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Ein neues großes „Elfen“-Abenteuer
In der Welt der Elfen gelten die fuchsköpfigen Lutin als ein Volk von Beutelschneidern, Lügnern und Betrügern. Dennoch gelingt es der jungen Ganda Silberhand, zur Vertrauten der Elfenkönigin Emerelle auserwählt zu werden. Was Emerelle nicht ahnt, Ganda gehört zu den Anführern einer Widerstandsgruppe gegen die Herrschaft der Elfen. Als Ganda sich als eine der engsten Beraterinnen des Trollherrschers am Sturz der Königin beteiligt, stößt sie auf eine unglaubliche Verschwörung, die Albenmark noch tiefgreifender verändern könnte als der Krieg zwischen Elfen und Trollen. Ein Geheimnis, das bereits ihren Vater und ihre Mutter getötet hat. Doch Ganda ist eine Lutin - und Lutin sind dickköpfig und mutig. So gerät sie schon bald in gefährliches Abenteuer, dass das Schicksal aller Völker Albenmarks für immer bestimmen wird ...
»Elfenlied« versammelt neben der Novelle über das Geheimnis Gandas einen Gedichtzyklus, der vom Leben der Blütenfee Mondblüte erzählt, einen umfangreichen Bildteil mit Fotos und Illustrationen sowie eine Zeitleiste zu den wichtigsten Ereignissen aus Bernhard Hennens großer Elfensaga.
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Seitenzahl: 256
Für Henk, einen großartigen Freund
Ein rotes Kleid wurde für mich gebracht. Es muss mit irgendeinem Zauber belegt gewesen sein. Wann immer ich es trug, besuchten mich in allen Regenbogenfarben schillernde Schmetterlinge. Es passte so gut, als sei es für mich maßgeschneidert wor- den. Dabei war ich kaum mehr als eine Stunde im Palast. Das Bad, das Kleid, die gut gelannte Königin. All das schien auf mich gewartet zu haben. Sie schaffte es, mir das wunderbare Gefühl zu geben, dass ihr Königshof erst durch mich vollkommen geworden war.
Er war ein Dichter und hasste das Ungefähre.
Rainer Maria Rilke
Ich bin Ollowain. Ich war Gandas Freund, so sehr ein Elf der Freund von Kommandantin Schlüsselchen sein konnte. Ihre von ihr selbst niedergeschriebene Lebensgeschichte fand auf wundersame Weise den Weg in meine Hände. Der Text dieses kleinen Büchleins, das in ein Öltuch eingewickelt war, wurde zum ersten Teil des vorliegenden Buches. Ganda konnte ich nicht wiederfinden. Sie verschwand in den ersten Jahren der Herrschaft des Trollkönigs Gilmarak über Albenmark, doch ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie nicht wirklich jenes Schicksal erwartete, das sie in ihrer Geschichte »Dem Ende nah« andeutete.
Einige Stellen ihres Textes waren vom Wasser zerstört, auf vielen Seiten war die Tinte verwischt. Ich habe mich bemüht, Lücken zu schließen, wo immer dies möglich war. Um den Text leichter lesbar zu machen, habe ich ihn an einigen Stellen ergänzt. Zum Ende ihrer Aufzeichnungen hin verändert sich die Schrift; sie wirkt fahriger, ja, gehetzt.
Ganz anders verhält es sich mit den Gedichten, die ich im Anschluss daran vorstellen möchte. Ich fand die beschriebenen Blätter Mondblütes und Gandas Kommentare dazu in ebenjenem Versteck, das die Lutin in ihrer Biographie angab. Ganda hatte die Herausgabe der Blattgedichte Mondblütes sehr sorgfältig vorbereitet, sodass ich ihre Erläuterungen und ihre Lesevorschläge der Gedichte bedenkenlos übernommen habe. Bei ihren persönlichen Anmerkungen zu den aufgeklebten Eichenblättern war ich mir lange unsicher, ob sie denn für ein größeres Publikum bestimmt wären. Ich glaube es nicht, und dennoch habe ich mich entschieden, Gandas Randnotizen in diese Ausgabe aufzunehmen, erlauben sie doch einen tieferen Blick in ihre Gedankenwelt und auf ihr vertrauliches Verhältnis zu Mondblüte. Nun bleibt dem geneigten Leser überlassen, über diese Entscheidung zu urteilen.
gez. Ollowain,Schwertmeister Emerelles und Fürst der Snaiwamark
Ich kann sie graben hören. Es ist ein beständiges, leises Schaben und Kratzen. Ich weiß nicht, wie nah sie mir schon sind. Ich glaube, mir bleibt noch ein Tag. Vielleicht auch zwei. Ich mache mir keine falschen Hoffnungen darüber, was geschehen wird, wenn sie zu mir vordringen. Die Elfenfürstin Alathaia steht nicht in dem Ruf, großmütig zu sein, schon gar nicht gegenüber jenen, die sie hintergangen und bestohlen haben. Ihre Magie hat hier unten, tief im Herzen eines Berges im alten Drachenland, keine Macht. Nur deshalb lebe ich noch. Doch es gibt aus dieser Höhle keinen zweiten Ausgang. Der Spalt im Boden, durch den ich Wasser rauschen höre, ist zu schmal, als dass ich mich hindurchzwängen könnte. Mir bleibt nichts, als hier zu sitzen und darauf zu warten, dass die Elfen kommen. So will ich meine letzten Stunden nutzen, um meine Geschichte aufzuschreiben. Und wer zwischen den Zeilen zu lesen vermag, der wird verstehen, warum ich ruhigen Herzens bin. Alathaia kann mich töten, aber ich werde sie dennoch besiegt haben. Ich, Ganda, eine Lutin!
Ich weiß, die Meinen haben selbst nach den Maßstäben, die man gemeinhin für Kobolde anlegt, einen schlechten Ruf. Wir Lutin sind das einzige Volk, das kein eigenes Land erhielt, als die Alben die Welt erschufen. Wir wandern unstet von einem Ort zum anderen. Wir verstehen uns gut auf Magie und darauf, die geheimen, magischen Pfade der Alben zu finden. Wir gelten als Diebe und Betrüger. Man traut uns jeden Verrat zu, und ich muss gestehen, das meiste, was man über uns erzählt, ist nicht erfunden.
Wir Lutin reichen den Elfen kaum bis zu den Knien. Man übersieht uns gern, was für Diebe nicht von Nachteil ist. Doch obwohl wir so klein von Gestalt sind, haben wir in den letzten zwanzig Jahresläufen die Geschicke einer ganzen Welt in neue Bahnen gelenkt. Aber ich will nicht vorgreifen. Ich sollte ganz am Anfang beginnen.
An meine frühe Kindheit vermag ich mich kaum zu erinnern. Ich weiß, dass meine Mutter gern reiste. Ich sehe noch ihr Lieblingskleid vor mir, bunt und mit Perlen bestickt, so wie die Tasche, die sie stets über der Schulter trug. Sie schmückte ihren Finger mit einem Ring aus sich windenden Schlangen, den ich als Kind abwechselnd schrecklich oder schlichtweg faszinierend fand. Sosehr ich mich jedoch anstrenge, kann ich mir das Gesicht meiner Mutter beim besten Willen nicht ins Gedächtnis rufen. Ihre Stimme habe ich allerdings nicht vergessen, sie war warm und freundlich.
Wohin wir auch reisten, Mutter schien immer rastlos zu bleiben. Nirgends verweilten wir länger als ein paar Tage. Sie war eine meisterhafte Diebin. Hunger kannte ich als Kind keinen. Aber die Angst vor dem Dunkel jenseits der Albenpfade, über die sie mich so oft trug, hat sich tief in meine Seele gefressen. Dieses Gefühl, belauert zu werden …
Ich bin dankbar für das geisterhafte Licht, das in den Kristallen der Höhlenwände hier flackert. Dabei zerbreche ich mir nicht den Kopf, welchen Ursprung es haben mag. Ich bin einfach nur dankbar. Es vertreibt das Dunkel und erlaubt mir, diese Zeilen niederzuschreiben.
Meine Mutter zeigte mir die schönsten Orte dieser Welt, wie das melancholische Vahan Calyd, in dem in den achtundzwanzig Jahren zwischen zwei Königswahlen nur einige Holde und die Winterkrabben aus den nahen Mangroven leben. Ich besuchte die Elfenstädte, die tief in den Bergen der Snaiwamark und Carandamons liegen. Ich war Zeuge, wie die Kentauren mit ihren Herden durch das verschneite Windland ziehen, bin in Reilimee gewesen, bevor die Trolle es heimsuchten und als die Stadt noch so reich war, dass selbst die Bettler Silberschalen besaßen. Ich sah den Frühlingsnebel über den verwunschenen Seen Arkadiens und die Fürstengräber der Lamassu, in denen dieses seltsame Volk seine Herrscher lebendig einmauert, wenn ihre Zeit gekommen ist. Es sollten Jahre vergehen, bis ich begriff, warum meine Mutter so viel reiste und wie meisterlich sie mich getäuscht hatte. Und nicht nur mich …
Ich wünschte, ich hätte sie besser gekannt. Wenn ich jetzt an sie zurückdenke, habe ich das Gefühl, als läge ein heimtückischer Fluch auf mir. Ich sehe wieder ihr Kleid vor Augen. Und ganz deutlich höre ich noch die letzten Worte, die sie zu mir sagte: Ich bin kurz Wasser holen.
Ich weiß, ich habe sie danach noch einmal gesehen, denn ich erinnere mich daran, wie ihre Tasche zwischen leuchtend roten Mohnblüten am Ufer eines Baches lag. Das Kästchen mit den Intarsien aus Pferdezähnen, das einmal darin gesteckt hatte, war verschwunden. Meine Mutter muss neben der Tasche gelegen haben. Im Schatten des Felsens, der an einen kauernden Bären gemahnte.
Ich glaube, ich habe sehr lange gewartet, bis ich zum Bach ging. Sie hatte mir stets eingeschärft, mich zu verstecken und keinen Laut von mir zu geben, wenn sie nicht bei mir war. Ihrem Mörder scheine ich egal gewesen zu sein; anders kann ich mir nicht erklären, dass ich verschont blieb.
Was ich danach tat – ich weiß es nicht. Meine Erinnerung daran ist vollkommen erloschen. Ich muss wohl hinaus ins weite Grasland gelaufen sein.
In späteren Jahren habe ich manches Mal versucht, den Ort wiederzufinden, an dem meine Mutter starb. Ich wollte von ihr Abschied nehmen. Wollte Gewissheit haben … Hatte sich jemand ihrer erbarmt und sie begraben oder ihren Leichnam verbrannt? Wurde sie zum Fraß der Wildtiere? Den Bach mit den Mohnblüten am Ufer, dem Birkenhain und dem markanten Felsen habe ich nie wiedergefunden. Manchmal fragte ich mich, ob sie wirklich gestorben war. Warum erinnerte ich mich nicht an sie? Vielleicht, weil sie gar nicht dort gewesen war? Aber lässt eine Mutter ihr Kind allein in der Wildnis zurück?
Dies alles geschah im nördlichen Windland, zu jener Zeit, als die Kentauren noch gut auf mein Volk zu sprechen waren. Es war Boras vom Klan der Frostkinder, der mich verloren im weiten Grasmeer fand. Er stolperte fast über mich, denn das Gras ragte weit über meinen Kopf hinaus. Ich glaube, er war ein wenig betrunken; er roch nach vergorener Stutenmilch.
Und während ich versuchte, mich so klein wie möglich zu machen, hob er mich auf und betrachtete mich wie einen äußerst ungewöhnlichen Käfer.
Er war guter Laune, fragte mich nach meiner Mutter aus, und als ich nur zusammenhanglos vor mich hin stammelte, entschied er, mich mitzunehmen.
»Wenn ich es nicht tue, erledigt das noch einer der Steppenadler«, sagte er und hielt das wohl für einen besonders gelungenen Scherz, denn er brach in schallendes Gelächter aus.
Er hielt mich im Arm, weil er wohl Angst hatte, ich würde ihm vom Rücken purzeln, wenn ich versuchte, auf ihm zu reiten. Grassamen klebten auf seiner schweißnassen Brust.
»Wir laufen jetzt mit dem Wind um die Wette, Kleines. Da vergisst man alle Sorgen!«
Er hatte recht. Während er mit donnernden Hufen den Schatten ziehender Wolken nachjagte, schlief ich in seinen Armen ein.
Sein Klan war ein kümmerlicher Haufen, nicht einmal dreißig Köpfe zählte er. Eine mickerige Pferdeherde war ihr einziger Schatz. Mit ihr zogen sie über das Land. Ihre Habseligkeiten konnten sie auf einem einzigen Karren mit sich führen. Zwei große Kupferkessel, ein paar alte Waffen und lederne Planen, die sie an stürmischen Tagen zum Schutz gegen den Wind aufspannten, das war all ihr Besitz. Sie lebten von der Hand in den Mund.
Boras erklärte, dass ich künftig eine von ihnen sei. Und Boras widersprach man nicht. Er war wie ein Fels. Nichts konnte ihn erschüttern. Und er betrachtete mich als seine Glücksbringerin, denn in der Nacht des Tages, an dem er mich fand, zog ein Stern mit einem Feuerschweif über die Steppe nach Norden, zur Snaiwamark hin. Das Knochenorakel der Schamanin verkündete ihm, dass ihm einst eine Tochter geboren würde, die den Namen seines Klans bis ans Ende aller Tage berühmt machen würde.
Ich weiß nicht, wie man aus einem Haufen abgenagter Kaninchenknochen die Zukunft lesen kann, aber viel später, als Boras schon lange zu seinen Ahnen gegangen war, begegnete ich seiner Tochter Kirta auf einem Totenfest. Und es stimmte, zu jener Zeit waren ihr Name und der ihres Gemahls Nestheus in aller Munde.
Damals aber, nachdem er mich gefunden hatte, behandelte mich Boras, als sei ich seine Tochter. Er hielt mich in den Armen und wärmte mich in langen Winternächten. Und er nahm mich in einer Satteltasche mit, die mit Lammfell ausgeschlagen war, wann immer er die Herde hütete. Nur ein einziges Mal habe ich ihn in gedrückter Stimmung erlebt.
Der Winter war entbehrungsreich. Ich lernte den Hunger kennen. Und doch war ich glücklich. Zum ersten Mal hatte ich eine Familie.
Mein Glück währte nicht einmal bis zum Ende des Winters. Eines Tages kam ein Reiter zu uns, ein Elf. Er hieß Alvias, und ich spürte, dass sogar Boras ihn fürchtete.
Alvias war berühmt in ganz Albenmark. Er war ein Vertrauter der Elfenkönigin, der Vollstrecker ihres Willens.
Er redete nicht viel. Aber allein seine Blicke ließen mich verstehen, dass er von mir etwa so viel hielt wie von einer Fliege auf einem Dunghaufen. Obwohl der Winterwind an der Grenze zur Snaiwamark wie mit Messern ins Fleisch der Lebenden schneidet, trug Alvias nur einen dünnen schwarzen Seidenmantel. Seine Augen waren blau wie der Winterhimmel an einem Tag, an dem der Atem zu knisternden Kristallen gefriert. Der Wind spielte in seinem schulterlangen, weißsilbernen Haar, ohne es zu zerzausen. Seine Lippen waren ein schmaler Strich in dem langen, edel geschnittenen Gesicht. Kostbare Stickereien säumten die Borte seines Mantels und des scharlachroten Gewandes, das er darunter trug. Er war unbewaffnet. Die Eiskristalle, die im kalten Wind tanzten, vermochten ihn nicht zu berühren. Der Mantel, der steif vom Frost hätte sein müssen, sah aus, als habe sein Träger ihn gerade erst aus einer Truhe genommen.
Magie war mir vom Tag meiner Geburt an vertraut, so ist es mit allen Lutin. Ein Zauber machte Alvias für den Winter unberührbar. Ich ahnte das auch damals schon. Aber das änderte nichts daran, dass er mir unheimlich war. Seine Magie schützte ihn zwar vor dem Winter, aber dennoch erschien er mir von Kälte durchdrungen.
»Du hast Flöhe.« Das war das Erste, was er zu mir sagte, bevor er mich mit sich nahm.
Hatte ich erwähnt, dass wir Lutin einen Fuchskopf haben? Ich bin mir sicher, Alvias hatte recht. Er war der Hofmeister der Königin, wie ich später erfuhr. Wahrscheinlich stellte er sich bei meinem Anblick vor, wie ich eine ganze Flohplage in seinen Palast einschleppte. Ich war zu klein, um ihm eine passende Antwort zu geben. Also versuchte ich ihn zu beißen. Ein Fehler, den ich nie wieder begehen sollte. Auch wenn er so steif wirkte, als hätte er einen Stock verschluckt, war er erstaunlich schnell. Ich schnappte ins Leere, und er schlug mir mit dem Handrücken zwei Mal über die Schnauze. Dort geschlagen zu werden, tut verdammt weh. Obwohl ich mir alle Mühe gab, es zu vermeiden, stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich war unglaublich wütend. Auf ihn. Auf die Kentauren, die mich einfach so hergaben. Auf mich, weil ich es nicht geschafft hatte, ihm in die Hand zu beißen.
All meine Habe – die Tasche meiner Mutter, ein paar Amulette und eine Rohrflöte, die mir Boras geschenkt hatte – ließ sich in eine kleine Decke einrollen. Man hob mich vor Alvias in den Sattel. Boras drückte mir noch ein Armband aus geflochtenen Lederriemchen in die Hand. Ich habe es viele Jahre bei mir getragen, bis ich es in der Bibliothek von Iskendria verlor.
Alvias scherte sich einen Dreck darum, wie sehr ich fror. Er redete kein Wort, und sein Schweigen war noch schlimmer als die Kälte.
So ritt ich mit dem Elfen über eine verschneite Ebene unter dem grauen Winterhimmel. Es war ungemütlich, vor ihm im Sattel zu sitzen. Wie sehr ich mich auch bemühte, eine bequeme Sitzstellung zu finden, drückten mich das Sattelhorn oder seine Gürtelschnalle, oder die Zügel hingen mir vor dem Gesicht. Er hätte einen Arm um mich legen können und mich an sich drücken, aber er vermied es so gut es ging, mich auch nur zu berühren. Und ich schwöre, ich hatte bestimmt nicht mehr Flöhe als die Kentauren. Es gab keinen Grund, sich so böswillig zu verhalten.
Wir waren bestimmt eine Stunde geritten, bis ich es wagte, ihn anzusprechen.
»Wohin bringst du mich?«
»Ins Herzland.«
»Warum? Ich will da gar nicht hin.«
»Emerelle, meine Königin, hat es so befohlen. Und jetzt sitz endlich still, sonst schnür ich dich zu einem Bündel zusammen und schnall dich hinter den Sattel!«
Den Namen der Königin zu hören, beunruhigte mich mehr als die Aussicht, zu einem Gepäckstück verschnürt zu werden. Ich hatte viele wundersame Dinge über den Hof der Elfenkönigin gehört. Doch obwohl die Burg im Herzland wohl einer der schönsten Orte Albenmarks sein musste, war meine Mutter mit mir nie dorthin gereist. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass sie je über die Königin gesprochen hätte. Zum einen war ich neugierig, den wunderbaren Palast zu sehen zu bekommen, zum andern hatte ich Angst davor. Mir war durchaus bewusst, wie die Mehrheit der Völker Albenmarks über uns Lutin dachte. Und Alvias zeigte mir überdeutlich, was ich dort zu erwarten hatte. Außerdem war Emerelle nicht gerade für ihre Herzlichkeit berühmt. Alles in allem war sie wohl eine gerechte Königin, aber sie konnte auch unerwartet launisch sein. Vor wenigen Jahren erst hatte sie ihre beste Freundin in die Zerbrochene Welt verbannt, an einen Ort, der für keinen anderen Bewohner Albenmarks erreichbar und an dem es so einsam war, dass man wahnsinnig werden musste. Warum wollte sie mich sehen? Warum wusste sie überhaupt von mir? Lag es an meiner Mutter? Gab es vielleicht eine Fehde zwischen ihr und der Königin? Je länger ich darüber nachgrübelte, desto unruhiger wurde ich.
Flöhe spüren es, wenn man Angst hat. Auch sie werden dann unruhig und beginnen sich zu regen. Einer pikste mich in den Hals. Ich kratzte mich und wand mich im Sattel. Als ich den Quälgeist zu packen bekam und weit von mir in den Schnee schnippte, zügelte Alvias sein Ross. Er schwang sich aus dem Sattel.
Ich ahnte, was kommen würde, und versuchte vom Pferd zu springen, aber es ist unheimlich mit den Elfen. Obwohl ich wirklich flink bin, kriegte er einen Fuß von mir zu packen. Mit der Schnauze voran drückte er mich in den Schnee. Ich strampelte und fluchte, aber er war einfach zu stark. Mein Widerstand war genauso nutzlos wie der des Flohs, den ich gerade seinem eisigen Schicksal überantwortet hatte.
Er band meine Hände und Beine und steckte mich dann in einen Sack, sodass nur noch mein Kopf herauslugte. So verschnürt, schnallte er mich auf seine Satteltaschen.
Auch wenn ich mich kaum bewegen konnte, wollte ich mich doch nicht geschlagen geben. Wir Lutin sind recht bewandert in der Kunst, Magie zu weben, was oft genug unser einziger Schutz ist. Meine Mutter hatte mir keinen der wirklich aufsehenerregenden Zauber beigebracht, da mir die nötige Reife fehlte und sie mich – völlig ungerechtfertigt – für ein wenig jähzornig hielt. Doch auch Kleinigkeiten vermögen Großes zu bewirken, wenn man den rechten Augenblick abwartet.
Ich hatte viel Zeit, über meine Rache nachzusinnen. Alvias ritt fast den ganzen Tag, bis er einen seichten Fluss erreichte, der zwischen sanften Hügeln versteckt lag. Kahle Birken säumten das Ufer. Hier und dort wucherte schwarzes Brombeerdickicht. Im letzten Tageslicht erreichten wir eine breite Kieszunge, die weit in den Fluss hineinreichte. Dort waren Pfähle in den Boden gerammt, auf denen Büffelschädel steckten. Stoff und Lederfetzen flatterten im Winterwind. Schlichte, rotbraune Schalen und Krüge standen wahllos durcheinander. Halb im Schnee verborgen, entdeckte ich vertrocknete Blumen.
Die Pfähle waren in einem wohl zwanzig Schritt weiten Kreis angeordnet. Als wir den Kultplatz der Kentauren betraten, sträubte sich mir das Fell. Deutlich spürte ich die Macht der Magie, die hier wirkte. Mit meiner Mutter war ich oft an ähnlichen Plätzen gewesen. Inmitten des Kreises lag, für die Augen unsichtbar, ein großer Albenstern, ein von Magie durchdrungener Ort, an dem sich sieben Albenpfade kreuzten. Hier konnte man ein Tor öffnen und auf die goldenen Pfade treten, die sich durch das Nichts zogen. So vermochte man binnen Augenblicken viele hundert Meilen weit zu reisen. Ja, sogar in andere Welten konnte man gelangen, wenn man sich auf den Pfaden verirrte. Und wer unvorsichtig seinen Zauber wob, der mochte gar in die Zukunft getragen werden; dies war eine Reise, von der es kein Zurück mehr gab. Und wenn man nicht unsterblich war wie ein Elf, dann kostete einen dieser Fehler alle Freunde, die man in der Welt nur hatte.
Alvias ging bedacht und mit großer Konzentration vor, als er versuchte, das Tor ins Nichts zu öffnen. Ich merkte ihm an, dass er Angst hatte, einen Fehler zu machen. Welch ein Unterschied zu meiner Mutter! Sie hatte die Worte der Macht mit großer Selbstsicherheit gebraucht, ihre Zauber mit der Leichtigkeit einer Meisterin gewoben. Neben ihr war der Hofmeister der Elfenkönigin ein Stümper. Und da er mich nicht geknebelt hatte, sagte ich ihm auch, was ich von seiner Zauberkunst hielt.
Das Einzige, was mir das einbrachte, war ein weiterer Schlag auf die Schnauze.
Aber wie gesagt, wir Lutin sind allesamt begabte Zauberer, und ich hatte viele Stunden Zeit gehabt, mir zu überlegen, wie ich Alvias büßen lassen konnte.
Hatte ich erwähnt, dass der Elf nach gar nichts roch? Nur sein Mantel hatte eine Spur von Parfüm an sich. Vielleicht hatte Alvias ja eine Geliebte. Die Sache mit dem Geruch wollte ich gründlich ändern.
Meine Mutter war immer der Überzeugung gewesen, wenn man Fremde traf, dann sollte man am besten genauso riechen wie sie. Das stimme die anderen friedlicher, meinte sie. Es mag sich vielleicht seltsam anhören, aber meine Mutter und ich waren sehr viel auf Reisen, und wir begegneten dabei einigen sehr seltsamen Geschöpfen. Riesen mit Stierköpfen. Otter, die die Gestalt von Elfenmädchen annehmen können, aber auch dann noch rohen Fisch essen. Die Spinnenmänner aus den Mondbergen, von denen es heißt, dass die Mütter ihre Jungen in Felsschluchten stürzen, wenn sie zu viele zur Welt bringen. Kentauren, die mit den Köpfen ihrer Feinde ein wildes Fangspiel treiben … Jedenfalls werde ich nie vergessen, wie sie einen Silberlöwen vertrieb, indem sie den Geruch einer zornigen Hornschildechse annahm.
All diese Begegnungen hatten wir überlebt, also bin ich geneigt zu glauben, dass meine Mutter recht hatte. Sie hatte mich einen Zauber gelehrt, mit dem man jeden Geruch nachahmen konnte, man musste ihn nur ein einziges Mal gerochen haben.
Alvias war der Richtige für den Duft von halb verfaulten Fischköpfen. Davor laufen sogar Ratten davon. Der Geruch sollte ihm aber nur leicht anhaften. Es sollte diese Art von Duft sein, die kommt und geht. Bei der man sich nicht ganz sicher ist, ob sie da ist. Alles, was zu aufdringlich gewesen wäre, hätte dafür gesorgt, dass meine Rache schnell aufgeflogen wäre. Im Übrigen wusste ich damals ja auch noch nicht, wie lange meine Reise mit Alvias dauern würde. Er würde sich nicht riechen, aber ich hätte den Gestank die ganze Zeit in der Nase. Und wir Lutin haben überaus empfindliche Riechorgane.
Endlich schaffte es der Elf, dass sich ein Bogen aus goldenem Licht aus dem Schnee erhob. Dahinter sah man einen leuchtenden Pfad, der durch die Finsternis führte.
Ich entschied, noch etwas zu warten. Als wir auf den Pfad aus Licht ritten, hatte ich das Gefühl, dass uns etwas aus der Deckung der Dunkelheit heraus beobachtete. Ich konnte zwar nichts entdecken, aber ich war mir ganz sicher, dass dort etwas war, gerade außerhalb meines Blickwinkels.
Auch der Hengst spürte es. Er scheute. Und Alvias hatte alle Mühe, das Pferd unter Kontrolle zu halten. Es waren nur ein paar Schritt, die wir über den Pfad aus Licht schaffen mussten, aber mir erschien es, als reisten wir eine Ewigkeit. Endlich traten wir durch ein zweites Tor aus Licht. Vor uns erhob sich ein steiler Grashügel. Es war hier viel wärmer. Erste Blumen brachen durch die vereinzelten Schneeflecken.
Alvias sagte nichts, weder über die Reise noch darüber, wo wir waren. Er ließ den Hengst den Hügel hinauftraben und ritt in die beginnende Dämmerung. Ich sah mich um und hoffte, irgendetwas zu entdecken, das mir verriet, wo wir uns befanden. Vergebens.
Bald erreichten wir ein weites Waldstück, und die Nacht verschlang uns. Der große Elfenhengst preschte mit schlafwandlerischer Sicherheit durchs Dickicht. Mir schlugen immer wieder dünne Äste ins Gesicht, aber ihm und Alvias geschah nichts. Das erinnerte mich an meine Rachepläne.
Ich wob den Zauber. Und dem verdammten Gaul verpasste ich auch gleich einen neuen Duft.
Als wir endlich aus dem Wald herauskamen, schlief ich ein, und ich glaube, ich träumte von Fischen. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist ein von Fackeln erleuchteter Hof. Über uns spannte sich ein prächtiger Sternenhimmel.
Ein bocksbeiniger Faun hielt Alvias’ Hengst beim Zügel. Er schnitt eine Grimasse und rümpfte die Nase. Dann rollte er mit den Augen und bedachte mich mit einem Blick, als teilten wir ein Geheimnis. Er sagte nichts, sondern sah Alvias hinterher.
Der Hofmeister war abgesessen und verneigte sich vor einer Elfe, die ich, so sehr ich auch den Kopf verdrehte, nur von hinten sehen konnte. Sie war kleiner als Alvias und trug ein ärmelloses, lindgrünes Kleid mit Stehkragen. Ihr Haar war leicht gelockt und reichte ihr bis zu den Schultern. Einige Blütenfeen tanzten um sie herum und spielten mit ihren Locken. Es duftete nach Vanille und Baumharz.
»Mein armer Alvias. Mir scheint, die Reise war anstrengender als erwartet. Haben die Kentauren dich dazu genötigt, an einem ihrer berüchtigten Gastmahle teilzunehmen?«
»Sie waren nicht aufdringlich und auch nicht unhöflich«, entgegnete er knapp.
»Mir schien es, als hätten sie dir ein altes Heringsfass als Ehrenplatz angeboten.«
Ich konnte sehen, wie Alvias die Stirn runzelte. Ihm war offensichtlich schleierhaft, was die Elfe meinte. Mein Zauber war gelungen! Und er ahnte nichts davon, konnte er sich selbst doch nicht riechen. Ich musste mir auf die Lippen beißen, um nicht zu kichern.
»Wie ist sie?«, wechselte die Elfe das Thema.
»Ein anstrengendes Blag. So ein Kind hat hier bei Hofe nichts verloren, Herrin.«
Blöder Kerl, dachte ich. Am liebsten hätte ich ihm noch ein paar Warzen ins Gesicht gehext. Doch als mir bewusst wurde, wie er die Elfe angesprochen hatte, packte mich kalte Angst. Er hatte Herrin zu ihr gesagt! Dort stand niemand Geringeres als Emerelle, die Königin Albenmarks. Die mächtigste Zauberin der Welt. Und gewiss hatte sie durchschaut, was ich Alvias angetan hatte.
»Du irrst, mein Freund. Genau hier gehört sie hin. Ich sage dir, eines Tages werden wir alle …« Die Königin senkte die Stimme zu einem Flüstern, und sosehr ich auch die Ohren spitzte, konnte ich nichts mehr hören.
Schließlich wandte sie sich ab und kam zu mir herüber.
Ich wollte davonlaufen, aber so, wie Alvias mich verschnürt hatte, war an Flucht nicht zu denken. Also schloss ich die Augen und tat so, als schliefe ich. Ich schaffte das etwa fünf Herzschläge lang, dann blinzelte ich ein wenig. So war es immer bei mir. Meine Neugier siegte stets über die Vernunft, wie sehr ich mich damit auch in Schwierigkeiten brachte! Ich hatte ja keine Ahnung, was mich erwartete.
Sie stand direkt vor mir. Ich kniff die Augen fest zusammen und wagte nicht zu atmen. Alle schlimmen Geschichten, die ich je über Emerelle gehört hatte, tauchten in überdeutlichen Bildern in meinen Gedanken auf. Was würde sie mit mir tun?
Sie strich mir über den Kopf. Kraulte mein Fell direkt hinter den Ohren, wo es sich besonders gut anfühlt. Ein warmes, angenehmes Kribbeln nistete sich in meinem Bauch ein. Ich atmete aus.
»Ich weiß, dass du nicht schläfst«, sagte sie mit warmer Stimme und hörte dabei nicht auf, mich zu kraulen. »Du musst dich vor mir nicht fürchten. Ich bin nicht wie Alvias.«
Im Nachhinein muss ich sagen, sie hat nicht gelogen. Aber sie war ganz anders, als ich in jenem Augenblick erwartete, in dem ich die Augen öffnete und vertrauensvoll in ihr Antlitz blickte.
»Du bist Ganda, nicht wahr?«
Ich starrte sie an. Woher wusste sie meinen Namen?
»Ich kannte deine Mutter.« Während sie sprach, befreite sie mich aus dem verfluchten Sack. Sie scherte sich dabei nicht im Geringsten um meine Flöhe. Ich glaube, meine kleinen Fellgefährten waren klüger als ich. Sie haben bei Emerelles Anblick die Flucht ergriffen. Jedenfalls juckte es mich nicht mehr, seit ich in ihrer Burg war.
»Du musst Alvias entschuldigen. Er hat zwar einen Sohn, aber er weiß im Grunde nicht, wie man mit Kindern umgeht. Warte ab, bis du eines Tages eines der Feste erleben darfst, die er vorbereitet hat. Dann wirst du seine wahren Qualitäten kennenlernen.«
Sie nahm mich auf den Arm und drückte mich an sich. Ich hatte mehr als ein halbes Jahr unter Kentauren gelebt und bin mir sicher, dass ich nicht viel besser als Alvias gerochen habe. Aber sie schien das nicht zu stören. So geborgen wie in jenem Augenblick, in dem sie mich in den Arm nahm, hatte ich mich seit Mutters Tod nicht mehr gefühlt.
Auch die Kentauren hatten mich sehr herzlich aufgenommen, aber mit Emerelle war es ganz anders. Sie war nicht so riesig wie das Volk der Pferdemänner. Ihre wunderschönen rehbraunen Augen waren so voller Mitgefühl. Selbst nach all den Jahren und allem, was ich nun über die Königin der Elfen weiß, versuche ich mir die Illusion zu bewahren, dass ihre Gefühle für mich echt waren. Dass es mehr war als nur Schauspiel, Kalkül und Magie. Das ist der Fluch mit den Elfen! Man weiß nie, was sie wirklich denken.
Emerelle trug mich auf ihren Armen in den Palast. Sie flüsterte mir freundliche Worte in die Ohren und brachte mich in ein wundervolles Bad aus weißem, blau geädertem Marmor. Ich erinnere mich an rote und gelbe Blüten, die im Wasser schwammen. Das Bad war ein Fest für alle Sinne. Das warme Wasser, das meine Glieder liebkoste, die schweren, fremdartigen Düfte, die in der schwülen Hitze des Bades ihr volles Aroma entfalteten. Die wunderbaren Farben der Blüten. Das seltsame Leuchten der Wände, die wie durchscheinend wirkten … Es war eine verwunschene Stunde. Ein Schatz in meinen Erinnerungen.
Und Emerelle, die gefürchtete, unnahbare Königin, badete mit mir zusammen. Mit dem kleinen, von Flöhen zerstochenen Lutinmädchen mit verfilztem Nackenfell und hageren Gliedern. Dafür, dass sie das getan hat, liebe ich sie noch heute. Manchmal.
Nach dem Bad rieb sie mir mein Fell mit Rosenöl ein und kämmte es. Ein rotes Kleid wurde für mich gebracht. Es muss mit irgendeinem Zauber belegt gewesen sein. Wann immer ich es trug, besuchten mich in allen Regenbogenfarben schillernde Schmetterlinge. Es passte so gut, als sei es für mich maßgeschneidert worden. Dabei war ich kaum mehr als eine Stunde im Palast.
Das Bad, das Kleid, die gut gelaunte Königin, all das schien auf mich gewartet zu haben. Emerelle schaffte es, mir das wunderbare Gefühl zu geben, dass ihr Königshof erst durch mich vollkommen geworden war. Wir aßen zusammen. All ihre Diener behandelten mich mit einem Respekt, als sei auch ich eine Fürstin. Nach dem Mahl brachte sie mich zu Bett. Sie blieb bei mir sitzen und sang mir Lieder vor, bis ich eingeschlafen war. Und als ich erwachte, war sie erneut bei mir, so als sei sie nicht einen Augenblick lang von meiner Seite gewichen.
Es begann eine wunderbare Zeit. Ich durfte sie überallhin begleiten. Zwar spürte ich, dass mich die meisten an ihrem Hofe mit Misstrauen, ja sogar mit Abneigung betrachteten, doch keiner wagte es, ein böses Wort an mich zu richten.
Emerelle nahm mich mit in ihre Kammer, die dicht unter dem Dach des höchsten Turms ihrer Burg lag. Niemand außer mir durfte in jenen Tagen dorthin. Wir probierten vor dem großen Spiegel Kleider an und lachten. Auch weihte sie mich tiefer in die Geheimnisse der Magie ein, als es meine Mutter je getan hatte. Sie lehrte mich, die Tore der Albensterne zu öffnen und ohne Furcht auf den Pfaden der Alben zu wandeln. Und ich brachte ihr bei, wie man fremde Düfte wie Gewänder anlegte. Einmal probierten wir es gemeinsam an Meister Alvias aus.
Heute weiß ich nur zu gut, dass all dies nicht nur harmloses Spiel war, aber ich glaube, sie hat die unbeschwerten Stunden mit mir genossen. Es war zu jener Zeit, als die Trolle noch in die Welt der Menschen verbannt waren und Alathaia nur selten den Rosenturm in Langollion verließ. Am Hof der Elfenkönigin herrschte Frieden, und sie konnte es sich leisten, mitunter einen ganzen Sommertag lang mit mir am See nahe ihrer Burg zu liegen und den treibenden Wolken zuzusehen.
Blütenfeen, kaum so groß wie ein Elfenfinger, umschwirrten uns und neckten uns mit kleinen Gedichten. Damals habe ich nie eine Blütenfee traurig gesehen. Sie erschienen mir wie Geschöpfe des Lichts und des Sommers. Mit schillernden Schmetterlingsflügeln glitten sie durch den strahlenden Himmel.
Sehr selten sprach mich Emerelle auf meine Mutter an. Sie tat es behutsam, ohne zu drängen. Fragte nach ihren Kleidern, wohin wir gereist waren und welches Gepäck wir bei uns gehabt hatten. Einmal sah sie sich sehr genau die Tasche an, das Einzige, was mir von meiner Mutter geblieben war. Sie war abgetragen, nichts Besonderes. Das Innenfutter musste irgendwann einmal eingerissen sein und war notdürftig mit einem schwarzen Faden geflickt. Meine Mutter mochte eine begabte Zauberin gewesen sein, aber ihr Talent als Näherin schien hier versagt zu haben.
Damals dachte ich nicht daran, Emerelle zu fragen, wie es dazu gekommen war, dass meine Mutter und sie Freundinnen waren. Es erschien mir nicht ungewöhnlich, auch wenn ich von den übrigen Höflingen längst geschnitten wurde. Abgesehen von ein paar Blütenfeen und einigen Kobolden aus der Palastküche mieden mich die anderen Bewohner der prächtigen Burg. Sie waren eben Elfen oder arrogante Adelige. Wer den Kopf in den Wolken trägt, der beschäftigt sich nicht mit so niederen Kreaturen wie den Lutin.
Und ich hatte meine Art, es ihnen heimzuzahlen. Angefangen bei Disteln unter Satteldecken bis hin zu allerlei mehr oder weniger harmlosen Zaubern, mit denen ich die besonders Hochnäsigen plagte, ließ ich keine Gelegenheit aus, ihnen Streiche zu spielen. Das machte mich nicht gerade beliebter, aber es verschaffte mir eine tiefe Befriedigung. Und da ich unter dem persönlichen Schutz der Königin stand, wagte es niemand, mich mit mehr als bösen Worten anzugehen. Ich muss gestehen, ich war in dieser Zeit wohl eine ziemliche Plage. Aber ich bin eine Lutin, ein solches Verhalten liegt mir im Blut. Und ich hatte Spaß. Bis zu jenem Tag kurz vor meinem zweiten Frühlingsfest auf Emerelles Burg, an dem ich lernen musste, dass jedes Vergnügen seinen Preis hat.
Ich weiß noch, ich trug mein mohnrotes Kleid an jenem Tag. Es war stürmisch, und der wilde Frühlingswind zupfte an meinen Rockschößen. Emerelle hatte keine Zeit für mich, da fast stündlich irgendwelche mehr oder weniger bedeutenden Gäste auf der Burg eintrafen. Ich war schlechter Laune, weil ich mich abgeschoben fühlte. Genauso ging es meinem Freund Bollo. Er war ein Kobold und etwa so alt wie ich. Bollo war der Sohn des Puddingkochs der Königin. Von der Zauberei hatte er keine Ahnung, aber er konnte klettern wie ein Eichhörnchen, und was skrupellose Streiche anging, übertraf er mich sogar. Kurz gesagt, er war mein allerbester Freund. Ich glaube, es war seine Idee, sich zu den Gästezimmern im Westturm zu schleichen und im Bett des Elfenfürsten von Alvemer eine Katze einzuquartieren, die noch vor Sonnenuntergang Junge zur Welt bringen würde. An all den Dienern und Wachen vorbeizukommen, war schon ein Abenteuer für sich. Ganz abgesehen davon, eine mürrische, trächtige Katze mit sich herumzuschleppen, die fast genauso stark war wie Bollo und ich. Bis wir die Katze zwischen zwei Bettpfosten angebunden und unter einer Decke hatten verschwinden lassen, hatten wir beide uns reichlich Schrammen eingehandelt. Natürlich konnten wir nicht im Schlafgemach bleiben. Hätten wir versucht, Zeugen unserer Schandtat zu werden, wären wir mit Sicherheit erwischt worden. Also mussten wir uns mit der Aussicht begnügen, dass wir am nächsten Tag schon zu hören bekommen würden, was geschehen war, als der Fürst von Alvemer mit nacktem Hintern in sein Bett stieg.
Kichernd schlichen wir zur Tür des fürstlichen Gemachs, als wir von der Treppe her Stimmen hörten. Uns war der Rückweg abgeschnitten. Schatten verdunkelten den Lichtspalt unter der Tür. Ich habe die Stimmen noch im Ohr. Es waren ein Elf und eine Elfe. Sie unterhielten sich angeregt über Liebeslyrik und zerrissen sich das Maul über einen Farodin, der sich als Dichter wohl nicht sonderlich hervorgetan hatte.
Bollo und ich tauschten einen langen Blick. Ich durfte auf den Langmut der Königin hoffen, aber für ihn und vielleicht sogar seinen Vater wäre es eine Katastrophe, wenn wir erwischt würden.
Er nickte in Richtung der Fensterläden, an denen der Sturmwind rüttelte. In einem knöchellangen Kleid an einem Turm hinabzuklettern, war der blanke Leichtsinn, so viel war mir selbst damals schon klar. Aber ich wollte auch nicht als ein Feigling dastehen.
Bollo war kein Freund langen Grübelns. Er öffnete einen Fensterladen, den ihm eine Bö prompt aus der Hand riss, sodass er mit einem Donnerschlag gegen die Außenwand schlug. Bollo lachte dem Sturm ins Gesicht, schwang sich über die Fensterbrüstung und war verschwunden. Der Riegel der Zimmertür wurde zurückgeschoben; ohne noch einen Herzschlag lang nachzudenken, folgte ich Bollo. Obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war, war es stockfinster. Schwere Sturmwolken zogen zum Greifen nah über den Turm hinweg. Der Wind zerrte an meinem Kleid. Ich hatte Angst. Ich musste immerzu zum Hof hinabblicken, der in schwindelerregender Tiefe unter mir lag. Mein Herz pochte so heftig, dass es schmerzte.
Ich kletterte auf ein Sims dicht unter dem Fenster. Die Außenmauern des Westturms waren mit Schmuckwerk überladen: Reliefs von Kreaturen aus den fernsten Winkeln der Welt. Kleine Balkone, gestützt von Drachen oder geduckten Minotauren. Fenster, die von steinernem Blattwerk und Blüten eingefasst waren. An einer Mauerecke hatte man sogar Efeu aus Sandstein und Stuck nachgearbeitet. Wer immer dieses Bauwerk erschaffen hat, muss mehr als nur ein bisschen verrückt gewesen sein. Es war bestimmt kein Kobold!
Jedenfalls lud der Westturm geradezu dazu ein, an ihm herumzuklettern. Natürlich war das streng verboten, aber daran hatten Bollo und ich uns nie gehalten. Dutzende Male waren wir schon hier gewesen. Allerdings war ich nie in einem Kleid geklettert, hatte mich nie so weit hinaufgewagt. Und nie war es so stürmisch gewesen. Ich klebte an der Mauer wie eine Bremse auf einem Kentaurenhintern.
Über mir schloss jemand das Fenster. Ich hörte, wie der Riegel vorgelegt wurde. Ich blickte hinab zum Hof. Nirgends war ein Fenster offen. Jetzt hieß es klettern oder abstürzen, einen anderen Weg gab es nicht. Bollo klammerte sich ein Stück tiefer an einen steinernen Pegasus; sein tollkühner Übermut schien vom Wind davongetragen zu sein. Es wäre klüger gewesen, sich oben im Gastgemach bei einem dummen Streich erwischen zu lassen.
Ich habe die Eigenart, sehr dickköpfig zu werden, wenn die Lage besonders verzweifelt zu sein scheint. Bollo so zu sehen, raubte mir keineswegs den Mut, sondern es machte mich zornig. Ich kletterte zu ihm hinab.
»Ist das dein Plan? Hier herumsitzen und flennen?«
Bollo wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab. »Ich flenne nicht!«, entgegnete er trotzig. Wut flackerte in seinen Augen, als er zu mir aufblickte. »Ich bin nur wütend auf dich und deine idiotischen Einfälle. Hätten wir uns nur nie in das Zimmer geschlichen!«
Das war seine Idee gewesen! Aber ich sagte nichts. Jungen und auch ausgewachsene Männer haben immer ein sehr kurzes Gedächtnis, wenn sie Mist gebaut haben.
Leichter Regen setzte ein und legte sich in tausend silbernen Perlen auf mein Fell. Der polierte Stein der Mauern schimmerte feucht.
»Wir sollten rufen«, sagte Bollo kleinlaut.
Obwohl er kaum mehr als einen Schritt von mir entfernt kauerte, konnte ich ihn kaum verstehen. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen und trug sie davon in die Nacht. Auf dem Hof und den Wehrgängen war niemand zu sehen. Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagte. Und selbst wenn dort unten jemand gewesen wäre, hätten wir uns bei dem Sturm die Lunge aus dem Leib schreien können, und niemand hätte uns bemerkt.
Wir würden es niemals hinab bis zum Burghof schaffen. Aber vielleicht hinauf. Unterhalb des Turmhelms gab es Schlupflöcher für Falken. Kobolde würden dort auch hindurchpassen. Außerdem war es leichter, irgendwo hinaufzuklettern, als hinunter. Ich war überzeugt, dass wir es schaffen würden. Vor allem, weil ich dann nicht dauernd in den Abgrund unter mir blicken müsste.
Redaktion: Angela Kuepper
Originalausgabe 03/2009 Copyright © 2009 by Bernhard Hennen Copyright © 2009 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Copyright © 2009 der Fotos by Marja Kettner Copyright © 2009 der Illustrationen by Jenny Dolfen Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
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eISBN 978-3-641-06488-4
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