bist eine lebende Legende«, erwiderte Civilai.
»Eine Legende?« Siri setzte sich vorsichtig in der Hängematte auf. »Sind Legenden nicht in aller Regel furchtbar geschwätzig und nehmen es mit der Wahrheit nicht sonderlich genau?«
»Du hast’s erfasst.«
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
Dieses alte Lied pfiffen in der heißen Jahreszeit sämtliche Hauptstadtspatzen von den Dächern. Da es in den letzten Monaten besonders heiß gewesen war, hörte man es dieser Tage noch häufiger als sonst.
Jetzt erst bemerkte Siri den Stoffbeutel auf Civilais Schoß. »Hast du mir was mitgebracht?«
»Nichts, was dich interessieren könnte.«
»Das musst du schon mir überlassen.«
»Die Sowjets machen uns den Hof. Sie wollen hier eine Satellitenschüssel errichten, um die Yankees zu bespitzeln. Solange wir uns zieren, versuchen sie, uns mit solchen Liebesgaben zu ködern.« Er schnürte den Beutel auf und förderte eine Flasche zutage.
»Wodka?«
»Moskovskaya; der beste, den es gibt. Aber du hast doch sicher keinen Durst.«
Kaum hatte Civilai das Wort Durst über die Lippen gebracht, war Siri auch schon aus der Hängematte gesprungen und kramte in der Küche nach einem zweiten Glas.
Der Vormittag ging nahtlos in den Nachmittag über.
»Ich verstehe nicht, wie die Russen dieses Seug zaufen können,« lallte Civilai und ließ den ganzen Satz zu einem einzigen langen Wort zusammenschnurren.
»Ich auch nicht. Kein Wunder, dass die Frauen mehr Haare haben als die Frauen.«
»Männer.«
»Wo?«
Damit hatte das Gespräch seinen Tiefpunkt erreicht. Der klägliche Rest am Boden der Flasche reichte gerade für zwei letzte Gläser. Die Freunde saßen nebeneinander auf der langen, unbequemen Holzpritsche. Obwohl sich der Garten nicht bewegte, schwankten sie wie zwei Schiffbrüchige in einem Rettungsboot. Civilai hob den Blick und betrachtete das zusammengerollte Moskitonetz, das über ihrem Kopf befestigt war.
»Schläfst du hier draußen, kleiner Bruder?«
Siri schüttelte den Kopf. »Ja.«
»Und wozu brauchst du dann ein Haus?«
»Meine Rede. Genau diese Frage habe ich auch Richter Haeng gestellt. Aber er wollte mir den Garten partout nicht ohne das Haus überlassen. Er sagte« – Siri imitierte den schrillen, weinerlichen Singsang seines jungen Vorgesetzten -, »›Wir sind ranghohe Parteimitglieder, Genosse Siri. Als solche müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Auf Bäumen zu schlafen sollte ausschließlich Primaten vorbehalten bleiben.‹ Dass er weiß, was ein Primat ist, hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«
»Was hast du gegen Häuser?«
»Ich habe nicht das Geringste gegen Häuser. Aber das hier ist doch kein Haus. Ein Haus ist eine luftige Holzkonstruktion auf Felgen...«
»Pfählen.«
»Sag ich doch. Auf Felgen, das knarrt, wenn man herumläuft. Das bei Wind schwankt und bei Regen undicht wird. Aber das? Das ist ein Sarkahoph... ein... ein Saroph … Sarpho... Sarkophag.«
»Ich hätte es nicht schöner sagen können.«
»Warum ist die Regierung eigentlich so sehr auf Beton fixiert?«
»Haltbarkeit. Dieses Haus wird auch in tausend Jahren noch stehen, wenn deine Holzhäuser schon zehnmal zusammengebrochen sind. Denk an die drei kleinen Schweinchen.«
»Ganz recht. Es ist ein Schweinestall.«
»Unsinn.«
»Dann ist es ein Grab. Ich komme mir vor wie lebendig begraben. Es hat etwas zutiefst Morbides.«
»Und das sagst ausgerechnet du?«
»Ich bin Leichenbeschauer. Keine Leiche.«
Civilai lehnte sich lachend zurück. »Was machen eigentlich deine Geisterfreunde?«
Siri sah ihn prüfend an, aber Civilai schien sich über Siris Verbindungen zur Geisterwelt ausnahmsweise einmal nicht lustig zu machen.
»Seit den untergetauchten Vietnamesen im November herrscht im wesentlichen Funkstille. Andererseits hatten wir seitdem auch keinen Mordfall mehr.«
»Sie melden sich also nur, wenn Not am Mann ist?«
»Nein. Sie sind ständig in unserer Nähe. Sie treten zwar hin und wieder in Erscheinung, verhalten sich aber in aller Regel ruhig. Spät« – er hickste -, »pardon, spätabends sitzt manchmal eine alte Frau in meinem Büro. Sie hockt einfach da. Ich warte immer darauf, dass sie etwas tut, mir ihre Titten zeigt oder dergleichen, aber sie sitzt bloß da, kaut Betelnüsse und starrt mich an.«
»Weißt du was, Siri? Manchmal bist du mir richtig unheimlich.« Civilai beugte sich vor und goss den Rest des sowjetischen Bestechungsgeschenks in ihre angeschlagenen Gläser. »Wir sollten das vertilgen, bevor es sich durch den Flaschenboden frisst.«
»Ein Prosit auf die illustre Union der sowialistischen Republizisten.«
»Ich glaube, du hast endgültig genug.«
Sie leerten ihre Kelche bis zur Neige, und Siri stand schwankend auf.
»Gott sei Dank, das wäre geschafft. Darauf einen Kaffee.«
 
 
Der Nachmittag ging nahtlos in den Abend über.
Der Schatten des Instant-Dschungels hatte sich über die beiden wodkaseligen Patrioten gesenkt und erklomm nun die Betonwand hinter ihnen. Der dickflüssige Kaffee riss sie aus ihrem sonntäglichen Dschumm. Civilai unternahm einen letzten Versuch, seinem Freund das neue Domizil schmackhaft zu machen.
»Ich finde es hier eigentlich ganz nett.«
»Dann ziehe ich zu deiner Frau, und du bekommst das Haus.«
»Ein verlockendes Angebot.«
»Es sollte eine Belohnung sein, stattdessen ist es eine Strafe, älterer Bruder. Auf der einen Seite wohnt Fräulein Vong, die ihre Nase grundsätzlich in alles steckt, was sie nichts angeht, und auf der anderen ein korrupter Provinzfunktionär aus Oudomxai.«
»Warum schreist du nicht noch ein bisschen lauter?«
Siri ignorierte ihn. »Aus dem verfluchten Lautsprecher an der nächsten Straßenecke plärren ab fünf Uhr in der Frühe ununterbrochen Hetzreden gegen die nichtkommunistische Welt. Ich könnte unglücklicher nicht sein.«
»Dir fehlt einfach eine brave Frau, die das Haus ein wenig wohnlicher gestaltet. Du hast wohl nicht zufällig...«
»Bäh.«
»Ich habe mich lediglich gefragt, ob du dich...«
»Bäh.«
»... vielleicht bei ihr gemeldet hast.«
»Nein. Und das habe ich auch nicht vor. Im Übrigen bitte ich von weiteren Fragen abzusehen.«
»Ich finde das albern.«
Siri schmollte ein Weilchen vor sich hin. Seit Bouas Tod hatte es nur eine Frau, ein Rendezvous gegeben. Ein desaströses Rendezvous. Siri wusste, dass er Lah würde lieben können. Seine Gefühle wurden erwidert. Seit er in der Mahosot-Klinik arbeitete, hielt Tante Lah auf ihrem Karren gegenüber dem Krankenhaus jeden Tag ein eigens zubereitetes Baguette-Sandwich für ihn bereit. Sie scherzten, sie flirteten, und sie machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn mochte.
Seit Boua, seine große Liebe, seine längst verstorbene Frau, ihm postum ihren Segen erteilt hatte, stürzte er sich wie ein Teenager in dieses neue Abenteuer. Als er Lah am Abend jenes verhängnisvollen Rendezvous dort stehen sah, prächtig herausgeputzt wie eine Likay-Königin, hatten ihn die Schmetterlinge in seinem Bauch beinahe aus dem Sattel seines Motorrades gehoben.
Sie kam in ungewohnten Stöckelschuhen auf ihn zugetrippelt und küsste ihn auf die Wange. Als ihre Lippen seine Haut streiften, regten sich Körperteile, die seit vielen Jahren im Winterschlaf gelegen hatten. Ein vielversprechender Auftakt. Er stand auf einem hohen Berg mit grandiosem Ausblick auf einen traumhaft schönen Lebensabend.
Er wollte sich eben kopfüber hinunterstürzen, als sie ihm das Geschenk überreichte. Es war hübsch verpackt, vermutlich kostspielig und schwer. Sie sagte, sie habe es auf dem Morgenmarkt entdeckt. Sie sagte, es habe zu ihr gesprochen. Sie meinte, es werde seiner Pechsträhne ein Ende setzen. Er öffnete die Schachtel, und seine Welt stürzte ein wie eine schlampig konstruierte Tempelstupa.
In dem kleinen Pappsarg lag ein von zahllosen hoffnungsfrohen Fingern abgegriffenes schwarzes Amulett. Es hing an einem ausgefransten Lederriemen. Siri kannte es nur zu gut.
Lah lächelte, in der Hoffnung, dass ihr schneidiger Galan ihr Lächeln erwidern würde. Stattdessen machte er ein furchterregendes Gesicht. Seine struppigen weißen Brauen trafen sich inmitten seiner tief zerfurchten Stirn. Er schüttelte langsam den Kopf und fragte: »Wie konnten Sie das tun?«
»Wa-?«
Das Amulett in seiner linken Hand umklammernd, war Siri ohne ein weiteres Wort auf seinem Motorrad davongerast. Sie sah ihm nach, und ihre kirschroten Lippen bebten. Sie hatte natürlich keine Ahnung, was sie getan hatte. Sie hatte ihm eine Gefälligkeit erweisen, ihm zum Zeichen ihrer Zuneigung ein kleines Geschenk machen wollen. Das war ihr nun zum Verhängnis geworden. Sie hatte ihn nie wiedergesehen und wusste bis heute nicht, warum.
 
Siri war zur tiefsten Stelle des Mekong gefahren und hatte das Amulett weit ins schmutzigbraune Wasser hinausgeschleudert. In seinem Leben gab es keine Zufälle mehr. So viel stand fest. Alles war vorherbestimmt, auf einem heiligen Pergament vermerkt. Böse Geister verfolgten ihn. Voriges Jahr, bei einem Exorzismus in Khammouan, hatte man ihm genau dieses Amulett gegeben: ein antiker schwarzer Stein zum Schutz gegen die bösen Waldgeister, die Phibob. Doch das war ein Trick gewesen. In Wahrheit war der Stein so etwas wie ein Schlüssel, der das Tor zwischen ihrer und seiner Welt eröffnete. Er konnte von Glück sagen, dass er ihre Attacke heil überstanden hatte. Nun wollten sie sich an ihm rächen. Lah war auserwählt worden, um ihm diese unheilvolle Botschaft zu überbringen, und deshalb war sie eine Gefahr für ihn. Da lag es auf der Hand, dass für sie in seinem Leben kein Platz war. Egal wie stark er sich zu ihr hingezogen fühlte, es war unmöglich.
Civilai hielt das Ganze naturgemäß für einen großen Haufen Büffeldung. Er meinte, wenn sich jenseits der siebzig schon einmal die Gelegenheit zu einem Schäferstündchen biete, dürfe man derlei Zufälle nicht überbewerten. »In unserem Alter bekommt man so eine Chance schließlich nicht alle Tage, kleiner Bruder.«
»Das war kein Zufall. Ich habe die Phibob zum Teufel gejagt und so die Soldaten gerettet, die deren Bäume abholzen wollten. Das hat den Geistern gar nicht geschmeckt. Aber ich schwöre dir, die Hmong hatten den Stein vernichtet.«
»Hast du das mit eigenen Augen gesehen?«
»Jein. Nicht direkt mit eigenen Augen. Aber ich habe den Staub gesehen, bevor sie ihn im Wald verstreut haben.«
»Dann kannst du auch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er von fraglichem Stein stammte. Rätsel Nummer eins gelöst.«
»Und wie ist er dann hierher, nach Vientiane gekommen? Wie ist er auf den Markt gelangt? Und warum hat ihn unter Tausenden von Menschen ausgerechnet Lah gekauft?«
»Ich bin ein erfahrener Staatsmann, dem das logische Denken durchaus nicht fremd ist. Die meisten Nüsse, die einem der Regierungsalltag in einem kleinen südostasiatischen Land so beschert, bekomme ich mühelos geknackt. Aber für heute ist meine Rätselquote erfüllt«, sagte Civilai. »Und nun lass mich ziehen. Ich muss heim zu meiner lieben Frau. Weißt du noch, wo mein Wagen steht?«
»Willst du dich in deinem Zustand etwa noch ans Steuer setzen?«
»Ei gewiss doch. Wen sollte ich auch überfahren?«
Siri nickte und eskortierte ihn zur Tür. Civilai hatte recht. An einem Sonntagnachmittag im März schien es, als befände sich Vientiane in den Klauen einer todbringenden Seuche. Zwar mochte der eine oder andere Motorradfahrer der nachmittäglichen Hitze trotzen, mochte hier und da ein Hund auf dem Asphalt liegen und sich die Flöhe aus dem Pelz brennen lassen. Aber die meisten Leute waren zu Hause und warteten darauf, dass die Sonne unterging.
Später, in der Dämmerung, hüpften die jungen Mädchen paarweise auf ihre Fahrräder und fuhren die Fangoum Road entlang, aalten sich in der schwachen Brise, die vom Fluss heraufwehte und boten sich den Knaben dar, die ebenfalls paarweise in die andere Richtung radelten. Noch lange nach Einbruch der Nacht wischten sie sich mit den rosa Taschentüchern ihrer Mütter die schweißnasse Stirn.
 
 
 
Ende einer Durchfallkranken
 
Die alte Tante See wohnte in einem Schuppen hinter einer baufälligen, weiß getünchten Villa aus der französischen Kolonialzeit, die jetzt fünf Familien beherbergte. Ihren bescheidenen Lebensunterhalt verdiente sie sich mit den überreifen Früchten, die sie morgens auf dem Markt für wenig Geld erstand, sodann in bunte Scheiben schnitt und an dem Kartentisch gleich neben ihrer Hintertür verkaufte.
Ihr Umsatz war bescheiden, da sich solchen Luxus kaum noch jemand leisten konnte. Deshalb ernährte sie sich hauptsächlich von überreifen Früchten und verbrachte folglich einen Großteil des Abends in der Blechlatrine hinter ihrem Schuppen.
Als sie an diesem Sonntagabend ihrem dünnflüssigen Geschäft nachging, glaubte sie plötzlich ein Knurren zu hören. Schritte bahnten sich einen Weg durch das Dickicht ihres verwilderten Gartens. Für einen Hund waren sie zu schwer, für einen Menschen hingegen zu planlos und mäandernd. Trotzdem rief sie: »Kann eine Frau hier nicht mal mehr in Ruhe scheißen?«
Keine Antwort. Die Geräusche verstummten. Und waren nach ein paar Minuten vergessen. Diarrhöe, noch dazu in derart aggressiver Form, vermag selbst die schrecklichsten Gedanken zu vertreiben.
Zwanzig Minuten später hievte sie sich ächzend hoch und zupfte ihren knöchellangen Baumwoll-phasin
2
ZWEI LEICHEN UND EIN FAHRRAD
Als Siri am Montagmorgen in die Klinik kam, herrschte in seinem wodkaschwangeren Schädel ein eitel Hämmern und Sicheln. Hätte er das Formalin direkt aus den Probenflaschen gepichelt, wäre sein Kater kaum schlimmer ausgefallen. Jeder Schritt vom Motorradparkplatz bis zur Pathologie bescherte seinem leidgeprüften Hirn neue, bislang ungekannte Qualen. Die Sowjetunion war ohne Frage dem Untergang geweiht.
Unter dem französischen MORGUE-Schild blieb er stehen, streifte sich an der amerikanischen WELCOME-Matte sorgfältig die Füße ab und betrat den kühlen, dunklen Bungalow. Sofort spürte er die Gegenwart eines oder mehrerer Geister, war vom Wodka aber noch viel zu benebelt, um ihnen Beachtung zu schenken. Sie konnten warten.
Er ging in sein Büro, dessen blaue Wände er so lange mit weißer Farbe hatte überpinseln lassen, bis sie grau waren. Alles außer Blau kam Siris Geschmack sehr entgegen. Schwester Dtui saß an ihrem Schreibtisch.
»Morgen, Genosse Siri«, sagte sie und zeigte ihm ihre hübschen weißen Zähne, bewegte ihren massigen, unförmigen Körper jedoch nicht vom Fleck.
»Guten Morgen, Dtui.«
Die ersten drei Wörter des Tages erbrachen sich über seine Lippen wie eine Wagenladung Kies.
»Oha. War wohl eine längere Sitzung gestern Abend?«
»Ein kulturelles Experiment.«
Er plumpste auf seinen Stuhl, und sein Schädel spielte ein Schlagzeugsolo. Er vergrub ihn in den Händen.
»Sieht aus, als ob das Experiment gründlich misslungen wäre.«
»Keineswegs, meine getreue Assistentin, keineswegs. Negative Erfahrungen sind nämlich mindestens ebenso lehrreich wie positive. Ich weiß jetzt, dass ich russischen Wodka, auch wenn es sich um eine fromme Gabe handelt und mich der Schriftzug auf dem Etikett gar lieblich und verführerisch anlächelt, in Zukunft meiden werde wie einen stinkenden Elefanten.«
Dtui stand auf. Ihre blendend weiße Schwesterntracht spannte sich über ihrer breiten Brust wie Wachspapier um eine Schweinshaxe.
»Was Sie brauchen, ist ein guter Schluck vom Kräutertrank meiner Mutter.«
»Ach nein. Bitte nicht. Leide ich denn nicht schon genug?«
»Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging zur Tür.
»Wo steckt unser anderer tapferer Soldat?«
»Er ist im Sektionssaal und bereitet die Neuzugänge vor.« In der Tür blieb sie stehen. »Das wird Ihnen gefallen: zwei tote Männer auf einem Fahrrad, mitten auf der Straße, in der Nähe des Nam-Phou-Brunnens im Zentrum. Da wird morgens um zwei normalerweise niemand überfahren. Sie wurden neben dem Rad gefunden. Kein Soziussitz, kein Gepäckträger. Kein Blut. Das klingt ganz nach einem Fall für... ta-ta-ta-tah!«
»Dtui?«
»... Supergeisterdoc.«
Gickelnd verließ sie das Büro. Siri stöhnte. Das Letzte, wonach ihm jetzt der Sinn stand, war das Öffnen einer Leiche. Vor allem aber hatte er nicht die geringste Lust, seinen schmerzenden Schädel mit Rätseln und Mysterien zu belasten.
 
 
Dtui fischte in den Untiefen der Kühlkammer nach der verkorkten Flasche mit dem Geheimtrank ihrer Frau Mama. Zwar war es laut Hausordnung streng verboten, Lebensmittel zum persönlichen Gebrauch in der Kühlkammer der Pathologie aufzubewahren, doch das Gebräu ihrer Mutter hatte solche Ähnlichkeit mit Sektionsabfällen, dass nicht einmal der pedantischste Inspektor den Unterschied bemerkt hätte. Es war eine böser Hexensud aus allerlei bizarren Ingredienzen, der scheußlich schmeckte, aber gegen so ziemlich alles half.
»Wo... wo... wofür ist das, Dtui?« Herr Geung bettete den zweiten Radfahrer auf den Reservetisch. Geung war ein gutaussehender Mann von Anfang vierzig mit ausgeprägtem Down-Syndrom-Gesicht und pechschwarzem Haar, das links und rechts des schiefen Mittelscheitels an seinem Schädel klebte. Wenn er eine Frage stellte, hatte er die Angewohnheit, leicht auf den Fersen zu wippen. Richter Haeng aus dem Justizministerium, das die Arbeit von Siri und seinen beiden Helfern überwachte, setzte sich für die Entlassung des »Idioten« ein, dabei leistete Geung trotz seiner Behinderung hervorragende Dienste. Zwar wurde er bisweilen nervös, wenn etwas seinen gewohnten Tagesablauf störte, doch alles in allem war er ein erstklassiger Assistent. Siris Vorgänger hatte ihn mit unendlicher Geduld zum Gehilfen ausgebildet, und er war in vielerlei Hinsicht beschlagener als Dtui oder Siri. Er war stark und zuverlässig und nicht zuletzt ein wahrer Künstler im Umgang mit der Knochensäge.
»Der Chef hat einen Kater«, sagte Dtui.
Geung lachte schnaubend. »Al... Alkohol ist das Elixir des T... des Teufels.«
»Ist das wieder eine der Weisheiten deines Vaters?«
»Nein. Das hat Genosse Dr. Siri ges... gesagt, als wir an Neujahr den Besoffenen aufgeschnitten haben.«
Das war die Kehrseite der Medaille. In Geungs Gegenwart hütete man am besten seine lose Zunge. Er vergaß so gut wie nichts.
 
Die Obduktion verlief nach dem üblichen Prozedere. Siri hielt sich im Hintergrund und ließ Dtui die Leiche untersuchen, während er sich Notizen machte. Sie lernte noch und hoffte auf ein Medizinstipendium im Ostblock. Dtui hatte Augen wie ein Luchs und entdeckte oftmals Kleinigkeiten, die Siri übersehen hatte. Der einzige Nachteil dieses neuen Systems bestand darin, dass Siris Notizen nachher niemand lesen konnte. Nicht einmal Siri selbst.
Da die beiden Leichen in der Pathologie bislang nicht als vermisst gemeldet waren, wurden sie vorerst Mann A und Mann B genannt. Sie bildeten ein ungleiches Paar. Mann A war adrett gekleidet. Er trug nicht nur ein weißes Hemd und bügelfreie Hosen, sondern auch eine alte, aber kostspielige Uhr und hatte zarte, schwielenlose Hände, was darauf hindeutete, dass ihm körperliche Arbeit fremd war. Weitaus bemerkenswerter jedoch fanden Siri und Dtui den Umstand, dass er Socken trug. Draußen war es über vierzig Grad heiß. Selbst in den wenigen Büros, in denen museumsreife französische Klimaanlagen einen aussichtslosen Kampf gegen die Hitze führten, war »lauwarm« das höchste der Gefühle. Es war nie so kalt, dass man Socken tragen musste.
Nein, der arme Mann hatte vermutlich keine andere Wahl gehabt. Seit seiner Berufung zum Leichenbeschauer versuchte man Siri dazu zu bewegen, seine Füße in die schwarzen Plastikschuhe zu quetschen, welche die Partei ihren Beamten zur Verfügung stellte. Er nannte das die »Schuhbi-du-Doktrin«. Allein seinem Alter und seiner Sturheit war es zu verdanken, dass er seine braunen Ledersandalen anbehalten durfte. Doch er wusste, wenn man ihn eines Tages in diese Zehenquäler zwängte, würde auch er wohl oder übel Socken tragen müssen.
Dtui sprach seine Gedanken aus. »Ich würde sagen, er arbeitet für die Regierung.«
»Die Socken?«
»Die Finger.«
Sie erstaunte ihn immer wieder. Siri trat an den Sektionstisch und hielt die Hand von Mann A in die Höhe. Sämtliche Fingerkuppen waren violett verfärbt: ein klassischer Fall von Triplikatsyndrom.
Civilai hatte diesen Ausdruck geprägt; er bezeichnete die seltsamen »blauen Flecken«, die in sozialistischen Bürokratien weit verbreitet waren. Da für jede Abteilung Durchschläge angefertigt werden mussten, erstickten die Beamten förmlich in Papierkram. Das rief das Zeitsparwunder moderner Büroführung auf den Plan: Kohlepapier.
Wie seine Schuhe und sein Haarfärbemittel bezog Laos auch sein Kohlepapier aus China. Leider befand sich zumeist mehr Tinte an den Fingern der Benutzer als an dem Papier. Herr A hatte sich offenbar durch ganze Berge von dem Zeug gewühlt.
Nachdem sie ihn ausgezogen und seine Kleider katalogisiert und eingetütet hatten, machten sie die erlaubten vier Farbfotos von der Leiche. Siri fiel auf, dass der Tote ohne Schuhe eingeliefert worden war. Im Mundwinkel klebte ein schmales, getrocknetes Blutrinnsal, und Brust und Abdomen waren mit schweren Blutergüssen übersät.
Bevor er mit der inneren Leichenschau begann, beschloss Siri, zunächst Herrn B zu untersuchen. Das würde erstens Zeit sparen und ihnen zweitens Gelegenheit geben, die Verletzungen der beiden zu vergleichen. Siri ignorierte Dtuis Bemerkung: »Sie hätten Schlachter werden sollen«, und bat sie um ihre Ansicht zu Herrn B.
Sie meinte, er stamme in jedem Falle aus einem anderen Stadtteil als Herr A. Seine Kleider waren abgetragen und ziemlich schmutzig, seine Hände rau und mit verschorften kleinen Narben übersät, die wie Schnittwunden aussahen.
»Bleibt die Frage«, sinnierte Siri, »warum zwei Männer völlig unterschiedlicher Herkunft um zwei Uhr morgens auf ein und demselben Fahrrad sitzen?«
»Vielleicht«, gab Dtui zu bedenken, »war er hier der Chauffeur und fuhr gerade seinen Herrn nach Hause.«
Geung wieherte vor Lachen.
»Vielleicht saßen sie aber auch gar nicht auf dem Fahrrad.« Siri schaute zweifelnd drein. »Ich habe den leisen Verdacht, dass sie rein zufällig neben dem Rad gefunden wurden.«
»Und wie, bitte, sind sie dorthin gekommen?«
»Ich bin beileibe nicht allwissend, Fräulein Dtui. Aber vielleicht hat der Alte ja den Beamten überfahren, als der über die Straße ging.«
»Aha. Da müsste er ja einen Affenzahn draufgehabt haben.«
»Oder es war genau umgekehrt, und der Beamte war mit dem Motorrad unterwegs und hat den Alten versehentlich angefahren.«
»Und...«
»Und dann hat sich jemand mit dem Motorrad aus dem Staub gemacht.«
»Da könnte eventuell was dran sein.«
»Hat die Polizei das Fahrrad mitgebracht, Herr Geung?«
»Es steht hin... hin... hinterm Haus.«
»Gut. Wir schauen es uns später an.«
Sie entkleideten Herrn B. Abgesehen von seinem zweifellos gebrochenen Genick und einem gewaltigen Bluterguss, der normalerweise auf eine Verletzung der Arteria vertebralis hindeutet, wies sein Körper keine frischen Abschürfungen oder andere Verletzungsspuren auf. Sie verschossen den Rest des Films und machten alles für die Sektion bereit. Nun ruhten die beiden Toten wie Tempelstufenornamente jeder an einem Ende des Saals.
Die Doppelobduktion dauerte genau zwei Stunden. Herr A wies starke Blutungen in der Brusthöhle und Leichenflecke im Bereich der Hauptschlagader auf, was für einen Hochgeschwindigkeitsunfall und damit für Siris Motorrad-These sprach. Auch war der Aufprall offenbar so heftig gewesen, dass er einen Hodenriss verursacht hatte. Woraus Siri den vorläufigen Schluss zog, das Herr B durch Genickbruch und Herr A an inneren Blutungen gestorben war. Doch um zu einem endgültigen Ergebnis zu gelangen, waren weitere Untersuchungen vonnöten.
Herr Geung perforierte die harten Schädel der beiden Männer mit seiner alten Bügelsäge, und Siri packte die Gehirne in Watte und fixierte sie in Formalin, wo sie zwei oder drei Tage lagern mussten, bis sie fest genug waren, um seziert werden zu können.
Dtui entnahm Proben von Blut und Mageninhalt. Da es kein Labor gab, war die Zahl der Erkenntnisse, die sich daraus gewinnen ließen, begrenzt. Morgen wollte Siri ins Lycée Vientiane fahren und Lehrerin Oum beschwatzen, ihm die Reste ihrer Chemikalien für Farbtests zur Verfügung zu stellen.
In einem Schuppen des Zollamts stand seit drei Monaten eine Kiste mit Unterrichtschemikalien, eine freundliche Spende der Hochschulkooperative in Wladiwostok, was zu einer Flut von Formularen geführt hatte. Und selbst dem staatlichen Leichenbeschauer war es nicht gegeben, den altersschwachen Bus der Bürokratie bergauf ins sozialistische Nirwana zu schieben.
 
 
Dtui, Geung und Siri hockten im Halbkreis um das Fahrrad. Das rostige Vehikel, das viele Schlachten überdauert hatte, würde nie wieder in den Kampf ziehen.
»Wie könnte es dazu wohl gekommen sein?«, fragte Siri in die Runde. Die Kettenstrebe war geknickt und berührte fast den Boden. Sitz und Lenker waren verbogen.
»Sieht aus, als ob ich darauf gesessen hätte«, sagte Dtui, worauf Herr Geung einen Lachanfall bekam, der sich nur durch mehrmaliges Klopfen auf den Rücken abstellen ließ.
»Nein«, meinte Siri schließlich. »Dazu brauchte es schon ein halbes Dutzend Dtuis. Aber ich glaube, ich weiß, was die Ursache sein könnte. Auf welcher Seite des Brunnens wurden sie gefunden?«
»Vor dem Ministerium.«
»Dann sehen wir uns die Stelle doch am besten gleich mal an.«
»Steht Ihr Schädel das denn durch?«
»Ah, Dtui. Es geht doch nichts über eine zünftige Leichenöffnung und einen Schluck vom Gebräu Ihrer Mutter, um einen Kater zu kurieren.«
 
 
Das Ministerium für Sport, Information und Kultur residierte in einem siebenstöckigen Gebäude mit Blick auf den trockenen Brunnen am Nam Phou Square. Rings um den kreisrunden Platz gruppierten sich malerische, wenngleich ziemlich heruntergekommene zweistöckige Häuser, die auch in einem kleinen südfranzösischen Dorf nicht weiter aufgefallen wären. Es war ein verschlafener Platz, wo alte Damen Frühlingsrollenteig zum Trocknen auf Drahttischchen auslegten und Rajid, der verrückte Inder, träge seine Runden um den tristen Betonbrunnen drehte.
Obgleich die Laoten es den meisten Regierungsstellen gegenüber an Respekt bislang erheblich fehlen ließen, nannten die Einwohner von Vientiane das geschmacklose Gebäude, in dem das Sportressort logierte, »Das Ministerium«, auch wenn es wohl eher seine Größe war, die ihnen imponierte, als seine Grandezza. Das ehemalige Französische Kulturzentrum konnte es an architektonischer Finesse ohne Weiteres mit einem Zwei-Sterne-Hotel in einem beliebigen Badeort aufnehmen. Die Beamten für Sport, Information und Kultur hasteten durch die weitläufigen Hallen, und ihre Schritte klapperten wie die Perlen in der ehemals prall gefüllten Schmuckschatulle einer an den Bettelstab geratenen Frau.
Herr Geung war in der Pathologie geblieben, um die Neuzugänge im Auge zu behalten. Dtui, die ihren ersten Ermittlungseinsatz außerhalb der Klinik absolvierte, stand in der Straßenmitte neben den Engeln, die dort mit Kreide auf die Fahrbahn gezeichnet waren. Siri stand zwölf Meter entfernt, mit dem Rücken zum Ministerium. Seine Augenbrauen beschrieben einen imaginären Bogen von Dtui zur obersten Etage des Gebäudes hinter ihm. Kopfschüttelnd trat er neben die Krankenschwester.
»Doch nicht?«, fragte sie.
»Nun ja, möglich wäre es durchaus, aber... ich weiß auch nicht. Entweder hat er mächtig Anlauf genommen, oder aber er ist geworfen worden. Und hätte ihn jemand geworfen, hätten wir Male an den Armen oder Beinen finden müssen. Haben wir aber nicht.«
»Meinen Sie nicht, er könnte...«
Eine Vespa kam um den Brunnen geknattert und nötigte Siri, aus dem Weg und der verdutzten Dtui in die Arme zu springen.
»Dr. Siri. Sie alter Charmeur, Sie.«
Peinlich berührt löste er sich aus ihrer Umklammerung. Ein paar Meter weiter hielt der Motorroller an, und der Fahrer, ein durchtrainierter, attraktiver Mann von Mitte vierzig, drehte sich lachend zu ihnen um. Inspektor Phosy stieg ab, wuchtete das alberne Gefährt auf seinen Ständer, und eilte mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Siri ergriff die Hand, und die beiden Männer umarmten sich und klopften einander auf den Rücken.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
»Wie geht es meinem Lieblingspolizisten?«
»Dr. Siri. Ich dachte, Sie wären tot.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden.« Sie machten sich voneinander los, und Siri blickte die Straße entlang. »Ein bemerkenswertes Dienstgefährt haben Sie da. Und die Farbe erst. Lila soll bei der Verbrechensbekämpfung ja wahre Wunder wirken.«
»Ich bitte um Nachsicht, Genosse. Die Zeiten sind schwer. Da muss man nehmen, was man kriegen kann.« Er blickte Siri über die Schulter. »Wohlsein, Dtui. Sie haben kein Gramm abgenommen.«
»Sie werden aber auch nicht schöner.«
Sie schüttelte ihm herzlich die Hand.
»Und?«, fragte Siri. »Wie kommen Sie zu diesem Fall?«
»Inzwischen landet alles, was auch nur ansatzweise nach ›Regierung‹ riecht, auf meinem nicht vorhandenen Schreibtisch. Als Dtui anrief und durchblicken ließ, dass es sich bei dem Opfer um einen Regierungsbeamten handeln könnte, holten sie mich aus der Versenkung. Was halten Sie von der Geschichte? War es Selbstmord?«
»Ich weiß nicht. Es ist merkwürdig. Sofern er nicht gerade seine Flugkünste erproben wollte, frage ich mich, weshalb er nicht einfach vom Dach gesprungen ist. Er wäre mindestens ebenso tot, wenn er nicht den Brunnen angesteuert hätte.«
»Na schön. Mal sehen, ob uns das Informationsministerium mit Informationen dienen kann.«
Sie traten gemeinsam durch die elegante Flügeltür und fanden sich in einer Eingangshalle wieder, die bis auf einen Tisch vollkommen leer war. Auf dem Tisch stand ein kleines, handgemaltes Schild mit der Aufschrift AUSKUNFT 1. STOCK.
Ihre Schritte hallten durch das teakholzgetäfelte Treppenhaus. Die Luft war stickig und verbraucht. Trotz der Hitze waren die meisten Fenster seit dem Abzug der Amerikaner nicht mehr geöffnet worden. (Amerikanische Sprachkurse hatten die französische Kultur vorübergehend verdrängt, bevor das Gebäude seinem derzeitigen Zweck zugeführt worden war.) Allein die laotische Kultur trat nirgends in Erscheinung. Was wiederum typisch war für die laotische Kultur.
Im ersten Stock kamen sie zunächst an zwei Amtszimmern vorbei, in denen es weder Leben gab noch Mobiliar. Die dritte Tür war angelehnt, und durch den Spalt sahen sie zwei Aktenschränke aus Metall, ein schiefes Regal, in dem sich alle Bücher auf einer Seite drängten, und einen Schreibtisch mit einem Mann darauf.
Er schlief im Unterhemd, mit einem beseelten Ausdruck in seinem jugendlichen Gesicht. Sein gebügeltes weißes Hemd verwandelte seinen Schreibtischstuhl in eine Vogelscheuche. Obwohl es zwanzig nach eins war und der Mann eigentlich Dienst hatte, klopfte Phosy höflich an und sagte: »Verzeihung.«
Der Beamte rührte sich nicht, und Phosy wollte eben ein zweites Mal anklopfen, als Siri sich an ihm vorbei ins Zimmer zwängte. Der Doktor war erstaunlich geduldig, doch für bürokratische Inkompetenz hatte er keine Zeit. Boua und er hatten Jahrzehnte ihres Lebens dem Kampf gegen die Korruption gewidmet, und er hatte nicht die Absicht, sich auf seine alten Tage von einem korrupten System vereinnahmen zu lassen. Im schönsten Beamtentonfall bellte er: »Um Himmels willen, Mann! Was treiben Sie denn da? Das hier ist eine Regierungsstelle und kein Ruhestift. Was, wenn plötzlich Not am Sportsmann wäre?«
Phosy und Dtui wechselten einen stirnrunzelnden Blick.
Der Mann schreckte zappelnd und fuchtelnd aus seinem Traum, worauf eine Handvoll akkurat gespitzter Bleistifte quer durchs Zimmer flog. Er hüpfte von der Schreibtischplatte in seine Schuhe. Dann lief er um den Tisch, fischte sein Hemd vom Stuhl und zog es an. Er war ein unscheinbares Männlein mit verwirrter Miene. Er sank auf den Stuhl, knöpfte sich das Hemd zu und fragte seine Besucher, ganz so als hätten sie seine Auferstehung nicht gerade persönlich miterlebt: »Was kann ich für Sie tun?«
Phosy reichte ihm lächelnd ein mittels Matrize vervielfältigtes Blatt Papier, an dem sein Foto klemmte. Es war sein Dienstausweis. Der Mann studierte ihn ausgiebig.
»Polizei?«, kombinierte er.
»Sehr gut. Heute am frühen Morgen wurde vor dem Ministerium ein Toter gefunden. Sie vermissen nicht zufällig jemanden?«
»Schwer zu sagen.«
»Warum?«
»Weil uns ständig Mitarbeiter abhandenkommen. Entweder sie werden in andere Provinzen versetzt. Oder sie sind krank. Wir haben den Amtsleiter und seinen Stellvertreter seit über einer Woche nicht gesehen.«
»Gibt es denn keine Übersicht? Der sich entnehmen ließe, wer sich wo aufhält?«
»Hmm. Nein.«
»Wer ist für die Reiseplanung zuständig?«
»Ähm. Meine Wenigkeit.«
»Und Sie führen keine Liste?«
»Das ist eine gute Idee, aber es hat noch nie jemand danach gefragt. Wenn Sie wissen wollen, wer fehlt, müssen Sie schon von Zimmer zu Zimmer gehen.«
Und das taten sie denn auch. Siri fragte sich, wie das Informationsministerium zu seinem Namen gekommen war, hatte es in dieser Hinsicht doch wenig Brauchbares zu bieten. Sie begannen im ersten Stock mit der Durchsuchung und arbeiteten sich langsam in die oberen Etagen vor. Der junge Mann führte sie durchs Haus und stellte ihnen recht entspannt wirkende Sekretärinnen und gesichtslose Männer vor, deren Arbeit sich in der eingehenden Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften und Romanen zu erschöpfen schien.
Siri beschrieb den Toten immer wieder, bis ihm klar wurde, dass die Beschreibung auf gut die Hälfte aller Bediensteten des Ministeriums passte. Sie alle trugen bügelfreie Hosen und Plastikschuhe und litten an einer mehr oder minder schweren Form des Triplikatsyndroms.
Die Verwaltungsräume im vierten Stock standen größtenteils leer, und die Tür zu den beiden oberen Etagen war offenbar verschlossen. Während die Beamten händeringend nach dem Schlüssel suchten, bemerkte die überaus findige Dtui, dass von innen bereits ein Schlüssel steckte. Sie klopften und riefen, damit jemand herunterkam und ihnen aufschloss, doch ihre Bemühungen trafen auf eisiges Schweigen, was nichts Gutes ahnen ließ.
»Was ist da oben?«, fragte Siri.
»Das Archiv«, sagte der junge Mann. »Unsere historische Abteilung, wenn Sie so wollen. Denkmalerhaltung und dergleichen.«
Siri fragte sich, welchen Wert die Regierung der Bewahrung des nationalen Erbes beimaß, mochte sie doch nicht einmal den Einsatz von Wachleuten zum Schutz der Kulturstätten finanzieren. Wer sich eine Buddha-Büste ins Regal stellen wollte, brauchte sich bloß zu bedienen.
Dtui ging auf die Knie und konnte den Schlüssel, unter geschicktem Einsatz ihrer Haarnadel und einer sorgfältig platzierten Zeitung, nach kaum zwei Minuten aus dem Schloss und unter der Tür hindurchbefördern. Phosy war fassungslos vor Staunen.
»Wissen Sie, was? Es gibt da noch ein oder zwei ungeklärte Einbruchsfälle aus der Zeit vor der Revolution...«
»Ich kann’s nicht gewesen sein, Inspektor. Ich trage normalerweise Handschuhe. Hoppla.«
Sie steckten den Schlüssel wieder ins Schloss, öffneten die Tür, und Phosy ging voran, die Stufen in den fünften und sechsten Stock hinauf, eine Reihe von Bretterverschlägen unter dem Dach. Auf der Treppe spürte Siri mit einem Mal eine entfesselte Kraft, war sich seiner Instinkte jedoch nicht sicher genug, um die anderen zur Vorsicht zu ermahnen.
Das Hauptarchiv befand sich in einem langen Raum im obersten Stock. Er bot ein Bild der Verwüstung. Tongefäße lagen in Scherben auf dem Fußboden verstreut. Landkarten und alte Steinabreibungsdrucke waren von der Wand gerissen worden. Trotz des Durcheinanders entging Phosy nicht, dass die großen Fenstertüren offen standen; das Glas war eingeschlagen, der Riegel gebrochen. Ein Satz aus diesem Fenster, und der Betreffende wäre haargenau bei den Kreideengeln auf der Straße neben dem Brunnen gelandet. Dazu hätte er allerdings Anlauf nehmen müssen.