Drachen-Queste - Stefanie Nickel - E-Book

Drachen-Queste E-Book

Stefanie Nickel

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Beschreibung

"Und obwohl nicht wenige Menschen das Licht in sich vergessen, war und ist die Magie immer da. Man muss nur genauer hinsehen. Mit einem besonderen Auge. Doch manchmal überwiegen die Schatten und dann ist eine Reise nötig. Eine, die zum Hinsehen führt! Schicksal wird sie genannt." Was, wenn sich das Leben plötzlich in ein Davor und in ein Danach teilt? Mia (17) will doch eigentlich nur die Wahrheit über ihren verstorbenen Vater herausfinden. Doch irgendwas verschweigt ihre Mutter. Nach einem Streit landet Mia plötzlich in der Anderswelt. Dort trifft sie auf den mürrischen Elfenkrieger Tan und seinen Feuerdrachen Arokh. Sam (17), Mias bester Freund, folgt ihr total verliebt in die Anderswelt und eine schicksalhafte Drachenqueste beginnt... Warum aber holt der Achak (Raum-Zeit-Wandler) ausgerechnet Mia in die Elfenwelt? Und was hat das alles mit Mias verstorbenem Vater zu tun?

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Für I.

«Die Liebe schenkt den Teil erst und dann das ganze All»

(Rumi)

Inhaltsverzeichnis

TEIL I : Davor

Prolog der Himmelsgöttin Titania

Der Schattenmann

Der Feuerdrache

Das Gleichnis

Die Inschriften

Die Bestimmung

Danksagung

TEIL I

DAVOR

PROLOGDER HIMMELSGÖTTIN TITANIA

Alles begann mit einem Stern, der vom Himmel fiel. Wie ein Tropfen regnete er auf die Erde. Und das am Anfang von Zeit und Raum. Sein Zauber hauchte allem Leben einen besonderen Funken ein. Einen Funken, der die Kraft besaß, aus Liebe zu wirken, um bösen Zauber in Licht zu verwandeln.

Und alle Welten, ob oben, in der Mitte oder unten, waren und sind von diesem Zauber durchdrungen. Er spinnt sich zwischen den Zeilen, die nicht ausgesprochen werden müssen. Wenn das Herz offen ist, ist es leicht, die Zwischentöne zu erfassen. Aber den Weg, die Sprache zu lesen, zu hören, zu fühlen, zu verstehen, muss jedes Lebewesen selbst gehen.

Und obwohl nicht wenige Menschen das Licht in sich vergessen, war und ist die Magie immer da. Man muss nur genauer hinsehen. Mit einem besonderen Auge. Doch manchmal überwiegen die Schatten und dann ist eine Reise nötig. Eine, die zum Hinsehen führt! Schicksal wird sie genannt.

Aber das ist eigentlich nur die halbe Wahrheit! Denn man muss es wirklich von ganzem Herzen wollen, dazu stehen und schweigen, um die innere Stimme des Zaubers zu hören. Denn dann wenden auch die Kräfte der höheren Welt ihre ganze Energie auf.

Bist du bereit? Und mutig, das Risiko einzugehen? Dann wird diese Reise zu deinem eigenen magischen Abenteuer...

DER SCHATTENMANN

«Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die ins uns liegen, Vorboten desjenigen, das wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausgreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliches.» (Johann Wolfgang von Goethe)

Die Sonne warf ihre letzten Strahlen auf das Meer. Der Sand fühlte sich schon warm an, obwohl es erst Anfang Juni war. Das Meer lag ruhig. Ein lauer Wind wehte und ließ die Wellen gegen das Ufer kräuseln. Das sanfte Rauschen wirkte beruhigend und erzählend zugleich. Tag für Tag konnte man zuhören. An der Küste zu leben bedeutete, den Geschichten des Meeres zu lauschen.

Mia liebte es, nach der Schule an den Strand zu gehen. Die Weite des Meeres gab ihr ein Gefühl von Freiheit. So auch an diesem Tag. Bis eben war sie noch gesurft, wie ein tanzender Schatten auf den Wellen der Ostsee. Jetzt saß Mia mit ihren Freunden am Strand. Sie wirkten ausgelassen. Ihre Augen strahlten aus den gebräunten Gesichtern. So kurz vor Sonnenuntergang glitzerte der gelbe Ball auf dem Meer wie flüssiges Gold.

«Morgen soll es regnen. Wer hat Lust auf Kino?», fragte Mia und strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht.

«Muss für ne Arbeit lernen.» Alex verdrehte die Augen und nahm einen Schluck von seiner Cola.

Lea warf dem Jungen mit den dunkelbraunen Haaren, die auf einer Seite immer etwas länger waren, einen verträumten Blick zu.

«Was ist mit dir, Lea?» Sam, der den Blick mitbekommen hatte, stupste das Mädchen grinsend an.

«Chill ...!» Missbilligend schüttelte die Angesprochene ihren dunklen Lockenkopf und schnalzte ertappt auf die Zunge. «Ich muss auch lernen!», wandte sie sich ab.

«Alter... gönn dir! Lernt doch zusammen!», rief Sam und stieß Alex grinsend an.

Doch der 17-Jährige zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. Sein Blick war auf Mia gerichtet.

«Ich muss zum Zahnarzt», redete Chloe sich heraus. Ihr spitz zulaufendes Gesicht mit den Sommersprossen und der kleinen Stupsnase verlieh der 16-Jährigen ein elfenhaftes Aussehen. Es passte zu dem ruhigen, nachdenklichen Mädchen mit dem roten Strubbelkopf.

«Ok... also kein Kino», murmelte Mia stirnrunzelnd und schaute auf die Uhr. Obwohl das gar nicht nötig war. Die Sonne war fast untergegangen, was für diese Jahreszeit bedeutete: Es war fast halb zehn.

«Ich muss los. Meine Eltern gehen aus. Finnis Babysitter wird auch da sein.»

Eigentlich war Emilia ja auch ihre Babysitterin. Aber das würde Mia niemals vor ihren Freunden zugeben. Nie und nimmer. No way!

«Ich bringe dich nach Hause», rief Sam schneller, als Alex lieb war. Es war für alle außer Mia ziemlich offensichtlich, dass Sam auf das lässige, dunkelhaarige Mädchen mit der olivbraunen Haut, den rehbraunen Mandelaugen und dem hübsch geschwungenen Mund stand.

In ihrer Nähe fühlte er sich immer ein bisschen unbeholfen und gleichzeitig total hellwach. Als wäre da eine ungeheure Kraft in ihm, die er bremsen müsste. Bevor sie ihn überrollte. Oder Mia. Oder so. Jedenfalls hatte ihre Nähe diese heftige Wirkung auf ihn, die ihn ziemlich gewaltig durchschüttelte. Fliehen oder bleiben... das war keine Frage mehr, sondern Sams Dauerzustand, seit er Mia zum ersten Mal begegnet war. Er fühlte sich zu ihr hingezogen und konnte nichts dagegen tun. Und sie blieb für ihn unerreichbar.

Mia klopfte sich den Sand von den Beinen und zog Jeans und Hoodie über ihren Bikini. Sie hatte ihr langes Haar in den Pullover gesteckt und die Kapuze über den Kopf gezogen. Ihre schlanke Gestalt bildete einen dunklen Kontrast zum rotgoldenen Licht der untergehenden Sonne, das sich auf dem Meer spiegelte.

Sam schluckte bei ihrem Anblick und folgte Mia zum Strandhaus, wo sie die Surfbretter verstauten und den anderen zum Abschied zuwinkten. Gemeinsam liefen sie zu ihren Fahrrädern, die an der Promenade lehnten.

***

Das Strandhaus der Familie von Sengbusch lag etwas abseits. Mia und Sam radelten auf einem schmalen Pfad durch einen Birkenwald. Der Geisterwald, wie er genannt wurde, grenzte direkt an die Steilküste. Und er machte seinem Namen alle Ehre. Denn nachts, wenn Mond und Sterne zwischen den Wolken hervorlugten, warfen die Birkenstämme gespenstische Schatten.

«Wollen wir uns morgen treffen?», fragte Sam beiläufig und lehnte sich lässig gegen den Zaun, als sie das Haus erreichten.

«Ja, klar, warum nicht.» Mia lächelte den drahtigen Jungen an, den sie für seinen Hang zu überlegter, bodenständiger Coolness und Spontaneität mochte. «Ich texte dir, okay?»

«Okay», erwiderte Sam und zog seinen rechten Mundwinkel nach oben, wodurch ein Grübchen zum Vorschein kam.

«Also dann ... bis morgen», verabschiedete sich Mia lächelnd. Es wunderte sie kaum noch, dass Sam so oft wie möglich ihre Nähe suchte. Sie hatte ihn eindeutig in die friendzone eingestuft. Der Anblick seiner eher glasigen Augen hätte ihr eigentlich einen eindeutigen Hinweis geben können, dass er ihr gegenüber anders empfand.

«Bye!», sagte Sam und fuhr sich verlegen durch die widerspenstigen Haare. Eine Geste, die zugegebenermaßen seiner Nervosität geschuldet war, die ihn immer überkam, wenn er in Mias Nähe war. Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten. Zu gern hätte er sie geküsst.

Der Kies unter ihren Füßen knirschte, als Mia ihr Fahrrad zur Garage brachte und das Auto ihrer Eltern entdeckte.

Warum sind die noch zu Hause? Hat sich Emilia verspätet? Keine gute Idee!

Ihr Stiefvater, Dr. Maximilian von Sengbusch, hasste Verspätungen. Als Chefarzt eines Hamburger Krankenhauses war er auf Zuverlässigkeit angewiesen. Immerhin lag die norddeutsche Metropole zwei Stunden vom Wohnort der Familie entfernt. Die lange Fahrt nahm er in Kauf, wenn auch zähneknirschend. Oft genug war das Pendeln mit Stress verbunden. Dann zeigten sich Schatten um seine sonst so wachen Augen und er wirkte mürrisch. Aber für einen Stiefvater war er trotzdem ganz okay, fand Mia! Ihr richtiger Vater dagegen war für sie nur ein Schattenmann: Irgendwann vielleicht mal da gewesen, aber längst nicht mehr greifbar für sie.

Wenn er es überhaupt je war!

«Mia, bist du das?», hallte die freundliche Stimme ihrer Mutter durch den Flur und riss sie aus ihren Gedanken.

«Ja.»

Schlendernd durchquerte das vom Surfen durchtrainierte Mädchen den langen Flur, der an eine Kunstgalerie erinnerte, und betrat das stilvoll eingerichtete Wohnzimmer mit offenem Kamin. Eine riesige Glasfront gab den Blick auf das Meer frei.

«Ah, da bist du ja.» Eine hochgewachsene, schlanke Frau kam aus dem Küchentrakt, der direkt an das Wohnzimmer grenzte.

«Hi Mum! Wolltet ihr nicht nach Hamburg? Wo ist Emilia?» Mia sah sich suchend um und musterte schließlich die aristokratischen Züge ihrer Mutter. Bevor diese antworten konnte, kam ein kleines Kind fröhlich um die Ecke gelaufen.

«Mia», rief es strahlend.

«Finni!» Mia nahm ihren Halbbruder auf den Arm. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Mutter statt eines Abendkleides eine weite Leinenhose und eine Tunika trug. «Alles in Ordnung? Wolltet ihr nicht zum Ärzteball?», fragte sie etwas irritiert.

«Mia ...», setzte ihre Mutter an und brach unwirsch ab. Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen. Es war ziemlich offensichtlich, dass es in ihrem Kopf ordentlich rumorte.

Was ist denn hier los?! So kenn ich Mum gar nicht!

Mia rollte innerlich mit den Augen.

«Ich bringe Finni ins Bett. Setz dich doch schon mal zu Max an den Tisch. Ich komme gleich nach.»

Die Ansage ihrer Mutter klang übertrieben deutlich.

«Okay.» Mia zuckte mit den Schultern, gab dem kleinen Finn noch einen Gutenachtkuss und schlenderte gemächlich am Küchenblock vorbei zum Essplatz.

Kerzen spendeten sanftes Licht. Durch ein offenes Fenster drang das Rauschen der Brandung. Die Stimmung im Raum war - wie fast immer - von einer eleganten Atmosphäre geprägt. Aber diesmal schwang noch etwas anderes mit, das Mia in einen leicht angespannten Modus versetzte.

«Hallo Mia», grüßte ihr Stiefvater, der lässig in Jeanshemd und Leinenhose vor einem Glas Wein an der Holztafel saß.

Mia setzte sich zu ihm.

«Möchtest du eine Cola?» Wie immer, ohne wirklich eine Antwort abzuwarten, stand ihr Stiefvater auf und ging um den Küchenblock herum zur Glasvitrine. «Oder ein Wasser?», fügte er schließlich hinzu.

Mia folgte ihm mit leicht misstrauischem Blick. «Wurde der Ball abgesagt?»

«Nein... nicht direkt!», antwortete der Angesprochene mit einem schiefen Lächeln.

Etwas zu gedehnt für Mias Geschmack.

Achselzuckend drehte er sich zu ihr um, das Glas wie einen Pokal in der Hand haltend.

Warum wirkt er so angespannt?

Im krassen Gegensatz dazu standen seine strahlenden Augen, was Mia umso verwirrender fand.

«Finn ist sofort eingeschlafen.» Mias Mutter betrat barfuß das große Wohnzimmer, trat an den Tisch und nahm genüsslich einen Schluck Wein.

Was hat das zu bedeuten?

Mia sah ihre Eltern abwechselnd wachsam an.

«Ich weiß, dass du dich fragst, warum wir nicht nach Hamburg gefahren sind», sagte ihre Mutter.

Max räusperte sich hörbar. Irgendwie schien ihm das Gespräch etwas unangenehm zu sein.

«Mmmh...!», machte Mia.

Ihre Mutter schlug die schlanken Beine übereinander und sah sie direkt an. «Es gibt Neuigkeiten, die wir mit dir besprechen möchten», sagte sie in ihrem gewohnt lässigen Ton.

Aha!

«Und die wären?» Mia wurde etwas mulmig.

Himmel ... was ist denn da los? Die wirkt ja wie auf Draht gespannt! Nicht gut. Gar nicht gut.

Mias Haltung wurde mit einem Mal kerzengerade, als hätte man ihr einen Stock in den Rücken geschoben.

«Max hat eine Professur angeboten bekommen», erklärte ihre Mutter jetzt sachlich.

«Hej… das is‘ doch super, oder nicht!» Mia zuckte mit den Achseln und lächelte Max etwas unsicher an.

Und was ist nun der Punkt?

«Also...», begann ihre Mutter und geriet plötzlich mächtig ins Straucheln.

«Der Job ist in Vancouver», ergänzte Max ganz langsam und rieb sich den Nacken.

«Cool!», erwiderte Mia leicht begriffsstutzig.

Ihre Mutter hatte die Stirn in Falten gelegt und suchte angestrengt nach den richtigen Worten: «Mia, das bedeutet, dass wir vier, Max, Finn, ich und du, zusammen nach Kanada ziehen!»

***

Wie ein verirrter Frisbee knallte ihr die Nachricht an den Kopf.

Wow!

Und Mia begriff langsam. Plötzlich gewann eine Mischung aus Ärger, Panik und Hilflosigkeit die Oberhand. Als würde sich eine Faust in sie bohren, zog sich Mias Magen zusammen. Gleichzeitig öffnete sich der Boden unter ihren Füßen. Sie fühlte sich, als würde sie fallen. In das imaginäre Loch. Im Boden. Unter ihr.

«W-wir ziehen um?! Weg von hier? Aber warum?», stammelte sie verwirrt, ziemlich hoch und viel lauter als beabsichtigt. Ihre Stimme verklang schrill im Raum.

«Weil es eine einmalige Chance ist - für mich und deine Mutter. Wir können zusammen im selben Krankenhaus arbeiten. Und ich muss nicht mehr stundenlang durch die Gegen fahren.»

Zack! Bumm! Peng! So einfach ist das!

«Aber... was hat das alles mit mir zu tun? Warum muss ich mitkommen? Ich will hier nicht weg!», entgegnete Mia entsetzt und sah sich hilfesuchend im Raum um. Sie waren doch gerade erst hierhergekommen. Wirr fuchtelte mit der Hand herum und fuhr heftiger als zuvor fort: «Mein Leben hier ist schön. Okay! Ich will nicht weg. Versteht ihr das nicht?! Ich will hier bleiben! Mit meinen neuen Freunden... am Meer. Und was wird aus denen? Und überhaupt...!»

Was soll aus mir werden, dachte sie verzweifelt und versuchte krampfhaft, ein paar wütende Tränen wegzublinzeln. Vor ihren Eltern wollte sie auf keinen Fall weinen! Erinnerungsspuren blitzten in ihrem Kopf auf: Der Umzug, das Einleben, die neue Schule... und die neuen Freunde. Es hatte eine Weile gedauert und war auch ein bisschen mühsam gewesen, sich an Rostock zu gewöhnen.

«Ihr könnt mich nicht zwingen. In einem Jahr werde ich 18!», flüsterte sie trotzig.

«Mia, beruhige dich. Du wirst schon neue Freunde finden. Das ist doch kein Problem. War es doch bisher auch nie! Sei nicht so egoistisch! Du kannst hier nicht allein bleiben. Noch nicht! Punkt», entgegnete ihre Mutter unerbittlich und, so typisch für sie, völlig sachlich.

Scheiße! Wie können die nur so ätzend sein? Chloe und Lea...! Und Sam...! Mia ballte fassungslos die Hände unter dem Holztisch zu Fäusten. Das ist nicht fair! Ihr Herz zersprang fast.

«Warum werde ich einfach so vor vollendete Tatsachen gestellt? Warum fragt ihr mich nicht einfach? Warum entscheidet ihr über meinen Kopf hinweg? Warum glaubt ihr zu wissen, was gut für mich ist und was nicht?», entgegnete sie wütend, das Kinn trotzig nach vorne gereckt. «Was soll ich denn in Vancouver?»

Wo wir doch gerade erst von Hamburg hierher gezogen sind!

An die vielen Umzüge davor wollte sie schon gar nicht mehr denken! Als wären sie und ihre Mum auf der Flucht! Genau so hatte es sich angefühlt. Eigentlich sollte mit Max und ihrem Halbbruder alles ruhiger werden. Eigentlich. Und jetzt das! Es war einfach zum Verrücktwerden. Und total ungerecht.

«Mia ...!» Ihre Mutter legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und schaute sie an, als wäre sie ein trotziges Kleinkind, dem man Brokkoli erstmal schmackhaft machen musste, indem man die Vorzüge gesunder Ernährung aufzählte. Auf Mias Protest ging sie nicht mal ein!

Mia zog ihren Arm unwirsch zurück.

Bin gespannt, welche lahme Erklärung jetzt kommt!

«Es wird dir gefallen!», fuhr ihre Mutter gedehnt und mit dem passenden Ich-rede-mit-einem-Kleinkind-Tonfall fort. «Außerdem ist der Zeitpunkt für einen Schulwechsel perfekt. Du gehst auf eine internationale Schule und machst dort deinen Abschluss. Denk an all die Möglichkeiten!»

Oh... Schulwechsel...?! Dann ist ja schon alles geplant! Na, schönen Dank auch!

«Das glaube ich nicht! Ihr habt schon alles organisiert. Stimmt’s?!» Mia schlug wütend mit der Faust auf den Tisch: «OHNE MICH!»

Total angepisst sprang sie auf, schob ihren Stuhl heftig von sich, stürmte durch das Wohnzimmer zur Wendeltreppe und über die Galerie in ihr Dachzimmer.

«Mia...!», hörte sie ihre Mutter noch konsterniert rufen. Aber Mia wollte nichts mehr hören und sehen. Sie wollte einfach verschwinden. Zusammen mit den Farben in ihrem Leben.

***

Den Blick ins Leere gerichtet, saß Mia in ihrem Hängesessel auf der Dachterrasse. Zwischen den Sternen zeichnete sich die Sichel des Mondes ab. Die Brandung war zu hören. Im Haus dagegen war es mucksmäuschenstill. Die Nachricht musste erst einmal verdaut werden.

Warum?

Warum gerade jetzt?

Darauf gab es keine Antwort. Mia musste an einen Spruch denken, den sie einmal als Graffiti an einer Wand gelesen hatte: Mit den Flügeln der Zeit fliegt die Traurigkeit davon.

Keine Ahnung, ob das stimmt...!

Mia schloss die Augen und lauschte der Brandung. Das Rauschen hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Nicht lange, und sie tauchte ein in das Traumgespinst der Nacht.

Plötzlich drang aus der Ferne statt des Meeresrauschens der Ruf eines Falken zu ihr. Als sie die Augen wieder öffnete, war das Meer verschwunden und Mia fand sich mitten in einem Wald wieder. Der Himmel aschgrau und wolkenverhangen. Ein Falke kreiste über ihr. Folge dem Falken, hörte sie eine fremde Stimme sagen.

Wo bin ich? Was ist das?

Aber etwas zog sie magisch an. Und so folgte sie dem Falken immer tiefer in den Wald hinein, bis sie plötzlich von dichtem Nebel umgeben war. Der Falke aber war verschwunden.

Wo bin ich? Was ist das? Mia spürte Panik in sich aufsteigen.

Da tauchte vor ihr eine Gestalt in einem Umhang auf, die aussah wie ein Zauberer aus einer anderen Welt. Direkt aus dem Nebelstrudel kam sie auf Mia zu. Der dunkle Umhang fiel wie das Federkleid eines Raben über den Rücken des fremden Wesens. Eindringlich blickte der Achak Mia an und deutete mit dem Finger auf ein Tor.

Wer bist du?

Doch statt einer Antwort drang nur ein markerschütterndes Brüllen aus dem Tor. Mias Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Dann wachte sie auf.

Was um alles in der Welt war das für ein komischer Traum?

Erschrocken kroch Mia ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte zu schlafen. Doch der Blick des Achaks verfolgte sie bis in den unruhigen Schlaf.

***

Als Mia am nächsten Morgen vom Wecker geweckt wurde, lauschte sie den vertrauten Geräuschen im Haus. Draußen dämmerte die Nacht dem Tag entgegen. Feiner Nebel durchzog die feuchte, salzige Luft. Nicht mehr lange, dann würden alle aus dem Haus sein. Und genau darauf wartete Mia. Denn sie wollte zu Hause bleiben. Nicht in die Schule gehen, wie sonst. Der dumpfe Schmerz in ihrem Inneren war nicht verklungen, nicht leiser geworden. Wie der Bohrer bei einer Wurzelbehandlung hatte er sich stattdessen tief in Mias Innerstes gebohrt. Schwermütig lehnte sie sich gegen ihr Kissen. Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Umzug hätte sie vor Wut und Trotz einfach nur kotzen können.

Endlich fiel das Garagentor ins Schloss. Erleichtert atmete Mia aus. Hatte sie die ganze Zeit die Luft angehalten? Jetzt setzte sie ihre Kopfhörer auf und schaltete die Welt um sich herum aus. Zumindest für eine Weile.

Gut möglich, dass ihre Mutter ahnte, dass ihre Tochter nicht zur Schule gehen würde. Genauso gut war es möglich, dass sie eine Weile im Flur gestanden hatte, unschlüssig, wie sie mit der Situation - dem Umzug und überhaupt - umgehen sollte. Aber aus ganz anderen Gründen als die ihrer Tochter.

Gegen Mittag zog Mia ihre Jeans und ihr T-Shirt an und lief zu der kleinen Bucht, die zum Haus gehörte. Der Traum vom Vorabend wollte nicht weichen. Immer wieder tauchten die durchdringenden Augen des verhüllten Wesens auf.

Warum um alles in der Welt erscheint mir ein... ja was? Ein Zauberer... im Traum?

Ein Knacken ließ sie zusammenfahren.

«Hallo?», rief Mia wachsam und runzelte die Stirn. Anwesenheit war zu spüren. Doch die Steinstufen, die zum Haus führten, waren nicht einsehbar. Plötzlich sprang eine Gestalt in ihr Blickfeld: groß, sportlich und mit einer gehörigen Portion Schalk in den meerblauen Augen, die von einer Baseballkappe etwas verdeckt wurden.

«Erwischt!» Sam zog verschmitzt die Mundwinkel hoch. Grinsend ließ er sich neben sie in den Sand plumpsen.

«Sam ... Mensch ... du hast mich erschreckt!» Erleichtert, aber auch ein wenig mürrisch vor Schreck, gab sie ihm einen Klaps auf die Schulter.

«Wow... du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!», sagte er mit dem für ihn typischen schelmischen Gesichtsausdruck.

«Ha ha...!», entgegnete Mia, vermied es aber, Sam in die Augen zu sehen.

«Ähm... alles in Ordnung?», fragte Sam vorsichtig. «Ich meine ... du warst heute nicht in der Schule. Und hast auch nicht auf meine Nachrichten reagiert...», kombinierte er feinfühlig.

«Wir ziehen nach Vancouver!», entgegnete Mia zögernd. Ihr sonst so unbekümmerter Tonfall klang ungewohnt sachlich. Langsam drehte sie den Kopf in seine Richtung und erwiderte Sams Blick mit einer demonstrativ hochgezogenen Augenbraue.

Sams Gesichtsausdruck wechselte zwischen Erstaunen, Freude und etwas anderem, das Mia sich nicht erklären konnte. Es schien, als wolle er seine Gefühle unterdrücken. Seine Kiefermuskeln spannten sich ungewöhnlich hart an.

Sam antwortete widerwillig, aber optimistisch: «Wow... das sind ja tolle Neuigkeiten! Ich meine... wow... mega, oder?»

Mia starrte ihn verständnislos an: «Wie kannst du das sagen, Sam? Ich muss schon wieder alles aufgeben, was mir wichtig ist!», brachte sie ärgerlich hervor, als wäre es anstrengend, sich dafür erklären zu müssen, es einfach nur scheiße zu finden!

«Aber du wirst in Kanada leben! Ich meine K A N A D A!”

Mia warf Sam abermals einen entgeisterten Blick zu. «Sam, es ist dein Traum, im Ausland zu studieren, okay!»

Nicht meiner, dachte sie frustriert den Satz zu Ende. «Ich habe es so satt, dass mir jeder sagt, es wäre die Chance meines Lebens! Verärgert schüttelte sie den Kopf. Aber das war es einfach nicht! Irgendwie wollte das niemand verstehen.

«Tut mir leid...! Ich weiß, das mit den vielen Umzügen. Aber glaub mir, es wird sich alles einrenken.»

«Typisch für dich, du Superoptimist», entgegnete Mia zerknirscht. Irgendwie hatten die vielen Umzüge etwas in ihr kaputt gemacht. Kaum hatte sie sich eingelebt, war es auch schon wieder vorbei. Immer alles hinter sich lassend, gab es einfach kein richtiges Ankommen.

«Sieh Kanada doch wirklich als Chance... Ich meine, du bist dort geboren! Und das hat doch eine Bedeutung, oder?!»

«Ja, und welche?!», blaffte sie schnippischer als beabsichtigt.

Sam ließ sich von ihrer demonstrativ zur Schau gestellten Abwehrhaltung nicht beirren: «Na ja, jetzt kannst du mehr über deine Wurzeln herausfinden!»

«Will ich das überhaupt?» Mia schaute Sam abwartend an. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, meinte er es wirklich ernst. Doch gerade als Mia etwas erwidern wollte, sah Sam ihr plötzlich viel tiefer in die Augen. Also, mit diesem ganz speziellen Dackelblick.

Was zum Teufel...???? Oh nein! Bitte nicht!