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Die verbotene Welt Nangog birgt den Schlüssel zur Herrschaft über die Albenmark. Als die dämonischen Devanthar versuchen, diesen Schlüssel in ihren Besitz zu bringen, entbrennt ein grausamer Kampf um das magische Reich. In dieser Epoche voller Intrigen und Verrat wird sich das Schicksal der Elfen für immer verändern.
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Seitenzahl: 1593
Für Xinyi, die mir eine Welt voller Wunder gezeigt hat
Die Menschenkinder sind ja alle Brüder Aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder
Hat Krankheit nur ein einzig Glied erfasst So bleibt den andern weder Ruh noch Rast
Wenn anderer Schmerz dich nicht im Herzen brennt Verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennt.
Moscharraf od-Din Abdullah (SA’ADI, UM 1190 IN SCHIRAZ, † 1283 ODER 1291)
Schillernde grüngelbe Lichtbögen zogen über den wolkenlosen Nachthimmel und woben um die alten Eichen des Waldes geheimnisvolle, unstet wandernde Schatten. Die Menschen nannten es das Anderslicht und fürchteten Nächte wie diese. In ihrem Aberglauben waren es Nächte des Unheils, in denen die Albenkinder mit ihrem geisterhaften Gefolge über den Himmel ritten.
Leise knirschte der Schnee unter Lyviannes Stiefeln. Sie mochte die Winternächte des Nordens. Sie duldeten keine Schwäche, genau wie sie. In ihrem weißen Kleid und mit dem langen schwarzen Haar, das offen über ihre Schultern fiel, verschmolz die Elfe fast mit Schnee und Schatten. Ihr Verborgenes Auge war weit geöffnet. Sie sah das magische Netz, das ihre Welt durchdrang, und spürte deutlich den nahen Albenstern, die magische Pforte, durch die sie mit wenigen Schritten in die Welt der Menschenkinder gelangen könnte.
Ihr Meister, der Goldene, eine der sieben Himmelsschlangen, hatte sie in dieser Nacht gerufen. Sie hatte sich ihm verschrieben, bis tief unter die Haut. Sie war eine Drachenelfe, eine Ausgestoßene, die selbst in der eigenen Sippe bestenfalls mit Misstrauen betrachtet wurde. Aber ihr Meister hatte sie überreich beschenkt. Er vertraute ihr und hatte ihr so viele Geheimnisse Albenmarks offenbart.
Lyvianne hielt inne und lauschte. Etwas war hier. Eine fremde Macht. Etwas, das nicht in ihre Welt gehörte. Es war vor ihr, am Ende des Weges. Es verzerrte das magische Netz. Zehrte davon.
Die Zauberweberin ging weiter. Ihr Meister wünschte, dass sie hierherkam, und jedes Zögern grenzte an Verrat. Der Waldweg öffnete sich vor ihr zu einer weiten Lichtung. Ein einzelner Felsblock erhob sich dort, gekrönt von pulsierendem magischen Licht – so hell, dass die Elfe ihr Verborgenes Auge schließen musste. Das magische Leuchten erlosch. Was blieb, und was sie mit ihren wirklichen Augen sah, war ein flacher silberner Gegenstand auf dem Fels.
Der Schnee auf der weiten Lichtung war unberührt. Kein Waldtier wagte sich hierher. Sie spürten die fremde Macht ebenso, wie Lyvianne es tat. Vom Felsblock her wehte ihr nun eisige Kälte entgegen. Ihr Atem stand ihr in dichten weißen Dunstschwaden vor dem Mund. Unbeirrt ging sie weiter und erkannte in dem Gegenstand eine schmucklose flache Schale aus gehämmertem Silber. Sie war mit kristallklarem Wasser gefüllt, das trotz der Eiseskälte nicht gefroren war. Lyvianne schreckte davor zurück, die Schale zu berühren. Sie spürte die dunkle Macht, von der das Silber durchdrungen war, und ahnte, dass es ein Fehler gewesen war, die Schale auch nur anzuschauen. War es nur ihre Neugier oder aber ein verborgener Zauber, der sie näher herantreten ließ, Schritt um Schritt, und sie verlockte, in das klare Wasser zu blicken?
Der nahe gelegene Albenstern öffnete sich. Etwas schritt hindurch und bewegte sich auf die Lichtung zu. Lyvianne konnte es spüren, doch sie hob nicht einmal den Kopf.
Dunkle Schlieren, die an zerlaufende Tinte erinnerten, erschienen in der Schale. Ganz deutlich spürte Lyvianne, wie ein dunkler Zauber sie umfing. Die Schale wollte betrachtet werden, wollte ihr etwas zeigen, das Angst und Zweifel in ihr Herz säen würde. Sie sollte den Blick abwenden, aufblicken und sehen, wer gekommen war. Doch sie vermochte es nicht mehr.
Das grüngelbe Himmelslicht spiegelte sich auf dem Wasser. Es floss mit den dunklen Schlieren zusammen und formte Bilder. Verschwommen zunächst, doch dann, langsam, ließen sich Einzelheiten erraten. Ein bärtiger Mann mit dunklen Augen sah sie herausfordernd an. In Tunneln tief unter der Erde, in die der Tod Einzug gehalten hatte, starb ein ganzes Volk und der Himmel stand in Flammen. Riesige schwarze Schwingen füllten das Bild. Ein Drache brach aus einer Staubwolke hervor. Er war schwarz wie eine Neumondnacht und obwohl Lyvianne ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wusste sie doch sofort, wen sie da erblickte – Nachtatem, den Erstgeschlüpften, den Ältesten unter den sieben Himmelsschlangen.
Der Drache flog um sein Leben.
Und mit jedem machtvollen Schlag seiner Schwingen zog er sie weiter in das Bild hinein. Bis sie selbst durch den flammengepeitschten Himmel floh. Bis sie verstand, dass das, was sie sah, weder Traum war noch Vision, sondern Wirklichkeit.
Mit verzweifelten Schlägen seiner mächtigen Schwingen stemmte Nachtatem sich gegen den Sog aus der Tiefe. Die Welt starb, und sie wollte ihn mit sich reißen, hinab in ihr lichtloses Grab. Felsbrocken, groß wie Türme, wirbelten durch den Himmel. Leicht wie Ascheflocken erschienen sie ihm und doch würden sie ihn zermalmen. Er winkelte die Flügel an, wollte höher steigen, um nicht an der himmelhohen Steilwand vor ihm zu zerschellen, doch noch ehe er sie erreichte, sackte sie selbst in den Abgrund. Das Getöse von berstendem Gestein und das unheimliche Heulen weit unter ihm verschlangen ihn, gemeinsam mit der Staubwolke aus zermahlenem Fels, die immer schneller in den Himmel stieg. Steinsplitter prasselten wie Hagelschlag auf seine Schuppen. Geblendet, öffnete der Drache sein Verborgenes Auge und sah, wie die Magie der Welt in einem gleißenden Feuerwerk verging. Das Goldene Netz, in das sie eingebunden war, zerriss.
Der Sog wurde stärker und er fauchte ein Wort der Macht. Sein Sturz verlangsamte sich. Weit breitete er die Flügel aus. Steinsplitter durchschlugen das zähe Leder seiner Schwingen. Er verschloss sich gegen den Schmerz, schlug kraftvoller, zorniger und kämpfte sich durch die Staubwolke dem Himmel entgegen. Glühend rot leuchtete die Sonne durch den Staub. Bald hatte er es geschafft. Ein paar Flügelschläge noch und er würde in den Himmel entkommen.
Tentakelarme peitschten die Luft, streiften ihn, griffen nach ihm, als schrien sie, er möge sie halten, retten, mit sich nehmen, hinauf in die endlose Weite. Er wich ihnen aus. Die Sonne kam näher. Sie stürzte ihm entgegen! Das Entsetzen kam wie ein Donnerschlag und lähmte ihn. Nur einen Wimpernschlag lang – zu lang. Hitze wogte durch den Staub, Tentakel schlangen sich um seine Flügel, seine Fesseln, seinen Hals. Die Sonne kam näher.
Er wollte leben!
Nachtatem schnappte nach den Fangarmen, zerriss zähes Fleisch, sammelte seine Glut und beherrschte sich doch. Ein Feuerstoß inmitten der Staubwolke mochte den Himmel rings um ihn herum in Brand setzen.
Wie ein Ertrinkender durch die Wasseroberfläche stieß er durch die Staubwolke. Keine hundert Schritt entfernt stürzte ein brennendes Schiff aus dem Himmel. Langsam sank es dem Abgrund entgegen. Der Wolkensammler, der es getragen hatte, konnte sich nicht aus der Umklammerung des Schiffes befreien. Hunderte mit Draht verstärkte Seile hielten die riesige, aufgedunsene Kreatur an das Schiff gefesselt. Seine Tentakelarme peitschten die Luft und suchten Halt, wo es keine Rettung geben konnte. Die Kreatur selbst – groß wie ein Wolkenberg und von einer Gestalt zwischen Qualle und Oktopus – fing Feuer. Ein ganzer Schwarm kleinerer Wolkensammler quoll aus einem der Flugdecks hervor. Hunderte. Und an jedem von ihnen hing zappelnd ein Menschenkind. Auch sie entgingen dem Mahlstrom des Untergangs nicht. Während der Drache langsam in den freien Himmel emporstieg, sah er, wie die kleineren Wolkensammler in den Strudel aus Staub und Fels hinabgerissen wurden – schneller noch als das große Schiff, dem sie entflohen waren.
Ein baumlanger Speer durchschlug seinen rechten Flügel. Die Wunde schmerzte nicht, doch ein großes Loch klaffte inmitten des Flügels. Er würde nun noch langsamer höher steigen. Das Wolkenschiff unter ihm war auf die Seite gekippt und das Feuer breitete sich über immer mehr Decks aus. Stichflammen aus entzündeten Gasen entwichen der sterbenden Kreatur, die das riesige Schiff so lange durch den Himmel getragen hatte. Einige der Drehtürme, in denen die Geschütze standen, hatten auf ihn eingeschwenkt. Die Menschenkinder an Bord hatten begriffen, dass sie ihrem Tod nicht mehr entfliehen konnten. Und er erkannte, dass sie ihren letzten Atemzug geben würden, um ihn mit sich in den Abgrund zu ziehen.
Ein Geschoss verfehlte ihn knapp, zwei weitere folgten. Dann war er außer Reichweite und das prächtige Schiff wurde vollends von der Staubwolke verschlungen.
Nachtatem stieg in weiten Kreisen höher. Er musste nun kaum noch mit den Flügeln schlagen. Der Aufwind trug ihn in den Himmel. Geschafft!
Kurz ließ er sich treiben, holte Atem, sammelte sich und verschloss die Ohren vor dem ungeheuerlichen Tosen, in dem die Welt versank. Tief unter ihm, inmitten des Mahlstroms aus Felsgestein, Staub und Tod, verglomm das brennende Wolkenschiff in glutrotem Licht wie eine sterbende Sonne. Erst hoch vom Himmel herab sah Nachtatem das ganze Ausmaß der Zerstörung. Der Strudel aus Fels und Staub weitete sich aus, fraß unerbittlich, was eben noch sicherer Boden gewesen war. Spalten, weit wie Täler, griffen ins Land hinaus. Am Horizont stürzte das Meer in meilenweiten silbernen Kaskaden in den Abgrund.
Die Welt verschlang sich selbst.
Der Drache wandte sich ab. Stieg weiter in den Himmel hinauf. Er wusste, dass dieses Unheil unumkehrbar war und welchen Anteil er daran hatte. Er hatte seine Macht zu zögerlich gebraucht, es anderen überlassen, seinen Kampf zu führen. Zum ersten Mal empfand er sein langes Leben als Last. Nie zuvor hatte er mitansehen müssen, wie sich ein Sieg in eine Niederlage verwandelte.
Nachtatem suchte nach einem der Albensterne, jenen magischen Pforten, die es kundigen Zauberwebern erlaubten, binnen eines Herzschlags Hunderte Meilen weit zu reisen. Ja, wer die verschlungen Pfade gut kannte, den führten sie gar in andere Welten.
Der Drache war müde. Lange flog er durch den blutroten Himmel, bis er einen Albenstern fand – weit entfernt vom Mahlstrom des Verderbens, auf einer Lichtung, bei einem dunklen Teich voller Seerosen. Hier war das Beben nicht zu spüren. Noch nicht. Ein Wort der Macht, ein Gedanke, und zwei Lichtschlangen entsprangen dem Wasser. Sie neigten sich einander zu und formten ein Tor, hinter dem ein Goldener Pfad durch die Finsternis führte. Tausende Male war er auf Pfaden wie diesem gegangen und ohne Mühe fand er den Weg zurück in sein Refugium. Jenen Jadegarten, wo tief unter einer Pyramide, alt wie die Welt, die weite Halle lag, die seine Zuflucht geworden war.
Dort rollte er sich zusammen und überließ sich seinem Schmerz. Er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Hatte Jahrzehnte, Jahrhunderte seines Lebens damit zugebracht, darüber nachzudenken, wie er ihn hätte verhindern können. Konnte man die Zukunft verändern? Er hatte es so sehr versucht … Jetzt wusste er nicht einmal mehr, ob es letztlich nicht sein verzweifeltes Aufbegehren gegen das Schicksal gewesen war, das den Untergang herbeigeführt hatte.
Er hörte Schritte in dem flachen Wasser, das den Boden der Halle bedeckte. Müde hob der Drache sein staubverkrustetes Haupt. Seine entschlossenste Kriegerin war gekommen. Hell leuchtete das lange weiße Gewand der Drachenelfe in der Dunkelheit. Ihr blondes Haar wallte offen über ihre Schultern. Ein Strahlen schien sie zu umgeben. Sie wirkte unbesiegbar.
Ihr kommt zu spät, dachte er.
Lyvianne spürte ihren Meister mit all ihren Sinnen, und seine Präsenz war so überwältigend, dass es ihr endlich gelang, ihren Blick von den wirbelnden Bildern in der Silberschale zu lösen. Sie roch den Drachenodem, diesen unvergleichlichen Duft, der dem Goldenen zu Eigen war. Schmeichelnd war er und berauschend zugleich, und das Herz wurde ihr weit.
Der schlangenhafte Leib ihres Meisters füllte die halbe Lichtung aus, und das Himmelslicht spiegelte sich in tanzenden grünen Reflexen auf seinen goldenen Schuppen. Wo er war, konnte es kein Dunkel geben. Das Leuchten, das ihn umgab, trank jeglichen Schatten.
Ihr habt ihn also gesehen, Lyvianne – jenen Tag, an dem die Welt vergehen wird.
Wenn er in Drachengestalt sprach, haftete seinen Worten stets ein fremder Klang an, den keine Elfenzunge nachzuahmen vermochte. Eine Melodie schwang in den Sätzen mit und gab ihnen den entwaffnenden Klang eines reinen Gefühls. Mal war es Freude, mal Zuversicht, mal Melancholie. Nun aber waren seine Worte von einer Traurigkeit durchdrungen, die ihre Seele berührte.
»Welche Welt wird untergehen, mein Meister? Ich sah ein Wolkenschiff. War es Nangog?«
Ich habe jede der drei Welten vergehen sehen, meine Dame. Daia, wo die Menschenkinder leben, das unschuldige Nangog und auch unsere Heimat, Albenmark. Die Bilder der Silberschale sind trügerisch und verheißen stets Unglück. Vertraut ihnen nicht.
»Ihr wisst, ich bin die Eure, ganz und gar. Wer muss sterben, damit diese Bilder nur ein dunkler Traum bleiben? Wer ist der Quell des Übels?«
Der Goldene lachte und sein plötzlicher Frohsinn überwältigte sie. Er lachte selten.
Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet verhindern, wozu der Dunkle nicht in der Lage war?
Beschämt senkte Lyvianne ihr Haupt. Wie hatte sie so vorschnell, so vermessen sein können?
Mein Nestbruder ist verblendet vom Glauben an seine Allmacht. Er sieht den Verrat nicht mehr, der ihn umgibt. Wir müssen unsere eigenen Reihen wieder schließen, bevor wir den großen Kampf beginnen können. Dazu brauche ich Euch, meine Holde. Brauche Euren Rat. Euer Urteil, das so fest in Euren Idealen begründet ist, die mir Ehrfurcht einflößen und mich zugleich zutiefst erschrecken. Es ist die Klinge eines anderen, die ein unschuldiges Herz durchbohren muss. Und Ihr, Lyvianne, werdet mir helfen, diese Klinge ins Ziel zu führen. Ihr kennt jenen, der zum Mörder werden muss, so gut wie keine andere. Nur Ihr vermögt Ihn dazu zu bringen, etwas zu tun, von dem er weiß, dass er daran zerbrechen wird. Ich selbst war es, der einen Fehler begangen hat, der zu diesem Verrat führen muss. Vor mehr als dreißig Monden schon hat das Unheil seinen Anfang genommen, als ich meinen besten Meuchler in die weite Halle unter den Basaltklippen rief.
Lyvianne sah ihn lange an, trank seinen Atem, seine Traurigkeit. Dann nannte er die Namen der beiden, über deren Schicksal er entschieden hatte, und es war, als stoße er auch ihr einen Dolch in die Brust.
Wenn sie ihn riefen, ging es meist um Mord. Und Gonvalon war genau in der Stimmung, jemanden zu töten. Am besten einen Zwerg. Diese Kleingeister zerstörten alles, was groß und gut war in dieser Welt, weil sie einfach nicht bereit waren, ihren Platz im Gefüge des Seins zu akzeptieren. Und es war an den Himmelsschlangen, diese Plätze zu vergeben. Sie bestimmten über das Schicksal aller, seit die Alben es aufgegeben hatten, sich um Weltliches zu kümmern. Falls die Alben etwas Derartiges jemals getan hatten. Die Himmelsschlangen waren wie Götter. Und er, Gonvalon, gehörte zu ihren Auserwählten, den wenigen, die sie unter ihre schützenden Schwingen geholt hatten. Er wusste, dass es nicht um seinetwillen geschehen war. Sie hatten in ihm etwas gesehen, und ihr Einfluss hatte ihn verändert. So wie sie alle Elfen veränderten, die sie zu sich riefen. Sie hatten sein Verborgenes Auge geöffnet und nun sah er die Welt, wie sie wirklich war. Gonvalon blickte über die weite Bucht. Nebel sickerte aus den dschungelgrünen Felsklüften der unruhigen See entgegen. Wie steinerne Wächter umstanden schroffe Klippen aus schwarzem Basalt die Meeresbucht, und Türme wucherten gleich Pilzen, denen man die Kappen abgeschlagen hatte, aus dem zerklüfteten Fels. Die Proportionen der alten Gemäuer ließen keinen Zweifel daran, dass sie nicht für Elfen geschaffen waren, aber der Ursprung der Türme war ungewiss. Selbst Trolle hätten sich unter den riesigen Torbögen klein gefühlt! Hatte es eine Zeit gegeben, in der Drachen in Türmen hausten?
Gonvalon fragte sich, wen der Goldene noch gerufen hatte. Es waren immer zwei, die er schickte. Die Drachen trieben ein hintergründiges Spiel mit ihren Auserwählten. Sie beriefen ihre Vollstrecker stets einzeln, und oft war es so, dass beide nur in Teile ihrer Mission eingeweiht waren. Das säte Misstrauen. Aber Gonvalon war zuversichtlich. Er stand schon sehr lange in Diensten des Goldenen, jener Himmelsschlange, die ihn erwählte, nachdem er seine letzte Prüfung bestanden hatte. Himmelsschlangen – oder auch Regenbogenschlangen –, so nannten sich die Ältesten unter den Drachen, die von sich behaupteten, die ersten Geschöpfe zu sein, die von den Alben erschaffen worden waren. Es war stets nur einer der alten Drachen, der die Missionen benannte, und man wusste nie, ob er sich mit seinen Brüdern einig war oder allein entschieden hatte. Gonvalon war zuversichtlich, dass ihm der bedeutendere Teil der Mission übertragen würde. Er hatte seinen Meister niemals enttäuscht! Die Regenbogenschlange, die ihn zu ihren Krallen gemacht hatte.
Der Elf blickte über die weite Bucht und fragte sich, wer ihn wohl begleiten würde. Auf irgendeinem der unzähligen Türme, die sich über den schwarzen Basalt erhoben, wartete noch jemand, so wie er es tat. Jemand, den er schon lange kannte. Sie waren nur wenige Auserwählte. Von zehn, die berufen wurden, schafften es am Ende nur ein oder zwei, in die Riege der Vertrauten aufzusteigen.
Gonvalon lächelte zynisch. Nein, Vertraute konnte man sie nicht nennen. Drachen vertrauten keinem Elfen. Sie beriefen sie lediglich zu ihren Mördern.
Es war die größte Ehre für einen Drachenelfen, hierher, auf die Klippen über der Jadebucht, gerufen zu werden. Eine Auszeichnung, auf die viele von ihnen jahrzehntelang warten mussten. Die meisten kannten diesen Ort nur aus Erzählungen.
Eine kühle Bö fegte über das Meer. Dunkle Wolken hatten ihre Schattensegel aufgespannt und trieben der Küste entgegen. Zu dieser Jahreszeit kamen sie immer zur Mittagsstunde. Gonvalon flüsterte ein Wort der Macht. Ein Wort, das nicht für Elfenzungen geschaffen schien und ihm nur schwer über die Lippen ging. Es war ihm immer noch fremd, und er artikulierte es überdeutlich. Ein Prickeln lief über seinen Körper. Er hatte gesehen, dass ein solches Wort töten konnte, wenn man einen Fehler machte. Er war Zeuge gewesen, wie Elfen sich in eine lebende Fackel verwandelt hatten oder von innen heraus zerrissen worden waren.
Das Prickeln verflog binnen eines Augenblicks. War ihm der Zauber geglückt? Manchmal dauerte es ein wenig, bis das Unheil kam. Er schauderte. Nie würde er vergessen, was er in der Höhle des Schwebenden Meisters gesehen hatte.
Gonvalon trat an den Rand der Zinnen. Seine Handflächen waren feucht, als er sich auf das kühle Mauerwerk stützte. Er versuchte an etwas anderes zu denken. Er hatte diesen Zauber wirken müssen! Er würde sich lächerlich machen, wenn er gerufen wurde und triefnass vor den Goldenen trat. Das wäre eine Schande, die er nie mehr würde tilgen können. Die Himmelsschlangen erwarteten von ihren Auserwählten, dass sie das Mysterium der Magie meisterten. Dies war die letzte Stufe der Vollkommenheit. Und nichts weniger sollten sie sein. Vollkommen!
Der Regen erreichte die Klippen und ging mit solcher Wucht nieder, als wolle er die schwarzen Türme mit sich hinab auf den Grund des Meeres reißen. Binnen eines einzigen Herzschlags schrumpfte der sichtbare Teil der Welt auf wenige Schritt.
Gonvalon atmete erleichtert aus, drehte seine Hand dicht vor den Augen und streckte sie dann triumphierend dem finsteren Himmel entgegen. Es war geglückt. Der Zauber umfing ihn wie ein unsichtbarer Kokon. Er wurde nicht nass! Andere Zauber zu weben fiel ihm leichter. War es Eitelkeit, lieber sein Leben zu riskieren, als sein Gesicht zu verlieren? War das seine Schwäche?
Er strich sich über die Stirn. Die Antwort lag auf der Hand. Es war schlicht und ergreifend dumm. Und er würde es wieder tun. Das war sein Makel. Er fühlte sich unsicher, musste sich stets beweisen. Konnte es nicht ertragen zu versagen. Nicht einmal in Kleinigkeiten.
Er sollte sich die Zeit nehmen, um in sich zu gehen, wenn dies alles vorbei war. Er musste sich darüber klar werden, ob dies ein Makel war, dem er mit kühlem Verstand beikommen konnte, oder aber ein unveränderlicher Teil seines Charakters. Allerdings war er trotz dieser Schwäche weit gekommen. War dieser Makel am Ende vielleicht das Fundament, auf dem alles, was er erreicht hatte, ruhte?
Eine Stimme berührte sein Innerstes. Sie rief ihn. Gonvalon trat zu der Treppe, über die sich das Wasser in Sturzbächen ins Innere des Turmes ergoss, und stieg mit sicheren Schritten in die Dunkelheit hinab. Bald darauf verschluckten die dicken Mauern bereits das Rauschen des Regens.
Schon beim ersten Treppenabsatz versickerte das Wasser in Abflusslöchern, die in den Steinboden gebohrt waren. Zurück blieb nur eine schwüle Hitze, die umso beklemmender wurde, je tiefer er hinabstieg.
Gonvalon gelangte in einen weiten Kuppelsaal, der unterhalb des Turms in den Fels der Klippen geschlagen war. Honigfarbenes Licht sickerte aus den Barinsteinen, die in kunstvollen Mustern ins Deckengewölbe eingelassen waren. Er hatte jenen Teil des Bauwerks erreicht, der nicht für Geschöpfe wie ihn errichtet worden war. Alles hier war zu groß, war selbst dann noch einschüchternd, wenn man die Pracht der Paläste Arkadiens kannte und die Wunder des Jadegartens gesehen hatte.
Gonvalon ging auf die Rampe zu, die zum dunklen Herzen der Basaltklippen führte. Er atmete jetzt jenen berauschenden Wohlgeruch, der so schwer in Worte zu fassen war. Der Duft erinnerte ein wenig an Sandelholz, nur dass er noch reiner war. Ohne den Hauch von Verfall und Verwesung, der jedem anderen Geruch beigemengt zu sein schien, wenn man einmal einen Drachen gerochen hatte. Vielleicht, so dachte er, war es der Hauch der Unsterblichkeit.
Gonvalon trat auf die Rampe hinaus. Sie war so breit, dass auf ihr wohl sieben Streitwagen ohne Mühe hätten nebeneinander fahren können. Der Boden war spiegelglatt und schlüpfrig unter seinen nassen Ledersohlen, poliert von den Schuppen, die sich hier hinab in den Abgrund unter den Klippen gewunden hatten.
Die Rampe wand sich in enger werdenden Spiralen abwärts, auf ein goldenes Licht am unteren Ende zu. Sie erinnerte an das Innere eines gespaltenen Schneckenhauses. Der Elf spürte die melodische Stimme seines Herrn, obwohl er sie noch nicht hören konnte. Immer, wenn sein Meister zu ihm sprach, waren all seine Sinne berührt. Die Stimme war zugleich tief in seinem Kopf und in seinem Herzen, durchdringend und ergreifend.
Allerdings konnte er die Worte nicht verstehen, denn diesmal waren sie nicht an ihn gerichtet. Jemand anderes war noch vor ihm zum Goldenen bestellt worden. Seine Gefährtin für die bevorstehende Mission? Sein Herz schlug schneller. Der Stachel der Eifersucht plagte ihn. Sonst war immer er es gewesen, der als Erster berufen worden war. Wann man einbestellt wurde, sagte aus, wie wichtig man war. Die Unbedeutendsten, die Handlanger, wurden zuletzt gerufen. War sein Stern im Begriff zu verblassen?
Mit festem Schritt folgte Gonvalon dem Lauf der Spirale dem Licht entgegen. Als er den größten Teil des Weges hinter sich hatte, verstummte die wortlose Stimme und Trauer umfing ihn. Den Regenbogenschlangen lauschen zu dürfen vermittelte das Gefühl, Teil von allem zu sein. Als sei ganz Albenmark ein gewaltiges, vollkommenes Mosaik, bei dem es auf jeden einzelnen Stein im Gefüge ankäme. Aber er wusste, dass manche Steine wichtiger waren als andere.
Zweifel nagte an ihm. Was war geschehen, dass der Goldene ihn nicht mehr zuerst berief? Waren endgültig zu viele seiner Schülerinnen gestorben? Mit wachsender Sorge eilte er weiter. Nur das Geräusch seiner Schritte auf dem schlüpfrigen Grund störte die bedrückende Stille. Gonvalon wurde schmerzlich bewusst, dass er, seit er sich den Drachen verschrieben hatte, ein Sippenloser war. Ausgestoßen aus der Gemeinschaft, in die er geboren worden war. Wer dem Ruf der Himmelsschlangen folgte, der gehörte ihnen ganz und gar.
Plötzlich hallte das Echo fremder Schritte von den Wänden wider. Beschwingter Schritte, obwohl sie gegen die Steigung ankämpften. Gonvalon rang nur kurz mit seiner Neugier, dann blickte er die Spiralwindungen der Treppe hinab. Doch das durchdringende honigfarbene Licht, das von unten heraufstrahlte, blendete ihn. Er spürte, dass der Goldene wusste, was er getan hatte. Es gab nur Weniges, was den großen Drachen verborgen blieb. Sie konnten Herzen lesen, wenn man ihnen nur nahe genug war.
Beschämt wich Gonvalon zurück. Sich so gehen zu lassen war eines Drachenelfen unwürdig. Er war zwar ein Verstoßener in seinem Volk und doch war er zugleich auch ein Auserwählter. Sein Verständnis von Albenmark übertraf das all jener, die bei ihren Sippen blieben, bei Weitem. Der Schwebende Meister hatte sein Verborgenes Auge geöffnet. Er sah jetzt die geheime Welt. Alles was lebte, ja selbst jeden Stein betrachtete er mit neuem Blick. Er war vertraut geworden mit der wilden Kraft, die allem innewohnte. Eine zerstörerische Kraft, wenn man sie nicht recht einzuschätzen wusste. Und doch zugleich auch eine Kraft, die unermessliche Freuden schenkte. Und Macht!
Gonvalon atmete aus und versuchte sein inneres Gleichgewicht zu finden. Er ärgerte sich über seine Unbeherrschtheit, kannte seine Schwächen und gab ihnen allzu oft nach.
Die Schritte klangen nun ganz nah. Er hatte den Kopf sinken lassen. Als er jetzt aufblickte, versetzte es ihm einen Stich, als er sah, wer vor ihm zum Goldenen gerufen worden war. Talinwyn! Sie war erst vor Kurzem in die Reihen der Auserwählten aufgenommen worden. Drei Jahre lang war sie seine Schülerin gewesen, und er hatte sie alles über das Töten mit Klingen gelehrt. Talinwyn war überaus talentiert gewesen und ein wenig zu ehrgeizig.
Gonvalon musterte sie abschätzend. Talinwyn schien von innen heraus zu strahlen. Sie lächelte ihn an. Ihr hochgeschlossenes dunkelgrünes Kleid mit Goldstickerei harmonierte vollkommen mit dem funkelnden Smaragdgrün ihrer Augen. Weißblondes, wallendes Haar rahmte ihr schmales Gesicht. Über den Rücken geschnallt trug sie Todbringer. Der wuchtige Zweihänder mit der weit ausladenden Parierstange wirkte viel zu groß für die zierliche Elfe. Gonvalon hatte ihr von dieser Waffe abgeraten, aber sie hatte nur gelacht. Nach der Aufnahme unter die Drachenelfen stand es jedem Krieger frei, im Waffensaal eine Klinge zu wählen, mit der er künftig kämpfen wollte.
Gonvalon betrachtete Talinwyns Schwert selbst jetzt noch mit einer Mischung aus Missbilligung und Entsetzen. Dreimal hatte die Elfe ihn bei Übungskämpfen mit der Klinge verletzt. Es waren allesamt nur leichte Wunden gewesen, doch jede einzelne war eine Demütigung. Es kam nicht oft vor, dass eine Schülerin einen Lehrer verletzte! Talinwyns Geschick mit der übergroßen Klinge hatte ihm jedenfalls manch spitze Bemerkung durch die übrigen Meister der Weißen Halle eingebracht.
Gonvalon kannte alle Geschichten um Todbringer. Die Waffe war verflucht, auch wenn das niemand offen aussprach. Jeder, der dieses Schwert erwählt hatte, war für seine Heldentaten berühmt geworden. Und niemand hatte seine Wahl um mehr als drei Jahre überlebt. Todbringer machte seinem Namen alle Ehre. Es zerschmetterte Feinde mit der Gewalt von Drachenkrallen. Es hieß, der Goldene habe es einst erschaffen, um damit Devanthar zu töten. Gonvalon hielt das für ein Gerücht, hatte aber dennoch das Gefühl, die Klinge sei von einer dunklen Magie durchdrungen, die nicht der Schöpfung der Alben entstammte.
»Liuvar«, grüßte er Talinwyn und war sich der Ironie des Augenblicks bewusst. Ihr Frieden zu wünschen grenzte in Anbetracht dieses Schwertes auf ihrem Rücken an Hohn.
»Liuvar«, entgegnete sie gut gelaunt. »Du siehst blass aus.«
Gonvalon musste an sich halten. Ein paar Atemzüge vergingen, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Vor zwei Monden hatte sie ihn verlassen und dabei übel verspottet. Sie war eine Schlange! Als sie der Überzeugung gewesen war, nichts mehr von ihm lernen zu können, hatte sie sich gegen ihn gewandt. Drei Jahre hatten sie das Lager miteinander geteilt. Er war sich bewusst gewesen, dass Lehrer nicht auf diese Weise mit ihren Schülerinnen verkehren sollten, und andere hatten ihn vor ihr gewarnt. Aber er hatte allen Rat in den Wind geschlagen.
Er hatte sie geliebt.
Erst in den letzten Tagen mit ihr war ihm bewusst geworden, wie einseitig diese Liebe immer schon gewesen war. Ihr letzter Übungskampf war zu einem Duell auf Leben und Tod eskaliert und endete nur deshalb ohne Blutvergießen, weil Ailyn zwischen sie getreten war. Und Ailyn widersetzte man sich nicht. Sie war die erfahrenste Kriegerin unter den Drachenelfen der Weißen Halle.
»Ich habe eine Mission, die einer Schwertmeisterin würdig ist. Du wirst davon hören«, flüsterte Talinwyn, als sie an ihm vorüberging. Sie versuchte erst gar nicht, den Triumph, den sie empfand, zu verbergen. »Ich werde dorthin gehen, wohin noch kein Elf vor mir gegangen ist.«
»Dann viel Glück, kleine Schwester«, entgegnete er ruhig.
Er hörte, wie sie im Schritt innehielt. Bestimmt sah sie ihm hinterher. Aber er würde sich nicht umdrehen. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen. Sie war so schön! Er hatte es nicht geschafft, sie sich aus dem Herzen zu reißen, so wie er es sich schon hundert Mal vorgenommen hatte. Er war ein Narr!
Wusste der Goldene darum? Natürlich wusste er es. Er wusste alles. Und dass er Talinwyn vor ihm gerufen hatte, machte deutlich, welchen Rang er nun unter den Drachenelfen bekleidete. Seine Schülerin wurde ihm vorgezogen. Sie hatte ihn besiegt! Hoffentlich ersparte ihm der Goldene die Demütigung, mit ihr gemeinsam fliegen zu müssen und unter ihrem Befehl zu stehen. Lieber würde er sich von einer Klippe stürzen, denn er wusste auch, dass ein einziges freundliches Wort von ihr genügen würde, ihn wieder gefügig zu machen. Er war ihr verfallen und musste auf andere Gedanken kommen. Hoffentlich sandte ihn der Goldene auf eine lange Mission, bei der er viel Blut vergießen konnte. Vielleicht hatte er ja Glück und er schickte ihn los, um eines der geheimnisvollen Tunnelschiffe der Zwerge zu stehlen.
Gonvalon war das Herz schwer. Es kam nur sehr selten vor, dass zwei Missionen ausgesandt wurden. Manchmal vergingen viele Monde, bis die Drachen ihre Elfen riefen. Dass gleich vier an einem Tag verschickt worden waren, war etliche Jahre her. Manchmal geschah es, dass die Himmelsschlangen einen Krieger an einen ihrer Nestbrüder ausliehen, weil er besondere Fähigkeiten besaß. Es geschah nur sehr selten und wenn, dann war der Meister des Elfen zugegen, während ihm der fremde Drache seine Mission nannte. Gonvalon hatte noch nie für einen anderen Drachen als den Goldenen gefochten. War es das, was ihn heute erwartete? Wurde er deshalb nach Talinwyn gerufen?
Die Schritte wurden Gonvalon schwerer, je weiter sie ihn in die Tiefe führten. Und noch schwerer war ihm sein Herz. Der Gedanke, unter Talinwyns Befehl zu stehen, war niederschmetternd, und doch würde er sein Leben wagen, um sie bei Gefahr zu retten. Er war ein verdammter, verliebter Narr.
Endlich machte die breite Rampe ihre letzte Kehre, und er sah den Goldenen, den herrlichsten unter den alten Drachen. Seinen Meister! Obwohl der Schwertmeister den Goldenen schon oft gesehen hatte, verschlug es ihm erneut den Atem. Er war Macht und Schönheit in vollkommener Harmonie. Wer seine Aufmerksamkeit besaß, fühlte sich unter allen hervorgehoben. Gonvalons Ärger darüber, mit Talinwyn reisen zu müssen, verflog. Alles würde sich fügen! Die Drachen waren die Statthalter der Alben. Ihnen war die Welt anvertraut, und man konnte sich keine weiseren Herrscher wünschen.
Die Schuppen des Drachen, der vor ihm in einer weiten Höhle ausgestreckt lag, erschienen wie aus lauterem Gold geschmiedet. Ein sanftes Licht strahlte aus ihnen. Ein Licht, das nichts Vergleichbares fand, wie lebendig wirkte, keine Schatten in seiner Nähe duldete, sich um Ecken wand und bis in den hintersten Winkel drang. In den großen, bernsteinfarbenen Augen des Goldenen schien ein Lächeln zu liegen. Die lange, geschlitzte Pupille war nur ein schmaler Strich.
Über Gefühle der Drachen konnte man nur mutmaßen. Sie waren zu fremd, bei nichts konnte man sich sicher sein. Die Farbe ihrer Schuppen konnten sie ebenso leicht verändern wie ihre ganze Gestalt – den riesigen schlangengleichen Leib. Wie sehr, darüber stritten Maulhelden und Märchenerzähler.
Der Goldene zeigte sich stets in strahlender Pracht. Ganz anders als Nachtatem, der Erstgeschlüpfte. Ihn umgab Dunkelheit. Und er war noch geheimnisvoller als seine Brüder. Es hieß … Nein, dachte Gonvalon. Daran sollte er in Gegenwart des Goldenen nicht einmal denken.
Es ist gut, Euch zu sehen, Gonvalon.
Die Stimme des Drachen war in ihm, durchdrang ihn ganz und gar, und Gonvalon ging das Herz auf. Die Freude überwältigte ihn so sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten. Seine Wangen erglühten vor Scham, aber er vermochte seine Gefühle nicht zu beherrschen.
Ich habe Euch beobachtet. Ihr seid wahrlich ein Meister des Schwertes geworden. Ich erinnere mich noch gut an Eure ersten Tage unter den Auserwählten. Nicht alle meine Brüder hielten Euch für würdig. Zu unbeherrscht wart Ihr. Aber ich konnte immer schon sehen, was tief in Euch ruht. Eure Einzigartigkeit. Inzwischen habt Ihr alle Zweifler überzeugt, obwohl Ihr Eure Unbeherrschtheit noch immer nicht völlig überwunden habt. Kämpft nicht länger dagegen an. Eure Stärken sind untrennbar mit Euren Schwächen verbunden.
Gonvalon senkte demütig das Haupt. Er empfand Stolz und zugleich auch Unbehagen bei dem Gedanken, dass der Goldene ihn beobachtete und dass ihn offenbar nicht alle Himmelsschlangen schätzten.
Macht Euch keine Sorgen, mein kleiner Bruder. Niemand, den ich unter meine Schwingen nehme, hat etwas zu befürchten.
Nie zuvor hatte der Goldene ihn einen Bruder genannt. Die Auserwählten sahen einander als Geschwister an. Aber Drachen … Es schien absurd, wenn man sie nebeneinander sah. Die gewaltige Regenbogenschlange und den zierlichen Elfen. Den Zauberweber, der die Geschicke Albenmarks lenkte, und den Stümper, der befürchten musste, dass ihm ein Fehler bei seinen lächerlichen Versuchen zu zaubern das Leben kosten könnte. Jenen Stümper einen Bruder zu nennen musste jedem anderen wie Spott erscheinen. Dennoch spürte Gonvalon die Aufrichtigkeit der Worte. Es war die Art, wie sie in ihm nachklangen. Die Art, wie der Goldene ihn anblickte, während er sprach, und wie die Glut tief in seinen Nüstern aufglomm. Das war mehr als Rhetorik und einstudierte Gesten. Und welchen Grund sollte ein Drache haben, ihm etwas vorzumachen?
Ich werde Euch und die Gefährtin, die ich Euch erwählt habe, auf eine weite Reise schicken, Gonvalon. Und ich möchte, dass Ihr keinem der Auserwählten von dieser Mission erzählt. Sie ist vertraulich. Selbst gegenüber meinen Drachenbrüdern.
Gonvalon fragte sich, wo die anderen alten Drachen waren und wie der Goldene etwas vor ihnen geheim halten wollte. Beklommen blickte er zu den weiten Tunneln, die in die große Höhle mündeten. Jeder der Tunnel war einer der Regenbogenschlangen vorbehalten. War der andere schon in der Nähe? Lauschte er?
Verwundert, doch ohne Sorge blickte der Elf zu seinem Meister auf. So grenzenlos wie die Macht des Goldenen war das Vertrauen, das er in ihn setzte.
»Darf ich erfahren, wer mit mir reisen wird?« Hoffentlich stellte man ihm keinen Drachenelfen, der sich dem Flammenden verschrieben hatte, an seine Seite. Sie alle waren von aufbrausendem Temperament, genau wie ihr Meister. Keiner von ihnen diente in der Weißen Halle. Meist streiften sie allein durch die Wildnis.
Ihr werdet eine Gefährtin bekommen, Gonvalon. Mehr dazu zu seiner Zeit.
Feiner blaugrauer Rauch stieg von den Nüstern der Himmelsschlage auf und umfing ihn mit Wohlgeruch. Der mächtige Schweif des Drachen schrammte über den Felsboden.
Wir haben Feinde, mein geschätzter kleiner Bruder, und ich sehe einen langen Krieg voraus. Eure Taten werden über die Zukunft Albenmarks entscheiden.
Nandalees Rechte tastete nach dem Köcher an ihrer Hüfte. Vier Tage war sie dem prächtigen Sechzehnender gefolgt. Er wusste, dass sie ihm nahe war. Der große Hirsch hatte sein Rudel verlassen, als er ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Er wollte die anderen Tiere nicht gefährden und hatte sie weit nach Westen gelockt. Zu weit. Sie war dem Königsstein nahe gekommen. Elfen sollten sich nicht hierherwagen.
Der weiße Hirsch trat von einem Wildwechsel auf die verschneite Lichtung. Er war von der langen Flucht erschöpft und schonte nun seine Kräfte.
Nandalees tastende Finger fanden den Pfeil mit den Eulenfedern. Er würde lautlos wie der Nachtvogel fliegen. Ohne verräterisches Sirren. Der Pfeil war noch neu; es war der vorletzte, den sie gefertigt hatte. Er war noch nicht markiert, wie es in ihrer Sippe üblich war, damit es nicht zu Streit kam, wenn man gemeinsam auf die Jagd ging und zwei den tödlichen Schuss für sich beanspruchten. Nandalee blickte zu dem prächtigen Hirsch. Sie wollte ihm durchs Auge schießen. So würde nur wenig Blut auf das makellose Fell spritzen.
Der Sechzehnender verharrte. Es waren für ihn kaum noch zehn Schritt bis zum gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Etwas hatte ihn innehalten lassen. Er beobachtete den Waldrand, machte einen zögerlichen Schritt und verharrte erneut. Nicht sie hatte ihn aufgeschreckt. Sie stand gegen den Wind, etwa zweihundert Schritt weit entfernt. War dort hinten im verschneiten Unterholz vielleicht ein Wildschwein?
Sie legte den Pfeil auf die Sehne und bedachte ihre Beute mit einem letzten prüfenden Blick, als sie die Nocke einhakte. Der Eschenschaft war perfekt gearbeitet und hatte sich im Köcher nicht verzogen. Die Federn waren aus der linken Schwinge einer Schneeeule gefertigt und nicht beschädigt. Die Befiederung war leicht schräg auf den Schaft geklebt. So würde sie den Pfeil im Flug rotieren lassen, was die Treffgenauigkeit deutlich verbesserte. Die Spitze war schmal, dreikantig und würde glatt durch das Auge und den dünnen Knochen dahinter schlagen, wenn der Schuss saß. Verfehlte sie ihr Ziel, würde der Pfeil auf diese Entfernung den Schädelknochen sicherlich nicht durchdringen.
Auf diese Distanz sein Auge zu treffen war fast unmöglich. Zum Glück war es windstill. Sollte sie es wagen? Wenn sie ihn verfehlte, mochte die Jagd noch einen weiteren Tag dauern. Der Hirsch war zwar erschöpft, aber noch lange nicht am Ende seiner Kräfte. Bleib noch einen Augenblick so stehen, dachte Nandalee und lächelte versonnen.
Ein sanfter Windstoß fuhr durch die Wipfel. Schnee rieselte von den Ästen. Die Elfe hob den Bogen.
Laut keckernd stieß eine Elster aus dem Geäst einer Kiefer. Ein schwarz-weißer Schemen, der schnell zwischen den Bäumen verschwand. Der plötzliche Laut hatte den Hirsch erschreckt. Er tänzelte unruhig.
Nandalee zog die Sehne bis hinter ihr rechtes Ohr zurück. Sie zielte über den Kopf des Sechzehnenders hinweg. Auf die weite Entfernung würde der Pfeil im Flug sinken. Einen Augenblick sammelte sie sich, vertraute ganz auf ihre Instinkte. Sie konnte den Pfeil ins Ziel denken. Wenn sie eins mit sich und der Waffe war, vermochte sie sogar mit geschlossenen Augen zu treffen.
Der Hirsch stürmte los. Schnee wirbelte in Klumpen unter seinen trommelnden Hufen empor.
Die Elfe lächelte und senkte die Waffe. Der Sechzehnender hatte die Gefahr gespürt, doch was ihn beunruhigt hatte, war ihr schleierhaft. Vielleicht war er eins mit der Magie der Welt, so wie die Orakel und Drachenelfen. Diese Gabe war überaus selten, aber warum sollten die Alben sie nicht auch Tieren geschenkt haben? Schließlich waren auch weiße Hirsche selten. Sie jedenfalls hatte seit vielen Jahren keinen mehr gesehen.
In langen Sätzen erreichte der Sechzehnender den Waldrand, folgte dem Wildwechsel und neigte leicht sein Haupt, um sich mit dem Geweih nicht im Kieferngeäst zu verfangen. Er bewegte sich voller Anmut, und Nandalee hielt inne, um ihm nachzublicken. Sollte sie ihn nicht einfach ziehen lassen? Hatte sie das Recht, ihn zu Tode zu hetzen? Sie würde nur sein Fell nehmen können und sehr wenig von seinem Fleisch. Sie war viel zu weit von den Jagdgründen ihrer Sippe entfernt. Sie …
Der Schnee zerbarst und spie eine riesige graue Gestalt aus. Ein wuchtiger Keulenhieb zerschmetterte den Schädel des Hirsches. Eine Geweihgabel flog bis weit auf die Lichtung hinaus. Nandalee konnte das Bersten der Knochen so deutlich hören, als stünde sie dicht daneben. Der Hirsch wurde gegen die Kiefer geschleudert, unter deren ausladenden Ästen er sich hinweggeduckt hatte. Blutfontänen sprenkelten den Schnee. Auch als das Leben den Hirsch bereits verlassen hatte, zuckten seine Läufe, schien der Leib noch immer flüchten zu wollen. Die schlanken Läufe zerwühlten den verharschten Schnee.
Mit einem kehligen Triumphschrei reckte der Trollkrieger seine Keule dem grauen Winterhimmel entgegen. Der Hüne war mit schneeverkrusteten Mammutfellen behängt. Er hatte sich neben dem Wildwechsel einschneien lassen und gewartet, dachte Nandalee. Sicherlich viele Stunden lang.
Sie beobachtete, wie der Troll neben dem Hirsch niederkniete, den Kadaver mit einem Steinmesser aufschnitt und die Rippen mit einem weiteren Keulenhieb zerschmetterte. Seine riesigen Hände tauchten in das zerschundene Fleisch. Er brach den Brustkorb auf und riss das Herz heraus. Es dampfte in der kalten Luft.
Nandalee dachte an die anmutige Bewegung, mit der der Hirsch sich geduckt hatte. In den letzten Tagen hätte sie mehr als ein Dutzend Mal Gelegenheit gehabt, auf den Sechzehnender zu schießen, und es sich stets versagt. Sie schuldete ihm einen vollkommenen Schuss. Er hatte nicht verdient, so zerfetzt zu werden. Aber den Trollen waren solche Gedanken fremd.
Kalte Wut packte Nandalee. Sie hakte erneut den Pfeil mit den Eulenfedern ein und hob den Bogen. Nandalee wusste, dass man einen Troll nicht mit einem Pfeil töten konnte. Nicht auf diese Entfernung. Er war mehr als drei Schritt hoch, ein Ungeheuer aus Fleisch und Knochen. Auf diese Distanz würde der Pfeil zu viel Durchschlagskraft verlieren, um den Troll ernstlich zu verletzen. Selbst wenn sie ihn am Kopf traf, würde die dreikantige Bronzespitze wirkungslos am dicken Schädelknochen abprallen. Sie durfte gar nicht hier sein, so nah beim Königsstein, dachte sie. Trotzig hob sie den Bogen. Noch in der Bewegung spannte sie die Sehne. Ohne sich damit aufzuhalten zu zielen, ließ sie den Pfeil fliegen. Und mit ihm wich all ihr Zorn. Nur Trauer und Müdigkeit blieben.
Galar hielt eine weitere Flasche an die klaffende Wunde und achtete sorgsam darauf, dass ihm das Blut nicht auf die Finger spritzte. Es hieß, Drachenblut könne jegliches Fleisch zersetzen. Allerdings gab es auch Geschichten, dass Drachenblut unverwundbar machen könne. Er würde herausfinden, was stimmte. Aber nicht jetzt!
»Mach schneller!«, drängte Hornbori. »Wir müssen hier verschwinden! «
»Der ist ja noch nicht mal kalt«, entgegnete Galar ruhig und bedauerte, Hornbori mitgenommen zu haben. »So schnell werden sie nicht kommen.«
»Aber wir haben kurze Beine. Wir sollten weit fort sein, wenn sie kommen. Jetzt mach schon!«
»Das ist nur eine Silberschwinge. Den wird so schnell schon niemand vermissen.« Galar verschloss die Phiole mit einem passend geschliffenen Kristall und schob sie vorsichtig in eine der Lederschlaufen im Inneren der mit breiten Eisenbändern beschlagenen Kiste. Kurz suchte er zwischen den Werkzeugen nach der Stahlsäge. »Hier, nimm das!«, sagte Galar, doch Hornbori glotzte ihn nur an. Er hätte ihn wirklich nicht mitnehmen sollen!
»Was soll ich damit?«
Galar musste sich beherrschen, um nicht ausfällig zu werden. »Sägen natürlich.« Er deutete auf die Drachenschnauze. »Hol so viele Zähne heraus, wie du kannst.«
»Aber …«
»Mach!«
Hornbori wandte sich ab. Er war ein Bild von einem Zwerg mit einem beneidenswert dichten Bart. Sogar aus seinen großen Nasenlöchern sprossen üppige Haarbüschel und fügten sich in seinen wulstigen schwarzen Schnauzbart. Die Locken des nachtfarbenen Haupthaars schimmerten leicht bläulich, der Bart reichte ihm bis zum breiten Gürtel hinab. Er war stark, hatte gute Zähne, konnte saufen wie ein Loch und hatte eine eiserne Verdauung. Kurz und gut, er war ein Bild von einem Zwerg und sah aus wie ein Held. Nur dass er leider kein Held war. Die Drachenjagd war entschieden zu viel für diesen ängstlichen Wicht.
Galar nahm den Löffel aus dem Kasten und die große Silberdose. Kurz begutachtete er Hornboris Arbeit. Er sägte schief! Trottel. Und dauernd blickte er zum Himmel hinauf.
Galar verkniff sich einen weiteren Tadel. Er stemmte seinen Löffel unter das Augenlid der Silberschwinge und hebelte den Griff zurück. Mit einem schmatzenden Geräusch quoll das Auge hervor. Galar durchtrennte das dünne rote Fädchen, an dem es herabhing, und fing das fallende Auge mit der Silberdose auf. In aller Ruhe kniete sich der Zwerg neben seine Kiste, füllte Branntwein in die Dose, bis das Auge ganz bedeckt war, und verstaute dann seinen Schatz. Jetzt brauchte er noch Schuppen und, wenn die Zeit blieb, ein paar Knochensplitter.
Galar begann mit einer Zange Schuppen zu zupfen. Die Mistdinger saßen ärgerlich fest. In diesem Punkt war er schlecht vorbereitet. Nein, nicht nur in diesem … Er hätte mehr Männer gebraucht. Immer wieder hatte er sich den Mund fusselig geredet. Über ein Jahr hatten sie diese Jagd vorbereitet und jetzt blieb nicht einmal eine halbe Stunde, um die Beute, so gut es ging, auszuschlachten. Er hätte viel mehr Männer gebraucht! Und nicht solche wie Hornbori.
»Hier!« Sein Gefährte warf ihm den schief abgesägten Zahn vor die Füße. »Das ist keine Arbeit für Helden. Ich sollte etwas anderes machen.«
»Nimm dir Hammer und Meißel und hack ein paar der Krallen ab.« Galar sagte das in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er geneigt war, etwas von Hornbori abzuhacken, falls der es riskierte zu widersprechen.
Galar war sich nicht ganz sicher, was er mit Drachenkrallen anfangen sollte. Im Zweifelsfall konnte man sie für extravagante Dolchgriffe verwenden.
»Drache! Drei Meilen Südsüdwest«, rief Nyr vom Steilhang über ihnen. » Wir sind hier oben fast fertig. Du solltest dich beeilen! «
»Ich bin auch fertig«, sagte Hornbori, ohne auch nur eine Drachenkralle anzurühren.
Galar fluchte. Nicht einmal die geplante halbe Stunde hatte er gehabt. »Hol die Äste. Wir müssen den Kadaver abdecken.«
Diesmal gehorchte Hornbori ohne Widerspruch. Hastig packte Galar seine Kiste, dann half er seinem Gefährten. Bald war der Drachenleib unter Kiefernästen und Farnwedeln verschwunden. Das würde für ein paar Stunden helfen. Wenn sie viel Glück hatten, vielleicht sogar für einen Tag. Bis der Kadaver zu stinken begann.
Die beiden Zwerge beeilten sich, in den Schutz der Bäume zu gelangen. Sie huschten von Schatten zu Schatten. Bald trafen sie auf Nyr und seine Geschützmannschaft. Sie hatten die riesige Armbrust, die Nyr liebevoll Drachenflitsche nannte, in ihre Einzelteile zerlegt. Acht Träger waren notwendig, um die Waffe verschwinden zu lassen. Und dabei hatten sie die größeren Holzteile sogar zurückgelassen. Die waren leicht zu ersetzen. Nicht so der Reflexbogen und das eiserne Räderwerk, mit dem die Waffe gespannt wurde.
»Und? Zufrieden?« Nyr hatte auf ihn gewartet und ging nun an seiner Seite.
Galar zuckte mit den Schultern. »Wir hatten zu wenig Zeit. Über ein Jahr haben wir den Abschuss vorbereitet, und jetzt hatten wir nicht einmal eine halbe Stunde.«
»Beim nächsten Mal werden wir mehr Männer haben. Du hast bewiesen, dass wir uns nicht unter den Bergen verkriechen müssen, sondern auch angreifen können.«
Galar überlegte kurz, ob er widersprechen sollte, ließ es dann aber lieber bleiben. Er war auf Nyr angewiesen. Auch wenn der nicht begriff, was seine eigentlichen Ziele waren. Die Drachen waren der Schlüssel zur Magie. Er wollte sie erforschen und nicht in den Krieg ziehen. Gut, man musste sie vom Himmel schießen, um sie studieren zu können, aber dabei trieben ihn keine Rachegedanken an.
Sie erreichten den verborgenen Einstieg zu Tunnel 712/34. Er würde sie zu einem unterirdischen Fluss führen, wo ein Aal auf sie wartete. Galar hasste die stickigen, engen Boote, aber sie waren ideal, um jede Spur zu verwischen.
»Wirst du mich weiterhin unterstützen?«, fragte er Nyr.
Der hagere Geschützmeister lächelte. »Worauf du einen lassen kannst! Ich bin jederzeit wieder dabei. Und ich werde dafür sorgen, dass wir beim nächsten Mal mehr Männer bekommen.«
Die würden sie auch brauchen, dachte Galar. Er plante etwas Größeres. Etwas viel Größeres! Aber das würde er vorerst niemandem verraten. Nicht einmal Nyr.
Nandalee konnte sie riechen. Sie waren noch ein ganzes Stück entfernt. Sie bewegten sich vorsichtig. So vorsichtig, wie Trolle es nur konnten. Die Elfe hatte sie noch nicht gesehen, aber sie wusste, dass es nicht nur Jäger waren, die dort kamen. Trolljäger behängten sich mit Fellen und rieben sich mit Mammutexkrementen ein, um ihren eigenen Geruch zu überdecken. Manche badeten sogar, bevor sie auf die Jagd gingen. Aber ihre Verfolger konnte sie deutlich riechen. Ihr Blick schweifte nach Osten. Versuchte den verschneiten Wald zu durchdringen. Wie nah waren sie schon? Eilten einige Jäger der Meute voraus? Ihre Rechte strich unruhig über den Köcher an ihrer Seite.
Duadan sah sie eindringlich an. Inmitten der Einsamkeit der Wälder war er wie aus dem Nichts erschienen. Er wusste immer, wo sie war. Der Älteste ihrer Sippe schwieg. In seinem Blick lag mehr, als Worte hätten ausdrücken können. Nandalee war sich sicher, dass auch er die Trolle gerochen hatte. Sie beide wussten, dass Nandalee nie mehr zu ihrer Sippe zurückkehren konnte.
Die Elfe ging vor Duadan auf die Knie, und er strich ihr sanft über das Haar. »Liuvar«, sagte er traurig, während seine eisgrauen Augen sie gefangen hielten. Er war ein Seher, und sie spürte, dass er ihre Zukunft sah. Von Anfang an hatte ein starkes Band zwischen ihnen bestanden. In ihr war die Seele seiner Tochter zum zweiten Mal wiedergeboren worden. Er hatte ihr das vor einigen Jahren auf einer langen gemeinsamen Jagd verraten. Von seiner Tochter sprach er gern, und Nandalee hatte ihn nach der ersten Wiedergeburt befragt. Er war abweisend gewesen. Hatte gesagt, er wisse nichts darüber. Und sie hatte gespürt, dass er sie belogen hatte. Das einzige Mal.
»Ich werde die Fehde beenden«, sagte Nandalee mit tonloser Stimme. Sie wusste, dass sie den Trollen nicht entkommen konnte. Mit etwas Glück mochte sie die Jagd vielleicht noch auf ein paar Tage strecken, aber an ihrem Ausgang bestand kein Zweifel. Sie würden ihr das Fleisch von den Knochen reißen, und der Anführer der Trolle würde ihr noch warmes Herz verschlingen. So wie der Jäger, der ihren Sechzehnender erlegt hatte.
Duadan zog seine Hand zurück. Er streifte sich die mit Lammfell gefütterten Fäustlinge über. Seine Kleidung verströmte einen starken Duft. Er hatte Fichtenharz ins Fellfutter gerieben, um seinen Geruch zu überdecken. Nandalee sah, wie sehr dem Ältesten die Kälte zusetzte, auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Ich werde sie von unseren Jagdgründen fortlocken.«
Lag ein Hauch von Tadel in seinem Blick? Alles Blut war aus den schmalen Lippen Duadans gewichen. Sein Mund wirkte wie eine Narbe. Einen Herzschlag lang schien es, als wolle er etwas sagen, doch dann schlug er seinen Umhang zurück und holte ein Bündel Pfeile darunter hervor. Wortlos hielt er es ihr hin.
Nandalee verstand. Ihre Pfeile waren markiert. Die meisten jedenfalls. Sie trugen das Zeichen ihrer Sippe, den Hirsch. Die Elfe nickte, öffnete ihren Köcher und gab Duadan ihre Pfeile. Alle, bis auf einen. Den mit den Graugansfedern. Es war der letzte, den sie gefertigt hatte. Sein Schaft war noch nicht gezeichnet. Sie trug jetzt nichts mehr bei sich, was darauf schließen ließ, welcher Elfensippe sie angehörte. Fast nichts … Dachte sie beklommen. Sie hatte ein Geheimnis, von dem Duadan nichts wusste.
Nandalee schob die neuen Pfeile in ihren Köcher zurück. Sie war sich sicher, dass der Älteste die besten ausgewählt hatte. Dennoch fühlte sie sich unwohl. Jeder Jäger fertigte seine Pfeile selbst. An ihnen mochte sein Leben hängen. Sie schluckte. Es war sinnlos, aufzubegehren oder auch nur etwas zu sagen. Ihr Leben war ohnehin verwirkt.
Durch ihren Fehler war die Fehde heraufbeschworen worden. Sie hätte dem weißen Hirsch niemals zum Königsstein folgen dürfen. Das Jagdfieber hatte sie blind gemacht. Nach dem Unglück, das sie dort in ihrem Jähzorn heraufbeschworen hatte, hatten die Trolle mit der Hatz auf sie begonnen. Sie hatten ihre besten Duftleser geschickt. Trolle waren keine guten Fährtensucher. Ganz wie Raubtiere folgten sie der Witterung ihrer Beute.
Fast zweihundert Meilen war sie vom Königsstein geflohen, und doch war es ihr nicht gelungen, ihre Verfolger abzuschütteln. Es war nicht verborgen geblieben, dass sie den Zorn der Trolle geweckt hatte. Jäger aus anderen Sippen beobachteten die Hatz, aber sie würden ihr nicht zu Hilfe kommen. Sie war auf Trollland vorgedrungen. In die Nähe der Königshöhle. Sie hatte ihr Schicksal herausgefordert – und sie würde dafür mit ihrem Leben bezahlen.
Duadan verließ sie ohne ein weiteres Wort des Abschieds. Sein Schweigen traf Nandalee tiefer als jeder Tadel. Sie hatte ihn unendlich enttäuscht. Er würde auf ihre Wiedergeburt warten. So wie er es schon zweimal getan hatte. Würde er auch über sie schweigen, so wie über die letzte Inkarnation?
Seine schmale Gestalt verschwand zwischen den Schatten der Fichten. Ein Eissegler wartete jenseits des Waldes auf Duadan. Seiner Spur würden die Trolle wahrscheinlich nicht folgen können. Gegen jede Vernunft hatte Nandalee die Hoffnung gehabt, dass der Älteste sie mitnehmen würde. Aber sie hatte diese Gnade nicht verdient.
Der Wind trug das Geräusch schwerer Schritte und splitternder Äste mit sich. Nandalee richtete sich auf und begann zu laufen. Ihre Beine würden sie noch weit tragen. Die Trolle sollten es nicht leicht mit ihr haben!
Sie wandte der bleichen Wintersonne den Rücken zu, lief fort von den Jagdgründen ihrer Sippe. Die Trolle durften nicht erfahren, von wo sie gekommen war.
ENDE DER LESEPROBE
Abdruck (Ref. 1) zitiert nach: Dieter Bellmann (Hrsg.): Der Rosengarten, 1, Von der Lebensweise der Könige. Carl Schünemann Verlag, Bremen 1982 (Übersetzung durch Karl Heinrich Graf)
Copyright © 2011 by Bernhard Hennen
Copyright © 2011 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Innenillustrationen und Karte: Michael Welply
Redaktion: Momo Evers
Satz: Leingärtner, Nabburg
eISBN 978-3-641-06382-5
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