Die Phileasson-Saga - Himmelsturm - Bernhard Hennen - E-Book

Die Phileasson-Saga - Himmelsturm E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Der zweite Band des großen Phileasson-Epos

Sagen und Mythen ranken sich um die legendäre Rivalität zwischen Asleif Phileasson, den sie nur den Foggwolf nennen, und Beorn dem Blender. Nun soll eine Wettfahrt entscheiden, wer von beiden der größte Seefahrer aller Zeiten ist und sich König der Meere nennen darf. In achtzig Wochen müssen die beiden Krieger den Kontinent Aventurien umrunden und sich dabei zwölf riskanten Abenteuern stellen. Abenteuern, die nur die abgebrühtesten Helden zu bestehen vermögen. Es ist der Beginn des größten und gefährlichsten Wettlaufs aller Zeiten ...

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Seitenzahl: 596

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DAS BUCH

»Sein Bruder wagte vom Himmelsturm den Himmel-Sturm. Uns alle traf dafür der Götter Fluch. Jetzt sind die Herzen derer, die hier liegen, zu Eis geworden. Nun entscheidet, ob ihr die Toten bestehlen wollt.«

Hoch im Norden Aventuriens, mitten im ewigen Weiß der Eiswüste – einem Ort, an dem einem sogar der Atem gefriert – ragt der sagenumwobene Himmelsturm in die Wolken. Ein Turm, der so hoch ist, dass man munkelt, der Himmel sei an ihm aufgehängt. Ein Turm voll finsterer Tücke und uralter Gefahren, in den kein Krieger freiwillig auch nur einen Fuß setzen würde. Ausgerechnet hier müssen die beiden Thorwaler Asleif Phileasson und Beorn der Blender ihre zweite Aufgabe erfüllen, wenn sie die Wettfahrt der Kapitäne für sich entscheiden wollen: Sie sollen das Geheimnis des Himmelsturms erforschen. Begleitet werden sie dabei von drei Elfen: Galyane, der Uralte, der mit geheimnisvollen Mächten paktiert; Galandel, die noch immer ihren Platz in der Welt sucht, und Salarin, der von eigenartigen Visionen gequält wird. Doch sind die Elfen mächtig genug, um die beiden Rivalen und ihre Gefährten vor der Dunkelheit des Himmelsturms zu schützen, oder ist Asleifs und Beorns Wettfahrt zu Ende bevor, sie richtig begonnen hat?

DIE AUTOREN

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

www.bernhard-hennen.de

Robert Corvus, 1972 geboren, studierte Wirtschaftsinformatik und war in verschiedenen internationalen Konzernen als Strategieberater und Projektleiter tätig, bevor er hat mehrere erfolgreiche Fantasy-Romane veröffentlichte. Er lebt und arbeitet in Köln.

www.robertcorvus.net

Mehr über die Phileasson-Saga erfahren Sie auf: www.phileasson.de

BERNHARD

HENNEN

ROBERT CORVUS

HIMMELSTURM

DIE PHILEASSON-SAGA

ZWEITER ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 09/2016

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2016 by Bernhard Hennen

Copyright © 2016 by Robert Corvus

Copyright © 2016 by Ulisses Medien & Spiel Distribution GmbH

Copyright © 2016 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Umschlagillustration: Kerem Beyit

Innenillustrationen: Nadine Schäkel

Karte: Daniel Jödemann

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-15735-7V001

www.heyne.de

www.twitter.com/HeyneFantasySF@heyneFantasySF

PROLOG

Nahe der Tränenbucht, zwanzig Meilen östlich der Chaneb-Mündung – dreizehnter Tag im Vinmond

»Ich glaube wirklich, die fressen ihre Kinder.« Abduls dünne Finger tasteten über den verwitterten Stein. Das Relief zeigte schlangenhafte Kreaturen, die ähnliche, aber kleinere Gestalten hochhoben und dabei das Maul weit aufrissen. Er dachte an die Nacht, in der seine Schwester Anaram ihre beiden Töchter bekommen hatte. Und daran, wie stolz sein Schwager Jussuf die beiden in der Nacht ihrer Geburt zum Himmel emporgestreckt hatte, als wollte er sie allen Gestirnen der Nacht zeigen. Was die Schlangenmänner dort taten, sah ähnlich aus. Nur diese klaffenden Mäuler … Wenn das Bild nur besser erhalten wäre! Nach allem, was Abdul über die Echsen- und Schlangenvölker vergangener Zeiten wusste, traute er ihnen jede Grausamkeit zu. »Wir hätten vor tausend Jahren hier sein sollen, als die Reliefs noch deutlicher zu erkennen waren.«

»Manchmal glaube ich, die Zeit tut uns einen Gefallen, wenn sie solche Spuren verweht.«

Abdul sah seinen Gefährten überrascht an. So melancholisch zu sein, war sonst gar nicht Hammud ben Hassans Art. Sie beide kannten sich lange. Einst hatten sie gemeinsam an der Akademie zur Meisterung jenseitiger Entitäten zu Rashdul unterrichtet. Aber Abdul war bei Dschelef ibn Jassafar, dem Leiter der ehrwürdigen Magierschule, in Ungnade gefallen. Er war zu weit auf jenen Pfaden gegangen, die Menschen besser erst gar nicht betreten sollten.

»Wen wundert es, dass sie untergegangen sind, wenn sie ihre Kinder gefressen haben.« Hammud schlug mit der flachen Hand auf das Relief, das in den roten Fels geschnitten war. Es war ein einzelner Stein, anders als alle anderen, die sich ringsum aus Sand und halb vertrockneten Dornenbüschen erhoben.

Abdul kam die Geste aufgesetzt vor. Sie beide wussten genug über die längst vergangenen Echsenvölker. Diese Barbarei war nicht der Grund für ihren Untergang gewesen.

»Hast du Glyphen gefunden?«, fragte er ernst.

Hammud stieß die Spitze seines perlenbestickten Stiefels in den Sand vor dem Felsen. »Ich hab einen halben Schritt tief gegraben. Das Relief setzt sich fort. Weiter unten sieht man Sklaven, die zu einem Altar geschleppt werden. Menschensklaven …«

»Wir sollten tiefer graben«, sprach Abdul halb zu sich. Der Magie der Echsen galt nicht sein Hauptinteresse, aber das hier versprach neue Erkenntnisse über die untergegangene Kultur der Geschuppten.

Hammud schnaubte abfällig. »Wen könnte man zum Graben hierher bringen? Ein paar arme Bauern? Du weißt, wie es mit solchen Orten ist. Die Fellachen würden schon in den ersten Nächten verrückt vor Angst.«

Abdul spürte die dunkle Aura des Felsens. Er fragte sich, was dieser Stein wohl alles gesehen haben mochte, und wünschte sich, der rote Felsblock hätte ein Gedächtnis, in dem er graben könnte.

»Ich werde wieder hierher kommen …« Die verwitterten Bilder nahmen Abdul ganz und gar gefangen. Es mussten ja nicht Menschen sein, die hier für ihn gruben. Er vermochte auch über andere, weniger furchtsame Geschöpfe zu gebieten.

Als sich Abdul endlich losriss, sah er im Blick seines Freundes, dass Hammud ganz genau wusste, was er dachte. Die dunkleren Pfade der Magie schenkten dem Mutigen, der sie beschritt, Macht. Hammud liebte es, seine Macht und seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Wie ein Geck aus reichem Haus hatte er sich herausgeputzt mit seinem roten Turban und dem Schleier, der die Narben auf seiner Wange verbarg. Sein schwarzes Hemd aus feinster Seide hatte gewiss ein Vermögen gekostet. Und diese Hose … Abdul vermochte nicht einmal zu sagen, aus was für einer Art Stoff sie gefertigt war. Dazu die schwarzen Stiefel mit den Perlen und ein flammend roter Umhang. Hammud liebte es, die Blicke auf sich zu ziehen. Vor allem seit seinem Unfall … Wenn er den Schleier abnahm, war er kein schöner Anblick.

Er selbst würde diesen Weg niemals beschreiten, dachte Abdul. Ihm ging es allein um das Wissen. Was scherten einen Forscher Gold und schöne Frauen! Natürlich war ihm schmerzlich bewusst, wie viele seiner Kollegen mit den Jahren diesen Verlockungen erlagen. Aber er war anders! Abdul begehrte zu entdecken, was die Vergangenheit vor der Gegenwart verborgen halten wollte. All die Wissensschätze der versunkenen Völker zu heben, das war sein Ziel. Er wollte die Krankheiten besiegen, die heute noch den sicheren Tod bedeuteten. Und vielleicht, wenn die Reise lang genug dauerte und die Gefahren in der Dunkelheit ihn nicht verschlangen, würde er einen Weg finden, die Khôm-Wüste wieder so fruchtbar zu machen, wie sie einst gewesen war. Er wusste, wo er suchen musste. Vor drei Monden erst war er auf etwas gestoßen …

Dünner, schwarzer Rauch besudelte das makellose Blau des südlichen Himmels. »Bei Rastullah!«, entfuhr es ihm.

Hammud drehte sich um und sog scharf den Atem ein. »Schnell!«

Abdul rannte zu den Pferden. Er war beileibe kein junger Mann mehr, aber er war so schnell im Sattel wie schon seit Jahren nicht. Der Rauch kam von ihrem Lager nahe der Küste. Ihre Karawane hatte einen Umweg gemacht, weil seine Nichten so sehr gebettelt hatten, einmal die Hände in das Meer tauchen zu dürfen.

Er rammte seiner Stute die Fersen in die Flanken, ohne sich nach Hammud umzusehen. Die Küste hätte sicher sein sollen! Was war geschehen? Vielleicht hatte ja nur eines der Zelte Feuer gefangen, wollte er sich beruhigen und wusste es doch besser.

Schon als er das Relief berührte, hatte er gespürt, dass Unheil in der Luft lag. Abdul versuchte, sich für das Kommende zu wappnen. Er war ein machtvoller Magier, doch ohne zu wissen, welcher Gegner ihn erwartete, konnte er sich nicht vorbereiten.

In halsbrecherischem Tempo hetzte er seine Stute zwischen den halb verdorrten Büschen hindurch, die einzeln oder in kleineren Gruppen die sandige Ebene sprenkelten. Hier und dort ragten graue Felstrümmer aus dem Sand.

Schaum flog der Stute von den Lefzen. Sie war eine gute Läuferin. Er war verspottet worden, als er sie gekauft hatte. Es war ein Pferd für einen jungen Heißsporn und nicht für einen Magier, dessen Haar ergraute. Nie hatte er den Kauf so wenig bereut wie jetzt.

Meile um Meile trug sie ihn durch das Buschland, bis zu den Dünen, hinter denen der Strand lag.

Am ersten Hang strauchelte sie fast im fließenden Sand.

»Weiter!« Abdul klopfte auf ihren Hals. Ihre Adern zeichneten sich als pulsierende Stränge unter dem schneeweißen Fell ab. »Weiter«, drängte er. »Du schaffst das!«

Auf dem Dünenkamm angelangt, hörte Abdul Schreie. Der Wind, der den Sand in dünnem Schleier über den Dünengrat tanzen ließ, trieb sein Spiel mit ihm. Mal verschlang er den Lärm. Mal klang er ganz nah. Da war auch das Klirren von Stahl.

Er trieb die Stute den Hang hinab. So steil war der Weg, dass er sich weit im Sattel nach hinten lehnte. Wer hatte ihr Lager gefunden? Sein Schwager war ein mächtiger Mann. Kein Räuber wäre so verrückt, eine Karawane Jussuf ibn Salids zu überfallen. Und obendrein reisten sie unter dem Schutz Sultan Mustafa ibn Khalid ibn Rusaimis von Unau. Wer wagte ein solch tolldreistes Verbrechen?

Die Stute kämpfte sich die nächste Düne hinauf. Hinter sich hörte er Hammuds Rufe. Sein schwerer Rappe schaffte es nicht, zu ihm aufzuschließen. Es wäre klug, auf seinen Freund zu warten, doch Abduls unruhiges Herz duldete keine Verzögerung.

Er schlug der Stute auf die Flanke, trieb sie erbarmungslos durch den Sand hinauf. Und dann sah er das Lager. Die Zelte brannten. Lastkamele liefen durcheinander, und Treiber hetzten ihnen hinterher. Überall lagen Tote. Die wenigen überlebenden Karawanenwachen sicherten zum Strand hin. Ein Hauptmann mit einem langen Schnitt quer über dem Gesicht versuchte schreiend, Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Abdul preschte in halsbrecherischem Tempo den Hang hinab, mitten ins Lager.

Aus dem Augenwinkel sah er die Sklavinnen seiner Schwester. Sie hatten Anaram auf einen Stapel Stoffballen gebettet. Neben ihr lag Jussuf. Beide hatten die Arme über der Brust gekreuzt. Die älteste Dienerin stimmte den schrill trällernden Ruf der Totenklage an. Aber wo waren die Mädchen? Sie hätten bei ihren Eltern stehen sollen!

Hektisch sah Abdul sich um und trieb dabei die Stute zwischen den brennenden Zelten hindurch. Jamilah und Selime, seine Nichten, waren nirgends zu entdecken.

»Lauf!«, schrie Abdul mit sich überschlagender Stimme und rammte der Stute die Fersen in die Flanken.

Abdul konnte keine Angreifer entdecken, und er wusste, was das zu bedeuten hatte.

Ohne auf die Rufe zu achten, und auf die Hände, die sich ihm entgegenstreckten, trieb er seinen Schimmel weiter voran. In gestrecktem Galopp hetzten sie durch das Tal zwischen zwei hohen Dünen, das sich hinter einer weiten Kehre zum Meer öffnete. Und dort sah er, was er am meisten gefürchtet hatte: eine schwarze Galeere, die sich durch die sanft rollende Brandung hinaus auf das offene Meer kämpfte. Sklavenjäger aus Al’Anfa!

Am Heck des Schiffes drängten sich Krieger. Erst dachte Abdul, sie winkten ihm zu, um ihn zu verhöhnen. Doch dann erkannte er, dass es nicht um ihn ging. In der weißen Dünung tanzte ein schwarzer Fleck. Langes Haar floss wie ein nachtfarbener Umhang über schmale Schultern.

Bogenschützen traten an die Reling, entschlossen zu töten, was sie nicht besitzen konnten. Pfeile schwirrten durch die Luft.

Tränenbucht, achtzehn Meilen östlich der Chaneb-Mündung – dreizehnter Tag im Vinmond

Abdul trieb die Stute in die Brandung. Stumm verfluchte er den Weg der Magie, den er für sich auserkoren hatte. Die Zauber, die er wob, wirkten tief, doch sie brauchten Zeit. Er konnte nichts tun, als dem Mädchen entgegenzureiten, das sich mutig dem Meer anvertraut hatte. Er war niemand, der Feuerbälle und Blitze schleuderte oder wütende Böen herbeizurufen vermochte, die die Pfeile davontragen würden.

Tränen hilflosen Zornes standen ihm in den Augen. Und er schämte sich, den Einen um Beistand zu bitten. Er flehte ihn an, dass es eine seiner beiden Nichten sein sollte, die dort schwamm. Er wusste, wie weit er ein Leben hinter sich gelassen hatte, auf das Rastullah mit Wohlgefallen geblickt hätte. Viel Hoffnung auf die Gnade des Unermesslichen hatte er nicht.

Ein Pfeil zupfte an seinem Turban. Ein zweiter sirrte so dicht an seiner linken Wange vorbei, dass er den Luftzug spürte.

Seine Stute verlor den Grund unter den Hufen, doch weiterhin gehorchte sie seinem Drängen. Ihr mächtiger Leib tanzte in der Dünung. Ohne zu zögern, schwamm sie dem Mädchen entgegen, das nur noch zehn Schritt entfernt war.

Verzweifelt drückte Abdul der Stute die Hacken in die Flanken. Mit aller Kraft kämpfte der Schimmel gegen das Wasser an. Schnell schlugen ihm die Wellen bis zum Kopf. Abdul glitt aus dem Sattel, um dem Pferd das Schwimmen zu erleichtern, und damit seiner Stute kein Wasser in die Ohren lief. Die schlanken Hände des Magiers krallten sich fest um den Sattelknauf, und er ließ sich weiter hinaus in die See ziehen.

Ein schwarz gefiedertes Geschoss verfing sich in der triefend nassen Mähne. Blut sickerte in das weiße Fell, doch schien es nicht mehr als nur eine Schramme zu sein, denn die Stute ließ in ihrer Anstrengung nicht nach.

Der schwarze Fleck hielt auf ihn zu. Mit kräftigen Zügen kam die Schwimmerin näher. Ein Pfeil zupfte am Stoff seines Kaftans.

Eine zierliche Hand streckte sich ihm entgegen. Abdul ergriff sie und half dem Mädchen, am Sattel Halt zu finden. Es war Jamilah! »Oh, Rastullah!«, rief er in unendlicher Erleichterung. Er erkannte Jamilah an dem Muttermal links über ihrer Lippe. Nur darin unterschieden sich die Zwillinge.

»Wir müssen Selime befreien«, keuchte sie völlig außer Atem.

Der Beschuss hatte aufgehört. Die schwarze Galeere ließ die Küste hinter sich. Kräftige Ruderschläge zerwühlten das azurblaue Wasser zu schäumender Gischt.

Abdul drückte das zitternde Mädchen fest an sich. Es bäumte sich in seinen Armen auf und drohte, das erschöpfte Pferd unter Wasser zu drücken. »Wir müssen …«, begann es erneut. Dann erstickte seine Stimme in Schluchzen. Jamilah war fünfzehn. Bereits im besten Alter, um verheiratet zu werden. Sie war kräftig, doch es gelang ihm, ihren verzweifelten Widerstand niederzuhalten.

»Wir werden sie holen«, sagte Abdul entschieden. »Nicht heute. An einem anderen Tag. Ich weiß, wohin sie Selime bringen.«

Hafen von Al’Anfa – dreißigster Tag im Vinmond

Mit dem Sog des Tidenhubs passierte die schwerfällige Kogge die Hafeneinfahrt. Dunkle Algen glänzten auf den Mauern, denen das Schiff bedenklich nahe kam, bevor sich der größte Hafen Aventuriens vor ihnen weitete.

Abdul kannte das eindrucksvolle Panorama. Den Wald aus Masten, der sich vor ihnen ausbreitete. Die Schwärme kleinerer Boote, die jeden Neuankömmling umzingelten. Lockrufe, doch einen Teil der Waren schon jetzt zu verkaufen, bevor die gierigen Büttel des Hafenmeisters ihre Abgaben einforderten.

Hinter hölzernen Frachtkränen und Lagerhäusern erhob sich die Stadt. Endlose Reihen schmutzig weißer Häuser erklommen Terrasse für Terrasse einen steilen Hang. Dächer aus orangeroten Ziegeln leuchteten zwischen ärmlicheren aus Holz oder Palmwedeln. Manche nannten Al’Anfa »die Perle des Südens«. Für andere war es eine Pestbeule. Ein offenes Geschwür. Für Abdul war es die Stadt, die seine Nichte Selime verschlingen würde, wenn er sie nicht bald fände. Es musste schnell geschehen. Er wusste nur zu gut, welch vielfältige Gefahren jungen Mädchen hier drohten. Und ihre Ehre zu verlieren, war nur das Geringste der Übel. Die Namenlosen Tage standen unmittelbar bevor. Tage, an denen man besser nicht sein Haus verließ, so dachten die meisten Ungläubigen, die zu den zwölf Götzen beteten. Ihm war bewusst, dass dieser Aberglaube nicht ganz ohne Grund existierte. Viele dunkle Dinge waren in der Vergangenheit in jenen Tagen geschehen, die nach dem Kalender der Irrgläubigen zwischen den Jahren lagen. Aber er würde es nach dem Kalender seines Volkes halten. Für ihn war morgen der dritte Rastullahellah, der Tag der Blutrache. Und die würde er ohne Gnade einfordern!

Er war kein Mann, der in Zeiten der Bedrängnis auf den Knien lag und einen Gott um Erlösung anflehte. Er wusste, was Selime erwartete, wenn sie in die falschen Hände geriet. Die Zeit drängte! Er musste sie vor den Namenlosen Tagen finden. Dazu blieb ihm nur noch ein halber Tag. Aber er war vorbereitet …

Seine Hände schlossen sich um das rissige Holz der Reling. Aus dem Augenwinkel betrachtete er Jamilah. Seine Nichte hatte sich züchtig verhüllt. Sie trug weite Bauschhosen, die in kurzen Stiefeln steckten. Ein schweres, weißes Leinenhemd, darüber einen kurzen Umhang und ein Kopftuch nach Art der Beni Novad, das so gewickelt war, dass wenig mehr als ihre Augen zu sehen war. Ein flüchtiger Beobachter würde sie für einen Mann halten. Ihre schwarzen Augen musterten die Stadt.

Sie schien keine Angst zu kennen. Tagelang hatte er mit Jamilah gestritten. Al’Anfa war keine Stadt für frisch erblühte Frauen. Was hier zu tun war, mochte ihre Seele in Dunkelheit tauchen. Aber ihre Hartnäckigkeit hatte ihn schließlich überzeugt. Sie wollte dabei sein, wenn ihre Schwester gerettet wurde, oder bei dem Versuch sterben. Sie war eine Kriegerin und noch viel mehr. Er wusste nur zu gut, welches Erbe in ihr schlummerte.

Gleichmäßig ertönte das Geräusch der Riemen und lenkte Abdul von seinen düsteren Gedanken ab. Alles in ihm drängte zur Eile. Unerbittlich lief der Sand durch das Stundenglas, das Selimes verbleibende Lebenszeit maß. Ihr Erbe war es, das sie in so tödliche Gefahr brachte.

Die schweißglänzenden Rücken der Ruderer beugten sich vor und zurück. Vier Boote schleppten sie in den Hafen, zu jenem Steg, der ihnen vom Hafenmeister bestimmt worden war.

Nur wenige Schiffe fuhren in diesen Tagen Al’Anfa an. Abdul wusste, dass man zu anderen Zeiten manchmal bis tief in die Nacht vor der Hafeneinfahrt warten musste, bis Boote frei wurden, die einen Kauffahrer zu seinem Liegeplatz schleppten. Sein Blick wanderte über die Kaianlagen. Für hiesige Verhältnisse waren sie spärlich belegt. Etwa sechzig Schiffe, schätzte er. Große Koggen aus dem fernen Bornland, eine Karacke mit hoch aufragendem Vorder- und Achterkastell, von deren Heck schlaff die Fahne mit dem roten Greifen des Mittelreichs hing. Etliche Galeeren, viele mit schwarz geteertem Rumpf. Schiffe der Sklavenjäger, denn die Kriegsflotte Al’Anfas lag in einem getrennten Hafenbecken. Wer Verstand hatte, steuerte zu dieser Jahreszeit nicht die Stadt des Totengötzen an, dem die frevlerischen Bewohner Al’Anfas huldigten. Sogar unter den Verehrern der Zwölfgötzen galten sie als Auswurf. Statt die unheilvollen Namenlosen Tage mit Fasten und Gebeten zu verbringen, feierten sie rauschende Feste, wie schon den ganzen Mond zuvor, in dem sie der wollüstigen Götzin Rahja huldigten. Dabei schmückten sie ihre Häuser mit Kreidebildern und kleinen Skulpturen von solcher Sittenlosigkeit, dass man dergleichen in anderen Städten höchstens in Bordellen und übelsten Spelunken fand.

Jamilah fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es war drückend heiß. In ihren schweren Kleidern litt sie sichtlich unter der Hitze. Hier herrschte nicht die trockene Wärme der Wüste, sondern ein schwüles Klima. Selbst wenn man stillstand und nichts tat, außer zu atmen, war man in Schweiß gebadet.

»Du warst schon einmal hier.« Jamilah sprach leise. Ihre Stimme klang sachlich. Es war keine Frage.

Abdul nickte. »Öfter als einmal.« Er würde ihr nicht verraten, in welche Abgründe er hier geblickt hatte, aber es wäre sinnlos, das Offensichtliche zu leugnen.

Sie schwieg.

Hätte er sich nur bei Zeiten durchgesetzt! Schon früh hatte er bemerkt, dass seine Nichten begabt waren. Er hatte auf seine Schwester Anaram und seinen Schwager Jussuf eingewirkt, dass sie an einen besonderen Ort gehen sollten, um gefördert, aber auch vor sich beschützt zu werden. Doch der Mann seiner Schwester war ein ausgemachter Dickschädel gewesen. Er hatte um die Ehre der Mädchen gefürchtet. Abdul schnaubte. Jussuf war ein verdammter Idiot gewesen!

Jamilah sah ihn an. »Wir werden Selime doch retten …«

»Natürlich!« Seine Antwort kam zu schnell. Zu deutlich schwang die schlecht überspielte Sorge darin mit.

Er blickte zu den Kais, auf denen Schauerleute auf den nackten Holzbohlen dösten. Es war ein ruhiger Tag im Hafen. Etwa hundert Schritt entfernt wurde ein hochbordiger Kauffahrer beladen. Er würde wohl mit der nächsten Ebbe den Hafen verlassen. Abdul wünschte, sie wären auch schon so weit. Nur noch einen Gezeitenwechsel von der Heimreise entfernt.

Ihre Kogge legte nahe der Hafenmeisterei an. Ein dürrer Mann in schwarzer Robe wartete dort. Vier Bewaffnete unterstrichen die Autorität, die er selbst nicht ausstrahlte. Hinter ihnen sammelten sich Lastenträger, die darauf hofften, sich ein paar Oreal zu verdienen.

Kaum dass die Kogge festgezurrt war, senkte sich eine Laufplanke an die Reling. Abdul griff nach dem kleinen Bündel, das neben ihm an Deck lag. Sie beide reisten mit leichtem Gepäck. Ein paar Kleider, Jamilahs Schmuck und die drei Notizbücher, sein größter Schatz, waren alles, was sie mit sich führten.

Der Schwarzgewandete kam an Bord. Ihr Kapitän überreichte ihm die Frachtpapiere. Es fiel Abdul schwer, sich in Geduld zu üben. Er drehte ein Goldstück zwischen den Fingern, sodass es dem Beamten der Hafenmeisterei auffallen musste. Mehr konnte er nicht tun. Würde er ihn im Gespräch mit dem Kapitän unterbrechen, mochte das seinen Unwillen erwecken.

So war es der Zollbeamte selbst, der ihn ansah und ihm dann zunickte.

»Bestünde die Möglichkeit, das Schiff bereits zu verlassen?« Abdul hielt den Blick gesenkt und sprach demütig wie ein Sklave, der den Zorn seines Herrn erregt hatte.

Der Beamte schob kurz zwei Finger unter den langen Ärmeln seiner Robe hervor.

Abdul nickte. Nichts in Al’Anfa war günstig zu bekommen. Diskret zog er ein zweites Goldstück aus seiner Börse, während der Hafenbeamte in Richtung der Krieger auf dem Kai nickte. »Euch ist natürlich bewusst, dass Ihr Euch bei der Hafenmeisterei melden müsst. Gordo wird Euch dorthin bringen. Ich wünsche Euch einen angenehmen Aufenthalt.« Mit diesen Worten wandte er sich wieder dem Kapitän zu.

Gordo führte sie zu dem dreistöckigen Gebäude am Ende der Kaianlagen. Seine Fürsprache beschleunigte die Ausstellung der Pässe, ohne die kein Fremder die Hafenstadt betreten durfte. Er brachte sie auch zu einem Geldwechsler, der angeblich einen besseren Kurs bot als seine Kollegen, die unter Baldachinen in der schwülen Hitze vor der Hafenmeisterei dösten.

Erst danach forderte er seinen Lohn. Abdul drückte ihm die beiden Goldstücke in die Hand und dazu noch einige Oreal. Es war immer klug, sich in Al’Anfa großzügig zu zeigen.

Der vernarbte Krieger lächelte auf ihn herab. »Du solltest dir besser einen Leibwächter zulegen, kleiner Mann. Man ist hier nicht überall freundlich zu Fremden mit wohlgefüllter Börse. Ich könnte dir ein paar zuverlässige Kameraden empfehlen.«

Abdul lächelte ihn an. »Das ist sehr nett, Gordo. Aber ich glaube, wir werden nicht lange genug in der Stadt bleiben, um Ärger bekommen zu können.«

Der Krieger sah ihn ernst an. »Dies ist Al’Anfa. Es genügt, seine Straßen zu betreten, damit einem Ärger gewiss ist, wenn man sich nicht zu schützen weiß.« Er zuckte mit den Achseln. »Deine Entscheidung, kleiner Mann.« Gordo ging, ohne sich noch einmal nach ihnen umzusehen.

Jamilah sah ihn mit großen, schwarzen Augen an. Sie schien nicht an ihm zu zweifeln, stellte keine Fragen.

»Wir gehen zum Sklavenmarkt«, entschied Abdul. Er blickte zu den Kais und den Dächern der Lagerhäuser. Dann wandte er sich nach Osten. Er kannte den Weg.

Sklavenmarkt von Al’Anfa – dreißigster Tag im Vinmond

Feiner, weißer Kies knirschte unter ihren Schritten. Der brackige Geruch des Hafenwassers lag noch in der Luft. Sie hatten nicht weit gehen müssen, um den Sklavenmarkt zu erreichen. Unter hohen Palmen, inmitten eines Parks, erhoben sich die strahlend weiß getünchten Mauern des massigen Baus, in dem die Auktionen abgehalten wurden. Vor ihnen lag der berühmteste Sklavenmarkt Aventuriens, doch Abdul wusste, dass Selime nicht hier sein würde.

Ein Krieger trat aus dem Schatten des Torbogens. Er trug eine abgewetzte Lederrüstung. Schweiß glänzte auf den verschlungenen Tätowierungen, die seine nackten Arme schmückten. Eine Hand lag auf dem Schwertgriff. Er wirkte wachsam und verärgert darüber, dass er zur heißesten Stunde des Tages ins helle Sonnenlicht treten musste. »Was wollt ihr hier?«

»Ein kurzes Gespräch mit dem Verwalter der Sklavenlisten führen.«

Der Krieger runzelte die Stirn.

»Gibt es hier jemanden, der Namen auf Listen schreibt?«

Der Krieger nickte zögerlich. »Den nennt aber niemand Verwalter.«

Abdul zog einen Oreal aus seiner Börse. »Fällt dir vielleicht ein, wie man ihn nennt und wie ich zu ihm finde?«

Der Wächter nahm die Hand vom Schwert und griff nach der Münze. »Fausto. Alle nennen ihn nur Fausto.«

Der Magier griff ein weiteres Mal in seine Börse. »Ich nehme an, dir fällt auch noch ein, wo ich ihn finde.«

»Natürlich!« Der Krieger deutete zum Tortunnel. »Da entlang. Wenn ihr auf den Hof tretet, nehmt die erste Tür links. Ihr habt Glück. Üblicherweise ist er um diese Zeit nicht hier. Schätze, er hat ein paar dringende Schreibarbeiten zu erledigen …« Er trat ihnen aus dem Weg. »Ihr habt mich nie getroffen.«

Abdul nickte. »Natürlich nicht. Wir haben den Weg allein gefunden.« Innerlich seufzte der Magier. Wie konnte der Kerl so dämlich sein zu glauben, Fausto würde nicht wissen, wer sie geschickt hatte? Es gab nur ein Tor und nur eine Wache.

Sie durchquerten einen zehn Schritt langen Tunnel, bevor sie in den weiten Innenhof traten. Ringsum erhoben sich hölzerne Tribünen. Darunter befanden sich Käfige aus Brabaker Rohr. Es gab auch massige Pfähle, von denen schwere Eisenketten hingen. Genau gegenüber dem Eingang erhob sich eine Bühne. Dort wurden wohl die Sklaven zur Versteigerung vorgeführt. Jetzt jedoch war kein einziger Gefangener zu sehen. Alle Käfige waren leer, und es ließen sich auch keine weiteren Wächter blicken.

Abdul sah, wie Jamilah die Umgebung aufmerksam musterte. »Sie ist nicht hier«, sagte sie mit schwerer Stimme, der anzuhören war, wie sehr sie mit der Enttäuschung rang.

»Dies hier ist nur ein Schritt auf dem Weg zu deiner Schwester«, versuchte Abdul sie zu trösten. »Vertraue mir. Wir werden nicht mehr viele Schritte tun müssen. Allerdings liegt das schwerste Stück des Weges noch vor uns. Und wenn wir es gemeinsam gehen, wirst du in mir nie mehr den netten Oheim sehen, den du aus Kindertagen kennst.«

»Meine Kindheit ist längst vorüber.«

In ihrer Stimme schwang etwas mit, das Abdul erschauern ließ. Sie wirkte gerade nicht wie das unschuldige Mädchen, das er gekannt hatte. Da funkelte etwas in ihren Augen. Sie wollte Rache. Rache für den Tod ihrer Eltern und Rache für das, was Selime angetan worden war.

Neben dem Tortunnel fand sich nur eine einzige Tür. Sie traten ein, ohne anzuklopfen.

Über einen Schreibtisch gebeugt saß ein Mann in mittleren Jahren. Konzentriert übertrug er Namen aus einem aufgeschlagenen Buch in eine Liste. Verärgert sah er auf und schlug dann hastig das Buch zu.

»Was tut ihr hier? Der Markt ist geschlossen. Heute gibt es keine Auktionen. Erst nach den Namenlosen Tagen, im neuen Jahr!« Während er aufgeregt redete, hüpfte der schmale, grau melierte Schnurrbart auf seiner Oberlippe auf und nieder.

Er war Abdul auf Anhieb unsympathisch. Der Magier hielt nichts von Männern mit lächerlichen Bärten. »Ich suche ein Mädchen.«

»Verstehst … du … nicht?«, fragte Fausto langsam und überdeutlich, als würde er mit einem Idioten reden. »Der … Markt … ist … geschlossen.«

»Ich suche ein Mädchen«, wiederholte Abdul. »Es ist vor zweieinhalb Wochen an der Küste von einer schwarzen Galeere aufgegriffen worden.«

Fausto schnaubte verächtlich und erhob sich von seinem Stuhl. »Was für ein herzzerreißendes Schicksal. Ich denke, das teilt sie mit etwa hundert anderen Mädchen in jedem Jahr. Und ihr beide werdet nun gehen, oder ich lasse euch von meinen Wächtern hinausschaffen.«

»Es wird nicht dein Schaden sein, wenn du sie findest. Ihr Name ist Selime.«

»Hör mal, Wickelkopf. Alle Sklaven werden draußen in der Bucht auf der Sklaveninsel gefangen gehalten. Sie kommen erst zu den Auktionen her. Du kannst hier kein Mädchen freikaufen.« Fausto trat an die Tür und stieß sie auf. »Und nun geht.«

»Wenn ich sie finde, bekommst du genauso viel Gold wie der Mann, dem ich sie abkaufe.«

Der Schreiber leckte sich mit schmaler Zunge über die Lippen. Dann warf er einen Blick hinaus in den Hof und zog langsam die Tür wieder zu. »Ein Mädchen, sagtest du … Ich unterstelle mal, sie ist hübsch.«

»Jamilah, zeig ihm dein Gesicht.«

Ohne zu zögern, löste seine Nichte den Stoffstreifen ihres Kopftuchs, den sie vor ihr Antlitz gezogen hatte.

»Selime ist ihrer Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Wieder zuckte die schmale Zunge über die Lippen des Schreibers. »Ein schönes Mädchen …« Seine Brauen zogen sich zusammen, und er sah Abdul ernst an. »Ich gehe davon aus, dass dir bekannt ist, dass solche Sklavinnen sehr hohe Preise erzielen. Zeig mir dein Gold.«

Der Magier griff unter sein Gewand und zog einen kleinen Lederbeutel hervor, auf den mit türkisblauem Faden ein Auge gestickt war. Dann trat er an den Schreibtisch und schüttete den Inhalt über die polierte Holzplatte.

Fausto gingen schier die Augen über, als er die Edelsteine in allen Farben des Regenbogens sah.

»Ich weiß, dass die Granden und einige auserwählte Kaufherren jederzeit zur Sklaveninsel können, um dort neue Ware zu inspizieren.« Er strich mit der flachen Hand über das geschlossene Buch. »Und jeder gute Geschäftsmann führt Listen über Wareneingänge. Ich wäre dir sehr verbunden, Fausto, wenn du für mich feststellen könntest, ob ein Mädchen mit Namen Selime in den letzten zehn Tagen zur Sklaveninsel gebracht wurde.«

Der Schreiber nahm sich einen kleinen Rubin. »Ich nehme an, du bist ein enger Freund eines der Granden der Stadt. Solchen Geschäftspartnern stehen natürlich privilegierte Informationen zu.«

Abdul nickte zufrieden. »Ja, nehmen wir das an.«

Fausto schlug das Buch auf, blätterte kurz und fuhr dann mit dem Finger über die Namenslisten. Plötzlich hielt er inne. »Ja, ein Mädchen, das als Namen Selime angegeben hat, wurde auf die Insel gebracht. Sie ist allerdings schon am nächsten Morgen gekauft worden. Das ist ungewöhnlich …« Fausto blickte auf und sah ihn zweifelnd an. »Sehr ungewöhnlich«, sagte er gedehnt. »Für sie wurden fünfhundert Dublonen gezahlt. Selbst für ein hübsches Mädchen ist das ein Preis …« Er wiegte den Kopf. Der Schreiber betrachtete die Edelsteine, als versuche er, ihren Wert zu schätzen.

»Dir ist klar, dass dort ein Wert von weit mehr als fünftausend Dublonen liegt«, sagte Abdul freundlich. »Der Handel, den ich dir vorgeschlagen habe, gilt nach wie vor.«

Fausto räusperte sich. »Aber … Sie ist ja gar nicht mehr auf der Insel. Sie steht nicht mehr zum Verkauf.« Er seufzte. »Da kann ich nichts mehr machen.«

»Du könntest mir sagen, wer sie gekauft hat.«

»Wir schreiben die Namen der Kunden nicht auf. Die meisten wollen das nicht …«

Abdul begann, seine Edelsteine vom Tisch aufzusammeln und wieder in dem kleinen Beutel verschwinden zu lassen. »Das ist natürlich schade.«

»Ich glaube aber, ich könnte den Namen herausfinden.«

Der Magier hob missbilligend eine Braue. »Mutmaßungen sind nichts wert.«

»Ich meinte, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Namen des Käufers herausfinden kann. Wer trägt schon eine solche Summe bei sich? Er muss einen Schuldschein ausgestellt haben, der dann eingelöst wurde. Darauf steht sein Name.«

Abdul schob einen kleinen Smaragd neben den Rubin, den Fausto für sich ausgewählt hatte. »Es ist doch immer wieder erfreulich, in eine Stadt zu kommen, in der jeder Bewohner ein verständiger Geschäftsmann ist.« Er streckte Fausto die Hand entgegen. »Schlag ein. Mein Name ist Abdul el Mazar. Mit wem habe ich die Freude, Geschäfte zu machen?«

»Fausto«, entgegnete sein Gegenüber und sah ihm geradewegs in die Augen. »Fausto Bilar. Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich werde bis zur Abendstunde herausfinden, wer Selime gekauft hat, mein Ehrenwort.«

Abdul lächelte. »Einen Mann von Ehre erkenne ich immer auf den ersten Blick. Du wirst mich in der Herberge Zum Weißen Einhorn nahe der Universität finden. Du kennst diesen Ort doch, oder?«

Fausto nickte. »Gewiss doch, Herr. Ich werde euch finden und uns beide zu glücklichen Männern machen.«

Als Abdul ging, merkte er, wie angespannt Jamilah war. Sie hatte den Schleier wieder vor ihr Gesicht gezogen und hielt sich einen halben Schritt hinter ihm. Als sie wieder unter den Palmen des Parks angelangt waren, blieb er stehen. »Nur heraus damit, was willst du mir sagen?«

»Diesem Fausto kann man nicht vertrauen. Ich begreife nicht, wie du diesem Mann zwei kostbare Edelsteine überlassen konntest. Er wird uns betrügen und ausplündern.«

Abdul wiegte bedächtig den Kopf. »Ich glaube, dass er genau das tun wird, was ich von ihm erwarte. Ich kenne diese Brut, vertraue mir, Jamilah.«

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her. Als sie die düster aufragende Gladiatorenarena hinter sich gelassen hatten und eine steile Treppe hinaufstiegen, berührte ihn seine Nichte sanft an der Hand. »Woher kennst du Al’Anfa, Oheim? Was hast du hier getan?«

Er antwortete nicht.

Herberge Zum Weißen Einhorn, Al’Anfa, – dreißigster Tag im Vinmond

Abdul lag lang ausgestreckt auf dem Bett und sah den tanzenden Fliegen unter der Zimmerdecke zu. Dabei lauschte er auf Jamilahs Atem. Obwohl die Dämmerung eingesetzt hatte und das Zimmer in weiches, rosafarbenes Licht tauchte, schien es nicht weniger schwül als zur Mittagsstunde zu sein. Feiner Sprühregen ging draußen nieder. Es tröpfelte von den Dachtraufen auf das Pflaster. Abdul rang um jeden Atemzug. Früher hatte ihm das weniger ausgemacht. Sieben Mal schon war er in Al’Anfa gewesen, meist zu den Namenlosen Tagen. Er wusste um die »Weide der himmlischen Ziege«, das verborgene Gotteshaus des Levthan, in dem niedere Diener der Erzdämonin Belkelel beschworen wurden. Er selbst hatte an diesen Orgien teilgenommen, doch nicht, um niedere Triebe zu befriedigen. Er hatte über die Kreatur Levthan forschen wollen, die einst auch im Land der Tulamiden angebetet worden war. Abdul wollte Licht in die Dunkelheit tragen. Er war besessen davon, die Geschichte versunkener Kulte zu erforschen und heutige Anhänger obskurer Götzen zu geißeln. Zweimal hatte er einen Ring von Paktierern des Namenlosen Gottes auffliegen lassen, weil sie ihn aufgrund seines Wissens für einen der Ihren gehalten hatten.

Lange schon rechnete er damit, dass ihn das Unglück einholen würde. Niemand ließ sich auf Dauer ungestraft mit jenen Mächten ein, die er wiederholt herausgefordert hatte. Für Selime fürchtete er das Schlimmste. Dass sie so schnell für einen solch gewaltigen Preis gekauft worden war, ließ nichts Gutes ahnen. Jemand musste erkannt haben, welche Kräfte in ihr schlummerten. Dies, verbunden mit ihrer Jungfräulichkeit, machte sie für Kulte wie den des Levthan zu einem unschätzbaren Opfer.

Jamilah seufzte. Sie drehte sich im Schlaf. Ihr Arm schwang herum, und ihre Rechte legte sich auf seinen Bauch, dicht unter seinen Nabel. Angenehme Wärme strahlte von ihr aus.

Ihre Lider waren leicht geöffnet, sodass er das Weiß ihrer Augäpfel sah. Sie war ein schönes Mädchen. Ihre Weiblichkeit war bereits voll erblüht. Früher hatte er nie darauf geachtet, doch nun trug sie nur ein dünnes Seidenhemd, unter dem sich ihre Brüste deutlich abzeichneten.

Er wandte den Kopf und sah zum Fenster. Für ihn war sie immer ein Kind gewesen. So oft hatte er seinen Schwager bekniet, die beiden Mädchen zu einer der magischen Akademien zu schicken. Beide trugen sie die Gabe in sich. Sie hätten machtvolle Zauberinnen werden können. Formte man dieses Talent jedoch nicht, dann erwuchs daraus nur allzu oft Unglück. Und so war es nun gekommen.

Jamilah zuckte im Schlaf. Ihre Hand rutschte noch ein wenig tiefer.

Abdul schämte sich für die Regungen, die ihn überkamen. Er drehte sich zur Seite, sodass das Mädchen ihn nicht länger berührte. Nie hatte er es gewagt, eine Familie zu gründen. Bei der Art seiner Forschungen war das nicht ratsam. Eine Familie hätte ihn angreifbar gemacht.

Dabei war er dem weiblichen Geschlecht durchaus zugetan. Gelegentlich hatte er seine unerfüllten Sehnsüchte in Freudenhäusern gestillt. Doch hatte er niemals häufiger als drei Mal ein und demselben Weib beigelegen. Er wollte keine Bindungen.

Die Erinnerung trieb ihm die Glut in die Wangen. Wenn Jamilah und Selime wüssten, was für ein Oheim er war … Keineswegs der weltfremde Narr, für den ihn so viele hielten.

Es klopfte leise an der Tür.

Jamilah setzte sich ruckartig im Bett auf. Abdul war überrascht, wie leicht ihr Schlaf war. »Bedecke dich, meine Liebe. Ich sehe nach, ob Fausto uns Nachricht schickt.«

Die hölzernen Dielen knarrten unter seinen Füßen, als er zur Tür trat und sie einen Spalt weit öffnete. Er sah in ein schmales Gesicht mit schwarzen, großen Augen. Eine junge Frau in einem geflickten Kleid schenkte ihm ein gehetztes Lächeln. »Fausto schickt mich. Er hat den Mann gefunden, den Ihr sucht.«

»Und warum kommt er nicht selbst, um mir das zu sagen?« Aus dem Augenwinkel sah Abdul, wie sich Jamilah einen Dolch griff. Sie schaffte es, völlig lautlos über die Dielen zu schreiten.

»Fausto verhandelt mit dem Besitzer des Mädchens. Alles wird gutgehen. Aber der Besitzer will jetzt sehen, dass Ihr auch zahlen könnt. Deshalb soll ich Euch holen, Herr.«

»Wir kleiden uns an und kommen«, entschied Abdul. »Warte einen Augenblick.« Er schob die Tür zu.

Flüsternd erklärte er seiner Nichte, was die Botin wollte.

Jamilah sah ihn entgeistert an. »Du glaubst ihr doch nicht etwa?«

»Können wir uns leisten, es nicht zu tun?« Abdul griff sich seinen Burnus, der ihn vor dem Regen schützen würde.

»Das ist der blanke Leichtsinn«, protestierte seine Nichte, doch auch sie kleidete sich an.

»Vertraue mir. Ich kenne diese Stadt und weiß, wie man hier Geschäfte macht.«

Jamilah bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und schob ihren Dolch unter die weite Bluse.

Ohne Aufsehen zu erregen, verließen sie den Gasthof über eine Hintertreppe. Die Sonne war hinter dem Horizont versunken. Faustos Botin führte sie durch ein Labyrinth von Gassen, in denen tiefe Finsternis herrschte. Kaum jemand war auf den Straßen. Hier und dort kauerten sich Bettler in Hauseingänge. Einmal sprach ihn eine Dirne an, deren Atem nach fauligem Fisch stank.

Ihre Führerin vertrieb sie mit schrillem Gezänk, dann ging es eine Treppe hinab zu einer tiefer gelegenen Terrasse. Ihr Weg führte sie über einen weiten Platz, der mit strahlend weißen Kalkplatten gepflastert war. Hier leuchtete warmes Kerzenlicht hinter den Fenstern, und die Passanten erweckten nicht den Eindruck, als würden sie einem Dolche in den Rücken stoßen, wenn man sie nicht im Blick behielt.

Vor einer Gaststube standen mehrere Sänften. Helles Gelächter drang durch die offene Tür. Abdul verlangsamte seinen Schritt und sah zu den Dächern hoch. Sie gingen zu schnell. Das war nicht gut.

»Komm, alter Mann!« Die Botin zupfte ungeduldig an seinem Burnus. »Es ist nicht mehr weit.«

»Es ist mein Oheim, der entscheidet, wie schnell wir gehen, Gossenhure!«, herrschte Jamilah sie an.

Die Botin bedachte seine Nichte mit einem kalten Lächeln. »Natürlich, Prinzessin … Mit Freuden passe ich meine Schritte denen des fußlahmen alten Mannes an.«

»Lass es gut sein, Jamilah. Sie ist ein Kind der Straße. Sie meint es nicht böse.«

Ihre Führerin ging nun betont langsam. Sie hielt sich stets nah der Häuser, als habe sie Angst vor der offenen Fläche des Platzes, in dessen Mitte sich die Statue einer Kriegerin erhob.

»Ich glaube, uns folgt jemand«, flüsterte Jamilah ihm zu.

Er strich ihr sanft über den Arm. »Wir sind nicht in Gefahr. Bei Nacht spielen einem die Schatten leicht allerlei Streiche.«

»Ich hab aber gesehen …«

Jetzt drückte er ihren Arm ein wenig fester. »Kein Wort mehr. Vertraue mir.«

Die Botin führte sie erneut in eine enge Gasse. Schließlich erreichten sie eine nachtschwarze Basaltmauer, in der ein Tor klaffte, das an den Schlund eines Ungeheuers gemahnte. Abdul wusste genau, wo sie sich befanden. Diese Mauer diente nicht der Verteidigung. Sie umschloss das verrufenste Stadtviertel Al’Anfas. Einst hatte hier ein schrecklicher Brand getobt. Nie wieder waren die Paläste hinter dieser Mauer aufgebaut worden. In den Ruinen trieb sich nur herum, wer nichts mehr zu verlieren hatte.

Es gab keine Wachen bei dem Tor, das sie durchschritten.

Abdul hatte das Gefühl, dass immer noch ein leichter Brandgeruch in den Gassen lag.

Aufmerksam betrachtete der Magier die verfallenen Fassaden. Er kannte diese Straße. Nicht weit von hier lag der geheime Tempel des Levthan. Würde ihr Weg dort enden?

»Hier, Erhabener.« Die Botin deutete in eine enge Gasse. Etwas Dunkles bewegte sich ein paar Schritt voraus.

»Einen Moment noch.« Abdul stützte sich gegen eine regennasse Mauer und tat so, als würde er um Atem ringen. In dieser Gasse würde es geschehen, was auch immer ihre Botin mit ihnen im Schilde führte.

»Uns verfolgt ganz gewiss jemand, Oheim«, zischte Jamilah ihm zu. »Gerade noch habe ich gesehen, wie er sich in den Torbogen dort hinten gedrängt hat, keine zehn Schritt die Gasse hinauf.«

Abdul wedelte abwehrend mit der Hand. Dieses Gerede war nicht gut. Hier war alles so, wie es sein sollte.

»Seid Ihr wieder bei Kräften, Herr?«, fragte die Botin voll heuchlerischer Höflichkeit. »Fausto hat mich bedrängt, Euch so schnell wie möglich zu ihm zu bringen.«

»Und er erwartet uns in dieser stinkenden Gasse?«, fuhr Jamilah sie an. »Denkst du wirklich, wir glauben dir das?«

»Das solltet Ihr, Prinzessin, denn wenn wir nicht schnell kommen, dann wird der anderen Prinzessin vielleicht noch etwas zustoßen.«

Abdul holte übertrieben tief Atem. Er war kein junger Mann mehr, aber bei Weitem weniger erschöpft, als er der Botin vorspielte. Angespannt lauschte er in die Nacht. Nicht weit entfernt hörte er zwei lallende, tuschelnde Stimmen. Irgendwelches Pack im Drogenrausch vermutlich. Aus der Gasse kamen scharrende Geräusche, und übler Gestank stieg dort aus der Gosse auf.

Hier im Schlund waren die Ärmsten der Armen zusammengepfercht, der übelste Auswurf der Stadt. Wenn es einen Ort gab, auf den der Schandname Eiterbeule des Südens zutraf, den Al’Anfas Feinde so gern nutzten, dann war es dieses Stadtviertel. Selbst die Wachen trauten sich hier nur noch selten hin, und wenn überhaupt, dann in größeren Trupps. Abdul war sich bewusst, dass ihn in dieser Gasse nicht Fausto, sondern eine Dolchklinge erwartete. Und dennoch war es der einzige Weg, der vielleicht noch rechtzeitig zu Selime führen konnte. Er straffte sich und atmete noch einmal schwer aus. »Ich bin bereit.«

»Sehr schön!« Im Licht des abnehmenden Mondes sah er kurz die Zähne der Botin aufblitzen, die ihn breit anlächelte. »Nur noch ein paar Schritt!« Sie winkte ihn an sich vorbei in die Gasse.

»Oheim!«, zischte Jamilah. »Du kannst doch nicht …«

»Still, Mädchen!«, unterbrach er sie schroff. »Oder willst du den Tod deiner Schwester verschulden? Dies ist der Ort, an dem wir erfahren werden, wo sie sich befindet.« Er ergriff Jamilahs Hand und zog sie hinter sich her.

Die Botin hielt sich hinter ihnen, und Abdul hatte das Gefühl, kurz noch eine zweite Gestalt gesehen zu haben. Es würde also auf die klassisch al’anfanische Art laufen, dachte er.

Ein verärgertes Schnauben ließ ihn zum Ende des engen Weges blicken. Ein Eber. Das Mondlicht ließ die Hauer des Biests überdeutlich erkennen. Am Boden lag eine Gestalt, die Glieder verdreht. Der Eber hatte nicht etwa in Abfällen gewühlt. Und was von seiner Schnauze herabhing, während er die Störenfriede bei seinem Festmahl böse anfunkelte, waren auch keine Würste.

»So was kann passieren, wenn man uneinsichtig ist«, erklärte ihre Botin triumphierend. »Aber Fausto hat mir versichert, dass du ein weiser Mann bist, Abdul. Deshalb möchte ich dich nun höflich um den Beutel mit den Diamanten bitten. Deine übrigen Wertgegenstände darfst du behalten. Fausto meinte, er möchte dich nur ungern in Verlegenheit bringen. So bleibt dir genug Geld, die Stadt wieder zu verlassen.«

Abdul starrte die junge Frau an und lauschte in die Nacht hinaus. Sein Gehör war sein am besten ausgeprägter Sinn, während seine Augen in all den Jahren des Studiums von alten Folianten gelitten hatten. Knirschten da Schritte in der Ruine links von ihnen? Die Botin war ganz gewiss nicht allein gekommen.

»Den Beutel!«, kam es nun fordernder. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«

Abdul sah zu Jamilah, die ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte, während ihre Hand nach dem verborgenen Dolch tastete.

Plötzlich hatte auch die Botin einen Dolch in der Hand. Die Spitze der Waffe deutete auf seine Nase. »Wir kommen nun zum Ende. Es ist deine Entscheidung, ob dieses Schwein als Nächstes deine Eingeweide frisst oder sich mit Küchenabfällen begnügen muss. So oder so werde ich diese Gasse mit deinen Diamanten verlassen.«

»Edelsteine«, sagte Abdul entschieden. »Es sind Edelsteine. Das ist die korrekte Bezeichnung, wenngleich auch ein paar Diamanten dabei sind. Es gibt aber auch Rubine und Smaragde sowie …«

Die Dolchspitze berührte seine Nase. »Ich glaube, das ist ein ganz schlechter Augenblick zum Klugscheißen.«

»Ähm … Gewiss …« Abdul tastete unter seinem Kaftan nach dem Gürtel, an dem das kleine Säckchen mit den Edelsteinen hing. »Könnten wir vielleicht nicht … Ich meine, ich bin ein reicher Mann. Wenn ich meine Nichte wiederbekomme, würde ich mich …«

»Schwätz nicht!«

»Aber du könntest … Wie heißt du eigentlich? Du könntest wirklich sehr viel mehr gewinnen, wenn du …«

»Ich bin Esmeralda, die Schwätzer nicht leiden kann.« Die Spitze der Klinge schnitt in seine Nase.

Der scharfe Schmerz trieb Abdul die Tränen in die Augen. Er war nicht gut darin, spontan Zauber zu wirken. Invocationen, große Magie, die viel Zeit beanspruchte, war sein Fachgebiet, oder aber Zauber, die es ihm erlaubten, alte Sprachen zu verstehen. Nicht sonderlich hilfreich.

Er wich ein Stück vor der Klinge zurück.

»Selime wird verloren sein, wenn du die Edelsteine nimmst«, erklärte er und kämpfte gegen die Tränen an. »Bitte, du kannst doch nicht so gnadenlos sein! Sie ist noch ein …«

»Ich bin nicht gnadenlos. Noch nicht. Alondro!«

Wie aus dem Nichts erwuchs eine Gestalt aus den Schatten und trat mit gezücktem Dolch hinter Jamilah. Ein ungewöhnlich großer, hagerer Kerl, dessen Gesicht im Dunkel der Gasse nur eine Silhouette blieb.

»Du verkennst die Lage, alter Mann. Ich bin gnädig. Ich lasse euch beide mit dem Leben davonkommen. Und nun her mit den Diamanten, oder du wirst noch eine weitere Nichte verlieren!«

Mit Sorge sah Abdul, dass Jamilah eine Hand unter dem Umhang verborgen hielt. Wahrscheinlich glaubte sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn, dass sie diesem Abschaum der Gosse gewachsen sei. Wenn sie ihren Dolch zog, war sie tot. Er konnte es sich nicht leisten, noch länger zu verhandeln.

Er hob beide Hände hoch über den Kopf. »Ich ergebe mich dem Unausweichlichen«, sagte er bedrückt. Er fand keinen Gefallen an dem, was nun geschehen würde, aber er hatte in seinem Leben noch nie gezögert, sich dem Unausweichlichen zu stellen.

Alondro gab einen röchelnden Laut von sich und brach in die Knie.

Als Esmeralda nach ihrem Gefährten sah, traf ein Armbrustbolzen ihre linke Hand. Sie keuchte auf. Ihr Dolch fiel zu Boden und mit ihm ein Finger, den das Geschoss abgetrennt hatte.

Abdul setzte einen Fuß auf die Waffe. »Hast du wirklich geglaubt, dass ich einer wie dir in den Schlund folgen würde, ohne vorbereitet zu sein?«

»Du …« Die Botin griff mit der Linken nach einem zweiten Dolch in ihrem Gürtel.

Abdul schüttelte den Kopf. »Mach keine Dummheiten. Mein Schütze dort oben in der Ruine hat inzwischen nachgeladen. Er hat mir einmal erzählt, dass man das Weiße im Auge auf so kurze Entfernung selbst bei Nacht erstaunlich gut sehen kann. Möchtest du wirklich herausfinden, wohin sein nächster Schuss zielt?«

Esmeralda ließ die Hand sinken. Sie atmete heftig, versuchte, gegen den Schmerz in ihrer Hand anzukämpfen.

»Oheim …« Jamilah wirkte erstaunlich gefasst für eine junge Frau, die gerade erst mit einem Dolch bedroht worden war. »Du hast die ganze Zeit gewusst, dass diese Schlampe uns bestehlen will?«

Er zuckte mit den Achseln. »Weiß man, dass ein Sandsturm kommen wird, wenn Staub über der gesamten Breite des Horizonts steht?«

Hinter seiner Nichte zeigte sich eine weitere Gestalt in der Gasse. Sie bückte sich und zog Alondro den Dolch aus dem Rücken, der seinem Leben ein Ende gesetzt hatte.

»Wer ist das?«

Jamilah wich erschrocken zurück.

»Willst du das wirklich wissen, meine Liebe?«

»Nach allem, was passiert ist? Natürlich!«

Die Meuchlerin wischte ihren Dolch am Gewand des Toten ab und sah abwartend zu Abdul. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, auch wenn er seiner Nichte gern jeden Wunsch erfüllte. »Wo wolltest du dich mit Fausto treffen, Esmeralda?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich das sage, bin ich tot, nicht wahr? Und wenn ich die Namen deiner Meuchler höre auch …«

»Wir wissen, wo er wohnt«, ertönte eine warme, tiefe Frauenstimme hinter Jamilah.

»Er wird niemals reden!«, rief ihre Botin mit sich überschlagender Stimme. »Er ist vom alten Schlag. Aber ich … ich kann dir eine Menge verraten. Er hat herausgefunden, wo deine Tochter ist.«

»Du meinst meine Nichte.«

Sie nickte. »Ja, ja! Natürlich, deine Nichte …«

»Wir wissen, wo er wohnt.« Die Meuchlerin erhob sich. Ihr schmales, dunkles Antlitz war im Mondlicht zu sehen.

Erschrocken wandte sich Esmeralda ab und hob die Hände vors Gesicht. »Du wirst mich brauchen«, stammelte sie. »Fausto schreibt nichts auf. Alle wichtigen Dinge hat er im Kopf. Und er redet nicht. Aber mir würde er vielleicht verraten, wo deine Nichte ist.«

»Er hat eine Frau und zwei Töchter«, erklärte die Meuchlerin trocken.

»Er ist ein übler Kerl«, jammerte Esmeralda. Sie warf sich vor ihm auf die Knie und hob bittend die Hände. »Er wird nicht reden, egal, was ihr mit den Kindern macht. Ihr kennt ihn nicht. Und ich …« Sie schluchzte. »Ich hätte euch auch nichts getan. Ehrlich. Wir wollten euch nur bestehlen. Nur die Diamanten … Kein Blut. Wirklich …«

Abdul tastete nach seiner schmerzenden Nase. Es würde dauern, bis der Schnitt ausheilte. Er sah zu dem Eber, der am Ende der Gasse reglos über dem Toten stand, der sein Abendmahl war. Das Biest behielt sie im Blick, bereit, seinen Fraß zu verteidigen. Dies hier war zweifellos ein Ort, an den man nur kam, wenn man Finsteres im Schilde führte.

»Du willst die Namen unserer Helfer wissen?«, fragte Abdul. Er war leicht verärgert darüber, dass Esmeralda so bettelte. Sie kam aus Al’Anfa. Sie war tief in dieses Spiel hier verwickelt. Sie hatte gewusst, was die Verlierer erwartete.

»Ja, ich will sie wissen«, entgegnete seine Nichte, und Abdul las in ihren Augen, dass sie sich sehr wohl bewusst war, was dies bedeutete. Sie wollte ihre Rache.

Abdul nickte.

»Ich heiße Saranja«, sagte die tiefe Frauenstimme.

»Bitte, du …« Ein Armbrustbolzen traf Esmeralda dicht unter dem linken Auge, nah bei der Nase. Die Wucht des Geschosses riss sie nach hinten. Sie war sofort tot.

»Ich bin Kamillio«, sagte eine zweite Stimme über ihnen in den Ruinen des verfallenen Hauses.

Abdul betrachtete die schmale, schmutzige Hand, die auf seinem Stiefel ruhte. Esmeralda hatte gewusst, dass diese Art nächtlicher Geschäfte allzu oft ein blutiges Ende nahm. Sie hatte nicht wirklich eine Wahl gehabt. Aber Fausto! Er hätte ein reicher Mann werden können, doch seine Gier nach noch mehr Schätzen hatte alles verdorben.