Titanias Töchter - Mary Stormhouse - E-Book

Titanias Töchter E-Book

Mary Stormhouse

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Beschreibung

Amabels Leben steht Kopf! Statt weiter mit ihrer besten Freundin Unterricht zu schwänzen und über Jungs zu reden, muss sie Hals über Kopf auf eine Privatschule in Spanien wechseln. Schnell erkennt sie, dass die Schule ein Geheimnis umgibt: Feen, Magie und der Schatten ihrer totgeglaubten Mutter sind hier allgegenwärtig. Denn bei ihr handelt es sich um Titania, die Königin aller Feen. Fortan gilt es für Amabel und ihre neuen Schwestern, ihre magischen Fähigkeiten zu entdecken und das Erbe ihrer Mutter anzutreten. Doch bald stellt sie fest, dass hier nichts ist, wie es scheint und ein düsteres Geheimnis die Welt bedroht. Tauche ein in eine fantastische Erzählung auf den Spuren von Shakespeares “Sommernachtstraum”.

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Titanias Töchter

 

Von Mary Stormhouse

 

 

Zu diesem Buch:Amabels Leben steht Kopf! Statt weiter mit ihrer besten Freundin Unterricht zu schwänzen und über Jungs zu reden, muss sie Hals über Kopf auf eine Privatschule in Spanien wechseln.

Schnell erkennt sie, dass die Schule ein Geheimnis umgibt: Feen, Magie und der Schatten ihrer totgeglaubten Mutter sind hier allgegenwärtig. Denn bei ihr handelt es sich um Titania, die Königin aller Feen. Fortan gilt es für Amabel und ihre neuen Schwestern, ihre magischen Fähigkeiten zu entdecken und das Erbe ihrer Mutter anzutreten.

 

Titanias Töchter ist die erste Geschichte aus der Verborgenen Welt. Jedes Buch der Reihe funktioniert als abgeschlossenes Abenteuer.

 

 

 

 

Über die Autorin:Mary Stormhouse schreibt, podcastet, larpt und lebt zwischen Feenstaub und Sternenschiffen.

stormhouse.de Instagram, Twitter @marystormhouse

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von Mary Stormhouse

 

 

 

 

 

 

 

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© 2022 Mary Stormhouse – alle Rechte vorbehalten.

Fakriro GbR Impressumsservice Bodenfeldstr. 9 91438 Windsheim Lektorat: Cao Krawallo Cover: Juliet May Buchsatz: Mary Stormhouse

 

 

 

 

 

Für Ava

Und alle jungen Mädchen.

Ihr habt die Freiheit zu wählen,

wer ihr sein wollt.

 

 

 

 

1. Der mysteriöse Fremde

 

Ausgerechnet Mehtap Quince!

Entsetzt sah Amabel in das wutschnaubende Gesicht der Stufenschönheit.

„Pass doch auf, wo du hintrittst!“, fauchte die.

Hätte Amabel nicht mit jemand anderem zusammenstoßen können, als sie um die Ecke zum Chemieflur einbog? Sie verfluchte ihr Pech, das sie zuverlässig begleitete.

Wie immer war die selbsternannte Stufenkönigin perfekt gestylt. Nicht ein Haar, das aus ihrem brünetten Pferdeschwanz ausbrach. Amabel hatte keine Ahnung, wie sie das anstellte. Wenn sie selbst ihre Mähne zusammenband, fusselten nach Sekunden überall ihre hellblonden Löckchen wieder raus. Mehtap sah hingegen genauso aus, wie sie sich den Followern auf Tiktok präsentierte. Nicht, dass Amabel diese App auf ihrem Handy hatte. Aber so lautete die Meinung auf den Schulfluren, wo schwärmende Verehrerinnen Mehtaps Styling-Tipps anpriesen. Kein Wunder. Die feinen Perl-Ohrringe passten hervorragend zur flügelärmligen Bluse, die wiederum genau auf die beigefarbene Dreiviertelhose abgestimmt war. Die Nike-Turnschuhe mit Goldakzenten stellten eher ein modisches als ein sportliches Statement dar. Vermutlich entsprang das gesamte Ensemble der Empfehlung einer Beautyblogger-Ikone, deren Namen Amabel nie gehört hatte.

„Sieh dir an, was du angerichtet hast!“, zeterte Mehtap weiter und gehorsam betrachtete Amabel den leeren Becher ihrer Stufenkameradin. Da erst begriff sie, dass die feuchten gelben Flecken auf Mehtaps Bluse keinen Bestandteil ihres Auftritts bildeten.

„Uh, sorry“, brachte Amabel hervor und spürte zu ihrem Entsetzen, dass sie rot anlief.

Sie wünschte sich, wie so oft, in solchen Momenten cool zu bleiben. Oder dass ihr schlagfertig eine lässige Antwort über die Lippen kam. Aber die würde ihr frühestens heute Abend im Bett einfallen, nachdem sie diese Begegnung hundertmal hin- und hergewälzt hatte. Auch jetzt rannte ihr Gehirn nur panisch von links nach rechts und sie hoffte nicht nur, im Boden zu versinken. Nein, am liebsten wäre sie direkt in eine neue Identität gesprungen, weit entfernt von hier. Dummerweise war die Situation noch nicht überstanden, wie sie am Blick ihrer Gegenüber erkannte. „Das Shirt ist von Unworthy, dem angesagten Berliner Label.“ Mehtap sah abschätzend an Amabel herunter und verzog dabei ihre Lippen zu einem abwertenden Lächeln. „Davon hast du natürlich keine Ahnung. Welchen Discounter trägst du heute?“ Pia und Mareike, ihre unverzichtbaren Reallife-Follower, kicherten hämisch.

Amabels Gesicht glühte mittlerweile und mögliche Dialogoptionen kollidierten ergebnislos in ihrem Kopf. Vor allem, weil sie wirklich Klamotten vom Discounter trug. Die schlabbrig sitzende Jeans stammte ebenso wie die türkisfarbenen Turnschuhe vom Wühltisch. Da würde ihr auch der Umstand, dass immerhin zertifizierte Bio-Baumwolle verarbeitet war, nicht helfen. Nur das schwarze T-Shirt mit dem goldenen Drachen und der Spitze an den Schultern hatte sie sich von ihrem selbst verdienten Geld gekauft. Das gehörte aber auch eher in die Kategorie Nerd-Chic als Selfie-Potential.

Da die Blicke von Mehtap und ihren Freundinnen sie immer noch durchbohrten, raffte Amabel sich zu einer weiteren Antwort auf.

„Hey, ich hab mich entschuldigt“, murmelte sie. Gedanklich verpasste sie sich einen Schlag gegen den Hinterkopf. Wie erbärmlich verhielt sie sich?

Mehtap lächelte zuckersüß. „Das reicht nicht. Dafür schuldest du mir was.“ Sie zückte ihr Smartphone und bevor Amabel sich wehren konnte, hatte Mehtap sich an sie gedrückt und strahlte in die Kamera. Beifall heischend präsentierte sie das geschossene Selfie.

Wie erwartet fing es Amabel höchst unvorteilhaft ein. Selbst mit Vorwarnung sah sie auf den wenigsten Bildern fotogen aus. Ihre schulterlangen Haare wirkten gleichzeitig platt und zerzaust. Neben Mehtaps ebenmäßigen Teint leuchtete ihre Haut wie eine Ampel auf Ecstasy. Und statt eines zauberhaften Lächelns brachte sie bloß ein gequältes Grinsen zustande. Nur ihre gelbgrünen Augen standen denen von Mehtap in nichts nach. Seltsam. Amabel war vorher nie aufgefallen, dass die andere die gleiche seltene Augenfarbe besaß.

„Hier mein Text: Unterwegs im Ehrenamt. Heute gebe ich den Minderprivilegierten Stylingtipps. Und Klamotten der letzten Saison.“

Lächelnd tippte Mehtap auf „Posten“, dann wühlte sie in ihrer riesigen Handtasche, die für den Schulalltag eher ungeeignet zu sein schien. Triumphierend zog sie ein knitterfreies Top zwischen ihren Mathebüchern hervor und warf es Amabel an den Kopf.

„Hier, kannst du haben. Soll keiner sagen, dass ich Fakes poste.“

Irritiert zog sich Amabel das übertrieben nach Vanille riechende, lavendelfarbene Top aus dem Gesicht.

„Ich brauche deine Almosen nicht! Ich bin ja nicht nackt“, protestierte sie zaghaft.

„Das würde auch keiner sehen wollen“, entgegnete Mehtap.

„Nur weil dein Vater Regisseur ist, brauchst du dich nicht so aufzuführen. Du hast eine Entschuldigung bekommen und das Shirt kann man waschen. Musst du noch nicht einmal selbst tun, das macht ja eure Haushälterin. Kauf dir von Papis Geld lieber ein paar Manieren.“

Amabel wünschte sich, sie hätte diese Worte gesagt. Aber sie kamen von einem Jungen, den sie nie zuvor gesehen hatte. Unbemerkt war er an ihre Seite getreten und sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Er überragte sie nur um wenige Zentimeter, erschien ihr aber viel größer. Sein fein geschnittenes Gesicht offenbarte eine asiatische Herkunft, seine hellblauen Augen verrieten dazu einen eindeutig europäischen Einschlag. Ihn nur gutaussehend zu nennen, hätte ihm Unrecht getan.

Selbst Mehtap blieb stumm und alle Mädchen folgten der Hand des Fremden, als er sich durch seine halblangen, pastellgrauen Strähnen fuhr. Amabel erwartete halb ein Kamera-Team, das hier einen Spot für Haar-Gel drehte. Doch ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wendete der Fremde ihnen den Rücken zu.

Die vier Mädchen starrten ihm nach.

Er bewegte sich leichtfüßig in seiner schwarzen Leinenhose mit weißem T-Shirt, ja, er tänzelte mehr, als dass er ging.

Obwohl nicht muskulös, wirkte er doch durchtrainiert. Wie eine Katze, fuhr es Amabel durch den Kopf. Er verschwand hinter der Ecke, um die sie zuvor gekommen war. Die Schülerinnen guckten sich perplex an.

„Kennst du den?“, fragte Mehtap Amabel und schien vergessen zu haben, dass sie sich nicht ausstehen konnten. „Der war ja mal echt heiß.“ Amabel starrte weiter zu der Stelle, wo der Fremde verschwunden war, und schüttelte den Kopf.

Mehtap und ihre Freundinnen gingen in Richtung des Chemie-Grundkurses. Amabel folgte ihnen wenige Sekunden später nachdenklich.

 

 

Der Tag zog sich unerträglich in die Länge. Amabel saß im Unterricht und hing ihren Gedanken nach. Ihre Sitznachbarin kritzelte eifrig die Details des Versuchsaufbaus mit, der Amabel weit weniger interessierte als der junge Mann von vorhin. Sein Aussehen hatte offenbar ausgereicht, um Mehtap den verschütteten Orangensaft vergessen zu lassen. Wer war er und warum hatte er sich für Amabel eingesetzt?

Sie sah aus dem Fenster und auf den Kirschbaum im Schulhof. Jetzt, kurz vor den Sommerferien, hingen die Äste übervoll mit Kirschen. Man konnte meinen, der Baum wäre komplett in blutroter Farbe gestrichen worden. Zumindest die Äste in den oberen Bereichen, die nicht bereits geplündert waren.

Amabel erinnerte sich an einen Anime, den sie gesehen hatte. Eigentlich fand sie den Film zu langweilig. Aber die Geschichte erzählte einfühlsam und in wundervollen Zeichnungen von einem jungen Liebespaar. Die Metapher, in der die Liebe mit den Zentimetern, die ein Kirschbaum in einem Jahr wuchs, gleichgesetzt wurde, hatte Amabel berührt. Trotz fehlender Handlung. Sie mochte Kirschblüten. Leider waren die fort, wenn die Früchte an den Ästen hingen, die Blütezeit und der Frühling vorbei. Der Baum im Schulhof blühte schon lange nicht mehr. Oder doch? Für einen Moment meinte Amabel, ihn wieder in voller Blüte stehen zu sehen. Wahrscheinlich lag es an dem schlecht riechenden Experiment, das Herr Blume vorn durchführte. Oder an den hämmernden Kopfschmerzen, die ihr seit einer Weile zusetzten. Sie kramte möglichst unauffällig in ihrem Rucksack und schob sich eine Ibuprofen in den Mund, die sie mit einem Schluck Wasser hinunterspülte.

„Frau Weber, da sie dem Versuch bereits die ganze Zeit mit großer Aufmerksamkeit folgen, sollte es für sie kein Problem darstellen, uns die nächste Phase zu demonstrieren.“

Amabel zuckte zusammen und stand dann seufzend auf, um die Treppenstufen zum Versuchstisch hinunterzugehen. Das war ganz eindeutig ihr Tag.

 

„Weißt du, du solltest nicht ganz so viel träumen. Dann wärst du nicht so oft Zielscheibe vom Blume, der Eckhardt oder so Zicken wie Mehtap“, riet Lena.

Sie war diejenige in der Stufe, die Amabel am ehesten als Freundin bezeichnet hätte. Hauptsächlich verband sie, dass sie im Klassenabseits standen.

Lena lutschte nochmal an ihrem Kirschkern und spuckte ihn dann in hohem Bogen Richtung Mülleimer, um ihn triumphal zu verfehlen.

Sie saß mit Amabel auf dem Zaun vor dem Kirschbaum und gemeinsam hatten sie das Läuten zur letzten Stunde bewusst überhört.

„Ich träume nun mal gern.“ Amabel spuckte ihren Kirschkern ebenfalls vage in Richtung Mülleimer und steckte sich eine neue Kirsche in den Mund. Kerne und zertretene Früchte, die vom Baum gefallen waren, sprenkelten den Boden vor ihnen. „Außerdem ist Chemie fast so öde wie Mathe. Und ich werde eh mal Redakteur. Oder Werbetexter wie mein Vater. Was brauche ich da Zahlen und Chemie?“

Lena zog genüsslich eine weitere Kirsche vom Stängel. „Vielleicht berichtest du mal über einen Unfall bei Bayer oder machst Werbung für ein Statistikbüro. Da hilft dir das bestimmt“, nuschelte sie an dem Kirschkern vorbei.

Amabel kicherte. „Ich dachte ja eher, dass ich über Politik schreibe und für NGOs Werbung mache.“

„Für so uneigennützige Organisationen wie dein Alter? Sorry, ist das nicht der Grund, warum ihr keine Kohle habt?“

Amabel biss die Lippen zusammen und Lena wechselte schnell das Thema. „Erzähl lieber nochmal von dem Typen.“

Amabel grinste. „Der sah aus wie aus einer der Schmonzetten, die Mehtaps Vater dreht. Nur hat er sich neben mich gestellt, nicht neben sie.“

„Das hat unserer angehenden Schauspiellegende bestimmt nicht gepasst.“ Lena gab sich keine Mühe, ihre Schadenfreude zu verbergen.

Der gesamten Schule war bekannt, dass Hamza Quince seiner Tochter in einigen Filmen kleine Rollen verschafft hatte und Mehtap außerdem Schauspielunterricht nahm. Der beginnende Erfolg trug nicht unbedingt zu ihrer Bescheidenheit bei.

„Wie war er sonst?“, löcherte Lena weiter.

„Roch gut. Irgendwie nach Wald. Und gleichzeitig nach Salzwasser.“

Lena kicherte. „Mir würde ja schon reichen, wenn ein Typ bei der Hitze nicht nach Pumakäfig riecht.“

Nachdenklich sah Amabel einem vorbeiflatternden Schmetterling hinterher. „Irgendwie war das total seltsam. Kommt, sagt was, verschwindet. Wirklich wie im Kino.“

Lena stieß ihre Freundin an. „Du übertreibst. Du findest bloß unglaublich, dass er dich angesprochen hat.“ Sie zwinkerte. „Wenn Jan Ingermann sich für mich einsetzen würde, wäre das auch filmreif.“ Ihr Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an.

Jan Ingermann war der meistumschwärmte Junge der Schule und ein arroganter Schnösel. Beide Mädchen kicherten bei dem Gedanken. Zu dem Schmetterling gesellte sich ein zweiter und gemeinsam erweckten sie den Eindruck, als würden sie tanzen. Einen Moment sah Amabel ihnen zu, dann fasste sie sich an die Stirn.

„Wieder deine Kopfschmerzen?“

Amabel nickte. Lena kannte sie seit der Grundschule und wusste, dass sie hin und wieder von heftigen Schmerzen verfolgt wurde. In den letzten Wochen verschlimmerte es sich, ohne dass ihr Hausarzt eine Vermutung hatte, woran es lag. Er schob es auf das Wetter.

„Erzähl mir nochmal von dem Typen, dann geht’s dir bestimmt gleich …“ Lena hielt inne und kniff die Augen zusammen.

„Hatte er graues Wuschelhaar und Klamotten wie aus einem Schwarz-Weiß-Schinken?“

„Hab ich dir doch vorhin schon erzählt.“

„Der steht vorn am Schultor und starrt herüber!“

Amabels Blick schwenkte an einem halben Dutzend Schmetterlingen vorbei zum Tor.

Tatsächlich! Da stand der Fremde, lässig ans Tor gelehnt, Jacke über die Schulter geworfen, und starrte sie an. Als sich ihre Blicke trafen, stieg Hitze in Amabels Wangen. Der Junge verzog seine Lippen zu einem spitzbübischen Lächeln. Er deutete einen ausladenden Diener an und bog dann um die Ecke, um sich vom Schulgelände zu entfernen.

„Hey, warte!“ Amabel griff ihren Rucksack und wollte ihm hinterhersprinten, doch Lena packte sie am Arm.

„Hältst du das für ’ne gute Idee?“

„Wie meinst du das?“

„Der Typ ist irgendwie creepy. Fast als würde er dich stalken. Und das ist nicht romantisch.“

Amabel hängte sich ihren Rucksack um und runzelte die Stirn.

„Ich glaube nicht, dass er gefährlich ist. Hat mir ja geholfen. Und wer so aussieht, muss doch niemanden stalken.“

Sie sah sich um. „Apropos creepy: Hast du schon mal so viele Schmetterlinge gesehen?“

Um sie herum flatterten nicht mehr nur einige wenige Schmetterlinge, sondern ein paar Dutzend. Kohlweißlinge, Zitronen- und Distelfalter, Admirale und sogar zwei Schwalbenschwänze. Die beiden Mädchen standen in einem Sturm aus wirbelnden Schmetterlingen. Lena wich einen Schritt zurück an den Zaun.

„Nein, habe ich nicht“, flüsterte sie.

 

 

2. Tanz im Feenkreis

 

Auf dem Nachhauseweg verdrängten Amabels Gedanken an die Häufung der Schmetterlinge die anderen Ereignisse des Tages. Handelte es sich um ein seltenes Wetterphänomen? Sie hatte nie derart viele auf einmal gesehen oder von so einem Ereignis gehört. Zumindest nicht außerhalb von botanischen Gärten. Und abgesehen vom Kirschbaum standen kaum Pflanzen auf ihrem Schulhof. Nicht genug, um Schmetterlinge in der Menge anzulocken. Außerdem hatte es sich um unterschiedliche Arten gehandelt, keinen sich sammelnden Schwarm wie bei den Monarchfaltern in Nordamerika, über die sie eine Dokumentation gesehen hatte. Aber es musste eine wissenschaftliche Erklärung für diese Ansammlung geben, auch wenn Amabel nicht darauf kam. Warum hatte sie kein Foto gemacht? Das hätte sie an ein Naturmagazin schicken können. Dumm, dass ihr solche Ideen immer erst hinterher einfielen.

Sie mochte Schmetterlinge. Wenn ihr Vater es erlauben würde, trüge sie längst ein Schmetterlingstattoo auf den Schulterblättern. Die einzige Möglichkeit, wie ihr Flügel wachsen konnten.

Die filigranen Insekten hatten es ihr angetan, weil sie die einzige Brücke zu ihrer toten Mutter waren. Nicht nur, dass Vater häufig davon erzählte, wie sehr Tina Weber sie geliebt hatte – um den Hals trug Amabel auch ein Schmetterlings-Amulett, das schon ihre Mutter getragen hatte. Amabel hatte sie nie kennengelernt, da sie bei ihrer Geburt verstorben war. Damit nicht genug, von Tina Weber existierte kein einziges Foto. Ihr Vater Nicolas behauptete, die Kiste mit ihren Fotos sei bei einem der Umzüge in ihrer Kindheit verloren gegangen. Dabei bekam er nach jedem Wohnungswechsel Schnappatmung, wenn nur eines seiner geliebten Bücher nicht in der Kiste steckte, in der er es vermutete. Er katalogisierte jede Umzugskiste und bislang war immer alles wieder aufgetaucht. Amabels Leben dokumentierte er seit dem Säuglingsalter erstaunlich genau. Sie nahm an, ihr Vater hatte für jeden Lebensmonat von ihr ein gefülltes Album. Definitiv standen in seinem Arbeitszimmer über 25 Fotoalben und daneben diverse Festplatten mit Videos und Fotos.

Aber kein einziges zeigte ihre Mutter. Manchmal vermutete Amabel, ihr Vater hätte jedes Foto aus Trauer über seinen Verlust vernichtet. Und schämte sich jetzt dafür, weil er seiner Tochter nicht mehr zeigen konnte, wie ihre eigene Mutter ausgesehen hatte.

Natürlich erzählte er Amabel, dass sie ihr Ebenbild darstellte, mit ebenso gelbgrünen Augen. Ihr blondes Haar hatte Tina Weber fast hüftlang getragen, so dass es wie flüssiges Gold über ihre Schultern fiel.

Enttäuschenderweise verlor ihr Vater sich bei diesen Berichten so schnell in schmachtender Poesie, dass Amabel ihm schon lange keinen Glauben mehr schenkte. Im Kindergartenalter hatte sie das natürlich märchenhaft gefunden. Als wäre ihre tote Mutter eine verschwundene Prinzessin und würde - ganz wie im Märchen - schwupps, eines Tages wieder vor ihr stehen. Sie hatte lange gebraucht, um sich damit abzufinden, nicht nur keine Mutter zu haben, sondern noch nicht einmal ein Bild von ihr. Und auch keine andere Frau in ihrem Leben, niemanden, der den Platz ihrer Mutter eingenommen hätte.

Denn leider hatte sich Vater keine neue Frau gesucht. Amabel würde sich für ihn freuen. Sie teilte es ihm zwar nicht mit, aber sie hätte gern eine Mutter in ihrem Leben, selbst wenn sie nicht ihre echte wäre. Klar, da gab es ihre Oma, nur war das etwas vollkommen anderes. Oma war Oma.

Nicht einmal Verwandte hatte ihre Mutter besessen, und ihr Vater hatte nur zwei durch Teilnahmslosigkeit glänzende Brüder. Der eine war ein hoffnungsloser Single, der andere mit einer laut kreischenden Mittvierzigerin dauerverlobt. Die brachte ihr ständig Duft-Pröbchen von der Arbeit mit, obwohl Amabel gar kein Parfüm benutzte.

So gab es niemanden, der ihre Mutter ersetzen konnte, von der ihr nur das verklärte Bild ihres Vaters und der silberne Schmetterlingsanhänger geblieben waren.

Den hatte Papa ihr widerstrebend zum zwölften Geburtstag geschenkt. Sie hatte ihm trotz seines aufgesetzten Lächelns deutlich angemerkt, dass es ihn innerlich zerriss, das einzige Erinnerungsstück an seine Frau zu verschenken. Obwohl die Beschenkte ihre gemeinsame Tochter war. Der Anhänger bildete aus feinen silbernen Verstrebungen das Aderwerk zweier Schmetterlingsflügel nach. In der Mitte wurden sie durch einen zierlichen, aus Silber gegossenen Körper verbunden. Im linken Flügel saß ein blauer Stein, von dem Amabel gern glaubte, dass es ein echter Saphir war. Gedankenverloren griff sie in den Ausschnitt ihres T-Shirts, um den Anhänger zu greifen. Mittlerweile eine unbewusste Geste, die sie mehrmals am Tag ausführte. Nur um sicherzustellen, dass sich der Talisman an seinem Platz befand. Wenn sie ihn in der Hand hielt, wurde ihre Mutter ein Fünkchen realer und Amabel konnte sich vorstellen, wie sie an ihr Bett kam und ein Lied sang. Oder sie auf dem Arm durch den Park trug und ihr die Schmetterlinge zeigte, die am Flieder ihren Hunger stillten. In diesen Fantasien lief ihre Mutter immer barfuß. Mit blassen Füßen und bloßen Zehen, die keinen Nagellack brauchten.

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sie gegen etwas Warmes und Weiches stieß. Es duftete nach Wald und Meer und bevor sie seine Stimme hörte, wusste sie, in wen sie da hineingelaufen war.

„Du musst echt weniger träumen.“

Amabel sah auf und in die tiefblauen Augen des fremden Jungen, der sie verschmitzt angrinste. Sofort sprang sie zurück, auch wenn sie es ein bisschen bedauerte, dadurch den Körperkontakt zu beenden. Woher wusste er von ihren Träumen?

„Oh, sorry!“ Verlegen umfasste Amabel den Anhänger an ihrer Brust fester. Ihr Herz raste. Was machte er hier?

„An deinem Wortschatz müsstest du auch ein bisschen arbeiten.“ Spöttisch zog der Junge eine Augenbraue hoch, fast so, wie Mister Spock es tat. Nur wirkte der dabei nicht so sexy.

Amabel presste die Lippen zusammen. Verdammt. Der kam sich genauso toll vor, wie er aussah. Immerhin brachte sie den Mut auf, ihm zu antworten, wofür sie sich selbst drei Sternchen verlieh.

„Hey, es war voll nett von dir, mir vorhin beizustehen. Echt. Aber ich hab dich nicht drum gebeten und das gibt dir nicht das Recht, auf mir rumzuhacken.“

Der Junge ließ sein Grinsen in ein sanftes, einnehmendes Lächeln übergehen und hob beschwichtigend die Hände. „Langsam, Amabel. Kein Grund, deinen Retter anzugreifen. Ist mir nur aufgefallen.“ Er zwinkerte. Amabels Lippen lockerten sich ebenfalls. Aber bevor sie ihre Mundwinkel nach oben zog, fiel ihr etwas ein, das Lena gesagt hatte. „Woher kennst du eigentlich meinen Namen? Und woher weißt du, wer Mehtaps Vater ist? Du bist doch neu. Stalkst du uns? Und warum tauchst du am Ende des Schuljahres bei uns auf? Macht doch gar keinen Sinn!“

Der Junge lachte schallend und entblößte dabei ein Gebiss wie aus der Zahnpasta-Werbung. „Scheinbar kannst du ja doch in ganzen Sätzen reden. Und neugierig bist du auch. Genau wie ich.“ Er kam einen Schritt auf sie zu, um ihr ins Ohr zu flüstern: „Da sind wir uns wohl ähnlich.“

Amabel errötete, als er seinen Kopf so dicht an ihrem Gesicht vorbeizog, dass sie die Wärme seiner Haut fühlte. Dennoch ließ sie sich nicht aus der Fassung bringen und staunte über ihren eigenen Mut und die Festigkeit ihrer Stimme. „Das ist keine wirkliche Antwort.“

Statt ihr eine zu geben, streckte er ihr die Hand hin, die sie zögerlich ergriff, auch wenn Lenas Warnung in leuchtend roten Lettern in ihrem Kopf blinkte. Sein Händedruck war trotz seiner langen, schlanken Finger erstaunlich kräftig. „Robin Aerobat. Ich bin neu in Düsseldorf.“

„Amabel Weber. Aber das wusstest du ja bereits.“

Robin grinste schelmisch und strich sich die grauen Haare zurück, obwohl das nicht notwendig war. Amabel hatte nie verstanden, was Menschen daran fanden, sich die Haare wie alte Leute zu färben. Robin stand es verdammt gut und es unterstrich die Wirkung seines charismatisch-mysteriösen Auftritts. Er sah aus wie einem Anime entsprungen. Oder so einer Visual Novel fürs Handy. Entscheide dich jetzt, dachte Amabel. Date mit mysteriösem Typen oder Hausaufgaben machen. Allerdings hatte er sie gar nicht nach einer Verabredung gefragt, fiel ihr auf. Oder nach irgendetwas anderem. Vielleicht wusste er einfach schon alles über sie, was ihn interessierte?

Robin schlenderte betont langsam an ihr vorbei und drehte sich um, als ihr Blick ihm folgte.

„Vorschlag: Du stellst keine weitere Frage mehr und ich zeige dir den magischsten Ort in Düsseldorf.“ Entgeistert starrte sie ihn an. Entweder zog Robin eine echt merkwürdige Nummer mit ihr ab oder er las eindeutig zu viele Teenie-Romanzen. Was wollte er von ihr? Und warum zog sie es ernsthaft in Betracht? Das war definitiv idiotisch.

„Nun? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit?“ Die Ungeduld in seiner Stimme entkräftete die Romantik des Moments ebenso wie ihre eigenen, zur Vorsicht mahnenden Gedankengänge. Doch Amabels Neugier hatte bereits gesiegt. Was konnte schon passieren? „Okay. Ich schicke meinem Paps nur schnell eine WhatsApp, dass ich etwas später komme.“

 

Kurz darauf saß Amabel hinter Robin auf einem eddy – die mietbaren Elektroroller, die man überall in Düsseldorf fand. Ein bisschen enttäuscht war sie, dass er kein weißes Ross aus dem nächsten Gebüsch hervorgezogen hatte. Irgendwie hätte sie es ihm zugetraut. Anstatt eines Zügels hatte er ihr einen der beiden Helme aus der Box unter dem Rücksitz in die Hand gedrückt.

Sie brausten am Rhein entlang und Amabel schlang ihre Arme fest um Robins Taille, um nicht herunterzufallen. Gleichzeitig versuchte sie, sich nicht an seinen Rücken zu schmiegen, obwohl sie das gern getan hätte. Zum Glück sorgten schon die Helme für ein bisschen Abstand zwischen ihnen.

Ihr Körper kribbelte auch ohne näheren Körperkontakt und ihr Herz raste. Klar, sie ging manchmal mit Jungen aus. Aber mit welchen, die sie aus der Schule oder durch Lena kannte. Noch nie mit jemandem, den sie gerade erst kennengelernt hatte und von dem sie nur den Namen wusste. Was ist das überhaupt für ein Nachname? Aerobat? Sie würde ihn später mal googeln. Vielleicht war er ausgedacht. Das flaue Gefühl in Amabels Magen kam mit Sicherheit nicht nur von Schmetterlingen, sondern vor allem von ihrer Aufregung. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die mit gutaussehenden Fremden mal auf den Roller stiegen. Der vernünftige Teil von ihr schimpfte dafür mit ihr. Der weitaus Größere genoss derweil den Nervenkitzel. Sie spähte zur vorbeiziehenden Uferpromenade, die einen mediterranen Flair versprühte. Erst recht an Sommertagen wie diesem. Sie fuhren in den Düsseldorfer Norden, den Amabel nicht so gut kannte. Die Wohnung, in der sie mit ihrem Vater wohnte, lag in Wersten, dem südlicheren Teil der Stadt, wo sie sich das Wohnen leisten konnten.

Daher hatte sie keine genaue Vorstellung davon, wohin Robin fuhr, als er ohne zu zögern nach rechts in eine Nebenstraße einbog. Dafür, dass er neu in der Stadt war, kannte er sich gut aus. Sie hatte jedenfalls nicht bemerkt, dass er sich an Straßenschildern orientieren musste.

Erst beim Einbiegen auf einen Parkplatz mit übergroßen Reiterdenkmälern, wusste Amabel, wo sie sich befanden. Enttäuscht kletterte sie vom abseits geparkten Motorroller.

„Wir gehen in den Aquazoo? Da kann ich mir magischere Orte vorstellen.“ Beim Aquazoo handelte es sich um ein großes Aquarium, in das sich am Wochenende die Menschen drängten. Früher hatte sie es häufig mit ihrem Vater besucht.

Robin schmunzelte. „Ich mir auch. Deshalb gehen wir auch nicht in den Aquazoo. Komm.“ Er reichte ihr wieder die Hand und dieses Mal mit einer Selbstverständlichkeit, dass Amabel gar nicht anders konnte, als sie zu ergreifen. Sie ließ sich von ihm rechts am Gebäude vorbei auf einen Weg führen. Nach wenigen Schritten öffnete sich der Pfad zu einem Platz mit einem langgezogenen Wasserbecken, über das von beiden Seiten Fontänen sprangen. Es erstreckte sich bestimmt 150 Meter weit. Den Rand säumten Statuen, wie aus dem alten Griechenland entführt wirkten. „Wow, ich wusste gar nicht, dass hier auch ein Park ist.“

Robin zog sie mit sich.

„Klar, das ist der Nordpark. Wurde gebaut, um eurem großen Führer zu gefallen. Deshalb die pompösen Statuen.“

Amabel stutzte. Dann ging ihr auf, dass er wohl Hitler meinte und dieser Park zu dessen Protz-Bauwerken gehörte, die sie im Geschichtsunterricht besprochen hatten.

Empört sah sie ihn an.

„Wieso eurem Führer? Ich habe mit dem bestimmt nichts zu tun. Und was ist mit dir? Du lebst ja wohl auch hier!“ Robin blieb stehen und legte ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen. „Keine Fragen war der Deal.“ Er lächelte geheimnisvoll und zog sie weiter am Wasserbecken vorbei. „Du magst das ja beeindruckend finden, aber die wahre Magie dieses Ortes verbirgt sich im Kleinen.“ Sie stiegen ein paar Treppenstufen am anderen Ende des Beckens hoch und gelangten zu einem weiteren Platz mit einem runden Springbrunnen in der Mitte. Ein Stück zu ihrer Rechten spielten einige ältere Leute Boule vor einem weißen Gebäude. Am Brunnenrand posierten einige Teenager mit bunten Perücken und ausgefallenen Kostümen. Einer von ihnen sprang mit einer Kamera hin und her und feuerte zwei Mädchen an, ihre Körper in gekünstelte Posen zu werfen.

„Oh, was für Narren sind doch diese Sterblichen“, kicherte Robin.

Amabel starrte ihn verständnislos an.

„Das sind Cosplayer“, verteidigte sie. „Nur weil sie sich verkleiden, sind es noch lange keine Spinner. Das ist ein voll kreatives Hobby!“ Sie verschwieg, dass sie sich zum letzten Japantag selbst als Mikasa Ackermann aus dem Anime Attack on Titan verkleidet hatte.

Robin ließ ihre Hand los und deutete mit einer ausladenden Geste auf die Cosplayer.

„Ja, aber sie sind so bemüht, die Magie von Filmen und Comics einzufangen, dass sie die Magie des echten Lebens übersehen.“

Schnell griff er wieder ihre Hand.

„Aber deshalb sind wir nicht hier.“ Er zog sie hinter sich her in den Park hinein, zwischen Schatten spendenden Bäumen hindurch und an Rosen vorbei. Schließlich blieb er auf einem kleinen, kreisrunden Platz stehen, der an seinen Rändern von Beeten gefüllt mit verschiedensten Blumen umrahmt wurde. Aus jeder Himmelsrichtung führte ein Weg in die Mitte, so dass er wie das Zentrum des Parks wirkte. Es roch nach Sommer und die Blumendüfte mischten sich mit Robins Geruch, der Amabel magisch anzog. Um sie herum schwirrten wieder ungewöhnlich viele Schmetterlinge. Sie beobachtete die Insekten dabei, wie sie nicht nur um die Pflanzen, sondern auch um Robin und sie herumtanzten.

„Es gibt hier zwei Plätze dieser Art. Rund und mit Blumen bepflanzt. Aber das ist nicht das Einzige, was hier wächst.“ Er bückte sich, schob die Äste eines Fliederbusches beiseite und gab so den Blick auf ein paar Pilze frei. Sie wuchsen in einem genau gezogenen Kreis. Wie die gepflanzten Blumen rund um den Platz. Jeder Pilz war perfekt gewachsen, relativ groß, nicht so verschrumpelt, wie man sie gelegentlich am Wegesrand fand. Mit rotem Hut und weißen Punkten: Fliegenpilze wie aus dem Bilderbuch. So dicht beieinander, dass ihre Hüte sich beinahe berührten, 13 Stück von ihnen.

„Früher nannte man so etwas einen Feenring. Weil die Magie von solchen Orten die Feen anlockt und zum Tanzen bringt.“ Er deutete auf die Schmetterlinge. „Die sind auch empfänglich für Magie.“ Zweifelnd sah Amabel zwischen Robin und den flatternden Geschöpfen hin und her.

„Du veräppelst mich.“ Robin zog ein übertrieben empörtes Gesicht. Dann warf er sich in Pose und rezitierte:

„Wenn wir Schatten euch beleidigt, denkt nur dies - und wohl verteidigt sind wir dann. Ihr alle schier habet nur geschlummert hier und geschaut in Nachtgesichten eures eignes Hirnes Dichten.“

Er vollführte aus dem Stand einen Salto, verbeugte sich vor Amabel und hielt ihr erneut die Hand hin. „Oder anders ausgedrückt: Ich will dich nicht veräppeln und wenn du nicht glaubst, was du siehst, träumst du vielleicht nur. Und dann kannst du genauso gut mit mir tanzen.“ Amabel sah verwirrt zu Robin und zu den Parkbesuchern, die desinteressiert an ihnen vorbeigingen. Was für ein irrer Typ! Der hatte auf jeden Fall eine gehörige Meise. Und sie auch, wenn sie nicht augenblicklich die Flucht ergriff.

Aber sie konnte nicht leugnen, dass er sie magisch - Haha! - anzog. Oder dass die Schmetterlinge sich heute sehr komisch aufführten. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie in seinen Augen versank. Sie vertraute ihm, ohne das erklären zu können. Und sie wünschte sich, ihm nah zu sein. Als würde ein Teil von ihr ihn schon ewig kennen. Was hatte sie zu verlieren, wenn sie ihrem Gefühl nachgab?

Zögernd ergriff sie seine Hand und bevor sie sich wehren konnte, wirbelte er sie herum. Ohne abzuwarten begann er, sie in einen seltsamen Tanz zu ziehen, der nichts ähnelte, was sie je gesehen hatte. Merkwürdigerweise konnte sie seinen Bewegungen folgen, obwohl sie sonst meist zwei linke Füße hatte. Mal schmiegte sie sich an ihn, mal kreiste sie an seiner ausgestreckten Hand. Gemeinsam tänzelten sie über den Platz und ihre Bewegungen verschmolzen immer mehr zu einer Einheit. Die Welt um sie herum versank im Duft von Blumen, Salzwasser und fernen Wäldern, den Schmetterlingen, die Teil des Paares wurden und im Klang einer Melodie, die von weit entfernt zu kommen schien. Im Rhythmus dieser Musik tanzten sie in wortloser Harmonie. Aus den Augenwinkeln glaubte Amabel, vergangene, ferne Orte zu sehen wie Erinnerungen an einen vergessenen Traum. Ein Traum, in dem Schmetterlinge ihrem Tanz folgten, als zöge das Paar sie an. Und eine unbekannte Sehnsucht erfüllte sie, die sie nie zuvor gefühlt hatte. Nicht nur nach ihm, auch nach etwas Fernem, einem Feuer, das sie nicht greifen konnte.

Amabel konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war. Eine Minute oder eine Ewigkeit? Dann verklang die Melodie in ihrem Kopf und ihre Bewegungen verlangsamten sich. Schließlich endete ihr Tanz in einer Verbeugung voreinander und als sie im nächsten Moment aufschaute, war Robin verschwunden. Natürlich hatte er sich nicht in Luft aufgelöst. Das machten Menschen nicht.

Amabel hatte nach seinem Abschiedsnicken nur kurz geträumt. Jedenfalls stand sie allein auf dem Platz und fragte sich, ob dieser Ort wirklich für einen Moment von Magie erfüllt gewesen war. Wenn ja, war sie zusammen mit den Schmetterlingen und der hellen Nachmittagssonne verflogen. Nachdenklich trottete Amabel zur nächsten Haltestelle und fuhr mit der Straßenbahn nach Hause.

 

 

 

3. Auf den Kopf gestellt

 

Gut gelaunt schloss Amabel die Tür zu der kleinen Wohnung auf, in der sie mit ihrem Vater lebte, und hängte ihren Schlüssel an das billige Schlüsselbrett. Sie waren hergezogen, nachdem Nicolas Weber seine Stelle bei einer großen Werbeagentur gekündigt und beschlossen hatte, nur noch für „gute“ Unternehmen zu arbeiten. Leider konnten Firmen, die keine Gewinnmaximierung zum Ziel hatten, es sich nicht leisten, einem Werbetexter viel zu zahlen. Daher trennten sie sich von ihrer großzügigen Wohnung in Pempelfort und zogen nach Wersten. Im Austausch für den Luxus hatte ihr Vater jetzt mehr Zeit und bessere Laune. Und sie besaßen immer noch jeder ein eigenes Zimmer, eine Wohnküche und die Bibliothek. Den Begriff „Bibliothek“ nutzten sie halb im Scherz für den kleinen Raum, in dem sie ihre Bücher stapelten. Die mannshohen, meist einsturzgefährdeten Stapel waren gelegentlich nach Genre sortiert. Doch in der Regel türmten sich die Bücher wild durcheinander in der Reihenfolge, in der sie von Flohmärkten oder aus anderen Quellen ihren Weg zu den Webers fanden. Natürlich hätten sie sich ordentliche Regale anschaffen können. Und Amabel würde ihre Lieblingsbücher gerne schön dekorieren und ihnen Schreine bauen, wie sie es auf Instagram gesehen hatte. Aber die Realität sah nun einmal so aus, dass sie Bücher in Mengen lasen, umsortierten und wegräumten, ohne nachzudenken. Und denen sich so schnell aufschichtenden Bücherbergen war kein Regal gewachsen, also hatten sie einen Raum mit zwei Lesesesseln, einem Tisch für die Kaffeetassen und Unmengen von Büchern.

Die Bibliothek war der erste Raum rechts neben der Eingangstür und es geschah häufig, dass durch einen umgefallenen Turm Bücher im Flur landeten. Was nicht häufig im Flur landete, war die Bücherflut, die Amabel jetzt erwartete. Sie schob die Tür und einige Bücher zur Seite und watete durch einen wahren Bücherstrom. Ihr erster Blick galt der Bibliothek. Hier stand kein Buch mehr auf dem anderen und man konnte das erste Mal seit Jahren die veralteten Kinoplakate an den Wänden vollständig sehen.

Ein ungutes Gefühl beschlich Amabel. Es sah aus, als hätte ihr Vater das Chaos veranstaltet. Wahrscheinlich auf der Suche nach einem seiner „Beruhigungsbücher“, die er immer las, wenn es ihm schlecht ging. Sie hatte dieses Verhalten lange nicht mehr beobachtet, aber als er noch in der großen Agentur gearbeitet hatte, war das häufig vorgekommen.

„Papa?“ Das Rascheln eines Lesezeichens und das Schnäuzen in ein Taschentuch antworteten ihr. Hastig legte Amabel die verbleibenden Meter zur Wohnküche zurück und wäre dabei fast über eine Anschwemmung skandinavischer Krimis gefallen. Im letzten Moment wich sie auch den Chroniken von Narnia aus, die die bedrohlich schwankende Spitze eines einsturzgefährdeten Stapels bildeten, und stand dann in dem Raum, der ihr Lebensmittelpunkt war. Im vorderen Bereich befand sich die Fernsehecke mit einer gemütlich gealterten Couchgarnitur, dahinter die Küchenecke mit einem runden Esstisch, der immer ein bisschen den Weg zur Balkontür versperrte. An diesem Tisch saß ihr Papa. Auf der Tischplatte und zu seinen Füßen lagen zerknüllte Taschentücher. Vor ihm, nun zugeklappt, die „13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“ von Walter Moers. Amabel zog ihren Vater stets damit auf, dass alle seiner „Beruhigungsbücher“ Kinderbücher waren. Aber jetzt blieb ihr jeder Kommentar im Hals stecken, denn ihr Vater hatte geweint. Er hatte rot verquollene Augen hinter seinen breiten Brillengläsern, so rot, dass sich die graue Iris kaum absetzte. Sein langsam lichter werdendes, braunes Haar ragte zerzaust in seine Stirn und wirkte, als wäre er gerade erst aufgestanden. In seinem sorgfältig gepflegten Vollbart glänzten einige verräterische Tropfen. Ihr Vater weinte sonst nie. Nicht, als er die ersten Monate nach seiner Kündigung keine Aufträge bekam und auch nicht, als sein eigener Vater starb. Nicht, als er sich mit seinem besten Freund für immer zerstritt und noch nicht einmal, als sein Lieblingsbuch Opfer eines Wasserschadens wurde.

„Was ist los, Papa?“

Langsam sah er vom geschlossenen Buch auf und vermied bis zum letzten Moment, seine Tochter anzuschauen. Vielleicht in der Hoffnung, der Einband würde ihm doch noch die Lösung zu einem ihr unbekannten Dilemma eingeben.

Ihr Vater war ein attraktiver Mann Mitte fünfzig. Schlank und sportlich, und die Falten in seinem Gesicht verrieten nicht sein Alter, sondern, dass er viel lachte. Jetzt entdeckte sie kein Lachen in seinen Zügen. Stattdessen schaute er sie mit einem ernsten Ausdruck an, den sie nicht deuten konnte.

Er holte tief Luft, bevor er sagte:

„Deine Mutter will dich zu sich holen.“

Stille. Amabel stand da wie vom Donner gerührt. Der Rucksackträger entglitt langsam ihrem Griff. Es war ihr nicht möglich, ihre Finger zu bewegen, alles in und an ihr fühlte sich von einer Sekunde zur anderen taub an. Mit einem lauten Rumms fiel der Rucksack zu Boden. Hatte ihr Vater wirklich gesagt, was sie gehört hatte? Das konnte nicht sein.

„Meine Mutter ist tot“, betonte sie und starrte ihn an. Ihre Mutter war tot. Auf dieser Tatsache beruhte ihr gesamtes Leben: Fast alles, was sie tat und sich ereignete, war aus dieser Wahrheit geboren oder von ihr beeinflusst. Andere Kinder kamen nicht gern zu ihrem Kindergeburtstag, weil dort keine Mutter für ein Programm sorgte, und ihr Vater vergaß, Einladungen zu verschicken. Das Tuscheln anderer Kinder über die Halbwaise. Der Schmerz, wenn sie bei Freundinnen spielte, deren Leben zwei Elternteile einschloss. Das Wissen, dass ihr etwas fehlte, das andere besaßen und für sie unwiederbringlich verloren war. Niemand, der sie bei der Hand genommen hatte, als sie ihre erste Periode bekam, einen BH brauchte oder sich die Beine rasieren wollte. Ihr stummer Vorwurf, dass ihr Vater nie versucht hatte, eine andere Frau in ihr Leben zu lassen, gepaart mit dem schlechten Gewissen, dass sie überhaupt etwas vermisste, wo er doch alles für sie tat. Ihre. Mutter. War. Tot.

Ihr Vater schüttelte den Kopf.

„Nein, ist sie nicht. Sie lebt.“ Ihm war anzusehen, wie viel Überwindung er aufbringen musste, diese Worte auszusprechen.

Amabel hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Das konnte nicht sein. Seine Worte stachen in ihr Weltbild und rissen es auseinander, bis nichts, was sie geglaubt hatte, mehr dort war, wo es hingehörte. Ihre Kopfschmerzen wuchsen zu einem stechenden Crescendo und sie fürchtete, ihr Schädel würde zerplatzen. Der Schmerz, die Enttäuschung über diesen Verrat - Ja, das war Verrat, ihr Vater hatte sie verraten! - schwoll in ihr an, bis es in ihr keinen Platz mehr gab und sie schrie, wie sie noch nie zuvor geschrien hatte.

„Sie ist tot! Du hast mir gesagt, meine Mutter sei tot! Sie ist bei meiner Geburt gestorben!“ Ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren zu schrill und zu laut. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Dabei war sie nicht traurig. Was fühlte sie? Wut?

Reue blitzte in den Gesichtszügen ihres Vaters auf. „Ich weiß, was ich dir gesagt habe.“ Seine Augen glänzten wässrig. „Ich habe gelogen.“ Er streckte seine Hände aus, aber als sie keine Anstalten machte, sie zu ergreifen, zog er sie zurück.

„Du musst mir glauben“, flüsterte er mit heiserer Stimme. „Es war zu deinem Besten.“

Ungläubig schüttelte Amabel den Kopf und fühlte, wie ihr die Fassung vollends entglitt. „Zu meinem Besten? Du hast mich zu meinem Besten belogen? Weißt du, wie sich das anhört? Wie eine beschissene Telenovela. Zu deinem Besten … Das hört sich an wie ein Werbespruch für deine Kunden! Schieb dir das sonstwo …“ Amabel hielt inne. So hatte sie noch nie mit ihrem Vater gesprochen. Verdammt! Panik kroch in ihr hoch. Das konnte alles nicht sein. Weg! Sie musste weg hier!

Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte Richtung Tür, wobei sie auf einige der Bücher trat, die im Weg herumlagen. Halb stolpernd stieß sie die Tür auf und riss ein paar Bücher mit sich nach draußen.

Raus, nur raus! Sie polterte das Treppenhaus hinunter, ihre Füße schlitterten über die Stufen und fast wäre sie gestürzt, erwischte nur knapp noch das Geländer.

Vier Stockwerke tiefer stieß sie die Eingangstür auf und rannte ins Freie.

Es wurde bereits dunkel. Sie lief links die Straße hoch, an der Straßenbahnlinie entlang, ohne ein Ziel vor Augen. Die Gedanken jagten ihr in einem Tempo durch den Kopf, dass ihr schwindlig wurde.

Ihre Mutter lebte!

Wie war das möglich? Wie konnte es sein, dass sie lebte und nicht für sie dagewesen war? Wie konnte es sein, dass ihre Mutter lebte und ihr Vater sie belogen hatte? Hatte sie im Koma gelegen? Oder ihr Vater sie als Baby entführt? Warum war sie ihr Leben lang nicht bei ihr gewesen?

Und warum wollte sie jetzt in Amabels Leben? Sie zu sich holen?

Die Luft brannte in ihren Lungen und sie rang nach Atem. Keuchend kam sie zum Stehen, während ihre Gedanken weiterrasten. Sie umklammerte sich fest mit beiden Armen. So fest, wie sie es sich von ihrer Mutter gewünscht hätte. Eine Mutter, die für sie tot gewesen war und trotzdem lebte. Und sie wünschte sich, sie könnte die Welt, in der sie vor wenigen Momenten gelebt hatte und die eine Lüge war, ebenso festhalten.

Ihre Mutter lebte!

Vielleicht träumte sie. Genau. Vielleicht war dieser gesamte komische Tag nur ein Traum und gleich würde sie aufwachen und erleichtert an ihre Zimmerdecke gucken.

Zur Sicherheit kniff sie sich so stark in den Unterarm, dass es noch mehr schmerzte als ihre brennenden Lungen. Ihre Fingernägel ließen rote Linien zurück.

Nein. Kein Traum. Getrieben setzte sie sich wieder in Bewegung.

Egal welche Erklärung ihr einfiel, jede war weit hergeholt und passte in ein Buch, nicht in ihr Leben. Es gab es keine plausible Ausrede nach dem Motto „Na ja, das passiert schon mal, dass ein Elternteil vorgibt, der andere wäre tot“. Vielleicht hatte ihr Vater sie ihrer Mutter weggenommen und deren Tod vorgetäuscht, damit Amabel gar nicht auf die Idee kam, nach ihr zu suchen? Aber würde ihr Vater so etwas tun? Ihr Vater, der für sie Pfannkuchen zum Frühstück buk, ihr Geschichten erzählte, mit ihr zum Bücherschrank ging und lange Fahrradtouren machte? Ihr Vater, der gerade geweint hatte? Oder hatte ihre Mutter sie nicht haben wollen? Hatte ihr Vater sie deshalb allein aufgezogen? Was war dran an all den Erzählungen über ihre engelsgleiche Mutter, die ihren Vater so sehr verzaubert hatte? Waren das auch alles Lügen gewesen?

Amabel fiel auf, dass sie sich längst nicht mehr in Wersten befand. Ihre ziellosen Schritte hatten sie an den Rhein geführt. Oder waren sie gar nicht so ziellos gewesen? Sie starrte in den dahinströmenden Fluss. Das hatte etwas Beruhigendes. Sie zwang sich, mit ihrem Blick den sanften Wellen zu folgen und ruhiger zu atmen.

Ihre Mutter lebte!

Immer wieder schossen diese Worte durch ihren Geist.

Sie versuchte, sich weiter auf das Wasser zu konzentrieren.

Ihre Mutter lebte.

Und wenn schon! Amabel merkte, wie die Wut auf ihren Vater verrauchte und einer Wut auf ihre Mutter Platz machte. Die Mutter, die sie vergötterte, obwohl sie sie nie getroffen hatte. Die Mutter, die ihren Vater und sie verließ. Ihren Mann und sogar ihr Baby im Stich ließ. Und Papa war so tief verletzt, dass er mit Ausnahme seiner Tochter nie wieder einer Frau vertrauen konnte. Genau, so musste es gewesen sein. Ihre Mutter hatte sie nicht haben wollen. Noch nicht mal eine Geburtstagskarte hatte sie geschrieben.

Amabel holte das Schmetterlingsamulett unter ihrem T-Shirt hervor und riss an der Kette. Dieses verdammte Ding, das ihr Vater wie eine Reliquie behandelt hatte. Anders als im Film schnitten die Kettenglieder in ihren Hals, bevor sie ihrem Ziehen nachgaben. Also tastete sie nach dem Verschluss und öffnete ihn. Einen Moment lang wog sie den Schmetterling in der Hand, der erst ihrem Vater und dann ihr so viel bedeutet hatte.

Alles Lügen! Mit ganzer Kraft schleuderte sie das Amulett hinaus auf den dunklen Fluss. Sie sah ihm hinterher, wie es in den Fluten versank, bevor sie sich langsam auf den Heimweg machte.

 

Die Tür des Mietshauses stand einladend offen. Das schlechte Gewissen regte sich in Amabel, denn ihr Vater war ihr natürlich hinterhergerannt. Was hätte er auch sonst tun sollen? Als Amabel die nur angelehnte Wohnungstür aufschob und in den Flur trat, hatten die Bücher wieder ihren Platz in der Bibliothek eingenommen. Ihr Vater sah von dem Bücherstapel, den er gerade auftürmte, zu ihr herüber.

Offensichtlich versuchte er, etwas mehr System in die Bibliothek zu bringen, denn er hatte Bücher der gleichen Autorinnen aufeinandergestapelt. Wenngleich sich das nicht mit ihrem bisherigen System vertrug, Bände nach Farben zu sortieren.

„Ich hab versucht, dich anzurufen.“ Seine Stimme klang halbwegs gefasst und nicht ein bisschen vorwurfsvoll. Amabel deutete Richtung Wohnküche. „Mein Handy ist noch in meinem Rucksack.“ “Oh”, antwortete ihr Vater. Ihr fiel auf, dass seine Hände ein Buch kurz über einem Stapel hielten, ohne es abzulegen. Zögernd ging sie auf ihn zu und umarmte ihn. Er erwiderte die Umarmung überrascht und drückte sie so fest an sich, als wolle er sie nie mehr loslassen. „Ich glaube, ich habe dir was zu erklären“, flüsterte er.

“Das hast du”, bestätigte Amabel mit zitternder Stimme.

 

Wenige Minuten später saßen sie am Esstisch. Vor Amabel stand eine große Portion Nudeln mit Pesto und Parmesan, die sie nicht anrührte. Ihr Vater hielt einen großen, weißen Briefumschlag in den Händen.

„Dieser Brief kommt von deiner Mutter. Aber bevor ich dir sage, was drin steht, fange ich wohl besser am Anfang an.“ Erwartungsvoll beobachtete Amabel ihn.

„Ich lernte Tina auf einer meiner Lesungen kennen. Damals, als ich noch nicht kommerziell schrieb.“ Nicolas Weber hatte eine Zeitlang nach dem Studium Gedichtbände und Romane veröffentlicht. Bis er merkte, dass davon kaum jemand leben konnte, wenn die Bücher nicht oben auf einer Bestseller-Liste standen oder man sich nicht den Regeln der Verlage beugen wollte.

„Tina stellte kluge Fragen. Solche, bei denen ich wusste: Die will nicht nur Aufmerksamkeit, die interessiert sich für das, was ich schreibe. Nach der Lesung kamen wir ins Gespräch. Das ging wie von selbst. Plötzlich stand sie vor mir, einen gekühlten Weißwein in der einen Hand und einen wohltemperierten Roten in der anderen. Den reichte sie mir. Sie hatte ein Gespür dafür, was ich mochte, vom ersten Moment an. Und das zauberhafteste Lächeln, das ich je gesehen habe. Ich meine, sie sah umwerfend aus. Die langen blonden Haare, die perfekte Figur, das schmale Gesicht und die gleichen faszinierenden Augen, wie du sie hast. Trotzdem war es ihr Lächeln, in das ich mich verliebte.“ Er seufzte und schien für einen Moment in eine weit entfernte Erinnerung abzudriften. Amabel räusperte sich auffordernd. Diesen Teil der Geschichte kannte sie genau.

Eilig fuhr ihr Vater fort: „Ihr Lachen verzauberte mich. Ich fragte sie noch am gleichen Abend nach einem echten Date und wenige Tage später waren wir zusammen. Obwohl wir kaum etwas voneinander wussten. Es war wie ein wunderbarer, süßer Traum. Wir gingen zu Lesungen, zu Poetry Slams, verbrachten viel Zeit in Büchereien und unterhielten uns bei langen Spaziergängen über Literatur. Ich schrieb Gedichte wie ein verliebter Teenager. Verglich ihre Augen mit Sternen und ihre Haare mit Gold.“ Er hielt inne und blickte seine Tochter entschuldigend an. „Leider bin ich da nie ganz von weggekommen. Aber bis heute habe ich keine schönere Frau getroffen. Keine Klügere oder Anziehendere. Und keine Geheimnisvollere. Die Tage und Wochen vergingen wie im Flug und waren einfach nur traumhaft. Wir waren uns so nahe, ich war mir sicher, in ihr meine Seelenverwandte, die Liebe meines Lebens gefunden zu haben. Ich plante, ihr einen Antrag zu machen.“ Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Da verschwand sie von einem Tag auf den anderen. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich konnte nicht essen und nicht schlafen. Auch wenn sie erst so kurz Teil meines Lebens war, hatte sie sich in mein Herz gegraben wie eine Sucht. Ohne sie schlafwandelte ich nur noch, meinem Leben fehlten die Farben. So müssen sich Menschen auf Entzug fühlen.“

Amabels Vater holte Luft. „Und dann plötzlich, ziemlich genau neun Monate nach ihrem Verschwinden, stand Tina vor meiner Tür. In einem weißen Anzug. Ihre Haare geflochten und nur der Anflug eines Lächelns im Gesicht. Sie schien eine ganz andere Frau zu sein als die, die ich kennengelernt hatte.

Sie hatte einen Anwalt dabei. Und vor der Brust trug sie ein Bündel, von dem ich erst nicht wusste, was es war. Doch dann erklang ein Wimmern und Tina legte es mir wortlos in die Arme. Ein Baby. Du. Ich war völlig perplex, als sie mir eröffnete, dass du unsere Tochter seist. Aus beruflichen Gründen könnte sie sich nicht um dich kümmern. Sie stellte mich vor die Wahl, dich zu mir zu nehmen oder zur Adoption freizugeben. Ich musste keine Sekunde lang überlegen.“ Er lächelte Amabel an und drückte ihre Hand, bevor er fortfuhr. „Von dem Augenblick an, in dem ich dich in meinen Armen hielt, wusste ich: Du bist meine Tochter und ich würde dich nie fortgeben. Wir setzten also den Papierkram auf. Dafür hatte sie den Anwalt dabei. Du wurdest meine legitime Tochter und ich alleinerziehender Elternteil mit voller Entscheidungsbefugnis. Deine Mutter stellte nur eine Bedingung: Würdest du dich als begabt erweisen, müsstest du mit Volljährigkeit auf eine von ihr ausgewählte Schule gehen. Das erschien mir so weit weg und so abstrakt… Ich unterschrieb und habe nie wieder an diese Klausel gedacht. Bis heute dieser Brief kam.“ Er drehte den Umschlag um und holte mehrere Seiten Papier heraus, die er Amabel reichte.

Mit zitternden Händen nahm sie die Blätter entgegen. Das erste war ein anwaltliches Schreiben, das freundlich an die Erfüllung eines Paragraphen erinnerte und mit polizeilichen Konsequenzen bei Nichteinhaltung drohte. Darunter lag die Bestätigung für einen Flug nach Malaga in acht Tagen. Zwei Tage nach ihrem 16. Geburtstag. Zuletzt folgte ein englischer Flyer über „Avalonia - Instituto privado de las Bellas Artes“, eine Kunstschule, in der Nähe einer Stadt namens Granada.

Die Gedanken flatterten durch Amabels Kopf wie aufgescheuchte Vögel. Das war alles zu viel. Diese Geschichte klang wahnsinnig. Konnte man in Deutschland einfach seine Tochter abgeben? Aus beruflichen Gründen? Sie hatte ja schon viel gehört, aber das? Oder hatte Tina ihren Vater belogen? Ihn benutzt und manipuliert? Wozu? Und warum jetzt dieses scheinbare Interesse? Amabel war eine Schülerin im guten Durchschnitt, begabt würde sie sich jedoch nicht nennen. Ja, sie schrieb und zeichnete ganz ordentlich, ihre Fremdsprachenkenntnisse lagen im oberen Klassenniveau. Doch ihre Leistungen in Naturwissenschaften sahen katastrophal aus. Und weder mit ihren selbst geschriebenen Geschichten noch mit ihren Zeichnungen hatte sie je mehr als Anerkennung gewonnen.

Es kostete sie alle Kraft, ihre Gedanken auf die Dokumente in ihrer Hand zu fokussieren.

„Meine Mutter will mich also gar nicht kennenlernen? Sie will mich nach …“ Sie versuchte, mit Hilfe des Flyers die Städtenamen einzusortieren. „… Spanien schicken? Das kann sie nicht. Sie kann mich nicht zwingen, fortzugehen. Nein!“, stieß Amabel hervor. „Außerdem habe ich noch zwei Jahre bis zum Abi. In Deutschland gibt es ja wohl eine Schulpflicht.“

Ihr Vater lächelte matt und tippte auf den Flyer der Schule.

„Das ist eine besondere Privatschule, die künstlerisch begabte Menschen ab der Oberstufe aufnimmt. Sie bieten Bachelor und Master in verschiedenen Fächern, Kunst, Musik, kreatives Schreiben. Du kannst danach auch weitere Kunsthochschulen besuchen.“ Er zögerte. „Ich hab mal gegoogelt. Diese Kunstschule ist sehr renommiert und genießt einen exzellenten Ruf. Ich kann dir so eine Ausbildung nicht bieten.“ Amabel erwartete Bitterkeit in seiner Stimme, aber da war keine. Dennoch protestierte sie. „Ich will nicht zu einer fancy Elite-Uni. Ich komme so klar. Ich mache mein Abi und gehe an irgendeine Uni, studiere Journalismus und gebe mein Bestes. Wie du.“

Nicolas Weber lächelte und beugte sich über den Tisch, um seine Tochter auf die Wange zu küssen.

„Das ist sehr lieb von dir. Und sehr mutig.“ Seine Miene wurde wieder ernst. „Ich weiß, dass du schreiben möchtest. Kreativ. Wie ich früher. Und es liegt dir. Einige deiner Werke sind wirklich …“ Amabel klappte die Kinnlade herunter.

„Was?! Du hast meine Geschichten gelesen, ohne zu fragen?!“ Sie wurde blass. Das hieß, dass ihr Vater allein ihr Zimmer betreten hatte. Sie hoffte inständig, dass er nicht die Schublade mit den Kondomen geöffnet hatte. Nicht, dass sie gerade welche brauchte, aber Lena hatte sie ihr „just in case“ gegeben.

„Keine Angst, ich hab nur beim Staubsaugen einen Blick auf deinen Schreibtisch geworfen und da lagen ein paar Sachen offen rum“, beschwichtigte er. „Wenn du häufiger selbst saugen würdest…“ Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Patt-Situation. Ohne weiter darauf einzugehen, kehrte ihr Vater zum Thema zurück. „Was ich sagen wollte ist: Du willst nicht Journalistin oder Werbetexterin werden, sondern Schriftstellerin oder Künstlerin. Du willst Kultur schaffen. Da existiert ein himmelweiter Unterschied. Und ja, du könntest es schaffen, mit Schreiben Geld zu verdienen, aber dann schreibst du Werbetexte für Wärmepumpen. Wenn du auf diese Schule gehst, stehen dir alle Türen offen. Und deine Mutter scheint Verbindungen zu haben. Sie bietet sogar weiterführende Stipendien an.“ Sanft umfasste er ihre Hände. „Versteh mich nicht falsch: Ich will nicht, dass du gehst. Aber ich will, dass du die Chancen hast, die ich nicht hatte. Verschenke sie nicht aus Groll heraus.“ Nachdenklich betrachtete Amabel ihren Vater. Sie hatte aufgehört, die Verrücktheiten dieses Tages zu hinterfragen. Die Vorstellung eines Neuanfangs faszinierte sie. Frei von Nervensägen wie Mehtap. Allerdings auch ohne ihren Vater und Freunde wie Lena. Und die Frage, ob sie Robin wiedersehen und aus ihnen ein Paar würde, konnte sie dann mit „Nein“ abhaken. Ihr Herz schlug wieder etwas schneller beim Gedanken an ihn und seine sanften Berührungen während ihres Tanzes. War das erst vor wenigen Stunden passiert? Dieser Tag fühlte sich an wie ein Jahr.

Neben dem Abschied von ihren Freunden störte Amabel noch etwas.

„Sie erpresst uns und droht mit einem Anwalt. Findest du das richtig? Abgesehen davon bin ich in zwei Jahren 18, dann kann ich selbst entscheiden, wo ich hingehe.“

Ihr Vater seufzte und sah sie ernst an, bevor er antwortete. „Natürlich finde ich das nicht okay. Ich finde auch nicht okay, dass sie uns beide einfach verlassen hat und zwischendurch nicht einmal wissen wollte, was für ein tolles Mädchen du bist. Vielleicht hatte sie Gründe. Doch mir fällt es schwer, auch nur einen plausiblen Grund zu finden, der mich von meiner Tochter fernhalten würde.“

Erneut nahm Amabel den Flyer der Schule in die Hand und balancierte ihn widerwillig zwischen ihren Fingerspitzen. Sollte sie ihr Leben hinter sich lassen, um einer Frau, die sie nicht kannte, einen Gefallen zu tun? In ihrem Inneren brodelten die Emotionen. Wut und Enttäuschung, Verzweiflung und Machtlosigkeit. Aber da war noch etwas: Neugier.

„Du meinst also, ich sollte gehen?“ Sie atmete langsam aus. „Darüber muss ich nachdenken.“

 

 

4. Man sieht sich immer zweimal

 

Zwei Tage nach ihrem 16. Geburtstag betrat Amabel den Security-Check am Düsseldorfer Flughafen. Die Tränenspuren auf ihrem Gesicht glitzerten und sie konnte nicht glauben, dass sie die nächsten Monate ohne ihren Vater verbringen würde. Auch wenn sie ihm seine Lüge nicht ganz verziehen hatte, konnte sie ihn inzwischen doch irgendwie verstehen. Wie hätte sie als Kind begreifen sollen, dass ihre Mutter sie einfach abgegeben hatte? Als wäre sie eine Küchenmaschine in der Scheidungsmasse, kein lebendes, fühlendes Wesen. Sie konnte das immer noch nicht fassen, glaubte aber ihrem Vater. Auch, wenn sie hauptsächlich neugierig auf die kommende Zeit war, konnte sie eine unterschwellige Furcht nicht verdrängen. Was für ein Mensch war ihre Mutter? Niemand, der zu den bedingungslos Guten gehörte, daran zweifelte sie nicht. Oder hatte sie tiefgehendere Beweggründe, die Amabel nicht verstand? Ihr Innerstes verkrampfte sich bei diesen Gedanken und ihr wurde bewusst, dass sie eine Begegnung mindestens genauso fürchtete, wie herbeisehnte. In der Kommunikation mit der Schule hieß es, Amabel würde am Flughafen in Malaga abgeholt. Aber von wem? Von ihrer Mutter? Das konnte sie sich kaum vorstellen, nach all den Jahren. Einatmen, ausatmen, ermahnte sich Amabel. Panik half ihr nicht weiter. Einen Schritt nach dem anderen, bis sie da war, und dann würde sie schon sehen, wie es weiterging.

Mechanisch legte sie Smartphone und Geldbörse in eine der Plastikschalen für den Security-Check, daneben ihren Rucksack. In letzter Sekunde dachte sie an ihren Gürtel und warf ihn dazu, bevor der Behälter mit ihren Habseligkeiten durch die dunklen Lamellen glitt. Natürlich piepte der Metalldetektor beim Durchgehen trotzdem und sie wurde von einer Security-Frau beiseitegewunken und unsanft abgetastet, ehe sie ihre Sachen wieder in Empfang nehmen durfte. Ihr Vater hatte ihr den nagelneuen Wanderrucksack zum Geburtstag geschenkt. Praktisch, mit vielen Taschen und Fächern, der perfekte Reisebegleiter. Zum Glück glänzte er schwarz, abgesetzt mit ein paar pinkfarbenen Streifen, über die sie hinwegsehen konnte. Hauptsache, er ließ sich bequem tragen. Als Glücksbringer hatte ihr Vater einen Plüsch-Schlüsselanhänger in Gestalt eines Fuchses angehängt.

Wie immer trug Amabel sportliche Kleidung: Jeanshose, Joggingschuhe und ein schwarzes T-Shirt ihrer Lieblingsband Kid Dad mit dem dezenten Logo auf der Brust. Dazu saß auf ihren blonden Haaren ein Baseball-Cap ihres Vaters, der befürchtete, die sengende Sonne Spaniens würde ihren Kopf verbrennen, sobald sie aus dem Flugzeug stieg. Im Sommer verfiel er bei wolkenlosen Tagen in Panik und hatte Amabel als Kind beim ersten Sonnenstrahl mit einer zentimeterdicken Schicht Sonnencreme zugekleistert.

Sie erinnerte sich nicht daran, wann sie ihren letzten Urlaub außerhalb von Deutschland verbracht hatten. Auch damals reisten sie meist in die Niederlande oder nach Belgien, südlichere Gefilde hatte ihr Vater aufgrund seiner Vorliebe für Schatten gemieden.

Trotz aller Traurigkeit und Verwirrung erfüllte Amabel deshalb freudige Erwartung. Ein bisschen fühlte sich ihre Reise wie ein Urlaub und sie fieberte dem fremden Land und den Erfahrungen, die sie erwarteten, neugierig entgegen.

Sie würde zum ersten Mal allein fliegen und selbst der Düsseldorfer Flughafen kam ihr aufregend vor.

---ENDE DER LESEPROBE---