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Bernhard Hennens Elfen sind die coolsten Helden der Fantasy!
Ob in den Ländern der Menschen oder in den magischen Wäldern Albenmarks, überall drohen seit Langem schwelende Konflikte offen auszubrechen. In ihrem Kampf um Macht schrecken Unsterbliche und Drachen nicht davor zurück, ihre besten Krieger, den Herrscher Aaron oder die Drachenelfen Nandalee und Gonvalon, für ihre Zwecke einzuspannen. Doch dann soll die gefesselte Göttin Nangogs erweckt werden – und mit ihr eine Magie, von der niemand weiß, was sie bewirken wird ...
Nandalee und Gonvalon, die Verwegensten unter den Drachenelfen, werden vor den Rat der mächtigen Himmelsschlangen gerufen, um nach dem Überfall auf die legendäre Blaue Halle Albenmarks einen ungeheuerlichen Racheakt vorzubereiten: Sie sollen die Menschen und ihre Götter an ihrer schwächsten Stelle, auf Nangog, treff en. Und so machen sie sich auf die gefährliche Reise, die gebannte Herrin dieser Welt, die gefesselte Göttin, zu befreien. Währenddessen versucht der Herrscher Aaron verzweifelt, dem Spiel aus Intrigen, Mord und Krieg an seinem Hof Diplomatie und Vernunft entgegenzusetzen. Aber wem wird in diesem Wettlauf um Macht der nächste, alles entscheidende Schachzug gelingen? Eines scheint klar – es sind die Elfen und Menschen, von denen die Zukunft aller abhängt!
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Seitenzahl: 1417
BERNHARDHENNEN
DRACHENELFEN
DIE GEFESSELTE GÖTTIN
Roman
Copyright © 2013 by Bernhard Hennen
Copyright © 2013 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Martina Vogl
Umschlaggestaltung und -illustration: Nele Schütz Design, München
Karte im Innenumschlag: Andreas Hancock
Satz: Leingärtner, Nabburg
ePub-ISBN: 978-3-641-06496-9
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Für meinen Vater,
meinen Anker in unruhiger See
Liebe deine Feinde, denn sie sagen dir deine Fehler.
BENJAMIN FRANKLIN
ERSTES BUCH – DER PAKT DER DRACHEN
ERSTES BUCH
DER PAKT DER DRACHEN
Prolog
Der Himmel zerfloss in Rot und Gold, als das Zirpen der Grillen plötzlich verstummte.
»Sie kommen«, hauchte Gonvalon, und Nandalee blickte zum Himmel empor, der durch das Astwerk des Dornbusches wie ein Mosaik in tausend Fragmente zerteilt war. Undeutlich konnte sie am westlichen Horizont, wo die Sonne als glutroter Ball das weite Grasland berührte, Schattenrisse erkennen.
Nandalee zog die dünne Decke hoch, die sie mit dem Schlamm des nahen Wasserlochs eingerieben hatte, und tastete unwillkürlich nach dem Bogen an ihrer Seite. Die Sehne war aufgezogen. Gonvalon hatte erzählt, was geschehen mochte, würden sie entdeckt werden.
Die Schatten wuchsen an. Es waren viele! Sie schienen aus der sterbenden Sonne geboren zu sein, die von blutroten Wolken umlagert wurde. Pegasi! Eine ganze Herde. Mindestens fünfzig der geflügelten Pferde flogen in weitem Bogen heran, warfen die Köpfe ausgelassen in den Nacken und ließen ein wildes Wiehern erklingen. Ängstlich flüchteten die Gazellen vom Wasserloch und verschwanden mit weiten Sprüngen im hohen Büffelgras der Savanne.
Das Rauschen mächtiger Schwingen füllte den Himmel. Drei Hengste waren der Herde vorausgeeilt und flogen nun in enger werdenden Kreisen dicht über dem Dornenversteck der beiden Elfen. Pegasi verhielten sich anders als die Wildpferde der Savanne, hatte Gonvalon Nandalee gewarnt. Wenn sie sich bedroht fühlten, flohen sie nicht, sie griffen an. Deshalb hatten die Drachenelfen sie zu ihren Schlachtrössern erwählt.
Ein Hengst mit schwarz schimmerndem Fell glitt immer wiederüber ihren Busch hinweg. Seine Augen schimmerten wie Obsidian.Er verlangsamte seinen Flug, weitete die Flügel und landete schließlich keine zwanzig Schritt entfernt.
Nie zuvor hatte Nandalee ein so prächtiges Tier gesehen. Der Hengst wandte den Kopf. Seine weiten Nüstern blähten sich, als er Witterung aufnahm.
Er würde sie nicht finden, dachte sie, und ein Lächeln spielte um ihre schmalen Lippen. Sie hatten sich am Morgen im Wasserloch gewaschen und dann, obwohl Gonvalon lauthals protestiert hatte, mit Gazellendung eingerieben. Verborgen unter der schlammverkrusteten Decke und dem Geruch nach Gazellen, waren sie ganz und gar eins geworden mit dem Bainne Tyr, dem Milchland, wie die fruchtbare Savanne, die den Jadegarten umschloss, schon seit Anbeginn der Zeit genannt wurde. Sie waren unsichtbar für den Hengst, verborgen vor all seinen Sinnen.
Und dennoch blickte er in ihre Richtung. Unruhig stampfte er mit den Hufen und kam näher. Plötzlich schnellte eine graubraune Eidechse unter einem flachen Stein hervor, nur wenige Schritte vor ihrem Versteck. Sie stürmte dem rettenden Dornbusch entgegen und fand ihren Weg unter die Decke. Nandalee konnte die feinen Krallen des Tiers auf ihrem nackten Unterarm spüren.
Der Hengst legte den Kopf schief. Er stand nun unmittelbar vor dem Gebüsch und starrte auf sie herab. Nandalee hielt den Atem an. Nur nicht blinzeln. Keine Bewegung! Kein Laut! Sie lag flach auf den Boden gepresst, die Tarndecke bis weit über den Nacken gezogen. Ihre Haare hatte sie mit Schlamm eingerieben, der in der Hitze des Tages zu einem harten, staubigen Panzer geworden war. Sie war vollkommen getarnt. Das verwobene Gitterwerk der Äste löste ihre Silhouette auf. Einzig ein Blinzeln könnte sie verraten. Nandalee drückte ihre Wange fest an den staubigen Boden. Sie hätte vorhin, als noch Zeit gewesen wäre, den Kopf ein wenig drehen sollen, sodass ihre Stirn die Erde berührte und ihr schlammverkrustetes Haar wie Stein aussähe. Aber sie hatte den Blick nicht von dem schwarzen Hengst lösen können. Nie hatte sie ein so anmutiges Ross gesehen.
Gonvalon an ihrer Seite hatte die Augen geschlossen. Er war kein Jäger, und doch machte er alles richtig. Auch wenn er sich gegen den Gazellendung gewehrt hatte, war er ein Meister der Tarnung. Wie oft er wohl schon für die Drachen ausgezogen war, um zu töten? Er sprach nie darüber.
Der Hengst schnaubte. Seine Obsidianaugen blickten geradewegs auf sie hinab. Eine kleine, sternförmige Blesse prangte inmitten seiner Stirn wie ein drittes, weißes Auge.
Unvermittelt warf er den Kopf zurück und wieherte. Der Himmel füllte sich mit dem Rauschen schwerer Flügel, und bald erbebte die Erde unter dem Hufschlag der landenden Pegasi. Nandalee zählte dreiundsiebzig Tiere, eines schöner als das andere. Sie waren voller Anmut, in jeder ihrer Bewegungen lag vollkommene Harmonie.
Die Elfe dachte an ihre Tage in der Höhle des Schwebenden Meisters zurück. Daran, mit welcher Grazie der große, weiße Drache seine Schwingen zu entfalten vermocht hatte. Und einen Moment lang hallten seine Worte in ihren Gedanken wider. In allem, was vollkommen ist, wohnt Magie. Selbst wenn Ihr Euch gar nicht bewusst seid, dass Ihr einen Zauber gewoben habt. Der vollkommene Schuss, der gegen jede Wahrscheinlichkeit sein Ziel trifft. Oder nur eine einfache Bewegung …
Ihr Lehrmeister war launisch gewesen und ganz gewiss auch ein wenig verrückt. Nandalee dachte daran, wie er manchmal mit dem Kopf nach unten von der Höhlendecke gehangen hatte, seine Schwingen vor dem Leib gefaltet, als sei er eine riesige Fledermaus. Er hatte behauptet, so zu schlafen sei sehr entspannend, und sie aufgefordert, es ihm gleichzutun. Wie unwürdig er gestorben war. Sein schlanker, wohlgestalteter Leib war zerhackt und in Stücken von den Zwergen versteigert worden. Und ausgerechnet seine Mörder waren unter all den Bewohnern der Tiefen Stadt der Strafe der Himmelsschlangen entgangen.
Dank ihr hatten drei Zwerge in einem verborgenen Brunnen überlebt. Nandalee hatte ihnen einen Säugling überlassen, dessen Mutter durch ihre Klinge gestorben war. Bitterkeit überkam die Elfe bei der Erinnerung. Es war ein Unfall gewesen. Aber sie wollte eine Drachenelfe sein! Drachenelfen waren vollkommen, in jeder Hinsicht. Missgeschicke geschahen ihnen nicht. Nach dem Tod der Zwergin hatte sie die Wahl gehabt, das Kind dem sicheren Verderben zu überlassen oder aber jemanden zu finden, der sich um den Säugling kümmern würde. Die Tiefe Stadt war zu diesem Zeitpunkt schon zu einem riesigen Grab geworden, in dem sie nur diese drei Zwerge gefunden hatte: die Mörder! Die Händler von Leichenteilen! Sie verkörperten die Abgründe dieser Welt. Deshalb wohl hatten sie sich so tief unter der Erde verkrochen. Und doch hatte Nandalee sie verschonen müssen, denn sie hätte das Kind nicht hinauf ans Tageslicht bringen können. Es wäre ein Opfer des rasenden Zorns der Drachen geworden.
So war, trotz all der Toten, der Mord an ihrem Lehrmeister ungesühnt geblieben. Noch immer nagte dieses Unrecht an Nandalee. Ebenso wie der grausame Rachefeldzug der Drachen. Warum hatten sie nicht ihre Elfen geschickt, um die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen? Und nur die Mörder! Warum hatte eine ganze Stadt sterben müssen? Es war doch ihre ureigene Aufgabe, die Schönheit dieser Welt zu bewahren. Dazu waren die Himmelsschlangen einst von den Alben erwählt worden. Aber die Drachen hatten einen anderen Weg eingeschlagen. Sie hatten die von ihnen erwählten Elfen zu Mördern gemacht und in ihren Taten jedes Maß verloren.
Sie wollte zu den Ursprüngen zurück, dachte Nandalee. Sie wollte ein Werkzeug des Willens der Alben sein. Eine Hüterin dieser Welt, die ihnen anvertraut war, und keine gewissenlose Rächerin. Sie wollte die Schwachen schützen und was schön war vor unbedachter Zerstörung bewahren. Dies wären Ziele, für die zu streiten nobel wäre. Dies sollte ihr Weg werden, beschloss Nandalee und beobachtete die Fohlen, die ausgelassen durch das flache Wasser preschten, sodass es bis über ihre Köpfe aufspritzte.
Der Rappe hatte sich von ihrem Versteck abgewandt. Er musterte das hohe Büffelgras, das bis nahe an die Wasserstelle reichte. Es war fast zwei Schritt hoch. Der aufziehende Sommer hatte das Grün seiner Spitzen zu sprödem Gold verdorren lassen. Von Osten war ein böiger Wind aufgezogen, der das Gras wispern und in Wogen wie ein endloser goldgrüner Ozean wiegen ließ.
Ihr Dornbusch wuchs auf einem flachen Hügel. Sie hatten von hier aus einen guten Blick über die Wasserstelle und das weite Land. Im schnell schwindenden Tageslicht sah Nandalee eine Meile entfernt eine Herde von Schwarzhornbüffeln, deren Bewegungen dunkle Linien in das hohe Gras zogen. Sie hielten Abstand von der Wasserstelle. Warteten darauf, dass die Pegasi ihren Durst stillen und weiterziehen würden.
Dunkle Wolkenfinger streckten sich von Osten über die Savanne, als wollten sie nach dem letzten Abendrot am Horizont greifen. Ein Regensturm zog auf. Gonvalon hatte ihr in den letzten Tagen viel über Bainne Tyr erzählt. Der Fechtmeister hatte sie mit seinem Wissen überrascht. Er kam gerne in die weite Savanne, kannte die Wanderwege der Herden und steckte voller Geschichten über das Land. Über die Flammenwälle, die sich in der Trockenzeit durch das hohe Gras fraßen, über die tausend Farben des Regenbogens, in denen das ausgedorrte Land über Nacht erblühte, wenn die Regenzeit begann.
Auch kannte er die Koboldvölker der weiten Ebene, die blau gewandeten Jäger, die auf ihren sandfarbenen Wildhunden das einsame Land durchstreiften. Die wandernden Hirtenvölker, die stolz darauf waren, die größten unter den Kobolden von Bainne Tyr zu sein, und deren Sitte es war, sich mit grauem Lehm einzureiben. Oder die Fischer, die in Stelzenhütten fern der Ufer über dem dunklen Wasser der Mückenseen lebten. Mit ihnen hatte er manche Nacht auf die großen Welse gewartet, die sich zuweilen in Vollmondnächten vom Grund der Seen erhoben und meilenweit über Land krochen. Die Kobolde gaben diesen Welsen Namen und verehrten sie wie Götter. Uchungu, der Jähzornige, der schon manchen Kobold, der es gewagt hatte, ihm zu nahe zu kommen, mit Haut und Haar verschlungen hatte, oder Arani, der Bote, dessen sich windender Leib angeblich geheime Botschaften an die Alben in das hohe Gras schrieb, die man nur hoch vom Himmel herab zu lesen vermochte.
Nun trug der Wind fernes Donnergrollen heran, und Nandalee sah, wie im Osten Blitze über den Horizont flackerten. Irgendwo im Büffelgras erhob ein Schwarzmähnenlöwe seine Stimme und brüllte dem Sturm seinen Zorn entgegen, als wollte er die Mächte des Himmels herausfordern. Sie waren die Herrscher der Savanne, so wie die Silberlöwen die roten Felstürme, die das weite Grasland einfassten, ihr Reich nannten. Niemand kam ihnen gleich. Zumindest nicht am Boden. Der weite Himmel aber kannte andere Herrscher. Auch ihnen hatten die Kobolde Namen gegeben, doch diese wagten sie nur in Neumondnächten zu flüstern, wenn die Welt nur noch Schatten kannte. Das kleine Volk war überzeugt, dass es genügte, diese Namen laut zu nennen, um den Schrecken auf sich herabzurufen.
So voller Geschichten steckte Gonvalon, und Nandalee freute sich darauf, weiter mit ihm durch die weite Savanne zu streifen und gemeinsam deren Wunder und Geheimnisse zu erkunden. Niemals hätte sie erwartet, dass ein Elf, der in einem Palast aufgewachsen war, so sehr mit der Natur verbunden sein könnte.
Sie streckte unter der Decke die Hand nach ihm aus. Tastete über seine warme, seidenglatte Haut. Gonvalon hatte sich verändert, seit sie in den Jadegarten zurückgekehrt waren. Er strahlte wieder jene überlegene Ruhe aus, die sie so sehr an ihm bewundert hatte, als er in der Weißen Halle ihr Lehrmeister gewesen war. Was immer in der Snaiwamark geschehen sein mochte – er hatte seinen Frieden wiedergefunden. Vielleicht lag es auch an dem Milchland, das er so sehr liebte. Die weite, wilde Savanne.
In diesem Augenblick schlug gleißend helles Licht in die Wasserstelle, brannte glühende Dolche bis tief in Nandalees Kopf. Die Pferde wieherten auf. Nandalee hörte ihre Panik, spürte den Boden unter ihrem Hufschlag erzittern. Sie blinzelte. Tränen standen ihr in den Augen, sie konnte nicht klar sehen, die Welt war in helle und dunkle Flächen ohne Tiefe zerbrochen. Sie wollte aufspringen, doch Gonvalon drückte sie fest zu Boden. »Nicht. Das ist ein Rotrücken. Bleib unten! Wir können nichts tun.«
Nandalee schloss die Lider und öffnete ihr Verborgenes Auge, um das magische Netz zu sehen, das alles miteinander verband. Ein helles Rot kaum gezügelter Wut blendete sie. Es flammte unmittelbar vor dem Dornbusch auf und erhob sich dann in den Himmel. Das musste der Rappe sein, der sich in die Lüfte erhob, um seine Herde zu schützen.
Bei der Wasserstelle herrschte das kalte Blau der Angst vor. Die Stuten und Fohlen preschten durcheinander. Einige flogen auf, behinderten sich gegenseitig. Durch das Büffelgras leuchteten die Auren kleinerer Tiere, die sich angstvoll an den Boden drückten.
Hoch über ihnen aber schwebte der Rotrücken, umspielt von der weißgoldenen Aura der Kraft. Ein weiterer Flammenstrahl stach auf die fliehende Herde herab. Durch das verborgene Auge betrachtet, war es nur ein Flackern, das die Aura des Drachen kurz blasser erscheinen ließ. Als dieses mattgelbe Flackern jedoch nach den Pegasi griff, erloschen augenblicklich zwei strahlend blaue Lichter.
Nandalee riss ihre Augen auf. Sie brannten immer noch, doch das Bild, das sich ihnen darbot, hatte wieder Farben und Tiefe bekommen. Sie sah ein Fohlen mit brennenden Flügeln in das hohe Büffelgras galoppieren, sah die Kadaver zweier Stuten im flachen Wasser liegen. Kalter Zorn packte sie. Das war keine Jagd! Der Rotrücken tötete aus Lust am Morden und würde von den toten Pegasi nur die besten Stücke fressen, um den Rest den Geiern zu überlassen.
Die Elfe packte ihren Bogen.
»Lass es!«, zischte Gonvalon. »Drachen regieren diese Welt. Stellst du dich gegen einen, wirst du den Zorn aller auf dich lenken.«
Nandalee hörte nicht auf ihn. Sie richtete sich auf. Dornranken schrammten über ihr Gesicht und ihre nackten Arme. Voller Wut blickte sie zum Himmel hinauf, und ihre Rechte strich über die befiederten Pfeilschäfte in ihrem Köcher.
Der Rotrücken war mehr als zwanzig Schritt lang und von schlangenhafter Gestalt. Seine Flügel saßen knapp über seinen kräftigen Hinterläufen, die Vorderbeine fielen viel kleiner aus, endeten aber in Tatzen mit messerscharfen Krallen. Und während seine Unterseite vom kräftigen Blau des nachmittäglichen Himmels über der Savanne war, zeigten die Flanken ein flammendes Karmesinrot, durchbrochen nur von rauchfarbenen Streifen.
Der Rappe war in den Himmel aufgestiegen und umkreiste mit zwei anderen Pegasi ihren Angreifer. Wie klein sie neben dem mächtigen Drachen aussahen. Dennoch versuchten sie, mit ihren starken Hufen nach den Flügelknochen des Drachen zu treten und dabei dem wild peitschenden Schweif des Ungeheuers nicht zu nahe zu kommen.
Nandalee zog einen Pfeil aus dem Köcher und hakte die Nocke in die Sehne ein. Sie wagte jedoch aus Furcht, im wirbelnden Luftkampf einen der Pegasi zu treffen, nicht zu schießen. Ein peitschender Schwanzhieb traf einen der Hengste, der dem Drachen zuvor mit einem Huf ein Loch in die ledernen Flügel gestanzt hatte. Das stolze Tier trudelte mit gebrochenen Flügeln hilflos zu Boden, schlug schwer im hohen Büffelgras neben der Wasserstelle auf und blieb reglos liegen.
Der Drachenkopf fuhr auf seinem Schlangenhals herum und erwischte einen weiteren Pegasus. Die dolchlangen Fänge schnappten nach dem Bauch des Tieres und rissen ein riesiges Stück Fleisch heraus, sodass dem Pegasus das Gedärm aus dem Leib hing, bevor auch dieser stolze Hengst vom Himmel stürzte.
Der Rappe aber zog in einem tollkühnen Manöver über den Kopf des Drachen hinweg und traf ihn hart mit seinen wirbelnden Hufen. Kurz geriet der Rotrücken ins Trudeln, doch dann fing er sich wieder. Und während der Hengst eine enge Kehre flog und erneut angreifen wollte, spie der Drache ihm einen Flammenstrahl entgegen. Weit weniger kraftvoll als die gleißende Flammensäule, mit der er seinen Angriff auf das Wasserloch eingeleitet hatte, doch immer noch tödlich für jeden, den das Feuer umfing.
Nandalee hielt den Atem an.
Der schwarze Pegasus legte die Flügel an und ließ sich wie ein Stein fallen, doch nicht schnell genug. Eine Flammenzunge leckte über seine Flanke, und er wieherte vor Schmerz. Erst dicht über dem Wasser breitete er seine Flügel aus und fing seinen halsbrecherischen Sturz ab. Nandalee konnte seine Gelenke knacken hören. Die Hufe des Hengstes berührten das Wasser, als er mit schweren Flügelschlägen versuchte, wieder an Höhe zu gewinnen.
Der Drache über ihm war nun in der günstigeren Position. Die Elfe sah, wie er auf weit ausgebreiteten Schwingen einen Bogen flog, um dem Pegasus den Weg abzuschneiden.
»So wird es nicht enden«, murmelte Nandalee und hob den Bogen. Der langsame Gleitflug des Drachen machte es ihr leichter. Sie zielte auf das Gelenk, dort, wo die linke Schwinge des Ungeheuers in den Rücken überging. Sie atmete aus und ließ den Pfeil von der Sehne schwirren, ohne ihr Ziel aus den Augen zu lassen.
»Nein«, schrie Gonvalon, sprang auf und griff nach ihrem Bogen. Einen Herzschlag zu spät – der Pfeil fand sein Ziel. Ein Geräusch wie das Schnauben eines riesigen Blasebalgs erklang, als der Drache überrascht einatmete. Seine linke Schwinge knickte ein, aber er fing sich sofort wieder. Der Pfeil war mehr als zur Hälfte ins Fleisch des Drachen gedrungen.
Der Rappe blickte zu Nandalee. Er wippte mit dem Kopf, als wolle er sie grüßen. Dann flog er mit kräftigem Flügelschlag davon. Seine Herde war längst geflohen. Nur die Kadaver der getöteten Tiere blieben zurück.
»Du hast auf einen Drachen geschossen«, zischte Gonvalon. »Bist du noch bei Verstand? Wir werden ihn umbringen müssen, damit er es nicht weitererzählt. Wir sind tot, wenn die Himmelsschlangen davon erfahren.«
Der Rotrücken landete am Ufer des Wasserlochs. Er war keine dreißig Schritt von ihnen entfernt. Große, gelbe Augen musterten sie aus geschlitzten Pupillen. Seine Beute schien er gänzlich vergessen zu haben.
Nandalee sah aus den Augenwinkeln, wie Gonvalon nach dem Schwert griff. Er würde es tun. Er würde für sie, ohne zu zögern, gegen den Drachen kämpfen. So wie er sich dem Immerwinterwurm gestellt hatte.
»Du überlegst, ob wir Beute sind.« Nandalee sprach laut und sehr langsam. Sie stellte sich vor, wie jedes ihrer Worte in die Gedanken des Drachen fand. Sie wusste nicht, wie intelligent Rotrücken waren und ob sie wie die Himmelsschlangen ihre Stimme im Kopf von Elfen ertönen lassen konnten. Sie hoffte einfach, dass er verstand, und während sie sprach, zog sie ohne Hast einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne.
»Ich habe einmal einen Trollprinzen getötet, weil er mir eine Jagd verdorben hat. Er war zehnmal so weit entfernt wie du. Mein Pfeil traf ihn mitten ins Auge und durchbohrte sein Hirn. Er war tot, bevor er begriffen hatte, was ihm geschah. Du hast größere Augen als er … Es wäre nicht klug, mich fressen zu wollen.«
Der Schweif des Drachen glitt unruhig hin und her und zerwühlte das schlammige Ufer.
»Wir beide sind Jäger, du und ich. Aber ich töte nur, um Nahrung zu bekommen oder um mich zu verteidigen.«
Der Drache reckte seinen Kopf auf dem schlangenhaften Hals vor. Sie roch seinen Atem. Das riesige Maul war nur noch sechs Schritt entfernt. Dunkle Blutspritzer schimmerten im letzten Abendlicht rund um seine Schnauze. Jeder einzelne seiner schneeweißen Zähne war so lang wie ihr Unterarm. Überlegte er, sie mit einem Flammenstoß zu töten?
»Geh zurück«, sagte Gonvalon leise. »Er hat sich zu weit vorgewagt. Er ist in Reichweite meines Schwertes. Ich werde ihm die Kehle durchschneiden.«
Nandalee bezweifelte nicht, dass er es schaffen konnte. Aber es war etwas anderes, einen großen Drachen zu verwunden und seinen Stolz zu verletzen oder aber ihn zu töten. Wenn Gonvalon das tat, dann wären sie beide verloren. Alle Drachen Albenmarks würden sie hetzen, und sie dürften nicht länger darauf hoffen, beim Dunklen Schutz und Unterschlupf zu finden.
»Wir gehen jetzt«, sagte Nandalee mit fester Stimme. »Wir werden dir deine Beute nicht streitig machen. Doch wisse, du hast von meinem Fleisch gestohlen. Die Herde der geflügelten Rösser gehört mir«, erklärte sie frech. »Und ich lasse mich nicht bestehlen. Wirst du noch eines von ihnen reißen, wirst du erfahren, was es bedeutet, gejagt zu werden. Ich komme aus Carandamon, weit im Norden, wo die Winterkälte jeden Tag zu einem erbarmungslosen Kampf ums Überleben macht. Und wie mein Land bin auch ich. Erbarmungslos. Ich werde dich erlegen, wenn du noch eines meiner Rösser tötest. Es gibt Wild genug in der Savanne. Du wirst nicht Hunger leiden müssen.«
Ein dunkles Grollen erklang tief aus der Kehle des Drachen. Seine Nüstern weiteten sich. Heißer Atem schlug Nandalee ins Gesicht. Sie hob den Bogen und zog die Sehne bis weit hinter ihr Ohr zurück.
»Selbst wenn deine Flammen mich töten, wird dich der Pfeil noch treffen. Ich brauche nur loszulassen, und mein Zauber wird ihn sein Ziel finden lassen.«
Der Drache schnaubte.
»Du glaubst mir nicht?« Nandalee lächelte ihn herausfordernd an. »Vielleicht lüge ich. Vielleicht aber auch nicht. Wenn du jetzt die falsche Entscheidung triffst, dann war es deine letzte.«
Drohungen beeindrucken mich nicht, erklang eine Stimme in ihren Gedanken. Sie schien nicht zu diesem blutgierigen Geschöpf zu passen. Sie wirkte kultiviert, weise. Ein wenig erinnerte sie Nandalee sogar an den Schwebenden Meister. Doch da waren all die toten Pegasi. Es mussten sieben oder acht sein.
»Warum dieses Massaker? Das war keine Jagd, sondern ein Gemetzel.«
Weil ich es kann.
Diesmal schwang in der Antwort eine Arroganz, wie sie dem Schwebenden Meister fern gewesen war.
Du wirst nun den Pfeil aus meinem Fleisch ziehen, meine Dame.
Nandalee starrte ihn an. Der Rotrücken war von einer so anmaßenden Überheblichkeit, dass er sie faszinierte.
Gonvalon legte ihr die Hand auf den Arm. »Tu es nicht. Du kannst ihm nicht trauen. Sieh dir seine Aura an!«
Ja, ich spreche auch in seinen Gedanken. Folge ruhig seinem Rat.
Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge, um erneut das magische Netzwerk zu sehen, das die Welt durchzog und alles miteinander verband. Sie sah das Rot mühsam unterdrückten Zorns in der Aura des Drachens. Es vermischte sich mit dem Gold der Macht.
»Ich helfe dir, weil es mir so gefällt«, entgegnete die Elfe ruhig. »Und weil ich weiß, dass Gonvalon dich töten wird, wenn du mir etwas zuleide tust. Ich werde den Pfeil herausschneiden müssen, da die Spitze Widerhaken hat. Das wird sehr schmerzhaft werden.«
Komm, und tu es.
»Du hast gesehen, wie er ist«, sagte Gonvalon. In seinem Blick lagen Sorge und Misstrauen. Er diente schon so lange den Drachen. Unterschätzte sie deren Heimtücke? »Geh nicht!«
Nandalee ignorierte die Warnung. Sie nahm den Pfeil von der Sehne und schob ihn in den Köcher zurück. Dann legte sie den Bogen zu Boden und näherte sich dem Rotrücken.
Noch immer peitschte der Schweif des Drachen durch den Uferschlamm. Seine Pupillen hatten sich geweitet, und ihr schimmerndes Schwarz verdrängte fast gänzlich das Gelb der Iris. Nandalee hörte das leise Zischen von Gonvalons Schwert, als es aus der geölten Lederscheide fuhr.
Du bist die Elfe, an der der Dunkle einen Narren gefressen hat. Die Elfe, in deren Gedanken kein Drache lesen kann. Ich habe dich von Ferne beim Kampf um die Tiefe Stadt gesehen.
Nandalee blickte auf die halbverbrannten Kadaver am Wasserloch. »Ich nehme an, du hast das Gemetzel dort genossen.«
Es war zu schnell vorüber. Und Zwerge sind nicht sehr wohlschmeckend. Zu zäh. Zu viele Haare. Es ist unangenehm, wenn einem Fellfetzen zwischen den Zähnen hängen. Elfenfleisch hingegen … Er presste seinen schlangenhaften Leib an den Boden und drehte sich leicht auf die Seite, sodass sie den Pfeil, der dicht neben dem Flügelansatz in seinen Leib gedrungen war, besser erreichen konnte.
Nandalee zog ihr langes Jagdmesser. Sie hatte das Gelenk um weniger als einen Fingerbreit verfehlt. Der Pfeil steckte tief im Muskelfleisch. Sie musste all ihre Kraft aufbieten, um die zähe Schuppenhaut weiter aufzuschneiden. Fast schwarzes Blut troff aus der Wunde. Der Drache zuckte, gab aber keinen Laut von sich. Sein Hals war nach hinten gebogen, der Kopf ruhte auf seinem Rücken. Er beobachtete sie aufmerksam.
Vorsichtig lockerte Nandalee den Pfeil und zog ihn durch den klaffenden Spalt, den ihre Klinge ins Fleisch geschnitten hatte. Der Drache atmete scharf aus, als der Pfeil aus der Wunde glitt. Fleischfasern hingen an den Widerhaken.
Ich bin geneigt, auch dir einen Teil des Schmerzes zuteilwerden zu lassen, den du mir geschenkt hast.
»Ich denke, Gonvalon wird solchen Großmut nicht zu schätzen wissen.« Nandalee zupfte die Fleischfasern von der Pfeilspitze und wischte das Blut mit einem Lappen fort. »Vergiss nicht, was ich dir über meine Herde gesagt habe. Wenn du die fliegenden Pferde jagst, kehre ich zurück. Und dann werde ich dich töten.«
Der Rotrücken bleckte seine Zähne. Sehe ich aus, als wäre ich leicht umzubringen?
Nandalee lächelte ihn herausfordernd an. »Sehe ich aus, als wäre ich klug genug, um mich dadurch von irgendetwas abhalten zu lassen?«
Nein, klug bist du in der Tat nicht. Ich sehe deine Zukunft, Nandalee. Du bist rastlos und launisch – eines Tages wirst du all jene verraten, die dich lieben.
»Wenn ich also schon gefährlich für die bin, die ich liebe, kannst du dir dann vorstellen, was jene erwartet, die ich hasse?«, entgegnete sie kalt und hielt den Blick des Rotrücken so lange, bis dieser seine Schwingen ausbreitete und sich mit mächtigem Flügelschlag vom Steppenboden erhob.
»Was hat er zuletzt gesagt?«, fragte Gonvalon, der den Drachen nicht aus den Augen ließ, als fürchte er, der Jäger könne es sich noch einmal überlegen und zurückkehren.
»Nur Lügen.«
Nandalee wusste, dass einigen der roten Drachen seherische Fähigkeiten nachgesagt wurden. Hatte er die Warheit gesagt? Die Elfe konnte sich nicht vorstellen, dass sie Gonvalon je verraten würde.
Er war der eine, bei dem sie Frieden fand. Es würde niemals einen anderen geben.
Die Nacht der Sieger
Talawain betrachtete die Schlafende und sah dann in seinen bronzenen Handspiegel. Er hatte ihr Gesicht gut getroffen. Zufrieden legte er den Schminkpinsel zurück auf den kleinen Tisch neben seinem Lager und verschloss die Tiegel, in denen er all seine kostbaren Farben verwahrte, die auch Kazumi gerne verschwenderisch benutzte. Das Kajal in seinem Alabasterschälchen, das er selbst aus dem Ruß von verbranntem Butterschmalz gefertigt hatte und mit silbernen Stäbchen um die Augenränder auftrug. Oder das aus geriebenem Malachit gefertigte Pulver, mit dem er manchmal einen zarten, grünen Schatten auf seine Augenlider legte. Dazu Henna, das sparsam benutzt einen Hauch von Rot auf die Wangen zauberte. Mit einem Lächeln schloss er den kleinen Tiegel aus blütenweißer Keramik, den Kazumi ihm geschenkt hatte. Er stammte aus ihrer Heimatstadt und enthielt eine Salbe aus Honig, Wachs, Ziegelstaub und Rubinpulver. Auf die Lippen aufgetragen, verlieh er diesen ein leuchtendes Rot, in dem sich funkelnd Lichtreflexe brachen. Nie zuvor hatte er eine solche Lippensalbe besessen. Nicht einmal in Albenmark. Talawain warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und nickte sich selbst zu. Es war geglückt – er sah Kazumi ähnlich genug, befand er.
Der Elf hatte sein Gesicht ein wenig verändert, es runder erscheinen lassen, und seinem Haar hatte er eine schwarzseidene Farbe gegeben. Ein wenig Magie und viel Schminke hatten ihn in eine der berühmten Konkubinen vom Seidenfluss verwandelt.
Kazumi hatte ihn in den letzten beiden Wochen mehrfach mit der Gunst ihrer Anwesenheit beehrt. Oft genug, dass niemand sich wundern würde, sie sein Zelt verlassen zu sehen. Sie war von zierlicher Gestalt. Ein wenig kleiner als er, aber das würde wohl kaum jemand bemerken. Wie sie so dalag im warmen Licht der Öllampe, war das Mädchen vom Seidenfluss eine Schönheit. Ganz anders als Ashira, die pockennarbige Masseurin, der seine Gunst zum Verhängnis geworden war. »Ich werde gut auf dich achtgeben«, flüsterte er und strich ihr sanft das Haar aus dem Gesicht. Kazumi lächelte im Schlaf. Sie würde lange schlafen. Er hatte Mohn in ihren Wein gegeben. Sie musste hierbleiben, denn sie war sein Alibi – auch wenn sie davon nichts wusste.
Er zupfte das kostbare Wickelkleid zurecht, das er von ihr geliehen hatte. Der Saum war um ein weniges zu kurz. Aber bei einer Konkubine würde das kein Aufsehen erregen. Talawain nahm ihren langen, schwarzen Umhang von der Kleidertruhe und verließ das Zelt. Die Siegesorgie im Lager hatte die ganze Nacht gedauert. Überall lagen Betrunkene. Manche hielten noch die Weiber im Arm, mit denen sie sich amüsiert hatten. Er sah, wie ein junges Mädchen mit zerrissenem Kleid einem fetten Kerl, der zum Erbarmen schnarchte, die Börse vom Gürtel schnitt. Die ertappte Diebin sah angstvoll zu ihm auf und hob ihr Messer.
Talawain schüttelte sanft den Kopf. Sollte sie die Geste deuten, wie sie wollte. Er ging weiter, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Manchmal widerten ihn die Menschen an. Draußen auf dem Schlachtfeld mussten noch Hunderte Verwundete liegen, wenn nicht Tausende. Statt sie zu bergen, feierten sie und soffen und hurten sich um den Verstand. Sicher, der Schrecken der Schlacht steckte ihnen noch in den Gliedern. Aber war das eine Entschuldigung, jene sterben zu lassen, die vielleicht gerettet werden könnten? Der Unsterbliche hätte in dieser Nacht nicht das Lager verlassen dürfen! Auf ihn hätten sie gehört. So nobel es war, einen der Toten stellvertretend für alle anderen in sein Dorf zurückzubringen, es hätte nicht in dieser Nacht geschehen sollen.
»He, Schöne. Wie wär’s mit uns beiden?« Aus einem Zelt, dessen Seitenwände hochgeklappt waren, winkte ihm ein bärtiger Zecher zu. Er trug ein langes, himmelblaues Gewand mit goldenen Stickereien. Da es keiner der Satrapen war – die kannte Talawain alle –, musste er zu den Hauptleuten gehören, die von den Bauernkriegern gewählt worden waren. Wahrscheinlich ein verdienter Mann. Die ihn umgebenden Zechkumpane waren Talawain ebenfalls unbekannt, doch dann sah er Mataan, den Satrapen von Taruad, einen der engsten Vertrauten des Unsterblichen Aaron. Obwohl er noch aufrecht saß, sah der Fischerfürst zum Erbarmen aus. Sein wettergegerbtes Gesicht wirkte ausgezehrt, die Augen waren rot entzündet. Er trank offensichtlich nicht, um zu feiern. Er wollte das Grauen der Schlacht in Wein ertränken.
»Komm schon, Mädchen. Ich zeige dir, wie man richtig feiert!«
Talawain wich scheu zurück. Seine Verkleidung war ihm augenscheinlich gut gelungen. Vielleicht etwas zu gut.
Nun stand der Kerl mit dem Bart mühsam auf. Im Sitzen hatte er größer gewirkt. Vielleicht spielte er sich deshalb so auf. Ein kleiner Mann, der Aufsehen suchte.
»Zier dich nicht so! Du bist auch nur eine Schlampe wie all die anderen Huren im Lager. Komm, ich habe heute mein Blut vergossen, jetzt will ich Spaß!«
»Auch für mich sind die Tage des Blutes gekommen«, entgegnete Talawain mit gesenktem Blick. «Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Euch deshalb nicht zu Willen sein kann, edler Recke.«
»Mich stört das nicht.« Der Krieger machte einen schwankenden Schritt in seine Richtung, als Mataan ihn packte. »Lass sie, Arikan, oder willst du unseren Sieg besudeln, indem du ein Weib entehrst.«
»Ich bin fast von einem dieser grauen Ungeheuer zertrampelt worden. Ich habe stundenlang im Schildwall gekämpft und mich dabei mit Blut, Scheiße und dem Hirn von erschlagenen Feinden besudelt.« Arikan stieß Mataans Hand weg und lavierte sich zwischen mehreren Kriegern hindurch, die auf Teppichen und Kissen hingestreckt lagen und dem Geschehen neugierig folgten. Einer der Männer hielt ein leicht geschürztes Mädchen in den Armen. Er feuerte ihn zuerst an, dann folgten weitere und bald brüllten alle im Zelt, er solle sich holen, was er haben wolle. Der Hauptmann streckte die Arme aus und verbeugte sich wie ein Schauspieler, der auf der Bühne dem Applaus seines Publikums dankt. »Ich glaube«, erklärte Arikan mit tief dröhnender Bassstimme, »meine Ehre hat erheblich gelitten, als ich wimmernd zwischen den stampfenden Füßen des Kopfschwänzlers umhergekrochen bin. Und ich glaube auch, dass man ein Weib, das seine Ehre schon längst verkauft hat, gar nicht mehr entehren kann.«
Grölender Beifall begleitete seine Worte.
Inzwischen war auch Mataan aufgestanden und vor das Zelt getreten. Er sah Talawain durchdringend an. Der Fischerfürst war nüchtern, daran konnte es keinen Zweifel geben.
»Du stellst dich hinten an, Mataan«, lallte Arikan und packte Talawain beim Arm.
»Halt ein, mein Freund! Dieses Weib schleicht sich in den dunkelsten Stunden der Nacht in das Zelt des Hofmeisters Datames«, flüsterte Mataan ihm so leise zu, dass die anderen Zecher ihn nicht hören konnten. »Sie ist die Geliebte des goldhaarigen Gecken, der mehr Einfluss als irgendein anderer Mann bei Hof besitzt und von dem man sich obendrein noch erzählt, er habe gestern gekämpft, als sei ein Daimon in ihn gefahren. Bist du dir ganz sicher, dass du dieses Weib begehrst? Ich werde dich nicht abhalten, sie dir zu nehmen, wenn du willst. Aber ich schätze, noch bevor die Sonne wieder hinter den Bergen versinkt, wirst du in einer der langen Gruben liegen, in denen sie zu Tausenden die Toten der Schlacht verscharren. Sind die Launen deines Schwanzes dir dieses Opfer wirklich wert?«
Der Hauptmann ließ Talawain los, als hätte er sich verbrannt. »Das hättest du sagen können, du … du …« Er blickte zurück zu seinen Gefährten und lachte laut auf. »Danke für die Warnung, Satrap. Bei den Hauern des Mannebers, bei der holt man sich weit Schlimmeres als ein paar Blutstropfen auf dem Schwanz … Solche Weiber sollte man davonjagen! Die bringen ganz allein mehr Männer unter die Erde als eine Hundertschaft Luwier!« Mit diesen Worten zog sich Arikan ins Zelt zurück, wo er mit höhnischen Späßen empfangen wurde.
Talawain wollte sich eben erleichert zurückziehen, als Mataan ihn zurückhielt. Der Fischerfürst war größer und beugte sich zu ihm hinab, sodass er dessen weinsauren Atem riechen konnte. »Ich kenne Kazumi, sie hat mir in den letzten Monden an einigen Abenden die Gunst ihrer Anwesenheit geschenkt. Ich weiß nicht, warum Ihr Euch ihre Kleider ausleiht und geduckt durch das Lager schleicht, aber ich werde es herausfinden, Hofmeister.« Mataan sprach beherrscht und leise, doch das ließ seine Worte nur umso eindringlicher klingen.
»Ich werde Euch zu gegebener Zeit erklären, welche Mission des Unsterblichen mich zu dieser Maskerade zwingt«, entgegnete der Elf ernst. Ein Hauch von Zweifel stahl sich in Mataans Antlitz. Zufrieden wandte sich Talawain ab und schritt davon.
Er verließ das Lager ohne weiteren Zwischenfall und reihte sich in die langen Reihen derer ein, die ihre Beute vom Schlachtfeld trugen. Helme und Brustpanzer aus polierter Bronze, eiserne Speerspitzen, Bündel aus blutverschmierten Gewändern und staubbedeckten Sandalen waren darunter. Zwischen den Kriegern und Händlern schritten in langen Reihen die Gefangenen. Die meisten waren nackt, manchen waren Säcke über den Kopf gestülpt worden. Männer mit harten Gesichtern und Knotenstöcken in den Händen trieben sie der Sklaverei entgegen.
Talawain dachte an die Drohung Mataans. Der Satrap gehörte zu den engsten Vertrauten des Unsterblichen Aaron. Er hätte sich eine bessere Lüge einfallen lassen sollen. Mataan war eine Gefahr. Der Elf wusste, dass es weise wäre, nicht mehr an den Hof des Unsterblichen Aaron zurückzukehren. Er hatte genug von der Barbarei der Menschenkinder gesehen. Ungezählte Jahre war er nun schon hier. Sein Einsatz als Spitzel der Blauen Halle wurde zu gefährlich. Aber er wollte noch erleben, wie Aaron seinen Sieg nutzte. Ein letztes Mal noch würde er dessen Hofmeister sein. Er musste auf den Herrscher einwirken, bevor er vor die Devanthar trat. Die Schlacht des gestrigen Tages hatte das Machtgefüge der Welt verändert. Jetzt gab es unter den sieben Unsterblichen einen Ersten unter Gleichen. Das mochte schwerwiegende Konsequenzen für Nangog und Albenmark haben. Und deshalb musste die Blaue Halle noch heute davon erfahren.
Drei Tode
Išta schritt über eine flache Grube hinweg, in der ein zusammengekrümmter Leichnam lag. Ein Stück entfernt hob ein schmutzig gelber Hund den Kopf und blickte argwöhnisch in ihre Richtung, als fürchte er, sie sei gekommen, um ihm sein Aas zu rauben.
Die Devanthar musste unwillkürlich lächeln. »Ich bin eine Jägerin. Ich fresse nicht, was andere für mich getötet haben.« Sie blickte auf das Lager, dessen hell erleuchtete Zelte aus der Ferne wie riesige Lampions aussahen. Bis hierher hörte sie das ausgelassene Grölen der Betrunkenen und das helle Gelächter der Weiber, die mit ihnen feierten. Sie waren seltsam, die Menschenkinder. Wahrscheinlich hatte fast jeder in diesem Lager am Tag Freunde auf dem Schlachtfeld verloren, und dennoch feierten sie, seit die Sonne untergegangen war. Išta mochte die Sterblichen. Es war unendlich erfrischend, ihrem Treiben zuzusehen. Dem steten Wandel von allem. Sie würde sie beobachten und zu immer neuen Torheiten aufstacheln. Das war ihr Lebensinhalt.
Mit festem Schritt eilte sie dem Lager entgegen. Sie hatte die Gestalt des Hofmeisters angenommen. Sie hätte auch den Lauf der Zeit verlangsamen können, wie es ihr Bruder, der Weiße Wolf, so gerne tat. Aber solch einen Zauber zu weben kostete mehr Kraft, als die Aufgabe dieser Nacht wert war.
Mitternacht war längst vorüber. Ihre Brüder und Schwestern hatten nach der Schlacht zu lange beraten. Ihretwegen … Es war dumm gewesen, einen Unsterblichen vor den Augen Tausender Menschenkinder zu enthaupten. Dumm und unverzeihlich. Ein einziger Augenblick unbedachten Zorns hatte die Arbeit von Jahrhunderten beschädigt. Ein Unsterblicher hatte sein Leben gelassen! Wenigstens war es eine Hinrichtung durch einen Devanthar gewesen, so hatte sie sich verteidigt, als ihr Bruder, der missgestaltete Schmied, dieselbe Strafe forderte, die einst ihre Schwester Anatu ereilt hatte, nachdem sie sich mit einer Himmelsschlange eingelassen hatte.
Išta atmete schwer aus. Der Löwenhäuptige hatte ihr leidenschaftlich widersprochen. Selten hatte sie ihn so zornig erlebt. Dass einer von ihnen den Tod des Unsterblichen Muwatta herbeigeführt habe, verbessere gar nichts, hatte er dargelegt. Im Gegenteil, so hatten auch sie selbst Schaden genommen, denn bewies die Hinrichtung nicht, dass auch sie, die Götter, sich geirrt hatten? Denn sie hatten Muwatta zum Gott unter Menschen erhoben, und es hatte sich gezeigt, dass er dieser Ehre nicht würdig war. Wie hatten sie sich so täuschen können! Und wie lange würde es dauern, bis sich die ersten Menschenkinder fragten, ob sich die Devanthar nicht auch in anderen Dingen täuschten?
Išta hatte in den Augen ihrer Brüder und Schwestern lesen können, wie der Löwenhäuptige ihre Herzen gewann. Er wollte sie vernichten. Die Niederlage Muwattas genügte ihm nicht. Er wollte sie im Staub sehen. Und fast wäre es ihm gelungen.
Es waren ausgerechnet die Elfen, die sie gerettet hatten. Und natürlich ihr eigener kühler Mut, den sie selbst in verzweifelter Lage bewahrte. Išta hatte sich gegenüber ihren Brüdern und Schwestern reumütig gezeigt, ihre Fehler eingestanden und dann den Gedanken des Löwenhäuptigen noch weitergesponnen. In dem Augenblick, in dem alle gegen sie waren, hatte sie ihre Brüder und Schwestern gefragt, wer dem Ansehen der Devanthar unter den Menschen wohl den größten Schaden zufügen würde? Und hatte, noch bevor törichte Spekulationen die Runde machen konnten, selbst die Antwort gegeben: Die größte Gefahr ging von den Elfenspitzeln aus, die sich an allen Höfen der Unsterblichen eingeschlichen hatten. Wenn diese die Gunst der Stunde nutzten, um Zweifel zu säen, mochte der Schaden unabsehbar werden. War der Zweifel an den Göttern erst einmal in die Herzen der Menschenkinder gepflanzt, die Devanthar würden ihn nie wieder herausreißen können.
Verfolgten sie die Zweifler offen, dann würde man munkeln, es sei etwas Wahres an den Geschichten über die fehlbaren Götter, da sie doch alles taten, um Gotteslästerer zum Schweigen zu bringen. Unternahmen sie aber nichts, dann würde ihnen dies als Schwäche ausgelegt – und Götter durften alles sein, nur nicht schwach. Sie waren es, zu denen die Sterblichen in ihren verzweifeltsten Stunden aufblickten, um in ihnen die Stärke und Unfehlbarkeit zu suchen, die den Menschen fehlten.
Voller Genugtuung erinnerte sich Išta an die beklommene Stille, die ihren Ausführungen gefolgt war. Und dann war sie auf Datames zu sprechen bekommen, den Elfen, der sich in Menschengestalt am Hof des Unsterblichen Aaron eingeschlichen hatte und zum Ratgeber des Herrschers aufgestiegen war. Es war nicht das erste Mal, dass im Gelben Turm über ihn gesprochen worden war. Datames war es gewesen, der sie auf die Spur der Blauen Halle gebracht hatte. Dank ihm hatten die Devanthar aufgedeckt, wie umfassend die Alben und ihre Statthalter, die Himmelsschlangen, gegen den alten Vertrag über den Frieden zwischen den Welten verstießen. Dutzende von Elfenspitzeln hatten sie inzwischen aufgespürt.
Kein Albenkind hätte jemals seinen Fuß auf den Boden Daias setzen dürfen. Aber sie kamen und schnüffelten, denn sie hielten sich für vollkommen in all ihren Taten, diese verfluchten Alben. Sie sahen sich als Lichtgestalten, die sich gegen die Finsternis stellten. Und hielten dabei ihre Welt in lähmender Ordnung gefesselt.
Išta erinnerte sich noch gut an die Alben, obwohl ein Zeitalter verstrichen war, seit sie ihnen das letzte Mal begegnet war. Diese Narren hatten sich eingeredet, Gerechtigkeit zu üben, als sie gemeinsam mit den Devanthar Nangog gestraft hatten. Die Riesin hatte sich heimlich ihre eigene Welt erschaffen. Sie wäre zur dritten Macht aufgestiegen, hätte man sie gewähren lassen, dabei war es ihr nur bestimmt gewesen zu dienen.
Išta sah ganz klar, wie perfide und grausam die Strafe gewesen war, die sie für die Riesin ersonnen hatten. Die Alben jedoch hatten sich hinter der Lüge verschanzt, dass ein maßloser Verrat eine maßlose Strafe rechtfertigte.
Die Devanthar erreichte den Rand des Heerlagers. Niemand hielt sie auf. Jeder kannte den Hofmeister, die rechte Hand des Unsterblichen Aaron. Amüsiert betrachtete sie die Betrunkenen und Erschöpften, die im Staub lagen und schliefen, während Fliegen über ihre verschwitzten Leiber krochen. Andere hatten nicht das Glück, Schlaf gefunden zu haben. Sie glotzten sie aus hohläugigen Gesichtern an, aus denen wohl nie mehr ganz der Schrecken der Schlacht weichen würde. Es waren Bauern und Handwerker, die nie zuvor getötet hatten. Männer, die nicht zu Kriegern geboren waren, sondern dazu, etwas durch ihrer Hände Arbeit zu erschaffen. Die meisten hielten mit festem Griff ihre Weinbecher umklammert. Einigen schien bereits aufzugehen, dass aller Wein der Welt nicht genügen würde, um die Erinnerung an das, was sie gesehen und getan hatten, hinwegzuspülen.
Es gab drei Arten von Tod, die einen Mann auf dem Schlachtfeld erwarteten. Den schnellen Tod, wenn eine Klinge das Herz durchbohrte, eine Dornaxt sich in den Schädel fraß oder man auf andere Art so schwer verwundet wurde, dass die Erlösung von allem Leid nicht lange auf sich warten ließ. Dann gab es die heimtückischeren Wunden, die Hoffnung machten, noch einmal davonzukommen, wenn man nur hart genug um sein Leben rang. Manchmal waren es Wunden, die dem Verletzten erst auffielen, wenn sich das Fleisch entzündete und er bei lebendigem Leib zu verfaulen begann. Bei einem starken Mann konnte dieser Tod Wochen dauern.
Noch schlimmer aber war der dritte Tod. Er erwartete jene Männer, in deren Gemüt inmitten der grausamen Schlacht etwas zerbrochen war. Sie würden nie mehr zu dem Leben zurückfinden, aus dem sie der Ruf zu den Waffen gerissen hatte. Sie konnten nicht vergessen, was sie im Kampf gesehen hatten. Konnten die Sorgen und Ärgernisse eines normalen Lebens nicht mehr begreifen. Sie grenzten sich aus. Bald würden sie gemieden werden. Sie lachten wenig und wenn, dann oft über Dinge, die alle anderen nicht komisch fanden. Meist aber waren sie mürrisch und verschlossen. Und sosehr sie sich auch bemühten, sie fanden aus dem Gefängnis, in das ihre Seele blindlings hineingestolpert war, nicht mehr heraus. Hier, unter jenen, die selbst im Suff keinen Schlaf fanden, war die Devanthar inmitten von Männern, auf die jener dritte, der grausamste aller Tode, wartete.
Išta ging unbeirrt weiter. Aus manchen der Zelte erklangen die falschen Lustschreie der Huren oder einfach nur dumpfes Stöhnen und das Geräusch aufeinanderklatschenden Fleischs. Es gab mehr Wege als nur den Suff, vor dem Schrecken des Schlachtfeldes zu fliehen. Manche Paare trieben es auch in aller Öffentlichkeit. Sie wanden sich auf dem staubigen Boden und ignorierten, wie sie von den Betrunkenen angestarrt wurden. Alle Ordnung im Lager war zusammengebrochen.
Išta hatte nun fast den inneren Zirkel der Zelte erreicht. Jenen Ort, der den Satrapen, den Feldherren und dem Unsterblichen vorbehalten war. Hier brannten mehr Lichter. Einige der Zelte waren aus kostbarer Seide gefertigt. Es roch nach schwerem, gewürztem Wein, nicht nach dem billigen Fusel, den die einfachen Krieger tranken. Und es duftete nach Rosen. Parfüm. Die Huren waren hübscher. An ihren Armen prangten goldene Reifen. Ihr Lachen und Stöhnen klang hier wesentlich überzeugender. Doch die Augen jener, die nicht zu betrunken waren, um aufzublicken, wenn sie vorüberging, waren genauso leer wie die Augen der Handwerker und Bauern.
Nur ganz selten begegnete ihr ein Blick, dessen Härte keine Seelenqual kannte. Der Blick eines Kriegers, eines Mannes, der dem Tod schon so oft gegenübergestanden hatte, dass er allen Schrecken für ihn verloren hatte.
Išta ging auf das Zelt des Datames zu. Ein müder Wächter erhob sich von einem Stapel Säcke, auf denen das Siegel der Goldenen Stadt prangte, und starrte sie überrascht an. »Ihr, Herr? Ich dachte, Ihr schlaft.«
»Nun, mir scheint, du warst derjenige, der geschlafen hat, wenn du nicht bemerkt hast, wie ich gegangen bin«, entgegnete die Devanthar leise und las in den Gedanken des Wächters, der sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte. Datames war früh am Abend mit einem schwarzhaarigen Mädchen in sein Zelt gekommen und hatte es seitdem nicht mehr verlassen. Es war also ganz so, wie sie es erhofft hatte – sie würde den Elfen nicht im Heerlager suchen müssen. Zufrieden dachte Išta daran, wie sie ihren Brüdern und Schwestern seinen Tod abgetrotzt und wie sie den Löwenhäuptigen in Missgunst gebracht hatte. Zu lange hatte dieser um Datames gewusst und es ihnen nicht gesagt. Würde er ihn töten, wenn es von ihm gefordert wurde? Wohl kaum!
Ihr Bruder war seltsam. Er fand zu viel Gefallen an den Menschen. Und womöglich sogar an Datames. Man hatte ihm andere Elfenspitzel überlassen, um den Beweis zu erbringen, dass er ohne zu zögern töten würde. Dieser hier aber gehörte ihr. Und sie würde es genießen, ihm das Leben in kleinen Häppchen zu entreißen.
»Ich habe Euch das Zelt nicht verlassen sehen«, murmelte der Wächter überrascht.
»Wenn ich es nicht verlassen hätte, könnte ich wohl kaum zurückkehren.«
Die Verwirrung stand dem Menschensohn ins Gesicht geschrieben. Schließlich nickte er zerknirscht. »Verzeiht, ich muss wohl im Stehen geschlafen haben …«
»Es sei dir vergeben«, entgegnete die Devanthar ruhig und schlug die Plane am Eingang des Zeltes zurück. Der Geruch eines süßlichen Parfüms schlug ihr entgegen. Sie hörte leises Atmen. Datames hatte ein richtiges Bett in seinem Zelt. Išta musste schmunzeln. Tausende schliefen hier im Dreck, aber ein Elf tat so etwas natürlich nicht.
Die Zeltwand dämpfte den Schein der Lagerfeuer. In dem matten, rötlichen Licht sah sich Išta bedächtig um. Datames hatte ganz gewiss alles, was von Bedeutung war, an die Albenkinder verraten. Schon vor Jahren hatte er sich in den Palast eingeschlichen, und als Hofmeister kannte er die Geheimnisse des Reiches Aram wie kein Zweiter. Er wusste, welche Satrapen treu waren und wer den Unsterblichen betrog. Wusste, wie viele Krieger Aram aufzubieten vermochte, wo die Schwächen in der Verteidigung waren, und vor allem wusste er, wie abhängig alle Großreiche von den Korn- und Reislieferungen aus Nangog waren. Wurde diese Lebensader durchtrennt, würde es überall auf Daia zu Hungersnöten kommen.
Išta war erstaunt, welchen Prunk der Elf hier versammelt hatte: goldene Weinbecher, eine wunderschön gefertigte Truhe, das große Bett. Verrat war augenscheinlich ein einträgliches Geschäft. Er schwelgte im Luxus, wo alle darbten. Dieser Zustand konnte nicht länger geduldet werden. Sie würde die Tür zuschlagen, die von den Alben und den Himmelsschlangen in aller Heimlichkeit in ihre Welt geöffnet worden war.
Sie trat an das Bett, und ein gehauchtes Wort der Macht ließ das Seidentuch zur Seite fließen. Zierliche Schultern und langes, schwarzes Haar schälten sich aus dem fürstlichen Gelb des Tuchs. Die Devanthar hielt inne. Es lag sonst niemand im Bett. Niemand anderes war im Zelt. Der Elf trieb also seine Spielchen, hatte sich davongeschlichen … Der Hofmeister musste gewusst haben, wie viele Devanthar Zeugen des Zweikampfs zwischen Muwatta und Aaron gewesen waren und hatte geahnt, das ihnen auch seine wahre Herkunft nicht verborgen geblieben war. Deshalb war er geflohen. Er wusste, dass seine Zeit abgelaufen war!
Išta musterte das Mädchen. Ihr Atem ging regelmäßig. Zart, wie ein gehauchter Kuss, berührte sie mit den Fingerspitzen das Haupt des Mädchens und las in ihren Erinnerungen. Ihr Schlaf war tief. Sie kam gerne hierher. Eine Nacht mit einem freundlichenLiebhaber in einem sauberen Bett war inmitten des Heerlagers eine seltene Gunst des Schicksals. Sie träumte von einem Park voll blühender Kirschbäume. Ein plötzlicher Windstoß hüllte sie in tausend wirbelnde zartrosa Blütenblätter. In ihrem Traum war sie noch ein Kind. Ihr Lachen klang hell und unbeschwert. Ein Lachen, von dem nichts mehr geblieben war, verloren in der Zeit, ebenso wie die seidenen Blütenblätter jenes lang vergangenen Nachmittags in ihrer Kindheit.
Die Devanthar ließ von der jungen Frau ab und sah sich erneut im Zelt um. Betrachtete den großen Tisch voller Tontäfelchen. Bemerkte, dass das Kleid des Mädchens verschwunden war und allein Gewänder des Hofmeisters herumlagen. Am Rand eines schmalen Tisches standen kleine Schminktiegel. Daneben lag ein Handspiegel aus polierter Bronze mit einem langstieligen Griff, der eine nackte Frau zeigte, deren ausgestreckte Arme den unteren Teil des Spiegels einfassten. Da begriff Išta, was geschehen war.
Sie trat zu dem Tischchen, strich über den Spiegel und sah, was die glatte Bronzefläche als Letztes gesehen hatte. Datames, wie er sein Antlitz veränderte, seine Züge denen des Mädchens anpasste und sich schminkte. Er war ihr entkommen, diesmal. Išta überflog nachdenklich die Tontafeln. Dieser Elf war das Herz des Reiches Aram geworden. Er war mehr als nur ein Spitzel … Er tat dies hier aus Leidenschaft. Und er würde wiederkommen.
Die Devanthar strich über die kalte Bronze des Spiegels und hinterließ einen Gruß für Datames. Dann wandte sie sich dem Mädchen zu. Es gab andere Wege, den Hofmeister zu vernichten, als langsam das Leben aus ihm herauszuschneiden. Noch in dieser Nacht würde eine kleine Schar Devanthar Krieg nach Albenmark tragen, den die Himmelsschlangen und ihre Herren begonnen hatten. Und sie war eine der Auserwählten, die für Daia kämpfen würde.
Das Feld der Fliegen
Barnaba drückte dem Toten die Augen zu. Das Silber des ersten Morgenlichts ließ dessen Antlitz unnatürlich fahl aussehen. Mit fahriger Geste wischte sich der gefallene Priester mit seinem Handrücken über die Stirn und stemmte sich hoch. Obwohl er die dreißig noch nicht erreicht hatte, stützte er sich wie ein alter Mann auf einen knochenbleichen Stab aus verwachsenem Holz. Gatha, der hagere Schamane, der den Steinrat von Garagum beherrschte, hatte einen speckigen Lederbeutel und einen Streifen roten Stoffs daran gebunden. Die Zeichen eines heiligen Mannes– auch wenn Barnaba sich sicher war, dass die meisten Krieger hier auf der Ebene ihre Bedeutung nicht kannten.
Er ließ den Blick über das weite Schlachtfeld schweifen. Erst hatte er nicht kommen wollen. Es war Gatha, der ihn gedrängt hatte. Es sei die Pflicht der Heiligen Männer, den Sterbenden beizustehen, hatte er gesagt. Und Gatha hatte recht damit gehabt.
Barnaba wusste nicht mehr, wie vielen Kriegern er in dieser Nacht Trost gespendet hatte. Es mussten Dutzende gewesen sein. Manche weinten, erzählten schluchzend von ihren Kindern und Weibern, andere verfluchten ihr Schicksal oder wimmerten vor Schmerz. Frieden kehrte auf einem Schlachtfeld auch dann nicht ein, wenn die Waffen ruhten.
Barnaba war fassungslos, wie viele Verwundete einfach liegen geblieben waren, während ihre Kameraden im Lager ihren Sieg feierten.
Dumpfes Jammern, Schmerzensschreie und Hilferufe oder einfach nur das leise Flehen um Wasser waren das Lied des nächtlichen Schlachtfeldes. Und das Tuscheln der Leichenfledderer, meist ältere Frauen, die sich sonst als Köchinnen und Näherinnen im Lager verdingten. Auch das Knurren der Hunde, die um die besten Happen stritten, all das konnte Barnaba ertragen… es waren Geräusche, die aufbrandeten und wieder verstummten. Doch eines blieb die ganze Nacht. Es war immer da, leise und eindringlich: das Summen der Fliegen. Sie waren ohne Zahl. Und wenn sie die Eier ablegten, aus denen binnen einer einzigen Nacht Maden schlüpften, unterschieden sie nicht zwischen Toten und Sterbenden. Ihre Brut nährte sich auch von denen, die zu schwach waren, noch mit der Hand zu wedeln, um die Fliegen zu verscheuchen.
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