Draußen - Mary Stormhouse - E-Book

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Mary Stormhouse

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Beschreibung

Nalani war glücklich in der virtuellen Welt der Komplexe, bis eines Tages Caiden in ihr Leben platzte. Plötzlich befindet sie sich in der Welt da draußen, gejagt von Robotern und fern jeglicher Events und Achievement-Boards, die sie kennt. Und sie will nur eins: zurück in ihr altes Leben. Gemeinsam mit Caiden begibt sie sich auf die Spuren ihrer Vorfahren. Und je mehr Nalani die Welt dort draußen kennenlernt, desto stärker keimt eine unerbittliche Frage in ihr auf: Für welche Welt wird sie sich am Ende ihrer Reise entscheiden? Ausgezeichnet mit dem SERAPH 2024 für den Besten Indie-Titel.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog6

1. Im Netz der Illusionen9

2. Verlust der Unschuld22

3. Das Singen der Wälder42

4. Unter dem Mond der Jägerin59

5. Die Entdeckung der Sinne85

6. In Niemandes Ländern110

7. Hinter den Augen der Komplexe138

8. In den Ruinen des Hochmuts156

9. Unter dem Mantel der Lügen175

10. Das Geheimnis der Göttinnen193

Epilog208

Nachwort215

Danksagung217

 

Zu diesem Buch:

Nalani war glücklich in der virtuellen Welt der Komplexe, bis eines Tages Caiden in ihr Leben platzte. Plötzlich befindet sie sich in der Welt da draußen, gejagt von Robotern und fern jeglicher Events und Achievement-Boards, die sie kennt. Und sie will nur eins: zurück in ihr altes Leben.

Gemeinsam mit Caiden begibt sie sich auf die Spuren ihrer Vorfahren. Und je mehr Nalani die Welt dort draußen kennenlernt, desto stärker keimt eine unerbittliche Frage in ihr auf: Für welche Welt wird sie sich am Ende ihrer Reise entscheiden?

 

Ein fesselnder Solarpunk-Roman, der unsere Entscheidungen als Gesellschaft infrage stellt und ein mögliches Zukunftsszenario skizziert.

 

 

Über die Autorin:

Mary Stormhouse schreibt, podcastet, larpt und lebt zwischen Feenstaub und Sternenschiffen.

 

stormhouse.de

Instagram, Twitter: @marystormhouse

Mary Stormhouse

 

 

Ein Solarpunk-Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2023 Mary Stormhouse – alle Rechte vorbehalten.

Fakriro GbR Impressumsservice

Bodenfeldstr. 9

91438 Windsheim

Cover: Juliet May

„Solarpunk is a literary movement, a hashtag, a flag, and a statement of intent about the future we hope to create. It is an imagining wherein all humans live in balance with our finite environment, where local communities thrive, diversity is embraced, and the world is a beautiful green utopia.“

Ben Valentine

 

 

 

Prolog

Wachsam trippelte das Reh über den geborstenen Asphalt. In der Mitte der Straße hielt es inne und richtete seinen Windfang in die Böe, die von Osten her wehte. Es schnupperte und reckte den Hals aufmerksam in die verschiedenen Himmelsrichtungen, dann senkte es den Kopf und zupfte an dem grünen Gras, das seinen Weg durch das graue Gestein gefunden hatte.

Ein Lauscher zuckte nach Westen, wo das Geräusch eines rutschenden Steins die Stille durchbrach. Schnell wandte es sich in die entgegengesetzte Richtung, hüpfte über den kaum zu erkennenden Bürgersteig und sprang elegant durch die geborstene Schaufensterscheibe. In der staubigen Auslage blieb es stehen, schaute kurz zurück und äste an den Resten seiner grünen Beute. Einer der gespaltenen Hufe des Paarzehers trat verwesende Stoffe beiseite, die seine Beweglichkeit behinderten. Mit einem kräftigen Sprung setzte das Reh seinen Weg dort fort, wo das Sonnenlicht durch das kaum vorhandene Dach brach. In den Kunststoffregalen, an denen es vorbei streifte, war nur noch Staub von den einstmals teuren Waren geblieben. Verblichene Preisschilder lagen über den Boden verteilt. Verrottetes Herbstlaub, hereingewehte Zweige und Erde bedeckten die grauen Marmorfliesen. Für einen Moment rutschten die Hufe des Rehs, bevor es wieder Halt in Moosen fand und durch die in den Angeln hängende Tür schritt. Das Lager bestand aus Trümmern, Reste von Regalen versperrten den Weg, doch das Reh trippelte mühelos durch verkeilte Bretter und machte einen Satz über die Mauer. Der Hinterhof hatte seinen Kampf gegen die Natur schon vor langer Zeit verloren. Wildbienen summten zwischen den Petunien, die ihre hier Herrschaft errichtet hatten und in leuchtendem Pink blühten, das sich von der verbliebenen Schieferfassade in tristem Grau abhob.

Erneut regte das Reh den Windfang in die Luft, bevor es rosafarbene Blüten von den Stängeln zupfte. Unruhig tänzelte es voran zur nächsten Straße, die sich hinter den Trümmern eines weiteren Ladens öffnete. Ein Laternenpfahl ragte quer über die Fahrbahn, auf die Ruine eines Fahrzeugs gekippt. Auf dem niedrigen Pfahl saß ein Rabe, der eine einsame Warnung krächzte, bevor er sich wieder in die Luft erhob und das Reh seinem Schicksal überließ.

Beunruhigt wandte es seinen Kopf zur Seite, bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr zurück in Deckung zu springen.

Doch weder Geräusch noch Geruch warnten es vor dem Schmerz, der plötzlich in seiner Brust explodierte, als ein präzise geschossener Pfeil sirrend sein Ziel erreichte.

Das Reh blökte, dann knickten seine Vorderläufe ein und es kippte leblos zur Seite.

Die Jägerin sprang von den Ruinen herab und landete federnd neben der erlegten Beute. Rasch prüfte sie, ob der Pfeil das Tier getötet hatte und es keine unnötigen Schmerzen litt.

Dann ließ sie sich auf den Knien neben dem Reh nieder, strich ihm über die Stirn und schloss seine braunen Augen. „Danke, dass du meine Familie heute nährst. Was du gibst, geben wir zurück. Niemals mehr als wir brauchen, niemals mehr, als du gibst, Mutter Gaia.“ Die Gestalt erhob sich grazil und warf sich ihre Beute mühelos über die Schulter. Lautlos verschwand sie durch die Ruinen der Alten Welt zurück in die Wälder, die ihr eine Heimat schenkten.

 

 

 

1. Im Netz der Illusionen

Jetzt keinen Fehler machen! Nalani trat an den Rand des Laufstegs, der in gleißendes Licht gehüllt war. Zuschauende ließen sich kaum erahnen, sie wusste, dass beim Flowers Look Event Millionen zusahen, selbst diejenigen, die sonst tönten, ihnen würden Looks am Allerwertesten vorbeigehen.

Nalani schnaubte. Als ob. Die Look Events bestimmten die Trends der Community Avatere der kommenden Tage und in die letzte Runde zu kommen, brachte ganze 10.000 Social Points. Wenn sie es schaffte, den ersten Preis abzuräumen, würden sich ihre Punkte und ihre Follower weiter vermehren und die Zeit, die sie darin investiert hatte, aus Millionen möglichen Kleidungsstücken und Accessoires ihren Look zu kreieren, hätte sich bezahlt gemacht. Außerdem gewann sie endlich die ersehnte Errungenschaft „Look Event Finalist“.

Noch einmal kontrollierte sie, ob sie jede Bedingung erfüllte. Hut: Check. Blumenmuster: Check. Espadrilles, Sonnenbrille, Schmuck: Check, check, check.

Das Licht vor ihr leuchtete Grün auf. Jetzt galt es, alles in diesen Walk zu stecken.

Nalani holte erneut tief Luft, dann trat sie mit zielsicherem Schritt auf den Laufsteg. Augen geradeaus, Lächeln gedacht, ohne wirklich die Lippen zu bewegen, Brust raus, aufrecht gehen.

Ja, das würde ihr Lauf werden, sie spürte es, während sie sich dem Ende des Catwalks näherte, selbstbewusst posierte – hier war auch eine Kusshand erlaubt – und sie sah die Likes an ihrem Sichtfeld vorbeirasen, eine nichtzuzählende Anzahl Herzen.

Aber sie blendete sie aus, durfte sich jetzt weder von Likes noch störenden Kommentaren beeinflussen lassen. Geschmeidig drehte sie sich um, setzte ihre Füße in den hohen geschnürten Sandalen elegant voreinander, ohne einmal ins Straucheln zu geraten. Beim Verlassen des Laufstegs zerfiel die Grafik und machte einem neuen Raum Platz, in dem die Avatare zahlloser Personen auf die Ergebnisse ihrer Durchgänge warteten. Nalani nickte zwei Spielerinnen zu, die im gleichen Club wie sie spielten. Auch der Konkurrent aus der Smaragdliga bekam ein anerkennendes Nicken, sein Lauf auf den hohen Pumps war beeindruckend gewesen.

Dann ließ sie sich auf ihren Sessel fallen, über dem sich ihre Identifikationsnummer 113892.coNA05 gemeinsam mit ihrem Nickname „IcyBlue92“ und ihrem Profilbild drehte.

Darunter ihre gesammelten Social Points, die sie als Bürgerin Kategorie 4 auswiesen. Seufzend aktualisierte sie ihren Avatar mit dem Rahmen, den sie als Finalistin des Look Events gewonnen hatte. Ihr Profilbild würde sie spätestens morgen wieder aktualisieren, wenn sich die neuen Trends festigten.

Mit diesem Gedanken rief sie eine Liste der vorläufigen Ergebnisse ihres Runs auf. Ein grimmiges Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. Eindeutig beeindruckende Zahlen, aber bevor die Vergleichswertung startete, wusste sie nichts. Aus den Augenwinkeln nahm sie die jetzt einlaufenden Kommentare wahr, einige davon das erwartbare „Eiskönigin“. Sollten sie doch. Sie hatte hart daran gearbeitet, eine überzeugende Personality aufzubauen, die gleichzeitig unnahbar und unwiderstehlich war. Ein Hauch Arroganz gehörte dazu und erlaubte ihr, Privatleben und Herkunft zu verschweigen, obwohl sie natürlich wusste, dass es genügend Vermutungen gab. Immerhin hatte sie sich ihren Weg aus Kategorie 10 nach oben mühsam erkämpft, was bedeutete, dass ihre Eltern es versäumt hatten, bei der Bestellung ihres Nachwuchses selbst eine angemessene Anzahl Social Points zu verwalten.

Nalani hatte die ersten Punkte der virtuellen Währung genutzt, die Verbindungen zu ihrer Mutter Poppy zu verwischen. Nicht, weil sie ihre Mutter nicht liebte, die sogar bis zu Nalanis zwölften Geburtstag einen Cubus mit ihr geteilt hatte und sie nicht gehen lassen wollte, als die Zeit kam, ein eigenes Konto zu erhalten. Aber eine Verwandte in der Hardcore-Fantasy Gaming Szene, wo Social Points nichts zählten und nur In-Realm-Achievments gewertet wurden? Nein danke, da könnte sie gleich allen Followern erzählen, dass sie unbedeutende Deppen waren, so schnell wie ihre Zahlen droppen würden.

„Hey Icy!“

Nalani hob ihren Blick, um die Figur eines jungen Mannes in einem geblümten Surfer-Outfit zu erblicken. Eines seiner Augen schimmerte Violett, das andere Grün und über seinen magentafarbenen Locken saß ein knallgelbes Cap.

„Hey RainBo12. Wie geht’s?“

Der Mann ließ sich in den Sessel neben sie fallen, der sich prompt zu einer Liege umformte, um seiner Körperform entgegenzukommen.

„Ah, ich glaube, ich habe meinen Lauf vermasselt. An das Feeling dieser Sandalen kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Nächstes Mal wieder Pumps.“

Nalani streckte ihr Bein mit den Espadrilles in die Luft und betrachtete das ungewöhnliche Schuhwerk. „Ich fand es herausfordernd, verstehe aber vollkommen, was du meinst. Vielleicht nehme ich sie trotzdem in mein Inventory auf. Irgendwie finde ich sie cool. Extravagant.“

RainBo12 zuckte die Achseln und an seinen Füßen erschienen kreischend gelbe Pumps mit Plateau-Absatz. Dezent entsprach nicht seinem Stil, aber er hatte genügend Follower, die seinen Style vergötterten. Mehr als Icy, denn er stand kurz vor dem Absprung in Kategorie 3. Dennoch verhielt er sich ihr gegenüber freundlich, fern der Arroganz einiger anderer Look Contestants. Dass er in Schweigen verfiel, bedeutete nicht, dass er sie ignorierte. Wie Nalani zuvor stürzte er sich auf seinen Feed, antwortete den Kommentaren, die es wert waren und verteilte Likes bei Kontrahenten, die er mochte - auch bei Nalani, wie sie mit einem Lächeln quittierte.

Erst als der Gong ertönte, der die Endwertung verkündete, hob Nalani wieder ihren Blick und erfasste die rauschenden Zahlenkolonnen, die jetzt in dem Communityraum erschienen.

Die meisten der Teilnehmenden erhoben sich, studierten die Zahlen. Sitzgelegenheiten und Identifikationsnummern verschwanden und nach und nach lösten sich auch die ersten Contestants aus den hinteren Wertungen auf. Schon waren die Top 100 erreicht und Nalani hielt die Luft an. 20 ... 17 ... und dann erschien vor ihrem Gesichtsfeld die Bestätigung: Platz 13. Nicht schlecht. Aber nicht gut genug.

Frustriert tippte sie sich an die Schläfe, ohne sich bei RainBo12, der sich über Platz 3 freute, zu verabschieden. Sie konnte sich jetzt unmöglich für ihn freuen, so sehr er es auch verdient hatte.

 

Newsblog

Weltweit gingen gestern Hunderttausende auf die Straße, weil sie um ihre durch Artificial Intelligence bedrohten Jobs protestieren. Betroffen sind vor allem Programmierer*innen, Texter*innen und viele andere White-Collar-Worker. Professorin Perivolaris von der Universität Duisburg-Essen hielt in einem Interview dagegen, dass künstliche Intelligenz nur die Arbeitsbereiche ersetzen könne, in denen keine Kreativität gefragt sei, da sich diese nicht antrainieren lasse. Hinzu kämen Tausende von Arbeitsplätzen, die zur Kontrolle der KIs (Künstliche Intelligenzen) notwendig wären, um gewünschte Ergebnisse zu erzielen, und die neu geschaffen werden müssten.

Auch Guillermo Puerta, der Erfinder der weltweit führenden Nutzungssoftware Ventanas stellte sich zu diesem Anlass den Fragen der Presse: „In der Menschheitsgeschichte hat es immer Umbrüche gegeben und wir stehen nun vor einer neuen Epoche, vergleichbar mit dem Zeitalter der Industrialisierung. Ich kann nur sagen, dass unsere KI POET aller Voraussicht nach die Effizienz von Hunderttausenden von Unternehmen steigern und eine neue Phase des Wohlstands für uns alle einleiten wird. Komplexe Sachverhalte wird POET viel schneller lösen können, wovon alle Menschen profitieren.“

Die Protestierenden sehen durch diese Aussage ihre Meinung untermauert, dass weitere Arbeitsplätze wegfallen werden und kreative Prozesse durch die Replikation austauschbarer Inhalte ersetzt wird. Dazu äußerten sich Künstler*innen aller Sparten. Bestseller-Autorin Stephanie Queen meinte: „Schon jetzt wird das Internet mit Hunderten KI generierter Kopien der Handlungen meiner Bücher überschwemmt und ich kann juristisch niemanden belangen, dabei wurde POET mit den Inhalten trainiert, die wir Schreibenden geschaffen haben.“

In Regierungskreisen hieß es, dass dennoch der Antrag auf eine Gewinnbeteiligung aller Menschen, die Texte verfassten, mit denen POET gelernt hatte, nicht durchkommen würde. Schließlich lasse sich mittlerweile eine Rückverfolgung der genutzten Schriften nur schwer nachvollziehen.

 

Die virtuelle Welt um Nalani herum verschwand und sie schlug mit flatternden Lidern die Augen auf. Ächzend schob sie die Brille von ihrem Gesichtsfeld und bemerkte, wie die Umgebung mit dem Ausklinken aus ihrer Realität langsam in goldgelbes Licht gehüllt wurde. Nicht zu hell, denn die Netzhäute reagierten empfindlich, wenn sie nach langen Aufenthalten zurück in ihren Cubus kehrte.

Automatisiert wurden einige der Sonden entfernt, die ihre Körperfunktionen überwachten und ihr virtuelles Erlebnis verstärkten. Sie zuckte bei jedem Ziehen zusammen, nicht gewöhnt an die Empfindungen ihres echten Körpers.

Langsam versuchte sie, sich aufzusetzen, und unterdrückte ein Zittern. Wie lange hatte sie sich nicht mehr ausgeloggt? Es gab Empfehlungen für eine angemessene Aufenthaltszeit, die DEA regelmäßig vorschlug. Doch sie hatte diese Art von Bevormundung deaktiviert, verließ sich ganz auf die maschinelle Kontrolle, die ihren Körper schon mit allem Notwendigen versorgen würde.

Ihre Finger zitterten, als sie die Sensorhandschuhe abstreifen wollte, bekamen ihre andere Hand kaum zu fassen und sie benötigte mehrere Versuche, die Handschuhe abzulegen. Auch ihr Rücken beschwerte sich darüber, nach dem ausgedehnten Liegen in eine Sitzhaltung gezwungen zu werden.

Verdammt, wahrscheinlich war es wirklich zu lang gewesen. Andererseits, wozu brauchte sie ihren Körper? Sie musste nur ganz kurz mal abschalten, sich sammeln, dann konnte sie zurück. Ihre Beine gehorchten ihr widerwillig, als Nalani sie über den Rand der Liege schwang und aufzustehen versuchte. Sie biss sich auf die Lippen. Vor einiger Zeit hatten sich ihre Beinmuskeln so weit abgebaut, dass DEA sie für viele Zyklen jeden Tag zwei Stunden aus der Welt geschmissen hatte, um ihre zurückgebildeten Muskeln zu trainieren.

Wie aufs Stichwort tönte die Stimme der Göttin durch den Raum. „Nalani, wie ich festgestellt habe, hast du körperliche Bedürfnisse erneut ignoriert. Ich werde dir eine Sperrzeit von einer Stunde täglich einrichten, bis deine Beinmuskulatur wieder in zufrieden stellendem Maße aufgebaut ist.“

Nalani stöhnte genervt und hopste als Antwort von ihrer Liege, wobei ihre Beine fast unter ihr zusammenbrachen und sie ihre Hände gerade noch in den Rand der Lehne krallen konnte, um sich festzuhalten. „Quatsch, alles gut“, flüsterte sie und begann prompt zu husten. Verdammt, wann hatte sie zuletzt richtig gesprochen?

Zum Glück stellte sie fest, dass sich ihre Beine zwar wackelig anfühlten, aber lauftauglich waren. Solange die Strecke einen Meter nicht überstieg.

„Siehst du?“, verkündete sie triumphierend, nachdem sie den Meter bis zum Nahrungsautomaten zurückgelegt und sich ein Glas Wasser abgefüllt hatte. „Alles prima.“

Bevor ein neues Krächzen ihrer Kehle entrann, ließ sie die Flüssigkeit langsam den Hals hinein fließen.

Warum hatte sie sich ausgeloggt? Das bisschen Frustration hätte sie auch in der Welt ertragen können, nicht in diesem dämlichen Cubus, wo sie an ihre schwächliche Gestalt erinnert wurde, die so gar nichts mit ihrem perfekten Avatar gemeinsam hatte.

„Warum benötigen wir überhaupt biologische Körper?“, schimpfte Nalani vor sich hin, ohne die Frage an jemanden zu richten, doch DEA fühlte sich berufen, zu antworten.

„Gehirnmuster von Menschen lassen sich zwar nach dem Tod speichern und in die Welt übertragen, aber es handelt sich um bloße Kopien. Das Selbst oder die Seele von euch Menschen zu erhalten, ist leider nicht möglich. Nach dem Tod werden deine Erinnerungsmuster Teil der Welt und du wirst somit unsterblich. Oder zumindest eine Kopie von dir. Bis dahin bist du, wenn du als Entität 113892.coNA05 existieren möchtest, auf deinen Organismus angewiesen.“

„Sehr tröstlich“, seufzte Nalani und ließ sich auf den elastischen Boden des Cubus fallen, den Becher in der Hand. „Lass mich bitte allein.“

„Wie du wünschst“, antwortete die Präsenz. Natürlich wusste Nalani, dass sie nicht wirklich fort wahr. DEA war überall, hörte jederzeit zu, überwachte die Welt und schützte ihre Bewohner. So wie es immer gewesen war. Zumindest, seit ihre Vorfahren hierher gezogen waren, in diese virtuelle Realität, die ihnen alles ermöglichte, was sie sich wünschen konnten. Es gab Millionen von Realms und Communitys, für jeden das passende Leben. Manche wechselten zwischen Erfahrungsbereichen, auch wenn das nicht häufig vorkam. Wer einmal angefangen hatte, Follower zu sammeln, wollte sie nicht aufgeben, bloß weil ein anderer Realm interessanter wirkte. Nur die Rückkehr aus der Welt in die eigenen Cubi, um sich ihren Körpern zu widmen, ließ sich immer noch nicht gänzlich vermeiden.

Mühsam richtete Nalani sich auf und wuchtete ihre Glieder in das Ertüchtigungsgerät, das ihre Muskeln trainieren würde. Sie legte Arme und Beine in die vorgesehenen Gelenke und aktivierte die Apparatur, die sich in Bewegung setzte und ihren Körper in optimalen Abläufen zur Muskelkontraktion bewegte.

Nalanis Blick schweifte blinzelnd durch den Cubus, die zwei mal zwei mal zwei Meter, die ihr gehörten. Alles strahlte glänzend Weiß und neben der Liege, dem Fitnessapparat und dem Nahrungsautomaten gab es nur noch die Waschzelle und den Recycler. Sie wusste, dass hinter den Wänden ein Röhrensystem existierte, durch das sie bei Bedarf in andere Cubi transportiert werden konnte, wenn sie den Wunsch nach Nähe verspürte. Also, nach körperlicher Nähe. Nalani schüttelte sich. So etwas Bizarres. Nicht zu bizarr für ihre Mutter Poppy, die immer wieder äußerte, dass sie sich über echte Begegnungen freuen würden. Die virtuelle Welt war real! Körperlicher Kontakt hingegen verpönt und Zeiten, die man sich außerhalb der künstlichen Umgebung befand, wurden negativ von der Gemeinschaft vermerkt.

Ja, Nalani erinnerte sich, wie sie irgendwann den Cubus ihrer Mutter verlassen hatte und hergekommen war. Damals, als sie erwachsen wurde. Nach der Zeitrechnung der Vorfahren vor acht Jahren. Heute zählte sie zwanzig. Doch wen interessierte reales Alter, wenn jede Person ihr Aussehen in der Welt so anpassen konnte, wie sie wollte? Selten nahm sie Notiz von Avataren, die seltsam verknautscht wirkten. Ein Zeichen, dass die Menschen dahinter an den Filtern herumspielten, um sich abzusetzen und Alter zu projizieren. Einen Vorgang, den Nalani nicht nachvollziehen konnte.

Ihr graute bei dem Gedanken, dass so etwas eines Tages ihrem Körper bevorstand. Ganz sicher würde sie die Welt dann nicht mehr freiwillig verlassen, denn sie würde es nicht ertragen, ein Gesicht aus Knautschzonen zu anzufassen. So richtig vorstellen konnte sie sich nicht, wie alte Menschen aussahen, aber es war bestimmt furchtbar. DEA würde sie hinausschmeißen müssen. Auch wenn es schwer sein würde, das zu erkennen, immerhin gab es im Cubus nichts, worin sie sich spiegeln konnte, nicht mal die matten weißen Wände. Nalani konnte nicht sagen, wie ihr biologisches Erscheinungsbild wirkte. Nur von ihrer Mutter wusste sie, dass sie eisblaue Augen hatte ... etwas, das ihr schon als Kind gefallen hatte. Eisblau, wie in der Geschichte von der eiskalten Schneekönigin, die ihre Mutter ihr erzählt hatte.

Die Apparatur entließ sie mit einem Summton und Nalani schälte sich aus dem weißen Catsuit, in den ihr Körper gezwängt war. Sie warf den nach Schweiß und anderen Ausdünstungen stinkenden Stoff in den Recycler und stellte sich in die Waschzelle. Die übergoss Nalani kurz mit lauwarmem Wasser und teilte ihr dann eine genau berechnete Menge neutraler Waschlotion aus, mit der sie ihren Körper einrieb. Ein weiterer Schwall Wasser reinigte sie und floss durch die winzigen Löcher der Zelle hinweg in die Tiefe. Ein kurzer Stoß Wärme zerrieb die nassen Tropfen auf ihrem Körper und sie stieg in den neuen Catsuit, den der Recycler ihr mittlerweile vorbereitet hatte. Wie eine zweite Haut legte er sich über sie und sie atmete erleichtert auf, die schützende Hülle zu tragen.

Wie lange noch? Wie lange, bis sie wieder in die Welt zurückdurfte? Sie wusste, dass der nächste Nahrungszyklus bevorstand und favorisierte, diesen unbemerkt über Schläuche einnehmen zu können. Die flüssige Lösung, die ihr ansonsten zugeteilt wurde, bereitete ihr Unbehagen.

Ungeduldig trommelte sie auf dem Terminal an der Liege herum, das die Sekunden bis zu ihrem neuen Einstieg herunter zählte, als ihr der Himmel auf den Kopf fiel.

Schreiend stürzte sie zur Seite, das Licht flackerte und ein dumpfer Schmerz pochte in ihrem Schädel. Während sie das heruntergefallene Kunststoffpanel beiseiteschob, das sie halb unter sich begraben hatte, polterte es erneut und die Wucht eines Aufpralls stieß sie zur Seite.

Erschrocken starrte sie in smaragdgrüne Augen.

„Nanu, du bist ja überhaupt nicht eingeloggt“, sagte eine fremde Stimme.

 

 

 

2. Verlust der Unschuld

Die fremde Person blinzelte und wandte sich dann ab, um sie herum ein Chaos aus Staub, Kabeln, Paneelen und Schrott, das aus der Decke gebrochen war. Ihn schien jedoch weder sie noch die Unordnung, die er fabriziert hatte, sonderlich zu interessieren. Stattdessen begann er, den Boden des Cubus abzuklopfen.

Erstarrt folgte Nalani jeder seiner Bewegungen mit ihrem Kopf, unfähig, auch nur eines ihrer Gliedmaßen zu rühren. Noch nie war ein anderer Mensch in ihren Cubus eingedrungen. Tatsächlich hatte sie noch nicht mal Gossip darüber gehört, dass so etwas jemals geschehen wäre.

„DEA?“, suchte ihre Stimme krächzend die Nähe der Göttin, doch an ihrer Stelle antwortete erneut der Neuankömmling. „Bemüh dich nicht, Chérie. Deine Göttin ist gerade anderweitig beschäftigt.“

Fassungslos versuchte Nalani, die Worte zu begreifen. DEA existierte allgegenwärtig. Die Göttin gab ihrer Welt an beiden Enden Bestand, dort wo sie lebten und in ihren Cubi. „Du lügst“, brachte sie schließlich verunsichert hervor.

Ein Grinsen zeichnete sich auf dem fremden Gesicht ab, bevor es sich wieder seiner Beschäftigung zuwandte. Dabei fielen Teile der silbergrauen Kopfbedeckung in die scharf geschnittenen Züge der Person. Irritiert betrachtete Nalani das ungewohnte Material und strich sich über ihren eigenen, samt-weichen Schädel.

„Was hast du da auf deinem Kopf?“

„Haare“, sagte die andere Person, während sie fortfuhr, hektisch das Bodenpanel aufzuschrauben.

„Haare?“, wunderte sich Nalani und strich erneut über ihre Glatze. „Wozu soll das gut sein? Das sieht man doch in der Welt gar nicht. Sieht struppig aus.“

Die Person schnaubte und stach anstelle zu antworten mit ihrem Instrument in den Boden. Nalani zuckte zusammen, als wäre sie das Ziel der unbarmherzigen Attacke gewesen. Nicht ihr Fußboden.

„Verdammt, hör damit auf! Wer bist du überhaupt? DEA? DEA! Safeword: Mohnblume. Mohnblume.“

Doch ihre Göttin blieb stumm.

Was sollte sie nur tun? In der Welt, da gab es Protokolle, Vorgänge, Abläufe, die bei Fehlern in der Routine sofort griffen und DEA merzte jede Abweichung aus, bevor sie in das Bewusstsein des Feeds gelang. Alles war vorhersehbar.

Dieses Ereignis war es eindeutig nicht, ein Event, das nicht in ihren Tagesablauf gehörte. Erneut verfluchte sie den Moment, als sie entschieden hatte, sich auszuloggen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Eingeschnappte Prima, schimpfte sie sich selbst. Warum hatte sie Rainbo12 nicht einfach gratulieren und mit ihm auf ein Partylevel wechseln können? Vielleicht hätte sie ein paar wertvolle Connections geschlossen, die ihr beim nächsten Look Event Bonus Points bringen würden. Aber nein, sie saß hier mit einer Person, die offensichtlich geistig verwirrt war und ihren Cubus zerstörte. DEA antwortete nicht, und sie wusste nicht, wie sie auf diesen keinem Protokoll entsprechenden Irrsinn reagieren sollte.

Widerstrebend riss sie ihren Blick von der unverwandt auf ihren Boden eindreschende Person und warf sich auf ihre Liege. Mit Nachdruck versuchte, sie, sich zurück ins System einzuloggen, doch die Verbindungen reagierten zu ihrem Entsetzen nicht. Auch wiederholte Versuche, die Sonden an ihre Haut zu heften sowie das Überziehen der Brille scheiterten. Statt ihre Welt erkannte sie hinter den Gläsern nur abweisende Finsternis.

„Sorry, da DEA diesen Sektor gerade nicht registriert, hast du keine Möglichkeit, dich einzuklinken. Wäre was anderes, wenn du schon eingestöpselt gewesen wärst, aber ich musste den lokalen Schaltkreis zur Sicherheit unterbrechen.“

„Was?!“ Nalani verstand nur einen Bruchteil dessen, was der Störenfried ihr mitteilte, aber die Essenz seiner Aussage drang auf den Grund ihres Bewusstseins: Sie konnte nicht zurück in die Welt. Sie entkam diesem Menschen nicht, der bloß einem Abziehbild dessen entsprach, was sie aus der virtuellen Welt gewohnt war.

---ENDE DER LESEPROBE---