Dr. Siri und die Geisterfrau - Colin Cotterill - E-Book

Dr. Siri und die Geisterfrau E-Book

Colin Cotterill

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In einem laotischen Dorf geschieht Merkwürdiges: Bei einem Überfall wird eine Frau getötet. Es folgen Trauerfeier und Einäscherung – kurz darauf taucht das Opfer wieder auf, kerngesund und bester Laune. Und weil die Frau seit dem Vorfall offenbar eine spirituelle Verbindung ins Jenseits pflegt, gelingt es ihr, den Fundort lange verschollener Gebeine zu bestimmen. Selbige sollen nun vom Grund eines Flusses geborgen werden, und der Pathologe Dr. Siri soll die Aktion überwachen. Könnte eine hübsche Reise für ihn und seine Gattin, Madame Daeng, werden. Das Problem: Siri verspürt großes Interesse für das weibliche Medium, Madame Daeng spürt den Stachel der Eifersucht – und ein finsterer Franzose spürt sie beide inmitten des Dschungels auf ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 404

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

In einem laotischen Dorf geschieht Merkwürdiges: Bei einem Überfall wird eine Frau getötet. Es folgen Trauerfeier und Einäscherung – doch kurz darauf taucht das Opfer wieder auf, kerngesund und bester Laune. Und weil die Frau seit dem Vorfall offenbar eine spirituelle Verbindung zum Jenseits besitzt, kann sie auch ein altes Rätsel lösen: Sie weiß, wo die letzte Ruhestätte eines vor Jahren verschollenen Mannes liegt. Nun sollen dessen Gebeine vom Grund eines Flusses geborgen werden, und der Pathologe Dr. Siri soll die Aktion überwachen. Es könnte eine hübsche Reise für ihn und seine Gattin Madame Daeng werden. Das Problem: Siri verspürt großes Interesse für das weibliche Medium, Madame Daeng spürt den Stachel der Eifersucht – und ein finsterer Franzose spürt sie beide inmitten des Dschungels auf …

Weitere Informationen zu Colin Cotterill sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Colin Cotterill

Dr. Siri und die Geisterfrau

Roman

Aus dem Englischenvon Thomas Mohr

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

»The Woman Who Wouldn’t Die« bei Quercus, London.

Copyright © der Originalausgabe

2013 by Colin Cotterill

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Umschlagkonzeption und Gestaltung: Buxdesign / München

Coverillustration: © Ruth Botzenhardt

Redaktion: Brigitte Helbling

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18089-8V003

www.manhattan-verlag.de

Ich danke Polly, Steve, Robert, Scott, Kiang, Ali, Denny, Mac, Jim, Jane, Clair Voyant und Liz. Sowie meinen Lesern Bambina, David, Kay, Lizzie, Dad, Michaela, Brother John, Tony, Leila, Kye, Rachel und Tang.

Inhalt

1

FRAU WAR-EINMAL

2

DIE NINJAS VOM AMT

3

DER MANN MIT DEM STERN AUF DER STIRN

4

WIE MAN EINEN FRANZOSEN UMBRINGT

5

DER CLUB DER BERGAUFRUDERER

6

VERLIEBT IN EINE HEXE

7

DAS DORF DER UNTOTEN

8

1910

9

EIN LEICHNAM VON GERINGEM FORMAT

10

PARHANOIA

11

WAKE ME UP BEFORE YOU GO-GO

12

FLUSS OHNE WIEDERKEHR

13

FRANZMANNS ELLBOGEN

14

DAENGS GROSSES FINALE

15

ENTSCHEIDENDES ZUSPIEL

16

EIN RAUSCHENDER ABGANG

1

FRAU WAR-EINMAL

Madame Keui sei aus Fleisch und Blut, so sagte man, auch wenn niemand sich entsinnen konnte, ihr wieder erwärmtes Fleisch berührt zu haben, und kein Mensch sie jemals hatte bluten sehen, nicht einmal nachdem die zweite Kugel ihren Kopf durchschlagen hatte. Dennoch war sie im Oktober 1978, zum Zeitpunkt dieser Geschichte, de jure und de facto quicklebendig. Die Leute hatten sie mit ihren Einkäufen den Hügelkamm entlangspazieren oder auf ihrem Rad im Wald verschwinden sehen. Einige im Dorf hatten sie sogar sprechen hören. Sie sei zur Vietnamesin geworden, sagten sie. Ihr Akzent sei so stark wie eine angedickte Brühe, in der gar zu große Hammelstücke schwammen. Sie wechselte schon lange kein Wort mehr mit den Dorfbewohnern, dafür kamen Fremde von weit her, um ihre Aufwartung zu machen. Sie empfing sie in ihrem Haus, einem vornehmen, mit edlen chinesischen Möbeln vollgestopften Holzbau – Pärchen, Alte und Familien mit Kindern. Sie saßen in ihrem Wohnzimmer, das man von der ruhigen Seitenstraße aus bequem einsehen konnte. Und wenn sie wieder gingen, waren die Fremden so erleichtert und beschwingt, als sei ihnen ein Stein von der gequälten Seele genommen worden. Doch wenn die Dorfbewohner sie anhielten und sich erkundigten, was dort geschehen sei, wussten die Besucher keine Antwort. Als ob sie vergessen hätten, dass sie jemals dort gewesen waren.

Und vielleicht nannten sie die Leute deshalb Keui: Madame War-einmal. Denn wenn sie sich über die wunderschöne alte Dame unterhielten, dann nur in der Vergangenheitsform. »Es war einmal eine Frau, die mit vielen Stimmen sprach.« »Es war einmal eine Frau, die von Monat zu Monat jünger zu werden schien.« »Es war einmal eine Frau, deren Haus auch dann in warmem Licht erstrahlte, wenn es auf dem Markt kein Sturmlaternenöl zu kaufen gab.« Und selbst wenn sie ihr morgens auf der Straße begegnet waren, sagten sie beim Abendessen: »In unserem Dorf gab es einmal eine Frau, die …«

Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie ihren Leichnam zwei Monate zuvor zum Scheiterhaufen getragen und zugesehen hatten, wie die Flammen sie verschlangen.

2

DIE NINJAS VOM AMT

Sie lauerten im spätabendlichen Schatten. Drei volle Nächte hatten sie ausgeharrt, unter dem strassbesetzten Himmel, die Straßen erhellt von Abermillionen Sternen, bis endlich eine Wolkenbank aufgezogen war und ihnen einen Moment lang Deckung gewährt hatte. Sie waren zu fünft, allesamt marineblau und damit eigentlich fast schon schwarz gekleidet. Sodass man sie im sternenlosen Marineblau der Hauptstadtnacht wohl kaum gesehen hätte, wären ihre batteriebetriebenen Taschenlampen nicht gewesen, die all ihre Bemühungen – die dunkle Kleidung, die mit verkohltem Kork geschwärzten Gesichter – hell und grell zunichtemachten. Doch in den Vororten östlich des That-Luang-Denkmals gab es noch keine Straßenbeleuchtung, dafür aber jede Menge Schlaglöcher, in die man treten konnte. Es war elf Uhr abends, und die meisten Hausbesitzer lagen längst im Bett und träumten süß von besseren Zeiten. Nur hinter ein oder zwei Fenstern schimmerte gespenstisch der fahlgelbe Schein von Öllaternen, die nach und nach erloschen, als die Männer vorübergingen. Die Lichtstrahlen ihrer Taschenlampen zerfetzten die Nacht wie stumme Sirenen. Ganz Ost-That-Luang wusste, dass dort draußen etwas im Gange war, weshalb niemand es wagte, aus dem Fenster zu schauen.

Wenige Meter vor ihrem Ziel ging der Anführer in die Hocke und winkte seinen Männern, ihre Lampen auszuschalten. Im Nu hatte das Dunkel sie verschlungen, und sie saßen im schwarzen Bauch einer gigantischen Naga. Keiner von ihnen bewegte sich, aus Angst, ringsum habe sich vielleicht die Erde aufgetan. Doch da sie nicht als Feiglinge gelten mochten, verzichteten sie darauf, ihre Taschenlampen wieder einzuschalten, und sie rührten sich nicht vom Fleck.

»Gebt euren Augen ein paar Minuten Zeit, Leute«, wisperte der Anführer, und sein Flüstern schien von den Betonmauern des Neubauviertels widerzuhallen.

Besagte Minuten quälten sich dahin, aber die Augen der Männer wollten sich partout nicht an die Dunkelheit gewöhnen. Trotzdem stand ihr Anführer auf. Der mächtige Schlüsselbund an seinem Gürtel klirrte. Sie wussten, dass es an der Zeit war, auf ihr Ziel – Haus Nummer 22B742 – vorzurücken. Sie hatten Schmetterlinge im Bauch. Augenblicke wie dieser konnten Karrieren begründen. Ein Orden war ihnen so gut wie sicher.

Im Gänsemarsch trippelten sie ihrem Anführer hinterdrein, der sich im Dunkeln mühelos zurechtzufinden schien. Vor ihnen erhob ihr Ziel sich aus der Nacht. Das Haus war geradezu schamlos hell erleuchtet. Kerzen flackerten in den beiden Vorderfenstern, und … drang da etwa eine Melodie an ihre Ohren? In der Tat. Musik. Irgendein dekadenter Westlärm. Die Genossen dort drinnen waren offenbar auf Ärger aus. Sie bettelten förmlich darum. Heute Nacht würden sie bekommen, was sie verdienten. Der Kerzenschein erhellte den Vorgarten und spiegelte sich in den Knopfaugen der Männer. Der Anführer streckte den Arm aus.

»Du und du, zum Hintereingang«, flüsterte er. »Lasst niemanden entkommen. Wir schnappen sie uns alle. Egal ob Mann, Frau oder Kind.«

Die so Angesprochenen verschwanden in geducktem Gang, der nicht nur von fern an Groucho Marx erinnerte, in der schmalen Seitengasse. Doch ihr beherzter Flankenangriff wurde bald schon durch die Tatsache vereitelt, dass sich das Seitentor nicht öffnen ließ. Es war entweder verriegelt oder klemmte, und zum Hinüberklettern war es zu hoch. Sie blickten hilfesuchend zu ihrem Anführer, der sie im Schatten jedoch nicht sehen konnte. Da er die Nachhut auf ihrem Posten wähnte, marschierte er mit dem Rest seiner Mannschaft quer durch den Vorgarten zur Veranda. Er war kein Freund dieser Westquartiere mit ihren vielen kleinen Zimmern. Er brauchte Platz. Er hatte selbstverständlich einen Nachschlüssel für Nummer 22B742, doch der erwies sich als überflüssig. Die Tür war angelehnt. Er holte tief Luft und stemmte sich gegen das schwere Teakholz. Die wohlgeölte Tür gab etwas zu bereitwillig nach, und hätte er sie nicht in letzter Sekunde zu fassen bekommen, wäre sie gegen die Dielenwand gekracht.

Aus den Zimmern rechts und links drang flackernder Kerzenschein, und der Raum geradeaus – die Küche, wie er von früheren Besuchen her wusste – war hell erleuchtet. Dort spielte die dekadente Musik, und dort hatten sich vermutlich auch die Strolche und Tagediebe versammelt. Wenn sie versuchten, durch die Hintertür zu entwischen, würden sie ihm schnurstracks in die Falle gehen. Er zog eine russische Lubitel-166 aus seiner Seitentasche. Nicht eben das kompakteste Modell, aber relativ problemlos nachzuladen. Diesmal würde ihm kein Fehler unterlaufen. Diesmal würde er sie alle kriegen.

Inzwischen waren die beiden Männer, die er zur Hintertür geschickt hatte, denselben Weg zurückgegangen und versuchten nun, das Gebäude auf der Ostseite zu umrunden. Dort versperrte ihnen ein Hund den Weg, genauer gesagt, ein hässlicher und noch dazu recht bösartiger Hund, der sich knurrend auf die Hinterbeine stellte. Von seinen Reißzähnen tropfte Sabber. Die beiden Männer erstarrten. Sie waren bis zum Küchenfenster gekommen, durch das ein helles Licht auf ihre missliche Lage fiel. Zum Glück war der Hund angekettet, und unter dem Fenster stand ein Motorrad. Wenn sie auf den Sitz kletterten, konnten sie erstens dem Köter aus dem Weg gehen und zweitens unauffällig einen Blick ins Haus werfen. Kaum lugten ihre Köpfe über den unteren Rand des Mückengitters, platzten der Anführer und seine beiden Männer auch schon zur Tür herein.

»Keine Bewegung!«, brüllte der Anführer, und seine Kamera blitzte einmal, zweimal. »Niemand verlässt …«

Doch in der Küche waren weder Strolche noch Tagediebe, nur ein einsamer alter Mann. Er stand nackt in einer großen Zinkwanne, bis zu den Knien in schaumigem Wasser, in der Hand einen riesigen Badeschwamm. Ohne den geringsten Anflug von Bestürzung oder Scham kehrte der alte Mann ihnen den Rücken zu und seifte sich lachend das Hinterteil ein.

»Durchsucht ihn«, rief der Anführer. Niemand hatte es besonders eilig, dem Befehl Folge zu leisten. »Durchsucht sämtliche Zimmer, Schränke und Schubladen. Und vergesst den Dachboden nicht!«

Als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte, wandte er den Kopf. Vor dem vergitterten Fenster entdeckte er die Gesichter der beiden Männer, die eigentlich den Garten hätten bewachen sollen.

»Was treibt ihr denn da?«, schnauzte er.

Einer der Männer winkte. Der andere sagte: »Hier ist ein Hund.«

»Idioten«, bellte der Anführer.

»Also, für diesen Anblick hätte ich mit Freuden meinen linken Arm – na schön, sagen wir, den linken Arm meines Gärtners – hingegeben«, sagte Genosse Civilai. In den zwei Jahren seit seinem Rückzug aus dem laotischen Politbüro hatte er seine Seele der Küche verkauft. Der Pensionär brachte satte sechs Kilo mehr auf die Waage als das dürre, kahlköpfige ZK-Mitglied (das seiner gertenschlanken Linie nur deshalb erfolgreich treu geblieben war, weil es so gut wie jeder Entscheidung des Politbüros tapfer widersprochen hatte).

»Vorzugsweise aus Siris Perspektive«, setzte er hinzu. »Mein Bedürfnis, den kleinen Doktor im Adamskostüm zu betrachten, hält sich in recht engen Grenzen.«

Die Runde quittierte seine Bemerkung mit herzhaftem Gelächter. Wie jeden Mittwoch hatte sich die kleine Gruppe nach Feierabend in Madame Daengs Nudelküche versammelt. Diesen Termin versuchten sie streng einzuhalten, da sie sonst nur selten Gelegenheit bekamen, die neuesten Neuigkeiten auszutauschen. Dennoch blieb in letzter Zeit immer mal wieder ein Stuhl leer. Weil Civilai durch die Genossenschaften in den Provinzen tingelte. Weil Inspektor Phosy bis spät in die Nacht bei Kerzenschein über Ermittlungsakten brütete. Oder weil Dr. Siri Paiboun, der sein Amt als erster und einziger Leichenbeschauer der Demokratischen Volksrepublik Laos vor gut zwei Wochen abgegeben hatte, zur »Läuterung« antreten musste, wie er zu sagen pflegte. Man hatte ihn zu vierzehn Seminaren zum Thema »Kritik und Selbstkritik« geladen, angeblich eine Pflichtveranstaltung für hohe Staatsbeamte auf dem Weg in den verdienten Ruhestand. Um des lieben Friedens willen hatte er ihre Zahl auf drei heruntergehandelt. Der Funktionär, der die Seminare leitete, hatte von seinen Sperenzchen schon nach der ersten Sitzung die Nase voll und legte ihm nach der zweiten dringend nahe, von der weiteren Teilnahme abzusehen. Und so ward Siri offiziell von sämtlichen Parteiverpflichtungen entbunden.

»Wo halten Sie sie eigentlich versteckt?«, fragte Schwester Dtui. Ihr Töchterchen Malee saß fröhlich glucksend auf ihrem Schoß.

»Haha. V… v… versteckt. Guter Witz«, meinte Herr Geung und grinste.

»Diese Information ist streng geheim und wird nur bei begründetem Bedarf erteilt«, sagte Siri.

»So viel zu der Maxime ›Einer für alle, alle für einen‹«, sagte Civilai. »Ich dachte, wir sind eine verschworene Gemeinschaft und Offenheit ist oberstes Gebot.«

Er erhob sein Glas Reiswhisky, zu dem sich in Sekundenschnelle vier weitere gesellten. Nur Herr Geung und die kleine Malee übten sich standhaft in Abstinenz.

»Auf die Offenheit«, deklamierte er.

»Glückauf«, sagte Madame Daeng.

»Glückauf«, wiederholten die anderen.

Sie leerten ihre Gläser, und Daeng füllte nach.

»Du hast ja recht, großer Bruder«, lenkte Siri ein. »Offenheit ist oberstes Gebot. Und ihr werdet es noch früh genug erfahren. Aber alles zu seiner Zeit. Wenn ihr wüsstet, wo sie stecken, würde das einen von uns in einen tiefen Interessenkonflikt stürzen.«

»Er meint mich«, sagte Inspektor Phosy, der unter dem Tisch heimlich Schwester Dtuis Hand hielt, eine in diesen Breitengraden eher ungewöhnliche Geste zwischen einem Mann und seiner Frau. Er hatte sie Daeng und Siri abgeschaut, die sich nicht scheuten, ihre Zuneigung offen zu zeigen.

»Und will damit zaghaft andeuten, dass er – zum wiederholten Mal – gegen geltendes Recht verstoßen hat«, setzte er hinzu.

»Ich bin entsetzt und fassungslos«, sagte Siri. »Aber wäre das tatsächlich der Fall, müssten Sie mir eigentlich auf Knien dafür danken, dass ich bislang geschwiegen habe. Abgesehen davon, welches Schwerverbrechens könnte sich ein hinfälliger Greis wie ich schon schuldig machen?«

Worauf sich lautes Stöhnen erhob, denn sie alle wussten, dass Siri mit dem Gesetz seit je auf Kriegsfuß stand. Und im Grunde verstießen sie allein mit ihrer Anwesenheit gegen die Vorschriften. Sofern eine Zweijährige als vollwertige Person gelten durfte, waren sie zu siebt. Jegliche Zusammenkunft einer außerfamiliären Gruppe, welche mehr als fünf Mitglieder umfasste, erforderte eine schriftliche Genehmigung der Abteilung für Termine und Versammlungen, für die man stunden-, wenn nicht tagelang anstehen musste. Und das war nur eine der zahllosen bürokratischen Schikanen, mit denen die sozialistische Regierung der laotischen Bevölkerung das Leben schwer machte. Hätte die illustre Runde nicht über das entsprechende Format verfügt, wäre sie ohne Zweifel längst gemeldet worden, sei es von einem der Spitzel aus der Nachbarschaft oder einem Mitglied der Jugendbewegung. Und an Format mangelte es ihr wahrlich nicht. Siri und Civilai hatten zusammen über achtzig Jahre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei auf dem sprichwörtlichen Buckel. Und auch Madame Daeng waren die alten Männer an der Macht einiges schuldig. Sie war erst seit einem Jahr in Vientiane. In dieser Zeit hatte sie Dr. Siri umworben und geehelicht, die beliebteste Nudelküche der Hauptstadt eröffnet und zur Aufklärung diverser Kriminalfälle beigetragen, die andere vor ein unlösbares Rätsel gestellt hätten. Die Fähigkeiten der Siebenundsechzigjährigen gingen über die perfekte Kombination von Kräutern und Gewürzen weit hinaus. Nur wenige Einwohner der Kapitale wussten von ihrem geheimen Vorleben.

Ebenfalls anwesend war Herr Geung, der stolz die Fahne des Down-Syndroms hochhielt. Bis vor kurzem hatte er Siri als Sektionsassistent zur Seite gestanden. Doch nachdem der Doktor pensioniert und die Pathologie offiziell geschlossen worden war, hatte man ihn in die sogenannte Rote Kammer verbannt – die Wäscherei des Krankenhauses, wo Leintücher und Bettzeug von Blut und anderen Körpersäften gereinigt wurden. Im Zuge einer waghalsigen Rettungsaktion war es Siri in letzter Minute gelungen, Herrn Geung in Madame Daengs Nudelküche zu entführen, wo er Nudeln servierte und köstlichen Kaffee braute, mit drei Daumenbreit Kondensmilch in jedem Glas.

Inspektor Phosy heuchelte – wie schon so oft – Unwissenheit, was Siris illegale Umtriebe anging. In einem Land ohne Verfassung und Gesetze ließ sich über das Wörtchen »illegal« ohnehin trefflich streiten. Außerdem verdankte er dieser Runde einige der prächtigsten Orden an seinem Revers, auch wenn er das nur ungern zugab. Dank ihrer Triumphe auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung war er zum Leiter der Kriminalabteilung (Politische Sektion) aufgestiegen. Die Beförderung hatte ihm nicht nur eine Gehaltserhöhung von monatlich 400 Kip – umgerechnet etwa ein Dollar fünfzig –, sondern auch einen stählernen Aktenschrank sowie einen eigenen Gartenrechen beschert.

Seine Gattin, Schwester Dtui, die nach der Schließung der Mahosot-Pathologie ebenfalls vor dem beruflichen Aus gestanden hatte, war unterdessen in das alte Lido-Hotel berufen worden, das jetzt die Staatliche Schwesternschule beherbergte. Dort unterrichtete sie die Grundlagen der Physiologie und Russisch. Ersteres, weil sie mehr innere Organe gesehen und seziert hatte als all ihre Kolleginnen zusammen. Und Letzteres, weil sie – bis zu ihrer unverhofften Schwangerschaft – im Ostblock ein Fach hatte studieren wollen, das sie bereits aus dem Effeff beherrschte: forensische Pathologie. Während Malee in einer Ecke des Klassenzimmers in einer kleinen Hängematte schaukelte, erklärte sie jungen Bergvolkmädchen, die kaum ein Wort Laotisch sprachen, die russische Grammatik.

»Nur zu unserer Beruhigung, kleiner Bruder«, sagte Civilai, »du hast sie doch nicht etwa alle umgelegt, oder? Sie geopfert, damit die Knaben vom Wohnungsamt sie nicht in ihre schmierigen Finger bekommen?«

»Sie sind allesamt gesund und munter«, sagte Siri.

»Alle elf«, ergänzte Daeng.

»Elf? Ah, ich wusste es.« Civilai nickte. »Du hast eine Fußballmannschaft zusammengestellt. Und trainierst sie klammheimlich in deinem Haus.«

»Ich gebe den Obdachlosen lediglich ein Obdach«, sagte Siri. »Und Streunern und Vaganten ein bescheidenes Heim.«

»Ich habe Sie gewarnt«, sagte Inspektor Phosy. »Wie oft habe ich Sie gewarnt? Unsere Partei kümmert sich darum. Sie hat eigens ein Programm ins Leben gerufen …«

»… das sich im Wesentlichen darauf beschränkt, diese Leute notfalls mit Gewalt aus dem Straßenbild zu entfernen.« Siri redete sich in Rage. »Und sie auf engstem Raum ohne sanitäre Anlagen zusammenzupferchen, damit sie das Auge der Öffentlichkeit nicht beleidigen. Die Tempel sind voll von solchen armen Schluckern. Das Komitee hat mir in That Luang ein hervorragendes Haus gebaut. Es hat Strom und fließend Wasser – wenn der Anschluss denn dereinst gelegt sein wird. Was also spricht dagegen, meine Mitmenschen an meinem Glück teilhaben zu lassen?«

»Zum Beispiel die Tatsache, dass Sie nicht dort wohnen«, gab Phosy zu bedenken. »Sie wohnen hier, über dem Restaurant. Von Rechts wegen haben Sie gar keinen Anspruch auf eine Dienstbehausung.«

»Ich bitte Sie! Ich bin ein hochrangiges Mitglied der Partei«, sagte Siri.

Er stand auf und legte die Hand auf sein Herz. Madame Daeng und Civilai taten es ihm lachend nach. Civilai begann die »Marseillaise« zu summen.

»Ich bin ein altgedienter, mit allen Wassern gewaschener Feldscher, der an die fünfhundert Einsätze überstanden hat«, sagte Siri. »Ich habe in Frankreich studiert und spreche drei Sprachen.«

»Vier, wenn man das Kauderwelsche mitzählt«, warf Civilai ein.

Siri ignorierte ihn. »Ich bin der persönliche Berater von Präsidenten und Premierministern – ein Mann, der von den Massen geliebt und bewundert wird. Ich habe mir mein Haus redlich verdient und möchte gefälligst frei entscheiden dürfen, was ich damit anstelle. Und wenn mir der Sinn danach steht, es mit Eiscreme anzustreichen und hernach genüsslich abzulecken, ist das verdammt noch mal mein gutes Recht.«

Herr Geung klatschte stürmisch Beifall.

»Früher oder später wird man sie finden«, sagte Phosy. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie ungestraft elf Leute bei sich verstecken können? Nicht in der heutigen Zeit.«

»Wetten, dass?«, sagte Siri.

3

DER MANN MIT DEM STERN AUF DER STIRN

»Ah, Siri«, sagte Richter Haeng. Mit seinen Pickeln, seinen dauerfeuchten Augen und seinem grünen Safarihemd sah der vorzeitig gealterte junge Mann eigentlich eher aus wie ein Frosch an einem Schreibtisch als wie der Leiter der Öffentlichen Anklagebehörde. Er stand auf und streckte dem weißhaarigen Doktor die Hand hin, vermied es jedoch wie immer, in Siris tiefgrüne Augen zu blicken. In seinen Albträumen saugten ihn diese Augen geradewegs in den knurrigen alten Schädel hinein, in einen Mahlstrom schwärzester Gedanken. Siri ergriff die Hand und schüttelte sie flüchtig, denn er wusste, dass er diese Höflichkeitsgeste nicht etwa Haengs ausgeprägter Nächstenliebe, sondern schnöder Erpressung zu verdanken hatte. Der Doktor sammelte nämlich Informationen und hatte gegen diverse ranghohe Parteifunktionäre belastendes Material in der Hand, das er vertraulichen Geständnissen am Vorabend der Schlacht, ärztlichen Unterlagen über die Behandlung höchst privater Leiden und offiziellen, vorwiegend auf Französisch verfassten Regierungsakten entnommen hatte, die nur wenige der herrschenden Pathet Lao lesen konnten. Und so befand er sich denn auch im Besitz einiger brisanter Erkenntnisse, die – wären sie in die falschen Hände geraten – dem komfortablen Lebensstil des Richters ein jähes Ende bereitet und ihm womöglich sogar ein paar Jährchen Umerziehung eingetragen hätten, in einer entlegenen Provinz, aus der nur die Wenigsten lebend zurückzukehren pflegten.

Richter Haeng gehörte zu den Menschen, die für einen Erpresser kaltlächelnd einen Unfall arrangiert hätten. Aber Siri war ein Meister der Erpresserkunst. Der seine Opfer gleich zu Beginn davon in Kenntnis setzte, dass er all seine Papiere auf eine Reihe von Schließfächern in und außerhalb von Laos verteilt habe, die im Falle seines vorzeitigen Ablebens unverzüglich zu öffnen seien. Was selbstverständlich frei erfunden war. Die Papiere lagen unter seiner Matratze. Das wusste außer seiner Frau jedoch niemand. Und Siri nutzte sein Wissen ja nicht zum Bösen oder um sich zu bereichern, sondern stets und ausschließlich zum Guten. Bisweilen brauchte auch ein Staatsdiener etwas Orientierungshilfe, damit er nicht vom rechten Weg abkam.

»Ich … äh … habe Ihre Beschwerde gelesen«, begann Haeng. »Ich habe sie allerdings noch nicht ans Innenministerium weitergeleitet.«

»Dann wird es aber langsam Zeit«, sagte Siri. »Sie liegt Ihnen seit immerhin drei Tagen vor.«

»Ich weiß, ich weiß. Und es tut mir aufrichtig leid. Aber ich … Bitte nehmen Sie doch Platz.«

Siri blieb stehen.

»Ich habe mich gefragt, ob Sie es sich nicht vielleicht doch noch einmal überlegen möchten«, sagte der Richter.

»Was gibt’s denn da zu überlegen? Ich liege gemütlich und nichts Böses ahnend zu Hause in der Badewanne, als mit einem Mal diese von einem Liliputaner angeführte Armee von Volltrotteln zur Tür hereinplatzt. Und nicht nur das, der Wicht erdreistet sich auch noch, meine Weichteile mit seiner Kamera abzulichten, und das gleich zwei Mal. Wer weiß, womöglich prangt mein Foto längst an sämtlichen Telegrafenmasten der Stadt.«

»Zugegeben, Siri, Genosse Koomki ist eventuell ein wenig kurz geraten. Aber wäre er tatsächlich als Liliputaner anerkannt, hätte man ihn wohl kaum zum Leiter des Wohnungsamts bestimmt.«

Siri zog seine buschigen Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Was ging im Hirn dieses von den Sowjets gezüchteten Bürohengstes nur vor?

»Herr Richter«, sagte er. »Es ist mir gleichgültig, ob er als Liliputaner anerkannt ist oder nicht. Ganz und gar nicht gleichgültig hingegen ist mir, dass er in mein Haus und also meine Privatsphäre eingedrungen ist. Er hat es verdient, entlassen zu werden. Und ich habe das Recht, offiziell Beschwerde einzureichen.«

»Das könnte … peinlich werden.«

»Je röter die Gesichter, desto besser.«

»Ich weiß nicht. Ich wäre unter Umständen bereit, Ihre Beschwerde weiterzuleiten …«

»Gut.«

»Ich wäre unter Umständen bereit, sie weiterzuleiten … wenn Sie sich in der Lage sähen, Ihrem Vaterland ein letztes Mal Ihre helfende Hand zu reichen.«

»Meine was?«

»Ihre helfende Hand.«

»Die Anzahl meiner Hände ist begrenzt. Würden Sie sich notfalls auch mit einem Finger begnügen?«

»Aber Siri, deshalb brauchen Sie doch nicht gleich ausfallend zu werden. Ein guter Sozialist verfügt bis zu seinem letzten Atemzug über ausreichend Sauerstoff, um einen ertrinkenden Genossen wiederzubeleben. Und sei die See auch noch so rau. Mir ist durchaus bewusst, dass Sie unserer Nation nicht nur einmal selbstlos einen großen Dienst erwiesen haben. Aber ich weiß auch, dass Sie einer gelegentlichen Vergnügungsreise nicht abgeneigt sind. Also, wie wär’s mit einem kleinen Abstecher in die Provinz? Natürlich auf Kosten des Komitees.«

»Ich bin im Ruhestand.«

»Und haben endlich genügend Zeit und Muße, sich die Sehenswürdigkeiten unseres schönen Landes anzuschauen. Ein paar Tage in einem malerischen Gästehaus. Das eine oder andere kühle Bierchen, gutes Essen. Sie dürfen auch Madame Daeng mitnehmen. Zweite Flitterwochen, sozusagen.«

Siri zögerte.

»Wohin?«

»Xaignabouri. Die Bootsrennen in Paklai.«

»Die Rennen sind seit vier Wochen vorbei.«

»Ja, hier bei uns. Aber es liegt im Ermessen des zuständigen Kaders zu entscheiden, wann er den Werktätigen in seiner Provinz ein paar Tage Urlaub und Erholung gönnt. In Luang Prabang finden die Rennen erst im November statt.«

»Ich weiß nicht. Auf meiner letzten Reise bin ich mitten in ein Massaker geraten. Auf der vorletzten wurde ich gefoltert und konnte nur knapp dem Tod entrinnen. Von Urlaub und Erholung keine Spur.«

»Diesmal wird es anders, Siri. Ein paar Stündchen Arbeit, und danach können Sie so lange bleiben, wie Sie wollen, und in Ruhe die Natur genießen. Die Doppeldecker-Fähre bringt Sie hin und wieder zurück.«

»Und wo ist der Haken?«

»Immer dieses Misstrauen. Warum sollte die Sache einen Haken haben? Sie würden lediglich als … – wie soll ich sagen? – als Beobachter fungieren. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie sich setzen würden.«

Siri blieb stehen.

»Und was soll ich beobachten?«

»Ehrlich gesagt, finde ich die ganze Sache reichlich albern. Dennoch habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass Sie daran Geschmack finden werden.«

»Die Geschmäcker sind verschieden. Worum geht’s?«

»Na, Sie wissen schon. Geister et cetera.«

»Warum sollte ich ein gesteigertes Interesse daran haben, mich mit Geistern et cetera zu verlustieren?«

»Ich bitte Sie, Siri. Nicht wenige Zeitgenossen sind davon überzeugt, dass Sie mit dem Übernatürlichen im Bunde stehen.«

»Unsinn.«

»Meine Rede. Er ist ein Mann der Wissenschaft, sage ich immer. Und im Weltbild eines Mediziners ist für Aberglauben kein Platz. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Solche Gerüchte sind nicht totzukriegen. Selbst der Justizminister ist offenbar der Meinung, dass es Ihnen Spaß macht, auf Geisterjagd zu gehen.«

Siri setzte sich. Der klapprige Holzstuhl knarrte unter seinem Gewicht. Am liebsten wäre er gleich wieder aufgestanden.

»Und wessen Geist soll ich zur Strecke bringen?«

»Den des Bruders unseres Landwirtschaftsministers.«

»Ach ja? Und wer ist diesen Monat unser Landwirtschaftsminister?«

Unter normalen Umständen hätte eine solche Bemerkung dem Doktor einen Tadel wegen seines mangelnden Respekts vor der schweren Verantwortung und harten Arbeit hoher Staatsbeamter eingetragen. Doch da das Wohl und Wehe der Nation vom Erfolg des aktuellen landwirtschaftlichen Genossenschaftsprogramms abhing, hatte der Sessel des zuständigen Ministers sich unversehens in einen Schleudersitz verwandelt.

»General Popkorn«, sagte Haeng.

Siri seufzte. Er kannte sie alle. Geborene Feldherren, die hinter einem Schreibtisch auf verlorenem Posten saßen.

»Ich höre«, sagte er.

»Sein Bruder ist vermutlich im Zuge einer verdeckten Militäroperation ums Leben gekommen. Seine Leiche wurde nie gefunden. Die Frau des Generals ist Vietnamesin und der felsenfesten Überzeugung, dass unter den Ahnen Aufruhr und Besorgnis herrschen, weil ihr Schwager nach wie vor zwischen den Welten wandelt und das zu Spannungen in der Familie führt. Für meinen unmaßgeblichen Geschmack rühren besagte Spannungen zwar eher daher, dass die Alte eine grauenhafte Schreckschraube ist, aber das bleibt bitte unter uns. Sie glaubt, dass der Bruder heimkehren und ordentlich bestattet werden will.«

»Und wo wird der Tote vermutet?«

»Hmm. Schwierige Frage. Er war im Undercover-Einsatz, zuständig unter anderem für Guerillaattacken auf Stützpunkte der Royalisten. Sein letztes Lebenszeichen kam im Juni 1969 aus Luang Prabang. Es wäre also durchaus denkbar, dass er dort enttarnt und ermordet wurde. In den Berichten der Royalisten wird er allerdings mit keinem Wort erwähnt.«

»Wenn er tatsächlich verdeckt operiert hat, konnten sie unmöglich wissen, wer er war. Er wird ja wohl kaum seinen Personalausweis bei sich gehabt haben.«

»Stimmt.«

»Dann kann er überall und nirgendwo ums Leben gekommen sein.«

»Stimmt auch.«

»Und wie, um alles in der Welt, wollen sie seinen Leichnam heimholen, wenn sie keine Ahnung haben, wo er ist?«

»Die Frau des Ministers – und darüber dürfen Sie gern lachen – hat eine Hexe angeheuert.«

»Samt Besen?«

»Was?«

»Schon gut.«

Civilai war vermutlich der einzige Laote, der sämtliche Witze des Doktors verstand. Haeng hingegen verstand nicht einen einzigen von ihnen, ganz gleich, ob sie der eigenen oder einer fremden Kultur entsprangen.

»Erzählen Sie mir von der Hexe«, sagte Siri.

»Die Einheimischen nennen sie Madame Keui – Frau War-einmal. Sie ist eine sogenannte ba dong«, sagte Haeng. »Angeblich ist sie in der Lage, die Leichen von gefallenen Soldaten ausfindig zu machen. Und das prompt und zuverlässig. Wenn Sie ihr einen Gegenstand geben, der dem Verstorbenen gehörte, verrät sie Ihnen, wo seine Gebeine zu finden sind. Das ist natürlich alles Humbug, aber der Minister hat seine Gattin offensichtlich nicht im Griff, und sie scheint mir ziemlich hartnäckig zu sein. Letztes Wochenende hat sie ihren Mann zu einer Privataudienz bei dieser Geisterfrau geschleppt. Die Alte hat irgendwelchen Räucherstäbchen-Hokuspokus veranstaltet, ihnen ein paar Taschenspielertricks vorgeführt, und Simsalabim und drei Mal schwarzer Kater hatte sie die beiden an der Angel. Der Hexe zufolge liegt die Leiche ein paar Kilometer stromaufwärts von Paklai.«

»Das ist zweihundert Kilometer weit weg von Luang Prabang.«

»Sie sagt, er sei mit einem Boot entkommen und in Ermangelung eines kompetenten Sanitäters oder Arztes seinen Verletzungen erlegen. Es ist nicht ganz klar, wo er an Land gegangen ist. Da oben führt der Fluss durch unbewohntes Gebiet. Nichts als Urwald, keine Siedlung weit und breit. Dort wurden die magischen Funkwellen der alten Dame anscheinend durch irgendetwas gestört.« Er lachte über sein maues Wortspiel. »Darum will die Hexe der Sache auf den Grund gehen. Persönlich und an Ort und Stelle.«

»Gütiger Himmel. Sie wollen mich mit einer Hexe in den Dschungel schicken?«

»Sie werden nicht direkt mit ihr zu tun haben. Sie warten ab, trinken ein Tässchen Tee. Und falls sie tatsächlich mit einer Leiche wiederkommt, führen Sie die Untersuchung durch.«

»Warum glauben eigentlich alle, dass ich an einer Handvoll Knochen erkennen kann, ob das Skelett zahlendes Mitglied der örtlichen Gewerkschaft war?«

»Ich habe Ihnen die Sache ausnahmsweise leicht gemacht, Siri. Major Ly, so hieß der Bruder, wurde ein Jahr vor seinem Verschwinden bei der Explosion einer Granate schwer verwundet. In Hanoi hat er sich das Kinn wieder zusammenflicken lassen. Er hatte eine Schraube im Kiefer. Der behandelnde Arzt war Kubaner. Er hat sämtliche Unterlagen und Röntgenbilder aufbewahrt. Ich werde sie Ihnen vor Ihrer Abreise zukommen lassen.«

»Sie scheinen ziemlich fest mit meiner Zusage zu rechnen.«

»Ah, Siri. Sie sind ein neugieriger Mensch. Das Pensionärsdasein ist nichts für Sie. Fälle wie dieser sind Ihr geheimes Lebenselixier.«

»Ich weiß nicht. Ich muss erst mit Madame Daeng darüber sprechen.«

»So ist’s recht. Das lob ich mir. Ein guter Soldat …«

»Danke. Aber eine sozialistische Losung genügt mir für heute. Wann soll’s denn losgehen?«

»Donnerstag. Ich weiß, dass Sie die richtige Entscheidung treffen werden.«

Siri stand auf und zögerte einen Moment. Dann griff er in seine Umhängetasche, zog einen Briefumschlag daraus hervor und reichte ihn dem Richter.

»Was ist das?«, fragte Haeng.

»Der Brief eines gewissen Richters, der das US-Konsulat, im Austausch gegen das eine oder andere Staatsgeheimnis, um eine Eigentumswohnung mit Blick auf den Pazifik bittet.«

»Ich …«

»Das ist das Original. Ich habe keinerlei Kopien angefertigt. Ich an Ihrer Stelle würde den Brief schleunigst verbrennen.«

Siri radelte über die Fahngoum Road nach Hause. Sein Hund Köter trottete ihm hinterdrein. Es war ein ausgesprochen schöner Tag. Vom Mekong wehte eine kühle Brise herauf, und der Himmel erstrahlte – endlich – in der Farbe des Flughafens: Wattay-Blau. Eine andere war in der Stadt anscheinend noch immer nicht erhältlich. Die kleinen Madenblumen am Straßenrand standen in bunter Pracht und verströmten den lieblichen Duft von Erbrochenem. Jedes zweite Geschäft und Restaurant, an dem er vorbeikam, war verrammelt und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Zu Zeiten der Amerikaner war es auf der Uferstraße deutlich höher hergegangen. Bier, leichte Mädchen und laute Musik, die über den Fluss dröhnte und dort mit ebenso lauter Musik aus Thailand kollidierte. Heutzutage bekam man auf der laotischen Seite nur selten etwa Lauteres zu hören als den Chor der männlichen Zikaden. Vientiane war eine grüne Stadt. Nicht wie im Westen, mit gelegentlichen Eruptionen kontrollierter Vegetation, sondern ein wildwuchernder Wald von einer Metropole, deren Straßen von großen, ausladenden Bäumen gesäumt wurden, mit schwülen Dschungelhainen hier und da, die eines Tages Bauprojekten würden weichen müssen – wenn auch nicht ohne Gegenwehr. Überall blühten und gediehen Pflanzen und versorgten die Stadt mit Luft zum Atmen. Die Straße war zwar geteert, aber mit einer dicken Schlammschicht überzogen, und da es keine Straßenkehrer gab, die den Asphalt hätten freilegen können, hinterließen Siris Reifen tiefe Slalomspuren. Es war weit und breit kein anderes Fahrzeug unterwegs.

Plötzlich bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie sich unten am Flussufer etwas bewegte. Es war braun, und zunächst hielt er es für ein Tier. Ein Kaninchen oder dergleichen. Doch als er die Augen zusammenkniff, um in der grellen Sonne besser sehen zu können, erkannte er, dass es ein Mann war. Nackt. Indisch. Wie eine Raubkatze im Dschungel folgte er Siris quietschendem Gefährt und sprang behände von Gebüsch zu Gebüsch. Der Verrückte Rajid war offenbar zu dem Schluss gelangt, dass er sich bloß zu entkleiden brauchte, um unsichtbar zu werden. Und wenn ihn jemand entdeckte, erstarrte er einfach, in der irrigen Annahme, dass er so mit der Umgebung verschmolz. Er war der berühmteste Obdachlose der Hauptstadt. Verrückt wie ein Sack voll Ratten. Unberechenbar. Verschlossen. Doch hinter der verwahrlosten Fassade schlummerten Fähigkeiten, deren Ausmaß Siri bislang bestenfalls erahnen konnte. Er winkte dem lauernden Vagabunden. Der Verrückte Rajid erstarrte. Siri sah sich um, als würde er sich fragen, wohin der Inder verschwunden war. Auf Rajids Gesicht machte sich ein blendend weißes Grinsen breit.

Siri lachte. Es war ein lustiger Tag gewesen. Er hatte den Richter mit hängender Kinnlade zurückgelassen, sein Mund wie eine klaffende Fleischwunde. Siri hatte nicht ernsthaft mit einem »Dankeschön« gerechnet. Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, Haeng den Brief zurückzugeben. Hätte er ihn behalten, hätte der Doktor den Mann auf unbestimmte Zeit an sich gekettet, und der Richter wäre auch weiterhin höflich und diensteifrig gewesen und dem Älteren mit dem gebührenden Respekt begegnet. Aber mal ehrlich, wo lag da der Reiz? Seit ihrer ersten Begegnung anno 1975, als die Kommunisten die Macht in Laos übernommen und Siri als Pathologen zwangsverpflichtet hatten, war ihm Richter Haeng ein großartiger Intimfeind. Inkompetent, aber mächtig. Strotzend vor falschem Selbstvertrauen. Schlüpfrig wie eine frischgeschälte Mango. Richter Haeng war das Gesicht der Partei. Der Partei konnte Siri zwar nichts anhaben, ihrem Gesicht aber konnte er durchaus die eine oder andere Backpfeife verpassen. Darum hatte er Haeng aus seinem Bann entlassen. Die Schlacht musste weitergehen.

Die neue Mission versprach ein Riesenspaß zu werden. Niemand Geringeres als eine Hexe. Eine Frau, die Tote aufspüren konnte. Er hatte von den ba dong gehört.In Vietnam gab es sie zuhauf. Unglaubliche Geschichten. Von einer Rettungsmannschaft, die mit Hilfe der Karte einer Hexe in eine entlegene Bergregion gereist und dort an der markierten Stelle tatsächlich auf ein mit bloßem Auge kaum sichtbares Grab gestoßen war. Das war die Welt, der Siri unfreiwillig angehörte. Wider alle Vernunft und Wissenschaft hatte er sich inzwischen damit abgefunden, dass der Geist eines tausendjährigen Schamanen in seinem Körper wohnte. Als Mediziner hatte er sich anfangs vehement dagegen gesträubt, sich immer wieder eingeredet, dass Besessenheit biologisch ganz und gar unmöglich sei. Seine Visionen hatte er Träumen zugeschrieben, trunkenen Halluzinationen, Hitzschlag. Doch als die Geister schließlich begonnen hatten, direkt mit ihm zu kommunizieren, waren Übernatur und Natur gleichsam frontal kollidiert. Jeder rationale Erklärungsversuch war zwecklos. Keine Frage: Die Welt der Geister existierte. Und als er seinen Starrsinn schließlich überwunden und seine Vorurteile abgeworfen hatte, kamen sie, erst nur einzeln oder zu zweit, und gaben ihm versteckte Hinweise. Versuchten eine wechselseitige Verbindung zu ihm herzustellen. Er konnte sie sehen und bisweilen auch hören, blechern wie ein fernes Echo aus den Tiefen seiner Seele. Ja, er spürte sogar die eisigen Klingen der wenigen bösartigen Geister, die seinen inneren Schamanen auslöschen wollten. Und je fester er an sie glaubte, desto mehr von ihnen sah er. Zu Hunderten auf den alten Schlachtfeldern im Dschungel. Zu Zehntausenden in den Folterlagern Kambodschas. Bis sie schließlich ebenso zu seinem Alltag gehörten wie seine Frau Daeng, seine Freunde und alles andere, was er für normal hielt.

Aber es gab eine unüberwindliche Hürde. Er wusste nicht, an welcher Stelle die Hauptpipeline ins Jenseits verstopft war und wie sich dieses Hindernis beseitigen ließ, aber er konnte sich noch immer nicht mit seinen Besuchern verständigen. Es war, als stünde er am einen Ufer des Mekong und sie drüben auf der thailändischen Seite. Sie winkten und schrien, doch er konnte sie nicht hören. Also probierten sie es mit Pantomime, Scharaden für Begriffsstutzige. Zumeist verstand er nicht, was sie ihm mitzuteilen versuchten. Wenn er dann einen Mordfall mittels weltlicher Methoden aufgeklärt hatte, ließ er seine Träume und Begegnungen Revue passieren und schlug sich mit der flachen Hand vor die mit blauen Flecken übersäte Stirn. »Ach so!« Wie nach einem verstohlenen Blick auf die Auflösung des Kreuzworträtsels in Le Figaro.

Er war der Ratespielchen überdrüssig. Er brauchte einen Lehrer. Er war davon überzeugt, dass sich nicht nur die normalen, sondern auch die paranormalen Wissenschaften am besten bei einem Experten erlernen ließen. Einen solchen Seher kannte er bereits: Tante Bpoo, den Wahrsager und Transvestiten mit der Statur eines Sumo-Ringers und einer fatalen Vorliebe für jene Art von Kleidung, die man gemeinhin spätabends am Pigalle zu sehen bekam. Er/sie hatte einen direkten Draht zur Geisterwelt. Darüber bestand kein Zweifel. Er/sie hätte Siri alles beibringen können. Nur leider war er/sie – und sie wurde lieber »sie« genannt – völlig und vollkommen übergeschnappt. Siri hatte sie in letzter Zeit mehrmals um ein Privatissimum gebeten, doch ihr »Ausstand« nahm sie so sehr in Anspruch, dass sie sich nicht hatte freimachen können.

Ein Wahrsager, der etwas auf sich hält, sieht alles. Tante Bpoo hatte ihr eigenes Ableben gesehen. Sie kannte sowohl das Datum als auch den genauen Zeitpunkt und plante eine Abschiedsfeier zu ihrem eigenen Gedenken. Seit vier Wochen schon traf sie Vorbereitungen für die Soiree – denn sie würde praktischerweise gegen neun Uhr abends von hinnen scheiden –, schrieb Einladungen und stellte die Speisenfolge zusammen. Das Kostüm nicht zu vergessen. Ein starker Abgang erforderte eine entsprechende Garderobe. Wenn schon nicht Hautevolee, dann doch wenigstens Haute Couture. Siri hatte seinen Stolz hinuntergeschluckt und sie quasi auf Knien um die eine oder andere Erleuchtung angefleht, doch sie hatte ihn mit Glückskeks-Weisheiten abgespeist wie: »Bei Vollmond kommt alles ans Licht.« Am liebsten hätte er sie erwürgt, aber das hätte sie vermutlich vorausgesehen. Sie würde, mit oder ohne seine Hilfe, das Zeitliche segnen, gegen neun Uhr abends am vierten Dienstag im Oktober, obwohl für diese Nacht gar kein Vollmond angekündigt war.

Doch jetzt bot sich ihm eine noch viel bessere Chance. Eine Geisterflüsterin. Eine Hexe. Wahrscheinlich eher so etwas wie ein Medium oder eine Spiritistin, die freilich auf eine so bestechende Erfolgsbilanz zurückblicken zu können schien, dass sie selbst einen zynischen General der Laotischen Volksarmee von ihren Fähigkeiten überzeugt hatte. Ein paar gemeinsame Tage auf dem Mekong. Ausreichend Zeit, um ihr ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Vielleicht war Madame Keui alias Frau War-einmal das Medium, das ihn bei der Hand nehmen und durch das große Teakholztor ins Land der Seligen geleiten würde.

»Demnächst will er noch zu dir ins Bett«, sagte Daeng.

Sie saß in ihrem Bambussessel vor dem Restaurant und schälte Erbsen. Sie trug »das Lächeln« im Gesicht, das sich erheblich von dem Lächeln unterschied, mit dem sie ihren Gatten allmorgendlich im Ehebett beglückte, und die Gäste in der Nudelküche zu begrüßen pflegte. Es war ihr nicht etwa angeboren, sondern verdankte sich dem Opium, das sie einnahm, um die verheerenden Rheuma-Attacken abzuwehren. Siri hatte versucht, sie auf weniger suchtbildende Medikamente umzustellen – und klein beigegeben, als er die quälenden Schmerzen in ihren Augen gesehen hatte. Auch ihm entrang sich zuweilen ein Seufzer der Erleichterung, wenn die Dämonen, die ihre Gelenke fest umklammert hielten, für ein paar Stunden lockerließen.

»Da brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Siri und kletterte von seinem Flying Pigeon, einem Eingangrad aus chinesischer Produktion. »Köter ist ein klassischer Hofhund. Er wacht artig vor der Tür und begleitet mich zu all meinen Terminen. Würde ich unterwegs überfallen, würde er dem Angreifer das Bein abbeißen. Würde ich hingegen im Schlaf erdolcht, würde er müde mit seinen Hundeschultern zucken und die Sache den Behörden überlassen. Er hat noch nie ein Haus von innen gesehen. Er traut ihnen nicht über die Schwelle.«

»Hat er dir das persönlich mitgeteilt?«

»Wir Hunde verstehen uns stumm. Wie war es heute Mittag?«

»Rappelvoll. Ich weiß gar nicht mehr, wohin mit all dem Geld, das ich verdiene.«

»Madame, obwohl Sie jede Menge teurer und exotischer Zutaten verwenden, sind Ihre Preise so niedrig, dass wir pro Nudelportion gerade einmal einen Kip verdienen. Wenn das so weitergeht, können wir uns in fünf Jahren mit etwas Glück einen Teekessel leisten.«

»Aber die Leute müssen essen.«

»Für die Speisung der Armen ist die UN zuständig. Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen. Die Gäste sind süchtig nach deinen Nudeln. Also wird es höchste Zeit, aus dieser Sucht Profit zu schlagen, die Preise zu verdoppeln und einen Haufen Geld zu scheffeln. Wir könnten uns einen Swimmingpool zulegen. Oder ein deutsches Auto.«

»Hast du wieder Thai-Radio gehört?«

»Da drüben hat jeder eine Trockenschleuder, Daeng.«

»Wir könnten natürlich auch deine Triumph verkaufen. Es waren schon mehrere sowjetische Berater hier, um sie sich anzuschauen.«

»Wehe, sie rühren mein Motorrad auch nur an. Es ist ein Klassiker. Genau wie du. Wie fändest du es, wenn ich dich einem sowjetischen Berater überschreiben und tatenlos mit ansehen würde, wie er mit dir in den Sonnenuntergang entschwindet?«

»Aber du fährst doch nie damit.«

»Das kommt schon noch. Wart’s ab. Es ist für Notfälle reserviert. Die flügellose Taube hier ist weiter nichts als ein Ersatz, der mir hilft, in Form zu bleiben, ein gut geöltes Zahnrad im großen Uhrwerk dieser Stadt. Und wenn wir es mal eilig haben, nehmen wir meine Triumph.«

»Wir können uns das Benzin nicht leisten.«

»Eben deshalb solltest du den Preis für deine Nudeln schnellstmöglich verdoppeln. Es wird allmählich Zeit, dass wir Neuen Sozialistischen Menschen uns das kapitalistische Prinzip zu eigen machen. Ich hab’s. Wir feuern Herrn Geung. Er frisst uns nicht nur die Haare vom Kopf, sondern verschlingt auch noch einen Großteil unseres Profits. Das ist das richtige Rezept. Radikaler Personalabbau. Wo steckt er überhaupt?«

»Hinterm Haus«, antwortete sie lachend. »Er gibt den Hühnern Namen.«

»Schon wieder? Wie sollen wir ihnen den Kopf abschlagen und sie rupfen, wenn er ihnen Persönlichkeitsrechte zugesteht?«

»Er ist ganz vernarrt in sie.«

»Eben. Er muss verschwinden.«

Siri versuchte, sein Grinsen zu unterdrücken und marschierte quer durch das Restaurant in den kleinen Garten hinaus. Herr Geung hockte auf der Erde und streichelte ein Huhn.

»Geung!«

»Ja, G… Genosse Doktor?«

»Was machen Sie da mit dem Federvieh?«

»Reden.«

»Herr Geung. Sie wissen hoffentlich, dass dieses Huhn morgen in diversen hungrigen Mägen landen wird?«

»Ja, ich w… w… weiß.«

»Und?«

Geung blickte zu einer einsamen Wolke empor, die langsam über den Garten hinwegzog.

»Es l… l… lebt nicht so lange wie wir«, sagte er. »Und wenn ich ihm einen Namen gebe und es ein b… b… bisschen streichle, hat es vielleicht eine schhhhöne Erinnerung, die es von diesem mit ins n… nächste Leben nehmen kann.«

In seinem Auge schimmerte eine Träne. Siri ließ sich neben ihm nieder. Zwar ging das Konzept der Würde weit über Herrn Geungs Begriffe, doch genau das war es, was er diesen zeitweiligen Erdengästen angedeihen ließ. Er verlieh ihnen Rang und Wert. Siri drückte seine Hand.

»Und wie heißt Ihr kleiner Freund?«, fragte er.

»Lenin.«

»Gut. Sie haben gewonnen. Sie dürfen Ihren Job behalten.«

»Danke.«

Geungs Blick hing noch immer wie gefesselt an der Wolke.

»Gibt es da oben irgendetwas Interessantes?«

»Einen alten Mann.«

Siri hob den Kopf. Fast rechnete er damit, dass an der Wolke ein Korb hing, aus dem ein gütiger Greis zu ihnen herabblickte.

»Wo?«

»Auf dem Markt. Heute N… N… Nachmittag. Ein farang.«

»Vermutlich ein Sowjet, Geung.«

»Nein. Farang.«

Die Laoten teilten die wenigen hier lebenden Westler in zwei Kategorien ein. Da waren zum einen die Sowjets, worunter sämtliche Osteuropäer fielen. Da sie das heiße Klima nicht vertrugen, waren sie erstaunlich leicht an ihrem Körpergeruch zu erkennen. Zum anderen waren da die farang, sprich alle übrigen Ausländer mit weißer Haut. Auch sie dufteten nicht immer angenehm.

»Er roch nach Balsam«, sagte Geung.

»Haben Sie etwa an ihm geschnuppert?«

»Ja. Ja … nein. Die Marktfrau h… h… hat es mir erzählt. Ich war weit w… w… weg. Und er hat Französisch gesprochen. Die Marktfrau kann nämlich Ffffranzösisch.«

»Und war an diesem farang irgendetwas Besonderes?«

»Ja.«

Die Wolke war in der Tat faszinierend.

»Und was, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Siri.

»Er hat … hat einen Stern. Auf der St… Stirn. Hier.«

Er deutete auf eine Stelle über seinem rechten Auge.

»Eine Tätowierung?«, fragte Siri, obwohl er die Frage für absurd hielt.

»Nein. Eine Narbe. Er … ich habe sie gesehen, als er an mir vorbeigegangen ist. Nicht leicht zu erkennen. A… aber ich habe sie gesehen.«

»Und dann haben Sie mit der Marktfrau gesprochen?«

»Ja.«

»Und die hat Ihnen von dem Franzosen erzählt.«

»Ja. Und von Genossin Madame Daeng.«

Siri wandte den Blick von der Wolke und sah Geung in die Augen.

»Was hat das mit ihr zu tun?«

»Na, d… d… deshalb war der Ffffranzose doch überhaupt nur auf dem Markt. Er hat gefragt, wo er Genossin Madame Daeng aus dem Ssssüden findet.«

»Der Name ist recht weit verbreitet, Geung.«

»Aber er meinte meine Genossin Madame Daeng.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Das weiß ich, weil … weil er ihren a… a… alten Namen gesagt hat, Keopakam. Und das ist nicht gut, Genosse Doktor. Gggganz und gar nicht gut.«

In Laos gab es so viele Daengs wie Teeblätter in China. Oder Trockenschleudern in Thailand. Doch Siri glaubte fest an Schicksal und Instinkt. Geung hatte deutlich wahrgenommen, dass von dem Franzosen etwas Negatives ausging. Richter Haengs Angebot, samt Gattin ein paar Tage zu verreisen, musste irgendwie in dieses karmische Puzzle passen. Siri wusste aus leidvoller Erfahrung, dass es böse enden konnte, wenn man den Parzen nicht die nötige Beachtung schenkte.

»Wie wär’s mit einem Kurzurlaub?«, fragte er seine Frau.

Verschwitzt und mit gerötetem Gesicht trotzte Daeng dem abendlichen Ansturm in der Nudelküche. Sie beugte sich über den dampfenden Kessel, um ein lästiges Insekt zu verscheuchen.

»Okay. Madrid«, sagte sie.

»Ich fürchte, du kannst dir das Reiseziel nicht aussuchen.«

Er hielt ihr die Schüsseln hin, und behutsam schöpfte sie die Nudeln in die Brühe. Herr Geung riss sie dem Doktor aus der Hand und flitzte damit von Tisch zu Tisch. Es war so voll wie Paris St. Germain zur Stoßzeit, nur ohne die Geräuschkulisse. Derart wohlschmeckende Nudeln ließen für Gespräche keinen Platz.

»Also, wohin?«, fragte Daeng.

»Was hältst du von Paklai?«

»Das Paklai in Xaignabouri?«

»Ebenjenes.«

»Und womit vertreibt man sich dort so die Zeit?«

»Bootsrennen, Bier, Natur, Elefanten, Händchenhalten auf der Bummelfähre.«

»Wann?«

»Donnerstag.«

»Ich bin dabei.«

»Im Ernst?«

»Ja. Und wir müssen Geung mitnehmen.«

»Müssen wir?«

»Natürlich. Wenn wir das Restaurant dichtmachen, langweilt er sich und bekommt schlechte Laune. Außerdem brauchen wir Verstärkung.«

»Warum sollten wir auf einer romantischen Mekongfahrt Verstärkung brauchen?«

»Weil wir diese Reise schwerlich machen würden, wenn man dir nicht irgendeine unmögliche Aufgabe übertragen hätte, die uns Hals über Kopf in den glühenden Ofen des Teufels stürzen wird.«

»Wie poetisch.«

»Schüsseln.«

»Was?«

»Du sollst mir die Schüsseln anreichen.«

»’tschuldigung.«

Nach dem Ende der frühabendlichen Nudelschicht unternahmen Siri und Daeng ihren spätabendlichen Spaziergang. Köter trottete ihnen hinterdrein. Obwohl Siri um ihre Gesundheit fürchtete, bestand Daeng hartnäckig darauf, sich nach Sonnenuntergang noch ein wenig die Beine zu vertreten. Sie bewunderten die Lichter Thailands, die sich schimmernd im Wasser spiegelten und ihre dürren Bettlerarme über den Fluss streckten. Vor den verschlossenen Türen der Konditorei legten sie eine Pause ein und aßen ein imaginäres Erdbeereis. Dann drehten sie, wie zufällig, zwei Runden um das Gelände der französischen Botschaft, das einen ganzen Straßenabschnitt einnahm. Die Motive des Pärchens hätten unterschiedlicher nicht sein können. Daeng gehorchte dem Instinkt der Kämpferin. Siri folgte dem Wimmern und Kreischen aus dem Jenseits. Dennoch waren sie sich nach der zweiten Runde sicher, dass ihnen niemand gefolgt war. Am Seiteneingang in der Rue Gallieni blieben sie stehen, und Siri klopfte drei Mal an das eiserne Tor. Damit es besonders stilecht wirkte, ging er in die Hocke und tat, als würde er sich die Schuhe zubinden. Daeng machte ihn darauf aufmerksam, dass er Sandalen trug, doch er meinte, das sei von einem Spionageluftschiff aus ohnehin nicht zu erkennen. Quietschend öffnete sich das Tor einen Spalt, und das Duo zwängte sich durch die Öffnung und betrat die leere Botschaft.

Frankreich und Laos, muss man wissen, lieferten sich seinerzeit einen veritablen Zickenkrieg. Wie zwei hysterische Hetären, die sich um einen Freier streiten, schlugen sie sich unter gellendem Geschrei die porte-monnaies