Dragon Lords – Das Gold der Narren - Jon Hollins - E-Book

Dragon Lords – Das Gold der Narren E-Book

Jon Hollins

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Beschreibung

Spätestens seit Der Hobbit weiß jeder, dass Drachen schlechte Herrscher sind, die den ganzen Tag auf ihrem Goldschatz sitzen, die Steuern erhöhen und ihren Untertanen das Vieh von der Weide fressen. Das bekommt auch der arme, aber unbescholtene Bauer Will Fallow zu spüren, als eines Tages die Soldaten des Drachenkönigs Mattrax auf seiner Schwelle stehen, um ihn wegen Steuerhinterziehung in den Schuldturm zu werfen. In letzter Sekunde gelingt es Will, in die nahe gelegenen Wälder zu fliehen, wo er einer kleinen Gruppe von Rebellen begegnet. Gemeinsam ziehen sie nun gegen die Drachen in den Kampf, um sich ihr Gold zurückzuholen...

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Seitenzahl: 720

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Das Buch

Drachen sind schlechte Herrscher, das ist im ganzen Land bekannt: Sie sitzen den ganzen Tag auf ihrem Goldschatz, fressen ihren Untertanen das Vieh von der Weide weg und erhöhen ständig die Steuern – der Goldschatz muss schließlich größer werden. Das bekommt auch der unbescholtene Bauer Will Fallows zu spüren, als eines Abends die Soldaten des Drachenkönigs Mattrax an die Tür seiner Hütte hämmern, um ihn wegen Steuerschulden ins Gefängnis zu werfen. Wie durch ein Wunder gelingt es Will, die Landsknechte zu überlisten und in die nahe gelegenen Wälder zu fliehen. Dort will er sich eigentlich nur verstecken, bis die Luft wieder rein ist, doch dann begegnet er in einer verborgenen Höhle der Söldnerin Lette und dem gewaltigen Echsenmenschen Balur sowie seinem alten, verschollen geglaubten Knecht Firkin. Gemeinsam beschließen sie, dem Drachenkönig den Kampf anzusagen, und das größte Abenteuer ihres Lebens beginnt …

Der Autor

Jon Hollins wurde in England geboren, und die Begeisterung für Fantasy und Science-Fiction begleitet ihn schon sein ganzes Leben lang. Inzwischen lebt der Autor mit seiner Familie auf Long Island.

JONHOLLINS

DRAGONLORDS

Roman

Aus dem Englischenübersetzt von Oliver Plaschka

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

FOOL’S GOLD– THEDRAGONLORDS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 07/2017

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2016 by Jonathan Wood

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Karte © 2016 by Tim Paul

Umschlagillustration: Melanie Korte

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20486-0V001

www.heyne.de

Für Tami, Charlie und Emma

»Oh! Eine Feuermuse …«

– Heinrich V.

William Shakespeare

Manchmal klappt es

1

Will

Es war ein Kampf, so alt wie die Zeit. Eine Geschichte, die man sich erzählte, seit weiland das Pantheon dem Menschen in seiner Lehmgrube erstmals Leben einhauchte und ihn hinab auf die Erde setzte. Es war die Geschichte vom Kampf des Unzähmbaren gegen seinen Herrn. Von der Wildnis, die die Mauern der Zivilisation einriss. Es hieß Mensch gegen Monster.

Will setzte jeden seiner Schritte mit Bedacht, achtete auf einen tiefen Schwerpunkt. Langsam lief er einen Kreis. Kalter Schlamm zog an seinen Füßen. Schweiß rann die Falte zwischen seinen Brauen herab. Zoll für Zoll rückte er näher.

Das Schwein Bessie grunzte ihn an.

»Fünf Scheks, dass er auf den Arsch fällt«, sagte Albor, einer von Wills beiden Knechten. Sein Bauch, den Albor auf den wackligen Zaun des Stalles stützte, entblößte einen haarigen Streifen – deutlich haariger als das Kinn, an dem er sich beständig kratzte. Albors Frau hatte das nahe Dorf gerade für ein paar Monate verlassen, um ihrer Schwester mit deren kleinem Kind zu helfen. Und nun ließ er seit drei Tagen den Bart, den sie so hasste, wachsen.

»Ich sage, er landet auf seinem Gesicht«, hielt Dunstan, Wills anderer Knecht, dagegen. Beide Männer gaben geradezu Anlass zu einer Studie über Gegensätze. Wo bei Albor ein dicker Bierbauch schwabbelte, hatte sich Dunstan den breiten Ledergürtel schon zweimal um die Hüfte geschlungen, und er war ihm immer noch zu groß. Seine schmalen Züge verschwanden fast hinter einer dicken Wolke aus Gesichtsbehaarung, die seine Frau über alles liebte. Sie flocht ihm sogar Zöpfe und Schleifen hinein.

»Die Wette gilt.« Albor spuckte sich in die schmutzige Hand und hielt sie Dunstan hin.

Will kümmerten gerade weder Bärte noch Frauen. Ihn interessierte einzig die vermaledeite, preisgekrönte Sau seines Vaters – Bessie. In diesem Stall spielte sie jetzt seit einer halben Stunde seine Tanzpartnerin. Er war schon dermaßen mit Schlamm besudelt, dass er praktisch unsichtbar wäre, würde er sich auf den Boden legen. Flüchtig zog er dies als einen neuen Schlachtplan in Betracht, doch das konnte ebenso gut damit enden, dass das Schwein zum krönenden Abschluss noch auf ihn schiss. Bessies Blick verriet jedenfalls ihre Gerissenheit. Trotzdem – sie war alt, und er war jung. Früher oder später würde rohe Gewalt obsiegen.

Er pirschte sich einen weiteren Zoll heran.

Bessies Augen verengten sich zu Schlitzen.

Noch einen Zoll.

Da quietschte Bessie, und jetzt griff sie an. Will warf sich ihr mit dem Kopf voran entgegen. Seine Hände trafen hart auf ihre Flanken.

Bessie flutschte durch seine schlammverschmierten Finger und rammte ihr ganzes, nicht unbeträchtliches Gewicht gegen seine Beine. Die Welt vollführte eine weite Rolle um ihn herum, und dann schlug sie Will ins Gesicht.

Er spuckte Matsch und kam gerade rechtzeitig wieder auf die Beine, um Dunstan sagen zu hören: »Du schuldest mir fünf Scheks.«

Bessie stand nonchalant hinter ihm und strahlte eine fast schon beleidigende Ruhe aus.

Will fühlte sich in seinem Vorsatz nur bestärkt: Bessie musste sterben. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf das Schwein. Es bockte wie wild; dennoch bekam er mit der Hand einen knochigen Schweinefuß zu fassen und zog mit aller Kraft daran.

Bessie aber lebte bereits länger auf dem Hof als Will. Sie hatte strenge Winter, schwierige Geburten und mehrere schlimme Seuchen überstanden, und nun war sie fest entschlossen, auch ihn zu überleben. Ältlich oder nicht – sie ließ nicht zu, dass ihr Bein unter Wills Gezerre einknickte. Stattdessen schleifte sie ihn einfach durch den Matsch. Nach mehreren Runden schien er erledigt. Damit er seine Lektion aber auch wirklich lernte, trat sie ihm mit dem anderen Huf noch an die Stirn, und dann ließ sie ihn liegen.

»Ich glaube, diesmal hättest du sie beinahe erwischt«, rief Albor in einem Ton, den man mit viel gutem Willen als ermutigend hätte bezeichnen können.

Will gab keine Antwort. Mittlerweile stand nicht weniger als seine Ehre auf dem Spiel. Gleichzeitig gab es eine Grenze dafür, wie viel Schlamm man schlucken konnte. Er raffte sich auf, stützte sich am Zaun ab und erwog abermals seine Möglichkeiten.

Dunstan klopfte ihm auf die Schulter, während Bessies Blick unheilvoll auf ihm ruhte.

»Sie ist einfach zu stark für mich«, sagte Will, sobald er wieder zu Atem kam.

»Wobei du das über die meisten Mädchen sagst«, merkte Albor an.

»Ich muss sie überlisten.«

»Das sagst du auch immer«, warf Dunstan ein.

»Bloß dass es meistens nicht gelingt.« Albor kaute weise auf einem Strohhalm.

»Danke für den guten Rat.« Will riss der Geduldsfaden. »Aber die gequirlte Scheiße könnt ihr euch sparen! Dieses Schwein wird zu Knusperspeck verarbeitet – und wenn ihr sonst nichts beizutragen habt, dürft ihr wieder in den Garten gehen und Äpfel pflücken.«

Eine Weile war das einzige Geräusch Bessies lautstarkes Furzen in der Ecke des Stalls.

Über den Männern zogen dünne Wolken durch einen blassblauen Himmel. Die fernen Berge lagen in ein diesiges Violett gehüllt und wirkten beinahe durchsichtig.

Will entspannte sich. Nichts von alledem war Albors oder Dunstans Schuld, selbst wenn sie Bessie nicht zur Schlachtbank schleppen wollten. Ehrlich gesagt – und mehr denn je nach all der Quälerei – wollte auch er das nicht. Solange er denken konnte, hatte Bessie zu diesem Hof gehört. Sein Vater hatte ihn auf ihren Rücken gesetzt und ihn unter lautem Johlen durch den Stall reiten lassen, während seine Mutter missbilligend mit der Zunge geschnalzt hatte. Dunstan und Albor hatten ihn angefeuert, selbst der alte Firkin war dabei gewesen.

Doch nun lagen Wills Eltern viel zu früh in ihren Gräbern, und Firkin hatte den Verstand verloren. Bessie war alt und würde nicht mehr ferkeln. Und Will war wider Willen der Besitzer eines Hofs, der am Rande des Ruins dahindümpelte.

»Ich möchte ja genauso wenig wie ihr, dass Bessie stirbt«, sagte er etwas ruhiger. »Aber mir fällt nicht mehr viel ein. Das Konsortium hat wieder die Steuern erhöht, und meine Kasse ist leer. Wenn ich überhaupt noch ein weiteres Jahr überstehen will, muss ich sie schlachten und das Fleisch so gewinnbringend verkaufen wie möglich. Nächsten Winter wird sie blind und lahm sein. Ich tu ihr bloß einen Gefallen.«

Wieder Schweigen.

»Kannst du nicht noch etwas warten?«, fragte Albor, den Strohhalm schlapp in seinem Mundwinkel. »Ihr ein letztes gutes Jahr geben?«

Will seufzte. »Wenn ich das tue, wird niemand mehr hier sein, um sie zu schlachten. Dieser ganze Hof fällt ans Konsortium, ich sitze im Schuldturm – und ihr zwei hockt in Cornwalls alter Taverne ohne einen Schek für Bier.«

Bei dieser Drohung schauten die beiden Knechte einander an. Schließlich zuckte Dunstan die Schultern. »Konnte das Drecksvieh ohnehin noch nie leiden.«

Albor erwiderte das traurige Grinsen.

»Klingt doch schon besser«, sagte Will. »Dann wollen wir mal sehen, ob drei erwachsene Männer nicht ein altersschwaches Schwein austricksen können.«

Langsam und unter Schmerzen hinkten Will, Albor und Dunstan zum Haus zurück. Albor rieb sich eine bös gequetschte Hüfte. Dunstan wrang sich das Schlammwasser aus dem triefnassen, verfilzten Bart.

»Macht euch nichts draus«, sagte Will. »Morgen kriegen wir sie!«

Später am Abend, nachdem sie die anderen Tiere in den Stall gebracht und frisches Stroh ausgestreut hatten, wärmte sich Will im Haus einen Eintopf auf. Zwischen den Gemüsestücken in dem schweren Eisentopf trieben verdrießlich ein paar Streifen Hühnchenfleisch.

Den Hühnern hatte er nie einen Namen gegeben. So war es leichter.

Seufzend sah er dem Eintopf beim Köcheln zu. Er sollte wirklich nach den Käsepressen schauen oder die letzten Reste aus dem Butterfass kratzen, bevor sie schlecht wurden. Vielleicht konnte er auch noch einmal seine Bücher durchgehen und herausfinden, wie viel Geld genau er wem eigentlich schuldete. Stattdessen starrte er bloß vor sich hin. Die Nächte auf dem Hof waren lang. Es waren fünf Meilen über Felder und durch Wälder bis ins Dorf. Als Kind war ihm die Strecke nie weit vorgekommen. Damals waren aber seine Eltern noch am Leben gewesen, und Dunstan und Albor und sogar Firkin waren häufig zum Essen geblieben und hatten das Haus bis spät in die Nacht mit Gelächter, Witzen und Fiedelklang erfüllt. Die häuslichen Verrichtungen hatten sich nie richtig wie Arbeit angefühlt, und mit dem Feuer den ganzen großen Raum zu heizen war nicht wie Verschwendung erschienen.

Der Schein der Flammen flackerte auf den schweren Holzschränken und dem dicken Eichentisch. Will versuchte, die Schatten des Tages zu vergessen. Vielleicht warf Bessie ja doch noch einmal. Dann sollte er ihr wirklich ein weiteres Jahr geben. Ein guter Wurf könnte genug Geld einbringen. Zumindest, wenn die Steuern nicht weiter erhöht wurden. Und er konnte versuchen, hier und da vielleicht noch etwas zu sparen. Möglicherweise ein paar Stühle verkaufen. Es war ja nicht so, dass er mehr als einen brauchte …

Ja klar – das wäre ganz bestimmt möglich. Und Lall oder ein anderes Mitglied des Pantheons würde sich in dem heruntergekommenen alten Tempel des Dorfes manifestieren und sie alle mit Gold überschütten. Das würde passieren …

Seine zähflüssigen Gedanken wurden abrupt von einem lauten Klopfen an der Tür unterbrochen. Er schreckte auf und starrte die schweren Eichenbretter an. Draußen fiel der Regen und trommelte rhythmisch mal lauter, mal leiser auf das Strohdach über seinem Kopf. Es dauerte über eine Stunde, um bis ins Dorf zu kommen. Wer nahm einen solchen Weg zu dieser Tageszeit noch auf sich?

Er hatte das Geräusch schon fast als losen Ast abgetan, den der Wind über den Hof geweht hatte, als es abermals klopfte. Präzise und so kräftig, dass der Türriegel klapperte. Wenn das wirklich ein Ast war, dann war er ganz schön hartnäckig.

Er nahm den Eintopf vom Feuer, ging rasch zur Tür, entfernte den Riegel und öffnete sein Heim einer kalten und tosenden Nacht.

Vier Soldaten standen auf seiner Schwelle. Ihre schmalen Augen starrten ihm aus den Schatten ihrer Helme entgegen. Von den Helmen tropfte ihnen der Regen auf die langen Nasen. Schwerter hingen schwer an breiten Gürteln, und auf jeden Knauf waren zwei ledrige Schwingen geprägt – das Zeichen des Drachenkonsortiums. Die nassen Waffenröcke über den schweren Kettenhemden trugen dieselben Insignien.

Das waren keineswegs kleine Männer. Ihre Gesichter wirkten auch nicht freundlich. Will konnte es zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, aber sie wiesen eine frappierende Ähnlichkeit zu jenen vier Soldaten auf, die große Teile des Geldes mitgenommen hatten, das er sich für den Winter zurückgelegt hatte.

»Kann ich Euch helfen?«, fragte Will so höflich wie möglich. Er wollte es auf keinen Fall versäumen, ihnen in jeder erdenklichen Weise behilflich zu sein.

»Du kannst dich hier mal aus der Tür verpissen, damit meine Männer und ich aus diesem gottverfluchten Regen kommen«, sagte der Anführer. Er war noch größer als die anderen, mit einer riesigen stumpfen Nase, die aussah, als hätte sie in seiner Kindheit wiederholt Bekanntschaft mit einer Bratpfanne gemacht. Wenn er redete, pfiff sie leise mit.

»Natürlich.« Will trat beiseite. Obgleich er wenig Liebe für die Garde des Drachenkonsortiums empfand, war der Gedanke an eine Tracht Prügel noch weniger reizvoll.

Umständlich, behindert vom Gewicht der nassen Rüstungen, kamen die vier Soldaten hereingetrampelt. »Besten Dank«, sagte der letzte mit einem Nicken. Er hatte ein freundlicheres Gesicht als die übrigen. Der Anführer verdrehte bei den Worten die Augen.

Dann standen sie vor Wills kleinem Feuer und begutachteten sein Zuhause mit Gesichtern, die stark nach Geringschätzung aussahen. Große braune Fußstapfen markierten ihren Weg von der Tür hierher. Die vierte Wache bemerkte es ebenfalls und zuckte entschuldigend die Schultern.

Eine Weile standen sie alle still da. Will weigerte sich, die tröstlich feste Tür loszulassen – Holz, das sein Vater vor seiner Geburt gefällt und behauen hatte. Wenn er die Soldaten am Feuer nur ansah, knüpfte sein Magen mehr Knoten als ein Fischer mit einer Zwangsneurose.

Schließlich marschierte er an ihnen vorbei zum Tisch und schöpfte sich Eintopf in eine große, etwas unförmige Schüssel. Zwar war ihm inzwischen der Hunger vergangen, aber so hatte er wenigstens etwas zu tun. Die Soldaten würden schon zum Geschäftlichen kommen – ob mit oder ohne seine Hilfe.

Während er schöpfte, nestelte der Anführer an einer Ledertasche an seiner Seite.

»Nett hast du’s hier«, sagte der Vierte, dem die Stille peinlicher zu sein schien als dem Rest.

»Danke schön«, erwiderte Will so gelassen wie möglich. »Meine Eltern haben das Haus gebaut.«

»Sag ich meiner Frau doch ständig, dass wir uns auch so was zulegen sollten«, fuhr der Gardist fort. »Aber der Gedanke an ein Leben auf dem Land liegt ihr nicht. Ist gern ganz nah an allem dran. Womit sie vor allem den Alchemisten meint. Besorgt sich immer viel vom Alchemisten. Sehr gesunde Frau. Hat ständig ein paar Ergänzungen für meinen Speiseplan.« Er klopfte sich den scheppernden Bauch, der Panzerhandschuh schlug auf die Kette. »Scheint nur nichts zu nützen.« Sein Blick ging in die Ferne. »Natürlich meint mein Bruder, die vielen Drogen hätten ihr den Kopf vernebelt und sie würde mir Hörner aufsetzen, aber er war immer schon ein bisschen schwarzseherisch.«

Der Gardist bemerkte, dass alle ihn anstarrten.

»Oh«, sagte er. »Tut mir leid. Natürlich hat nichts davon mit dem Grund unseres Besuchs zu tun. Wollte bloß, na ja, du weißt schon …« Er welkte unter dem starren Blick seines Vorgesetzten dahin.

Dieser hatte inzwischen ein braunes Pergament aus seiner Tasche gefischt. Dann richtete er denselben einschüchternden Blick, mit dem er gerade seinen Untergebenen bedacht hatte, auf Will.

»Bist du Willett Altior Fallows, Sohn von Mickel Betterra Fallows, Sohn von Theorn Pentauk Fallows, und der gegenwärtige Eigentümer dieses Hofs?« Er war kein geborener Sprecher und stolperte über die meisten Wörter. Doch seinen Hohn vergaß er keine Sekunde.

Will nickte. »So hat mir das meine Mutter zumindest immer erklärt.« Der vierte Soldat prustete kurz, dann wurde er sich wieder der Blicke der anderen bewusst und ertränkte seinen Frohsinn wie ein Kind in einem Brunnen.

Im Gegensatz dazu verlor der Anführer keine Sekunde die Fassung. Fast glaubte Will einen kleinen Funken zu sehen, als der Witz an der steinernen Fassade seines Gleichmuts zerschellte. Er wirkte wie jemand, der seinen Rang allein durch die Kraft seiner Fantasielosigkeit erreicht hatte – die Sorte Mensch, die blind, beharrlich und ohne Gewissensbisse ihren Befehlen folgte.

»Der Drache Mattrax und damit das Drachenkonsortium als Ganzes«, las der Offizier auf dieselbe gespreizte Art weiter vor, »sehen in der mangelhaften Erfüllung deiner diesjährigen Steuerpflicht einen schwerwiegenden Angriff auf ihren gottgleichen Stand und ihre Ehre. Daher wirst du …«

»Einen Augenblick.« Will war erstarrt, die Schöpfkelle hielt er so fest in der Hand, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Meine mangelhafte was?«

Schon bei den ersten Worten hatte sich sein Magen einem feigen Kapitän gleich mit selbstmörderischem Hechtsprung aus der Verantwortung gestohlen. In der Folge hatte er eine tiefe Ruhe verspürt; eine Leere in seinen Gefühlen, als wären sie von einem großen und schrecklichen Wind verweht worden, der das ganze Land verheerte und Krähen wie Belagerungsmaschinen vor sich hersandte.

Doch als der Soldat zum Ende kam, loderte ein Zorn in ihm, den er kaum fassen konnte. Er hatte sich stets für einen friedliebenden Menschen gehalten. Mit seinen achtundzwanzig Jahren war er bislang in genau drei Kämpfe verstrickt gewesen, von denen er bloß einen selbst angefangen hatte – und in keinem hatte er mehr als einen einzigen Treffer gelandet. Nun aber formte sich aus dem Nichts eine infernalische Wut in seinen Eingeweiden, als hätte sie ein mächtiger, auf den Verdauungstrakt beschränkter Magier heraufbeschworen.

»Meine Steuerpflicht?«, brachte er hervor. Er kämpfte gegen den wachsenden Drang an, dem Soldaten den Schöpflöffel so tief in den Hals zu rammen, dass er ihm damit die Eier ausschaben konnte. »Euer hochwohlverfickter Mattrax hat mir schon jeden Schek genommen – und diesem Hof jede Aussicht auf eine Zukunft. Und nie habe ich mich über seine Gier beschwert. Stattdessen habe ich euch jeden Kupferschek, jeden Silberdrach, jeden Goldbullen meines Erbes überlassen.«

Er schäumte vor Wut, wie er dastand und den hageren, unbeeindruckten Anführer niederstarrte.

»Weiß du was?«, meldete sich der vierte Soldat zu Wort, den Will am Rande des Geschehens fast vergessen hatte. »Wahrscheinlich war es nur ein Buchungsfehler. Es fallen einfach so unfassbar viele Leute in Mattrax’ Bereich, da passiert es jedes Jahr, dass ein paar Leute nicht abgehakt werden. Ist wahrscheinlich unvermeidlich bei der ganzen Bürokratie.«

Will und der Offizier richteten beide hasserfüllte Blicke auf den Soldaten.

»Dann hakt meinen verdammten Namen doch einfach ab.« Wills Stimme knisterte wie Feuer.

»Oh.« Der Tonfall des Soldaten drückte tiefstes Bedauern aus. »Leider können wir das nicht. Fällt nicht in unsere Zuständigkeit. Ich meine, du kannst schon Widerspruch einlegen, aber erst musst du die Steuer ein zweites Mal bezahlen – danach darfst du widersprechen.«

»Ein zweites Mal?« Der ganze Raum verschwamm vor seinen Augen, und Will befiel das Gefühl, als geschehe all dies nicht wirklich. »Ich kann diese Scheißsteuer kein zweites Mal zahlen. Niemand kann sich das leisten. Das ist doch verrückt.«

»Allerdings«, stimmte die Wache traurig zu. »Ist kein sehr gerechtes System.«

Will kam es so vor, als hätten sich die Ecken des Raums von der Wirklichkeit losgelöst; als drohte jeden Moment alles dahinzuwelken, zu Staub zu zerfallen und ihn allein in einem schwarzen Nichts des Wahnsinns zurückzulassen.

»Willett Altior Fallows«, intonierte der Anführer mit einem Maß an Gefühlskälte, das nur durch jahrelange, hart verdiente Abstumpfung zu erreichen war. »Zur Begleichung deiner Steuerschuld entbinde ich dich hiermit deines sämtlichen Besitzes. Du sollst auf direktem Weg in den Schuldturm gebracht werden.«

»Ach Mist, der Schuldturm!« Die vierte Wache schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Den hatte ich ja ganz vergessen. Denn weißt du«, fügte er mit einem Nicken hinzu, »es ist ja nicht so, als ob du dem Beschluss widersprechen könntest, solange du im Gefängnis sitzt. Niemand wird dich da besuchen, um dich anzuhören. Aber wenn sie dich wieder rauslassen – dann kannst du natürlich Widerspruch einlegen. Ich glaube, die Warteliste ist zurzeit bloß vier oder fünf Jahre lang. Wobei ich ehrlich gesagt erwartet hätte, dass sie kürzer ist, wenn man sich die ziemlich hohe Sterberate der Turminsassen ansieht …« Er stockte. »Schätze, das hilft jetzt auch keinem, oder?«, fragte er die Allgemeinheit.

Will konnte ihn ohnehin kaum noch hören. Das durfte doch alles nicht wahr sein. All seine sorgfältig erstellten Finanzpläne, seine Vorsätze für die Zukunft … Jeder einzelne war zerstört, unter den Absätzen der Inkompetenz und des Geizes zertrampelt worden, bis nur noch Zunder für seinen Zorn übrig blieb. Die Wut drohte ihn zu verschlingen, erfüllte seine Ohren und färbte sein Gesichtsfeld rot.

Er wollte etwas sagen, doch es drang nur ein unartikuliertes Gurgeln aus seinem Mund.

»Legt ihn in Ketten«, befahl der Anführer.

Da zerbrach etwas in Will. Auf einmal war die Schüssel Eintopf in seiner Hand. Mit voller Wucht schwang er sie dem Anführer ins Gesicht, wo sie mit einem befriedigenden Krachen auf seiner Nase zerbarst. Die Scherben zogen Striemen über sein Gesicht. Will hatte diese Schüssel als Kind getöpfert – einfache Daumendrucktechnik, ein Geschenk für seine Mutter. Eigentlich hätte es eine Vase werden sollen, aber er war noch zu jung gewesen, um zu wissen, wie eine Vase eigentlich aussah. Als seine Mutter das erste Mal daraus gegessen hatte, war ihm fast das Herz übergegangen. Und nun war die Schüssel verloren. Zusammen mit allem anderen.

Laut schreiend taumelte der Anführer zurück. Will achtete nicht weiter darauf, sondern griff nach dem Eisentopf, der von der Feuerglut noch glühend heiß war.

Ein Soldat schlug nach ihm. Die stahlumhüllte Faust traf den Topf und verschüttete dessen Inhalt.

Will hörte das Schaben von Stahl auf Leder; Schwerter, die aus ihren Scheiden fuhren.

Er schwang die Kelle in engem Bogen … einem vorspringenden Soldaten ins Gesicht. Der Mann taumelte beiseite. Dann fand sich Will dem vierten Soldaten plötzlich direkt gegenüber. Dessen Augen waren vor Schreck geweitet. Er stieß mit der Schöpfkelle zu und traf den Mann direkt am Hals. Würgend fiel der Gardist zu Boden, eine Mischung aus Überraschung und Schmerz im Gesicht.

Und dann schlug das Schwert des letzten Soldaten Will die Kelle aus der Hand, sodass sie über den Boden schlitterte.

Ohne weitere Küchenutensilien zu seiner Verteidigung musste Will überdenken, was er nun noch tun konnte. Der Anführer kam schon wieder zähnefletschend auf die Beine. Seine rote, verbrühte Haut blutete an mehreren Stellen. Der vierte Soldat schnappte immer noch nach Luft, doch die anderen beiden hatten ihre Schwerter gezogen und drangen auf ihn ein.

Da jede andere Strategie zu einer raschen und tödlichen Perforation zu führen drohte, zog sich Will lieber zurück.

»Fraglich, ob du’s bis ins Gefängnis schaffen wirst«, sagte ein Gardist grinsend.

Sein Kompagnon rückte wortlos vor, bereit zum Angriff, die Augen lugten schmal unter den dunklen Brauen hervor.

Will sah sich um. Leider war es seiner Mutter immer besonders wichtig gewesen, den Hof vor der Tür zu lassen – und da sich solche Gewohnheiten schwer ablegen ließen, fand sich keine Sense, kein Beil, nicht einmal eine Schaufel in Reichweite. Er rutschte mit dem Fuß in einer der Schlammpfützen aus, die die Soldaten auf dem Steinboden hinterlassen hatten. Der grinsende Gardist kam einen weiteren Schritt näher.

»Jetzt trödelt nicht länger und bringt den kleinen Scheißer endlich um«, knurrte der verbrühte Anführer.

Diese Worte gaben den Ausschlag. Will erwachte aus seiner Starre, kurz bevor die Gardisten ihn erwischten. Er riss die Küchentür auf, hörte das Schwirren von Stahl in der Luft, wartete auf den Schmerz und stellte fest, dass er ausblieb, als seine Füße ihn über die Schwelle und hinaus in die Nacht trugen.

Er ließ das warme gelbe Licht hinter sich und stürzte so schnell er konnte zum Stall. Dort gab es sicher etwas, womit er sich zur Wehr setzen konnte. Einen Weg, das alles zu beenden. Es musste einfach einen Weg geben …

»Schnappt euch den kleinen Drecksack!« Der keuchende Zorn des verletzten Anführers folgte ihm auf dem Fuß.

»Er hat mich geschlagen!« Das verdutzte Plappern des Vierten.

»Ich werd euch auch schlagen, wenn ihr mir nicht seine Milz serviert!«

Die anderen Soldaten hatten sich ihm schon an die Fersen geheftet. Der Regen prasselte auf ihn ein. Will prallte gegen die Stalltür und taumelte zurück, ein scharfer Schmerz in seiner Schulter und seinen Händen. Er tastete nach der Tür, riss sie auf. Gerade, als er hindurchstürzte, bohrte sich ein Schwert in den Rahmen. Ein Gardist grunzte enttäuscht.

Innen umfingen ihn Schatten und der Geruch feuchten Strohs. Er konnte die Kühe schnaufen und stampfen hören, Ethel und Beatrinne. Außerdem das leise, schwerfällige Schnarchen der beiden Schafe, Atta und Petra. Fast fühlte sich das an wie sein Zuhause. Bloß dass die Soldaten hinter ihm eine schreckliche Verletzung darstellten – eine offene Wunde in allem, was ihm lieb und teuer war.

Verzweifelt sah er sich um, verwirrt vor lauter Panik. Eine Klinge – er brauchte eine Klinge. Die Sichel vielleicht …

»Fackelt es ab.« Die Worte waren kaum in sein Bewusstsein vorgedrungen, als er schon den Schlag eines Feuersteins hörte, gefolgt vom Flüstern und Fauchen einer entfachten Flamme. Gelbes Licht erhellte den Eingang. Er sah, wie die Fackel wirbelnd im Stroh zu liegen kam.

Er rannte darauf zu. Die Flammen rasten ihm entgegen. Verzweifelt versuchte er, sie auszutreten.

Die zweite Fackel traf ihn schwer an der Brust. Er stolperte zurück, schlug hektisch nach den Flammen, die schon an seiner Jacke leckten. In den wenigen Sekunden, die nötig waren, um sie zu löschen, flogen in hohem Bogen zwei weitere Fackeln in den Stall. Eine landete im Heuhaufen, der wie Zunder aufloderte. Will war nicht einmal die halbe Strecke gerannt, als der Rauch ihn bereits keuchen und husten ließ.

Die Kühe waren nun hellwach und merkten allmählich, dass es an der Zeit war, panisch zu werden. Draußen hörte er die Rufe der Wachen.

Dies war sein Zuhause. Das durfte nicht geschehen!

Doch offensichtlich geschah es.

Er hielt inne, blieb stehen, während Feuer und Rauch ihn umwehten und die Schreie verängstigter Tiere den Stall erfüllten. Erstarrt stand er zwischen der Zukunft, die er in Händen gehalten hatte, und den zerbrochenen Scherben der Vergangenheit zu seinen Füßen.

Etwas splitterte. Er schaute auf, fürchtete einen herabfallenden Balken. Dann ließ ihn der Klang jagender Hufe erkennen, dass es die Tür des Kuhverschlags war, die er schon seit über einem Monat hatte reparieren wollen. Als Nächstes traf ihn Ethels Schulter, als sie sich an ihm vorbei nach draußen drängte.

Blöde Kuh, dachte ein Teil von ihm. Wenn sie morgen wiederkommt, wird sie unausstehlich sein, weil sie nicht gemolken wurde und ihr der Euter schwer ist.

Nur dass es kein Morgen mehr geben würde. Nicht, wenn er hier nicht rauskam.

Er setzte sich wieder in Bewegung, suchte nach einer Richtung, die nicht von Soldaten und Schwertern versperrt war.

Zum ersten Mal war er dankbar dafür, dass ihn der Hof überforderte. Dass es morsche Bretter auf dem Heuboden gab, die er nie repariert hatte …

Er eilte zur Leiter und stieß im Vorübergehen die Tür zu den Schafen auf. Die Sprossen waren rau und ebenfalls etwas durchgeweicht. Dann kletterte er nach oben, wo die Rauchwolken ihn sogleich hustend in die Knie zwangen.

Auf allen vieren kroch er weiter, stieß mit dem Kopf gegen die Stalldecke, tastete sich an der Wand entlang, bis das Holz unter seinem Druck nachgab. Seine Lungen brannten. Er hielt sich fest, trat einmal, zweimal fest zu. Beim dritten Tritt gaben die Bretter nach. Mit dem vierten und fünften schuf er sich den nötigen Platz, zwängte sich hindurch und packte die Dachkante mit den Fingern.

Einen Augenblick lang baumelte er in der Dunkelheit, während der Rauch um ihn herum aus dem Dach wallte und ihm die Sicht nahm. Wie nahe an der Wand hatte er den Gemüsekarren abgestellt? Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein gebrochener Hals … Doch er hatte nicht die Zeit, um lange zu grübeln.

Blind um sich tretend fiel er durch die Luft.

Er landete auf der hölzernen Ladefläche des Karrens. Der Schmerz des Aufpralls durchfuhr ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Seine Zähne schlugen so hart aufeinander, dass ihm der Kiefer ächzte. Lichtflecken tanzten am nächtlichen Himmel.

Ein Ruf durchdrang den Morast seiner Gedanken. Ein Soldat hatte den Stall umrundet und ihn springen sehen. Er hatte keine Zeit, sich zu orientieren – er konnte jetzt nur losrennen. Also hielt er den Kopf unten und tat genau das.

Mitten aus dem Nichts sprang ihn ein Zaun an. Der Regen fiel nun immer heftiger, und das Holz war glitschig. Er purzelte darüber und in ein Weizenfeld. Die Halme, die ihm entgegenschlugen, waren hoch genug, ihn zu verbergen.

Ohne nachzudenken, stolperte er voran, einen Fuß vor den anderen, wollte einfach nur weg und ließ all seine Hoffnung hinter sich zurück.

Schließlich war es ein Baum, der seiner Flucht ein jähes Ende bereitete. Nicht willens, sich von diesen dahergelaufenen Narren oder Hysterikern alles bieten zu lassen, stellte ihm der Baum standhaft seinen Stamm in den Weg. Will ergriff die Gelegenheit, sich auf seine vier Buchstaben zu setzen und eine Weile einfach an gar nichts zu denken.

Irgendwann kam er wieder zu Sinnen. Aber nicht vollständig. Nicht genug, um die Ereignisse des Abends in ihrer Gänze zu erfassen. Doch reichte es, um zu erkennen, dass er sich im Regen verlaufen hatte und nach Hause zu gehen aus verschiedenen Gründen unmöglich geworden war.

Es folgte ein Moment des verwirrten und schmerzhaften Grübelns. Er hatte sein Zuhause verloren. Unwiederbringlich, das war nicht wiedergutzumachen. Der Gipfel der Pechsträhne, die mit Firkins Umnachtung begonnen und sich mit dem Tod seiner Eltern fortgesetzt hatte, war erreicht. Seine Zukunft war verloren, seine Träume ebenso. Keine Chance, den Hof noch einmal profitabel zu machen. Kein nettes Dorfmädchen, das sich eines Tages auf ihn einließ. Niemand, der das alte Haus nun noch mit Licht, Liebe und Liedern erfüllte. In einer einzigen Nacht hatte er seinen Vater und seine Mutter enttäuscht. Jede Aussicht darauf, die Hoffnungen, die sie in ihn gesetzt hatten, zu erfüllen, war ihm geraubt worden.

Und was die Zukunft betraf … das lag außerhalb seines Einflusses. Besser, er setzte sich ein weniger ehrgeiziges Ziel: etwa herauszufinden, wo zur Hölle er hier gelandet war.

Doch als er das Problem gelöst hatte, war die Antwort alles andere als beruhigend.

Er war mitten in den Wald von Brec gerannt – das große, wilde Dickicht nördlich seines Hofs. Dort war es schon bei Tag schwierig genug, sich auf einem der bekannten Pfade zurechtzufinden. Bei Nacht war es aber eine regelrecht dümmliche Idee. Die Schatten waren nicht sicher – jede Mutter warnte ihr Kind davor. Goblins, Oger und Schlimmeres nannten diesen Ort ihr Zuhause. Und doch hatte Will jede Spur von gesundem Menschenverstand in den Wind geschlagen, um Hals über Kopf in die Richtung der Berge zu fliehen.

Will zitterte. Er brauchte einen Unterschlupf. Musste sich ausruhen. Er benötigte Zeit, sich mit dem Gedanken an ein verbranntes Heim und an sein eigenes Todesurteil abzufinden. Genau darauf würde es nämlich hinauslaufen: Sanftmütig und verständnisvoll waren nicht die Worte, mit denen man für gewöhnlich die Gardisten des Drachen Mattrax beschrieb. Widersetzte man sich ihnen, gaben sie sich keine Mühe, bei einem heißen Krug Met das Missverständnis aufzuklären. In der Regel rekrutierten sie sich eher aus den Rängen derer vom Schlage »Wir stecken dir das Schwert in den Bauch und lassen dich im nächsten Graben liegen«. Wenn man Glück hatte, wurde man erst von seinen Freunden und dann von den Ratten gefunden.

Er glaubte nicht, dass er viel Glück hatte – und ihm tat jetzt schon alles weh.

Doch angesichts des Aufwands, den er heute bereits betrieben hatte, um in einem Stück zu bleiben, entschloss er sich, noch eine Weile weiterzutaumeln und nach einem Ort zu suchen, an dem er nicht ganz so rasch erfror.

Er kam nur langsam voran. Die Bäume verdeckten Großteile des Mondlichts, und das bisschen, was übrig blieb, schien nicht bereit zu sein, ihm die Hindernisse auf seinem Weg zu zeigen. Mehr als einmal stieß er sich die Zehen an einem Stein oder stolperte über dicke Wurzeln und Ranken. Der Regen, der auf ihn herabtropfte, traf den Spalt zwischen seinem Kragen und seinem Hals dagegen mit unfehlbarer Zielsicherheit.

Er zitterte am ganzen Körper, als er die Felswand erreichte. Eine schroffe Granitwand von sechzig Fuß Höhe, wo das Land zu den Bergen am Rande des Tals hin anstieg. So imposante Klippen waren ein gängiges Merkmal der hiesigen Landschaft und bildeten häufig die natürliche Grenze zwischen zwei Ländereien. Mehr von Interesse war für Will jedoch, dass sie oftmals auch Höhlen aufwiesen.

Jetzt brauchte er nur noch eine zu finden, die nicht von einem Bären bewohnt war.

Lall– Vater des himmlischen Pantheons, Herr des Gesetzes und allen Lebens, betete er leise, während er sich am Fels entlangtastete. Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe, dass du mir heute derart in den Eintopf gepisst hast– aber ich hoffe, du kannst dich dazu durchringen, mir noch mal zu vergeben.

Kaum hatte er sein Gebet beendet, da griff seine Hand ins Leere. Er stolperte und unterdrückte einen Fluch, als ihm klar wurde, dass er tatsächlich einen Höhleneingang entdeckt hatte. Nun, das ist doch ein Service, dachte er. Ergebensten Dank…

Er trat unter den Vorsprung und fand sogleich Schutz vor dem Regen. Dann seufzte er tief, holte Luft …

… und wünschte augenblicklich, er hätte es gelassen.

Noch nie zuvor hatte er auch nur ansatzweise etwas Derartiges gerochen. Wenn in dieser Höhle ein Bär lebte, dann musste dieser Bär darin gestorben sein. Und zwar an einem ziemlich üblen Durchfall. Ausgelöst wahrscheinlich durch zu viele verschlungene Stinktiere. Welche ebenfalls an schrecklichem Durchfall verendet waren. Mehrere Wochen zuvor.

Will würgte und blieb zweifelnd stehen. Andererseits – wer war er denn, die göttliche Vorsehung zu hinterfragen? Und während Verwesungsgeruch normalerweise nur Raubtiere anzog, war dieser Gestank immerhin eklig genug, dass wahrscheinlich selbst eine Krähe zu viel Selbstachtung besaß, sich dazu herabzulassen. Außerdem war es ja nicht so, dass er sich gerade vor lauter möglichen Verstecken kaum noch retten konnte …

Er zog einen noch halbwegs trockenen Fetzen aus seiner Tasche, bedeckte seine Nase damit und drang tiefer in die Höhle vor. Trotz des Stoffs wurde der Gestank mit jedem Schritt schlimmer. Als er es nicht länger aushielt – seine Abscheu war so unüberwindlich wie eine physische Mauer –, zog er sich wieder einen Schritt in Richtung des Ausgangs zurück und legte sich dort kurzerhand hin. Der Fels unter ihm war kalt und hart, hegte aber glücklicherweise keine mörderischen Absichten. Er schaute zum Ausgang, zur Welt hinaus. Er konnte gerade noch den Wald erkennen, einen dunkelblauen Klecks in einem Feld der Schwärze. Er wandte den Blick ab, rollte sich auf die Seite, versuchte es sich etwas bequemer zu machen …

… und stieß mit etwas Kleinem, Pelzigem und Warmem zusammen.

Will quietschte auf.

Er hatte immer gehofft, dass sich seine Lautäußerung in Situationen wie diesen als Bellen beschreiben ließe, aber es war ohne Zweifel ein Quietschen.

Glücklicherweise – vom Standpunkt seines Egos aus betrachtet – stieß das unbekannte Etwas, an das er da geraten war, ein gleichermaßen schrilles Quietschen aus. Unglücklicherweise wurde dieses Quietschen von etwas Drittem erwidert. Dann stimmte noch etwas mit ein. Und dann nahmen noch zehn weitere Stimmen den Schrei auf. Und noch mal zehn. Eine durchdringende Welle von zitternden, recht unmännlichen Schreien, die durch die Höhle hallte.

Dann, wie zur Antwort, schwappte eine Welle des Lichts zu ihm zurück. Fackeln loderten hell gegen das Dunkel auf. Das Licht erreichte Will gerade, als er wieder auf die Beine kam.

Er blickte nun in eine Höhle, die von Wand zu Wand mit kleinen, grünen Wesen gefüllt war. Wilde Gesichter mit spitzen Schnauzen und noch spitzeren Ohren. Schwarze Knopfaugen, ganz winzig vor Wut. Gebleckte Zähne.

Die Schatten des Waldes von Brec waren nicht sicher, erinnerte er sich. Hier in der Höhle galt das anscheinend ganz besonders – da sie doch eine komplette Horde gottverdammter Goblins beherbergte.

Lall im Himmel, dachte Will. Du bist wirklich ein Scheißkerl.

2

Lette und Balur

Das Problem mit Abenteuern, sinnierte Lette, war, dass sie eine bekloppte Methode waren, Geld zu verdienen.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dieser von allen Göttern verfluchte Gebirgspass. Sollten Berge nicht eigentlich kalt und verschneit sein? Wieso schwitzte sie sich überhaupt hier oben den Hintern ab?

Sie kannte die Antwort darauf, und diese Antwort schmeckte ihr nicht. Lieber wandte sie sich wieder dem nebulösen Feld der Finanzen zu. Insbesondere, wo dieses ihren eingeschlagenen Karriereweg kreuzte.

Das mit dem Abenteurerleben hatte anfangs noch nach einer richtig guten Idee geklungen. Monster verdreschen als Beruf. Im Gegenzug Reichtümer und Ruhm einheimsen. Und diesen Ruhm gab es wirklich – sie kannte wenigstens drei Personen, über deren Taten man Lieder geschrieben hatte. Vier, wenn man »Die Ballade von Schwanenhals, dem König der Huren« mitzählte, aber an deren Ende war Schwanenhals nicht mehr in einem Stück geblieben, von daher war der Ruhm in diesem Fall eher fraglich.

Und dennoch: Selbst wenn man sein eigenes Lied bekam und es dem Publikum gelang, den verschwitzten, blutverschmierten Bodensatz der Gesellschaft, den es vor sich sah, mit dem leuchtenden Idealbild besagten Lieds in Einklang zu bringen, blieb doch immer noch das Problem, dass alle Reichtümer, die man sich verdiente, das Resultat eines beträchtlichen Maßes an Gewalt und persönlichem Leid waren. Und Gewalt und Leid hatten die Tendenz, komplett außer Kontrolle zu geraten. Sehr schnell sogar. Lette weigerte sich zurückzublicken. Stattdessen konzentrierte sie sich lieber auf den festen Vorsatz, ihr Leben in geordnetere Bahnen zu lenken.

»Wie wäre es mit einer Bäckerei?«, fragte sie laut.

Ihr Begleiter blickte sie lange Zeit an.

Balur war gut acht Fuß groß, besaß kein Gramm Fett am ganzen Körper und hatte einen Schwanz. Er war ein Analesier, ein Echsenmensch aus den westlichen Wüsten. Seine gelben Schlitzaugen starrten ihr aus einem lang gezogenen Gesicht entgegen, das von großen braunen Schuppen bedeckt war, dick und knubbelig wie faustgroße Steine.

»Nein«, sagte er nach einer Pause, wobei seine Stimme wie mahlende Steine klang. »Nein«, sagte er abermals.

Die Analesier waren ein rauer Schlag von Leuten. Lette hatte das Gerücht gehört, dass ihre Sprache vierzig lautmalerische Ausdrücke für das Geräusch kannte, das ein Kopf erzeugen konnte, wenn man ihn mit einem Kriegshammer zerquetschte. Irgendwie hatte sie nie den richtigen Zeitpunkt gefunden, Balur zu fragen, ob das stimmte.

»Du sagst inzwischen nur noch selbstverständlich Nein«, beschwerte sie sich. »Du denkst nicht einmal mehr richtig nach.« Die Liste der von Balur verworfenen Geschäftsalternativen beinhaltete bereits eine Waffenschmiede, eine Hufschmiede, Landwirtschaft, Pferdezucht und eine Schule für exotischen Tanz. Der Fairness halber musste sie zugeben, dass sich Balurs Fähigkeiten vor allem darauf beschränkten, mit seinem Hammer fest auf Dinge einzuschlagen – aber gerade deshalb hatte die Idee mit den Schmieden so vielversprechend geklungen. Lettes Ansicht nach war Balur einfach nur sturköpfig.

»Schau«, sagte sie und deutete voraus. »Siehst du das?« Der Grat des Gebirgspasses war endlich näher gerückt. Jenseits davon lag das Tal von Kondorra, fruchtbar und voller Leben. »Das wird der Neubeginn. Ein neues Kapitel in der Geschichte unseres Lebens. Sobald wir die Grenze überquert haben, können wir alles sein, was wir wollen. Einfach alles.«

Balur nickte. »Gut.«

Lettes Stimmung hellte sich auf. Endlich ein Fortschritt. Endlich begann dieser dickköpfige Ochse …

»Ich will gerne ein Söldner sein«, sagte Balur.

Lette stöhnte. »Ja klar. Weil das ja so wunderbar leicht möglich ist.«

Da schlug der Wind um und blies ihnen entgegen, statt weiter den Hang hinabzupusten. Einen Moment lang füllte der Geruch von Rauch und Aas ihre Nase. Sie stöhnte abermals.

Augen nach vorn. Ein frischer Start! Neubeginn…

Balur schritt weiter voran. Dann, mitten auf dem Grat, der Grenze zwischen Alt und Neu, blieb er stehen und hielt Lette seine dicke, vierfingrige Hand hin. »Ich hab ehrlicherweise nicht die Hände zum Backen«, sagte er. »Ungeschickte Finger.«

»Du könntest einfach nur den Teig kneten«, schlug sie vor. Was Balur ihrer Ansicht nach fehlte, war ein lösungsorientierter Ansatz.

Dann stand sie neben ihm auf dem Grat ihrer Vergangenheit und sah ihre gesamte Zukunft unter sich ausgebreitet. Kondorra.

Die Sonne stand in diesen frühen Herbsttagen tief, sodass ihr Glanz von den umliegenden Gipfeln noch teilweise verdeckt wurde. Flache Lichtfinger fielen auf die Wälder, die sich die Hänge hinabzogen. In der Ferne, am Grund des Tals, verliefen sich die Wälder in einem Flickenteppich von Äckern und Feldern, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tals die Hänge erklommen, bis sie abermals dem Fels und Geröll der höheren Lagen wichen. Das Licht verwandelte den träge fließenden Fluss Kon am tiefsten Punkt des Tals in eine Linie weißen Feuers.

Dieses Tal war eine Welt für sich. Ein Mikrokosmos. Sie konnte Burgen sehen, die klein wie Kinderspielzeug waren, und Seen, und auch einen Sumpf und einen Berg, bei dem es sich möglicherweise um einen Vulkan handelte. Aus der Ferne war es alles winzig und so vollkommen wie ein gemaltes Bild in einem Buch. Nichts wurde durch die Nähe der Wirklichkeit verdorben.

»Schau dir das doch an«, sagte Lette abermals und zeigte mit dem Finger. »Dort unten können wir alles sein, was wir sein wollen.«

Balur zuckte die Schultern. »Ich bin einfach gerne Söldner.«

»Wie wäre es mit Metzger?«, schlug Lette vor, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Als Metzger könntest du immer noch Sachen umbringen. Rinder. Du wärst ausgezeichnet dafür geeignet. Jedem einen raschen Schlag auf den Schädel.«

Balur legte den Kopf schief. »Das Metzgerhandwerk ist hauptsächlicherweise Messerarbeit«, wandte er ein.

»Die kann ich gern übernehmen.« Eine schnelle Geste mit den Fingern, und ein Dolch erschien in ihrer Hand, glitt weg und tauchte in der anderen wieder auf. »Du bringst bloß die Rinder um.«

Balur dachte etwas gründlicher darüber nach. Die langsamen Rädchen seines nicht menschlichen Verstands drehten sich. »Würden die Rinder denn auch richtig kämpfen?«, fragte er schließlich.

Die Frage brachte Lette kurz aus dem Konzept. »Die Rinder?«, vergewisserte sie sich.

Balur nickte. »Wären sie ernsthafterweise eine Herausforderung? Ich will nicht aus der Übung kommen – als Metzger.«

Lette blinzelte einmal, zweimal. Die Frage stand immer noch im Raum. »Rinder, das sind doch verdammte Kühe, Balur«, stellte sie klar. »Die kämpfen nicht. Die fressen Gras, die kriegen den Schädel eingeschlagen und werden dann zu leckeren Snacks verarbeitet.«

Balur dachte darüber nach. »Ich glaube, Söldner ist mir immer noch lieber«, sagte er nach einer Weile.

Lette widerstand dem Drang, ihn zu packen und zu schütteln. Wobei sie sich eingestehen musste, dass sie Probleme hätte, seine Schultern zu erreichen. Oder an ihm zu rütteln, selbst wenn sie groß genug dazu wäre. Stattdessen löste sie den schweren Beutel mit Goldmünzen von ihrer Seite und hielt ihn ihm entgegen. Das war das einzig Positive, das bei der Katastrophe, die hinter ihnen lag, herausgekommen war.

»Schau dir das mal an, Balur: Das kann alles sein, was wir wollen. Ein neues Leben. Ein besseres Leben!«

Balurs Augen verengten sich noch weiter. »Auch Wein und Huren?«

Lette schüttelte enttäuscht den Kopf. »Du bist ein Fremder aus einem weit entfernten Land. Eigentlich solltest du durch und durch exotisch und interessant sein.«

Balur zuckte die Schultern. »Ich bin zwei vierzig und rede ausdrucksweise etwas komisch. Das ist doch interessant.«

Lette überlegte, ob sie ihm in den Schritt oder lieber ins Auge stechen sollte.

Sie wurde von der Qual der Wahl erlöst, als plötzlich ein kleines schreiendes Etwas aus seinem Versteck hinter einem Felsen hervorsprang und sich auf sie warf. Ein Goblin, erkannte sie. Er segelte durch die Luft und schnappte ihr die Börse aus der Hand.

»Meins! Meins! Meins!«, schrie er, landete und raste auf seinen emsigen Beinchen den Pfad hinab davon. »Hab’s! Hab’s! Ist meins!«

Der Goblin schaffte noch exakt einen Schritt, ehe Lettes Dolch ihn im Nacken erwischte, wo er sauber zwischen zwei Wirbeln durchglitt und eine böse Schweinerei in seinem Kleinhirn anrichtete. Der Goblin war tot, noch ehe er den Boden berührte.

»Siehst du?«, sagte Balur. »Du bist eine gute Söldnerin. Du solltest berufsweise nach deinen Talenten gehen.«

»Meine Talente haben einer Menge Menschen Leid gebracht.« Lette lief zu dem Goblin und zog ihm den Dolch aus dem Nacken. Der Körper setzte ihr Widerstand entgegen. Sie brachte nicht gerne Goblins um – es waren merkwürdig klebrige Kreaturen. Hinterher dauerte es immer ewig, die Klingen von den letzten Stückchen zu reinigen.

Sie bückte sich gerade nach ihrer Börse …

… nur um sie abermals vor der Nase weggeschnappt zu bekommen, als ein weiterer Goblin aus seinem Versteck sprang und den Pfad hinabfloh.

»Bei Otzes haarigem Sack«, fluchte sie. »Wie viele von diesen kleinen Scheißern gibt es hier?«

Im Gegensatz zu seinem langsam abkühlenden Kompagnon, der ihm vielleicht eine Lehre gewesen war, redete dieser Goblin nicht lange herum, sondern nahm die Beine in die Hand. Dummerweise wurde – wenn man nur vier Fuß groß war – jeder derartige Versuch auf signifikante Weise von der eigenen Schrittweite erschwert. Balur kannte kein Handicap dieser Art.

Sein Kriegshammer sauste nieder. Der Goblin war nun nicht länger ein kleines, hässliches Männlein, sondern ein kleiner, hässlicher Blutfleck.

»Gottverdammt, Balur, jetzt pass doch bitte mit der Börse auf!«

»Der geht es gut.« Der Echsenmann verdrehte hinter seinen Nickhäuten die Augen.

Lette seufzte schwer. Genauso gut konnte sie einen Felsen beschimpfen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit lieber wieder auf die Umgebung. Kaum, dass der Pfad sich senkte, wurde er zu beiden Seiten von Wald flankiert. Ein dichtes, feucht und lehmig riechendes Dickicht von Stämmen und Unterholz. Zu viele Versteckmöglichkeiten.

»Ich hoffe, ihr beginnt allmählich mal ein Muster zu erkennen!«, rief sie der ungewissen Zahl weiterer Goblins entgegen, die sich hier noch herumtreiben mochte. »Wer immer nach dem Beutel greift, wird Matsch!« Diese Gleichung sollten selbst Goblins imstande sein zu verstehen.

Anscheinend aber nicht.

Es raschelte in einem Gebüsch. Dann erschien ein Goblin. Quietschend wie ein kochender Kessel schnappte er sich die Börse und raste mit wild wedelnden Gliedmaßen davon, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu verstummen.

Lette seufzte. Dieser hier war schneller als die anderen, sein Rumpf ein kleiner runder Ball zwischen langen, knolligen Armen und Beinen. Trotzdem war er nicht schneller als ihr Dolch. Abermals erschien die Klinge in ihrer Hand. Sie zielte.

Dann fielen die Goblins auf einmal wie Regen auf sie nieder.

Sie waren in den Bäumen. Zehn, zwanzig, vielleicht noch mehr. Alle schrien, alle sprangen, und alle waren sie mit gezackten rostigen Messern bewaffnet.

Lette warf ihren Dolch. Er erreichte nie den Goblin mit der Börse. Stattdessen erwischte er einen anderen am Hals, der in die Flugbahn sprang. Die schreiende Kreatur wurde gegen einen Baum genagelt und erschlaffte.

»Mögen die Götter auf sie alle spucken!«

Sie zog ihr Kurzschwert. Schlug einem Goblin die Beine ab, als der gerade versuchte, auf ihr zu landen.

Balur ließ seinen Kriegshammer kreisen. Der stellte in so rascher Folge Kontakt zu den Körpern her, dass die Geräusche ineinander übergingen. Lette sprang in Richtung des frisch geschaffenen Leerraums.

Ein Goblin warf sich auf sie. Sie schwang die Klinge und schlitzte seinen Hals auf, doch ein anderer Goblin hatte sie umrundet und es auf ihre Schenkel abgesehen. Balur ließ seinen Hammer in hohem Bogen herabsausen. Der Goblin verschwand unter dem Hammerkopf. Lette fragte sich, ob die Analesier das Geräusch eher als ein Matschen oder als ein Platschen bezeichnen würden.

Sie erhaschte einen Blick auf den Goblin, der sich mit ihrer Börse aus dem Staub machte. Inzwischen war er zwanzig Schritt weit entfernt, und die Distanz nahm rasch weiter zu. Ein hässlicher kleiner Kopf wackelte auf seinem noch kleineren Körper. Das war nicht gerade ein großes Ziel. Ein weiterer Dolch erschien in ihrer Hand. Sie atmete ruhig. Holte aus.

Etwas Hartes, Scharfes schlug gegen ihre dornenbesetzte Schulterplatte. Ihr rechter Arm zuckte zur Seite. Der Wurf ging fehl. Fluchend schnellte sie herum und bohrte ihr Schwert in einen Goblinnacken. Blut spritzte, er trat noch einmal um sich, dann starb er.

Lette versuchte, das Schwert wieder herauszuziehen, doch es saß fest. Sie riss daran. Der Goblin zuckte und plumpste, wollte sich jedoch nicht lösen. Er war wie eine Leichenpuppe am Ende eines einzelnen, wirklich scharfen Fadens. Sie fluchte noch einmal. Warum bei allen Geistern der Unterwelt mussten Goblins immer so verdammt klebrig sein?

Als zwei weitere Goblins merkten, dass die Last ihrer Klinge Lette ausbremste, umkreisten sie sie zu beiden Seiten und rückten näher.

Die Schwert klemmte. Der Leichnam klebte fest. Sie fluchte.

Dann sprangen beide Goblins im selben Moment und in gleichen Posen: in hohem Bogen, die Messer mit beiden Händen hinter dem Kopf.

Lette fragte sich, wo sie das gelernt hatten. Es musste einstudiert sein – die Symmetrie war zu vollkommen. Kannten Goblins so etwas wie Kampftraining? Wenn, dann ließen sie es besser bleiben – der Angriff verriet ihr bereits genau, was gleich passieren würde. Es verdarb ihr fast die Freude am Kampf.

Sie wirbelte auf einem Absatz herum und beschrieb mit dem erhobenen Fuß einen engen Bogen. Den einen Goblin traf sie noch mitten im Flug vor der Brust. Seine Rippen knackten, während seine Flugbahn deutlich kürzer und endgültiger geriet: Er klatschte gegen einen nahen Baum und verschmierte sein rotes Schädelinneres über den Stamm.

Lette hatte sich derweil schon weiterbewegt und nutzte den Schwung ihres Tritts, um ihr goblinumschlossenes Schwert hochzureißen. Der zweite Goblin schlug in seinen toten Artgenossen und barg die herausragende Schwertspitze mit seinen Eingeweiden. Er schrie, zuckte und verblieb festgeklebt auf der Spitze.

»Ach, da pissen doch die Götter drauf!« Das Schwert, das nun eher eine Keule aus kleinen verendeten Kreaturen war, war deutlich zu schwer, um noch von Nutzen zu sein. Vier weitere Goblins rückten bereits näher.

Balurs Hammer fuhr nieder, einmal, zweimal, dreimal. Diesmal war es eindeutiger ein Schmatzen, dachte Lette. Den vierten Goblin packte Balur mit der freien Hand am Hals. Er hob ihn hoch. Hilflos trat der Goblin um sich.

Suchend sah sich Lette um. Der Goblin mit der Börse war entkommen. Sie war von toten oder bald toten Körpern umgeben und hob den Kopf, dem Pantheon entgegen. Was hatte sie getan, dass die Götter so angepisst waren? Sie hatte ihre Gebete gesprochen, den Tempeln ihren Anteil entrichtet. Was für eine göttliche Komödie hatten sie ihr da beschert? Arschlöcher, allesamt.

Lette richtete ihr Augenmerk auf den baumelnden Goblin, einen neuen Dolch in der Hand. Die Klinge war klein und hell und glitzerte in der Sonne, als sie auf ihn zutrat. Der Goblin aber war von Balurs Faust abgelenkt, die der um seinen Hals gelegt hatte.

»Du«, sagte sie und zeigte auf die zuckende Kreatur. »Du wirst uns nun im wahrsten Sinn dein Herz ausschütten. Wo bei allen Geistern ist meine Börse? Spuck’s aus!«

»Drescher«, keuchte der Goblin. »Drescher hat sie! Weggerannt.« Der Goblin war ein schmerbäuchiges Wesen. Seine Haut war von demselben schmutzigen Braungrün, das sie mit den gastrointestinalen Nachwehen von Balurs analesischem Curry in Zusammenhang brachte. Seine Augen waren groß, rund und dunkel – obgleich die Möglichkeit bestand, dass Balurs Gequetsche sie nur mehr hervortreten ließ.

»Ich brauch nicht seinen gottverfluchten Namen.« Lette und ihr Dolch rückten näher. »Ich will seinen Aufenthaltsort wissen.«

»Brauchte das Geld«, fuhr der Goblin schnatternd fort. »Für die Anzahlung! Musste es haben.«

Lette schloss die Augen. Sie wollte das gar nicht wissen. Sie wollte bloß erfahren, wohin die verdammte Kreatur mit ihrem Gold verschwunden war. Allerdings …

»Anzahlung?«, grollte Balur.

Der Goblin verdrehte sich, um zu seinem Peiniger aufzusehen. »Für die Bäckerei«, quietschte er.

Eine göttliche Scheißkomödie.

»Bäckerei?«, wiederholte Balur. Er sah zu Lette hinüber, doch sie wich seinem Blick aus.

»O ja.« Der Goblin rang sich trotz seiner offensichtlichen Schmerzen ein Lächeln ab. »Wir glauben, dass es einen großen Markt für Goblingebäck gibt! Wirklich fein. Schmilzt im Mund. Wir haben richtig geschickte Finger.« Der Goblin unterbrach seine vergeblichen Versuche, sich aus Balurs Griff zu befreien, und wackelte mit den Fingern vor seinem Gesicht. Diese waren in der Tat recht lang und schlank.

Balur nickte wissend. »Das ist wirklich ein guter Punkt, das. Finger sind geschickterweise wichtig zum Backen.« Er warf Lette einen bedeutsamen Blick zu.

»Oh, lass den Scheiß.«

»Genau«, quasselte der Goblin, zu sehr mit seinem eigenen Überleben beschäftigt, um sich für ihre Sticheleien zu interessieren. »Das stimmt. Das stimmt. Aber das Geld, wisst ihr? Geld ist das Problem. Man braucht Geld, wenn man ’ne Bäckerei will. Für die Anzahlung. Haben hohe Gründungskosten, Bäckereien. Sehr hohe sogar. Und die Händlergilde – die will uns kein Geld leihen. Goblins hätten ’ne bescheidene Kreditwürdigkeit, heißt es dann immer. Kulturelle und historische Bestrebungen stünden finanziellen Zuwendungen dieser Größenordnung im Weg, heißt es. Wir brauchen also Geld, um welches zu verdienen. Finanzielle Sackgasse, wenn ihr uns fragt. Plutokratischer Mist, sagen wir. Rassistenschweine, so haben wir die Händlergilde genannt. Da haben sie uns rausgeworfen. Und hier wären wir jetzt. Verfolgen kulturelle und historische Bestrebungen, die finanziellen Zuwendungen dieser Größenordnung im Weg stehen. Hinsichtlich eurer Börse. Und unserer Bäckerei.«

Er starrte sie erwartungsvoll an. Versuchte, sein gequetschtes Gesicht zu einem breiten, bedauernden Lächeln zu verziehen.

Lette wandte den Blick ab. »Wieso zur Hölle weiß ich immer noch nicht, wo dieser Hurensohn von Drescher steckt? Warum weiß ich nicht, wo ich meinen Scheißgeldbeutel finde?«

Sie schrie jetzt. Das hätte ihr Neubeginn werden sollen, gottverdammt. Ihr neues Leben.

Der Goblin schluckte. »Er ist …«, stotterte er. »Er ist …«, hob er abermals an.

»Schaff ihn mir vom Hals«, schnappte Lette, als ihr der Geduldsfaden riss. »Ich verfolge den anderen und hole mir meine Börse zurück.« Sie studierte die Spur geknickter Zweige und platt getretenen Grases, die vom Ort des Scharmützels wegführte. Ihr zu folgen wäre nicht allzu schwer.

Balur nickte zufrieden, und die Muskeln in seinem Arm traten hervor. Der Goblin schrie auf.

»Götter, Balur! Doch nicht so!« Er war drauf und dran gewesen, dem Goblin den Schädel zu zerquetschen. Lette raufte sich die Haare. »Wir wollten doch versuchen, bessere Menschen zu sein, weißt du nicht mehr?«

»Du wolltest das versuchen«, erwiderte Balur streitlustig.

»Wirf ihn einfach weg, und ich suche dieses Arschloch von Drescher. Den kannst du meinetwegen umbringen, okay?«

Balur seufzte schwer. »Na gut.« Mit einer beiläufigen Geste seines Arms schleuderte er den Goblin davon.

Unglücklicherweise schnitt sich dessen Parabelflug genau mit der Position eines fünf Schritt entfernten Baumstamms. Es gab ein hässliches Knacken. Die Reste des Goblins sackten zu Boden.

Lette schaute Balur bloß an.

Der spielte den Entrüsteten. »Was? Was?« Er verdrehte die Augen. »Das war nur ein Missgeschick.«

Seufzend ließ Lette den Blick umherschweifen. Leichen überall. Blut und Aas. Die ersten Krähen kreisten schon über ihnen und verspotteten sie mit ihren Rufen, während sie dem Pfad tiefer in den Wald folgten.

Ihr neues Leben.

Ein Wort schien alles auf den Punkt zu bringen.

»Scheiße.«

3

Unverhofft im Mondenschein

Einen Moment lang stand Will wie gelähmt vor dem Anblick der goblingefüllten Höhle.

Lauf!, schrie ein kleiner, aber überaus vernünftiger Teil seines Verstands, doch aus irgendeinem Grund hörten seine Beine nicht zu. Sie schienen fatalistischerer Stimmung zu sein: Nachdem sie ihm an diesem Tag schon mehr als einmal das Leben gerettet hatten, war nun der Punkt erreicht, an dem sie sich in ihr unvermeidliches Schicksal ergaben.

»’tschuldigung«, hörte er sich sagen. »Falsche Höhle! Meine liegt ein paar Eingänge weiter.«

Er wollte etwas Abstand zwischen sich und die Goblins bringen, doch seine feigen Beine spielten immer noch nicht mit.

Ein tiefes Grollen schien den kleinen Mündern in der Höhle zu entsteigen, ein Wispern, das allein durch die schiere Dichte der eng gepackten Körper zur Lautstärke eines Brüllens anschwoll.

»Ich bin dann mal weg«, sagte er, mehr zu sich selbst als an die Menge gerichtet. Seine Knie zitterten zur Antwort, doch das kündigte eher einen nahen Zusammenbruch als eine horizontale Fluchtbewegung an.

Plötzlich schallte ein markerschütterndes Heulen durch die Nacht, bei dessen Klang Will seinen letzten Funken Mut verlor, sodass nicht mehr als eine schlotternde Hülle zurückblieb.

Unwillkürlich dachte er an das Pantheon. An Lall, den Gottvater. An seine Frau Truga, die Große Mutter. An ihre Kinder Klimp, Schuft und Kluk – die Götter und Göttinnen des Geldes, der Arbeit und der Weisheit. An Lalls Tochter-Sohn Bussi, die Göttin der Lust und des Begehrens. An Trugas Sohn und Nebenmann Otze, den Gott der Orgien. Zu wem sollte er beten? Wer würde ihm entgegen aller Wahrscheinlichkeit Hilfe senden?

Scheiß drauf, dachte er. Dem Ersten aus eurem Verein, der hier aufkreuzt, spendiere ich als Opfergabe eine ganze verdammte Armee von Schweinen.

Anscheinend hatte das Pantheon genauso viel Vertrauen zu ihm wie umgekehrt.

Kurz schöpfte er Zuversicht, als das Leben in seine versteinerten Gliedmaßen zurückkehrte, doch es waren bloß seine Beine, die nachgaben, als sein Körper ergeben auf die Knie sank.

Jetzt warte doch mal, sagte die kleine Stimme in seinem Kopf, die ihm zuvor schon zum Rückzug geraten hatte. Dieses Heulen kam von… hinter dir.

Halt die Klappe!, rief der panische Rest seines Verstands. Ich hab jetzt keine Zeit für deinen Mist. Ich bin hier mit Sterben beschäftigt, gottverdammt.

Etwas Großes polterte an Will vorbei. Er spürte den Luftzug, den es hinterließ, das tiefe Donnern seines Gebrülls im Bauch, das Stampfen seiner Füße im Fels.

Dann Stille. Ein Augenblick vollkommener Stille.

Dann Wind. Ein gewaltiges Rauschen.

Und dann der Klang von Tod.

Will war auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er hatte genug Vieh gezüchtet, um das Geräusch zu kennen. Den Klang reißenden Fleisches, brechender Knochen.

Doch das Geräusch kam nicht von ihm.

Er traute sich, ein Auge zu öffnen.

Göttliche Rettung. Zunächst war das die einzige Erklärung, die ihm in den Sinn kam. Dass seine Gebete auf irgendeine Art erhört worden waren. Dass Lall tatsächlich vom Himmel herabgestiegen und gekommen war, sich seiner anzunehmen. Dass endlich eine Gottheit nach Kondorra zurückgekehrt war – nur seinetwegen.

Dann erhaschte er einen Blick auf die Kreatur. Und obgleich es durchaus Geschichten darüber gab, dass Lall, Truga, Otze und der Rest des Pantheons über die Jahre auch sehr merkwürdige Formen angenommen hatten, passte doch nichts, was er jemals gelesen hatte, zu diesem Anblick.

Die Kreatur war etwa acht Fuß groß und schien ausschließlich aus riesenhaften Muskelsträngen zu bestehen, die kopfsteinpflastergroße Schuppen verbanden, bronzeschimmernd im Feuerschein. Das Wesen schwang einen riesigen Kriegshammer, dessen Kopf durch die dicht gedrängten Reihen fuhr wie eine Sense durch den Weizen. Kleine Körper flogen verkrümmt davon, Flüssigkeiten spritzten in hohem Bogen auf. Der Gestank von Blut und Gedärmen füllte die Höhle.

Unter lautem Geschrei versuchten sich die panischen Goblins tiefer in die Höhle zu flüchten. Ein paar tapfere Seelen entschlüpften der Todeszone des Angreifers und flohen zum Ausgang, stürzten an Will vorbei in die Nacht. Eine Schrecksekunde später folgte er ihrem Beispiel.

Und da sah er sie – die engelsgleiche Erscheinung, die den Dämon in der Höhle vervollständigte. Sie zeichnete sich vor dem Mondlicht ab, das schweißnasse Haar zu einem achtlosen Pferdeschwanz gebunden, das Gesicht zu einer Grimasse der Wut verzerrt. In der einen Hand hielt sie ein Schwert, in der anderen einen Dolch. Dem ersten Goblin, der an ihr vorbeifloh, schlitzte sie die Kehle auf, dem nächsten hieb sie die Beine durch, sodass er unter würgenden Schreien auf seine Kniestümpfe fiel.

Der große Echsendämon watete tiefer in die Höhle hinein, wo er den Tod auf Wände und Boden verspritzte, und die Frau folgte ihm und beendete der Reihe nach mit scharfer, sorgfältiger Präzision das Leben derer, die ihm entgangen waren. Wie ein Chirurg im Gefolge eines Metzgers.

Konnten das vielleicht Halbgötter sein? Wenn die Götter auf die Welt herabstiegen, dann hatten sie ja normalerweise nur eine Sache im Sinn. Allerdings wurde den wenigsten von denen, die das Pech hatten, dem göttlichen Zauber zu erliegen, gestattet, das empfangene Kind auch auszutragen. Die Abkömmlinge des Pantheons – die Halbgötter – richteten einfach zu viel Chaos auf der Welt an. Sie waren zu mächtig, zu unberechenbar. Sie gefährdeten das Kräftegleichgewicht der Nationen.

Dieses Gemetzel aber … sein Ausmaß, seine Effizienz … das kam Will trotz allem fast göttlich vor. Beide gingen völlig wortlos ihrer Arbeit nach. Nach dem ersten Angriffsgeheul folgten weder Kampfschreie noch Absichtserklärungen. Ringsum schrien die Goblins, das Paar jedoch kämpfte mit verschlossenen Mienen.

Nein, beschloss Will, nachdem er ihnen eine Weile zugesehen hatte: nicht göttlich. Wenngleich Ausmaß und Sachverstand des Massakers auch alles in den Schatten stellten, was er je gesehen hatte, so war es doch Tagesgeschäft. Keine Blitze, keine Ausbrüche von Telekinese. Bloß Stahl und Blut und Knochen.

Wer bei allen Geistern waren sie dann aber?

Endlich war das Schlachten vorüber. Alle Goblins waren tot oder so gut wie. Das ungleiche Gespann verharrte keuchend, tauschte Blicke und zuckte dann seufzend die Schultern.

»Siehst du?«, sagte das Echsenmonster mit einer Stimme, die wie rumpelnde Felsen klang. »Das ist spaßesweise besser als backen.«