The Olympian Job - Mary Stormhouse - E-Book

The Olympian Job E-Book

Mary Stormhouse

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Beschreibung

Neu-Olymp. Zuflucht und pulsierende Handelsmetropole für Menschen und göttliche Nachkommen.

Hier lebt Makani, Tochter von Halbgott Maui und betreibt mit ihrer Halbschwester Kaimana eine Bar, während sie kleine Raubzüge begeht. 

Unerwartet macht Herakles ihr ein Angebot, das sie nicht ausschlagen kann. Sie soll ein göttliches Artefakt beschaffen, weswegen sie die Hilfe anderer Trickster-Gottheiten braucht, um in den bestgesichertsten Ort der Welt einzudringen: Mythikas, der Palast von Herrscherin Helena. 

Niemand lügt, stiehlt und betrügt besser als Autolycus, Ntikuma, Raven und Otrera. Mit diesem Team an Makanis Seite kann nichts schief gehen. Oder?

Ein dystopischer Heist-Roman über den größten Fantasy-Coup seit der Götterdämmerung. 

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Seitenzahl: 440

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Impressum

Copyright © 2024 by

WunderZeilen Verlag GbR (Vinachia Burke & Sebastian Hauer) Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]

THE OLYMPIAN JOBText © Mary Stormhouse, 2024 Story Edit: Vinachia Burke (www.vinachiaburke.com) Lektorat : Michael Siedentopf (www.davidpawn.de) Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de) Cover: Vinachia Burke Satz & Layout: Vinachia Burkewww.vinachiaburke.com ISBN: 978-3-98867-035-9 Alle Rechte vorbehalten.

Widmung

Für meinen Papa, der ganz ohne Magie an einem fremden Ort ein Zuhause geschaffen hat.

Nunca te olvidaremos.

Content Empfehlung:

Teenager und Erwachsene

Enthält Gewalttätigkeit anzügliche Themen grober Humor Blut Alkohol und Drogen Verwendung von Kraftausdrücken Ausgrenzung und Flucht Glossar mit Personen und hawaiianischen Begriffen findest du am Ende des Buches.

Prolog

Der Himmel zerbrach an dem Tag, als die Götter die Erde verließen. Nie zuvor hatte Makani so etwas gesehen und sie hätte womöglich Angst gehabt, läge nicht die Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter. Allein durch deren Präsenz durchflutete sie Zuversicht. Die Augen des Halbgottes, die im gleichen unwirklichen Violett wie die von Makani schimmerten, fixierten die pulsierend grelle Wunde zwischen den Wolken und in seinem Mundwinkel lauerte ein seltenes Lächeln.

»Du wirst gehen, nicht wahr?«

Makani wusste, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen. Dass der Tag, vor dem sie sich gefürchtet hatte, gekommen war und ihr Vater sie allein lassen würde.

Lange hüllte sich Māui in Schweigen und starrte in die pastellfarbenen Lichtblitze, die eine bessere Welt versprachen. »Das Tor wird sich bald schließen«, flüsterte er und wandte den Blick endlich seiner Tochter zu. »Sie haben den Weg zum Paradies endlich geöffnet, um dieser von den Menschen gebeutelten Welt zu entkommen. Der Riss wird kollabieren, sobald Zeus und die anderen drüben sind. Und ich glaube nicht, dass jene, die zurückbleiben, das Portal noch einmal öffnen können.«

Sanft berührte er ihr Kinn, damit sie den Blick hob. »Du kannst mitkommen, das weißt du.«

Makani schüttelte den Kopf. »Ich werde Mom nicht allein lassen und dir ist klar, dass sie nicht …« Sie verstummte. Das Auswahlverfahren. Wieso durften Götter, die nicht besser als die schlimmsten Arschlöcher unter den Menschen waren, entscheiden, wer gut genug für das Paradies war? Und wenn sie schon entschieden, warum hatte dann ihr Vater, immerhin ein Halbgott, nicht auch ein Wörtchen mitzureden?

Māui seufzte und reckte sich zur vollen Höhe von zweieinhalb Metern. Seinen Oberkörper und die Arme zierten unzählige Tattoos, die traditionellen Kākau, die in einer Kombination von geschwungenen Linien, harten Kanten und abstrakten Geschöpfen seine Lebensgeschichte erzählten. Sein Unterkörper steckte in einer Designerjeans. Zumindest wirkte das Kleidungsstück so. Denn Designer gab es nicht mehr, seit die Rückkehr der Götter die Erde ins Chaos gestürzt hatte. Menschen taten nur noch, was ihr Überleben sicherte. Jeans zu gestalten gehörte nicht dazu.

»Ich bin nur ein Halbgott und habe Glück, dass Pele mich und eine große Anzahl Menschen, die auf unseren Inseln leben, mitnimmt. Zumindest hunderttausend haben uns die olympischen Gottheiten zugesichert.«

Māui machte eine kurze Pause. Wusste er doch genauso gut wie sie, dass eine Million Menschen zurückbleiben würden. Allein auf den hawaiianischen Inseln. Makani ballte ihre Hände zu Fäusten, als er mit der Erklärung fortfuhr, die er schon seit Tagen predigte: »Nur die Auserwählten werden uns in die neue Welt begleiten. Und du könntest dazugehören«, schloss er, um mit diesen Worten ihre Entscheidung zu ändern.

Widerwillig schüttelte Makani den Kopf so sehr, dass ihre unzähligen Cornrow Braids um sie herumwirbelten, wie ein aufgescheuchtes Schlangennest. »Die Erde ist meine Heimat. Was wird aus all den Menschen, die hierbleiben? Jemand muss sie beschützen, wenn …«

Sie sprach ihre Befürchtung nicht aus. Wenn der Planet zum Hades ging, so wie die Auguren es vorhergesagt hatten.

Māuis Gesicht überzogen plötzlich Sorgenfalten, die sie mehr verunsicherten als jedes Wort. Ihr Vater machte sich nie Sorgen. Er war ein Trickster, es lag in seiner Natur, aus allem das Beste und für sich dabei den größten Spaß herauszuholen.

Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, seiner Tochter zuliebe auf der Erde zu bleiben und seine Interessen zurückzustellen. Aber das war okay für Makani. Er war Māui, Halbgott der Winde und des Meeres, der die hawaiianischen Inseln vom Meeresgrund ans Tageslicht gezogen und den Menschen hier eine Heimat gegeben hatte, und ansonsten viel Bullshit erzählte, wenn der Tag nur lang genug war und irgendwer ihm zuhörte.

»Niemand wird dir danken, dass du hierbleibst.« Nun appellierte er an ihren Überlebensinstinkt. »Deine Makuahine am wenigsten. Sie wird nicht damit leben können, wenn du auch stirbst.«

»Und ich kann nicht mit dem Gedanken leben, sie hier zurückgelassen zu haben.« Makani zuckte mit den Schultern. »Außerdem wisst ihr ohnehin nicht, was auf der anderen Seite wartet. Dort könnte ein toter Planet sein. Niemand von denen, die übergewechselt sind, kam zurück.«

»Weil sie nicht wollen«, betonte Māui nachdrücklich. »Wenn du im Paradies wärst, würdest du zurückkehren und deinen Platz riskieren?«

Makani grinste ihn an. »Klar, für jemanden, den ich wirklich mag.« Ihre Mundwinkel fielen nach unten. »Doch die Götter lieben niemanden außer sich selbst«, flüsterte sie kaum laut genug, dass Māui sie verstand.

Ohne Vorwarnung hob er sie hoch und drückte sie an seine Brust. Wie eine Ertrinkende sog sie die Luft ein, die ihn umgab, den Duft von Salzwasser und Wind, der an Kokosnusspalmen vorbeizog. Ihre Arme reichten nicht aus, um sich komplett um ihn zu schließen, dafür krallte sie ihre Finger in seine Haut, wollte ihn nicht loslassen. Er war ihr Vater, selbst wenn er ziemlich oft wie ein egoistischer und eingebildeter Blödmann handelte.

»Aloha au i ko’u makuakāne«, flüsterte Makani und unterdrückte die Tränen, die ihre Kehle hochkrochen.

»Nau ko`u aloha«, antwortete Māui mit einer Ernsthaftigkeit, die erstaunlicherweise dem Anlass angemessen war.

Einen Moment standen Vater und Tochter in inniger Umarmung auf dem Dach des First Hawaiian Centers, dann trat Māui zurück und betrachtete sein einziges Kind, als würde er sie zum ersten Mal sehen.

»Wenn du hierbleibst, wird ein Stück von mir hierbleiben. Und wenn du, wie ich früher, den Menschen helfen willst, dann ist es an der Zeit, dass du mein Vermächtnis erhältst.«

Überrascht schaute Makani ihn an. Māui hatte nie Wert darauf gelegt, dass sie in seine Fußstapfen als Gott trat. Gespannt folgte sie den Bewegungen ihres Vaters, der mit Beinen und Armen die rhythmischen Gesten des Hula kopierte, schneller wurde, ausholender und eine Geschwindigkeit annahm, der Makani nur dank ihrer eigenen, viertelgöttlichen Augen folgen konnte.

»Wir sind nicht nur Götter Makani, wir sind Trickster. Wir begeistern die Menschen mit Illusionen, bewegen sie dazu, an uns zu glauben, ziehen staunende Blicke auf uns, während die Magie sich im Verborgenen vollzieht. Ohne dass sie es jemals begreifen werden.« Die Muskeln wogten über seinen Körper, schienen einem Ziel zuzustreben, bis nur noch seine Finger tanzten. Wie aus dem Nichts tauchte zwischen ihnen eine silberne Scheibe auf, die lebendig von Fingerspitze zu Fingerspitze glitt.

Fassungslos starrte Makani ihn an. »Eine Münze? Das ist dein großes Vermächtnis? Eine elende Silbermünze?«

Māui grinste und ließ das Geldstück ebenso schnell zwischen seinen Fingern verschwinden, wie sie aufgetaucht war. »Nicht die Münze, Kaikamahine, der Trick.« Mit dem Zeigefinger tippte er gegen ihren Ausschnitt, wo plötzlich Manaiakalai, sein Fischhaken, Ausdruck all seiner Kräfte, Gestalt annahm. Voller Ehrfurcht folgten Makanis Finger den Linien von Māuis Heiligtum, dem Schatz, den sie nie hatte berühren dürfen, der Quelle seiner Fähigkeit zur Wandlung.

»Mahalo«, hauchte Makani und wollte zu ihrem Vater aufsehen.

Doch Māui, der Halbgott des Windes und der See, war verschwunden. Für immer. Nur eine silberne Münze glitzerte dort, wo er gestanden hatte. Seine eigene Tochter hatte nicht gesehen, wie er die Magie gewirkt hatte, gebannt von seiner Show.

Der älteste Trick der Welt.

120 Jahre später … oder so. Wer zählt schon die Jahre, wenn sie unsterblich ist …?

Ohana

Kapitel 1

»Mach, dass du weiterkommst!«, herrschte ein Zentaur in Neu-Olymps blauer Polizeiuniform den kleinen Jungen an, der seinen Fußball gegen die Torsäule des Skolio-Distrikts schoss. Kaimana beobachtete aus den Augenwinkeln, wie das Kind zitternd vor dem Zentauren zurückwich. Wenn es um das Stadtviertel Skolio ging, kannten die Phylax, die an den Bezirksgrenzen patrouillierten, keinen Spaß. Drohend erklangen die Hufschläge mit jedem Schritt auf dem brüchigen Asphalt.

»Lass den Jungen in Frieden.« Instinktiv stellte sich Kaimana schützend zwischen den Phylax und das Kind, die Einkaufsliste, die sie studiert hatte, jetzt drohend in Richtung des Zentauren gestreckt, der sie irritiert anstarrte.

Hinter sich hörte Kaimana sich schnell entfernende Schritte. Der Junge nutzte die Gunst der Stunde. Gut so.

Stirnrunzelnd und mit schief auf dem Kopf sitzendem Helm sah der Pferdemensch auf sie herab. Ebenso wie ihr lief ihm Schweiß über die Stirn, doch bei ihm lag es vermutlich am Zusammenspiel von Outfit und Temperatur, nicht daran, dass er sich mit einer doppelt so großen und viermal so schweren Kreatur angelegt hatte. »Warum mischst du dich ein, Mensch?«, schnaubte er, als besäße er Nüstern wie seine tierischen Verwandten. Riechen konnte seine Art so gut wie Pferde, sonst hätte er sie nicht so schnell als das identifiziert, was sie war.

Die Anzeichen nichtmenschlicher Natur waren manchmal nur dezent, gerade wenn man nur einen entfernten göttlichen Verwandten irgendwo in der Ahnenreihe vorweisen konnte. Gegenüber allen mit einer Spur von unsterblicher DNA gingen die Phylax nachgiebiger vor. Sie rekrutierten sich fast ausschließlich aus den »göttlichen Nachkommen«, wie sie es nannten.

Kaimana aber war von Geburt an menschlich. Sie besaß weder eine Göttin noch ein magisches Geschöpf unter ihren Vorfahren. Der Pferdemensch mit seinem ausgezeichneten Geruchssinn hatte das sofort erkannt.

»Ich mag es nicht, wenn Menschen sich einmischen«, stellte der Zentaur fest und klang nicht ansatzweise so unparteiisch, wie Kaimana sich das von einem Gesetzeshüter erhoffte. Im Gegenteil, sein rechter Vorderhuf scharrte mit einer Ungeduld, die ihr eine Gänsehaut verlieh.

»Der Junge hat nur gespielt. Er wird wohl kaum eine Bedrohung für Skolio sein. So jemand verdient deine Beachtung überhaupt nicht«, schmeichelte sie, und ihre Stimme klang viel mutiger, als sie sich fühlte.

Genau das schien dem Phylax, dessen Kopf sich ihr so weit näherte, dass sie seinen nach Knoblauch riechenden Atem auf ihrer Haut spüren konnte, nicht zu gefallen. »Ich entscheide, was meine Mühen wert ist, Mensch.« Die Verachtung in seiner Stimme war überdeutlich. In ihren zweiundvierzig Jahren in Neu-Olymp hatte Kaimana gelernt, wann Gewalt in der Luft lag, und dies war eindeutig einer dieser Momente. Mit einem ergebenen Seufzen legte sie ihre Schulter frei.

Wie ein Kaninchen vor dem Fuchs schreckte der Zentaur zurück.

»Ich bitte um Vergebung, Kahuna, ich wusste nicht …«

»Deshalb solltest du nicht willkürlich Personen in den Straßen bedrohen«, unterbrach Kaimana ihn scharf. »Die Phylax sollten zum Schutz von allen Wesen in Neu-Olymp da sein, nicht nur für die göttlichen Nachkommen und ihre Auserwählten.«

Der Zentaur richtete sich zu voller Größe auf und nickte eifrig. »Jawohl, Kahuna, ich werde euren Rat beherzigen.«

Kopfschüttelnd zog Kaimana den Stoff ihrer weißen Bluse wieder über die Schulter und wandte sich ab. »Nein, das wirst du nicht«, raunte sie sich selbst zu. »Sobald ich weg bin, wirst du genau das Gleiche wieder abziehen. Weil du es kannst und weil du in neunundneunzig Prozent der Fälle damit durchkommst … und weil Helena es anordnet.«

Gegen ihren Willen warf sie einen Blick über die Schulter, zu den Mauern von Skolio. Hoch über den Häusern, die sich an den Ausläufern des Olymps emporrankten und den göttlichen Nachkommen vorbehalten waren, thronte das Bergmassiv, umrahmt von einem Schloss; so gigantisch, dass es selbst eine Stadt hätte sein können:

Mytikas, der Distrikt, der den alten Göttern selbst würdig wäre und den Helena, die Königin Neu-Olymps, und ihre Gefolgschaft bewohnten.

Kaimana musste zugeben, dass die weißen Marmortürme im grauen Felsmassiv majestätisch wirkten und dass es sie beeindruckte, wie die vergoldeten Dachschindeln im Sonnenlicht funkelten und die violett abgesetzten Streifen um die Glasfenster den Gesamteindruck abrundeten. Sie richtete den Blick wieder auf die vor ihr liegenden Straßen von Zeusthron. Ein Viertel, in dem Menschen willkommen waren, in dem Handel getrieben und nicht jeder Schritt überwacht wurde. Hier gingen Menschen ihren täglichen Beschäftigungen nach, auch Kaimana selbst.

Erneut überflog sie den Einkaufszettel und wandte sich dann in eine der unzähligen Gassen. Eigentlich entfernte sie sich ungern so weit von ihrem Heimatbezirk, aber ihr herkömmlicher Lieferant hatte den Anbau von Kava eingestellt und ohne die Hauptzutat zur Herstellung des zeremoniellen ’Awas brauchte sie erst gar nicht zurückzukehren. Warum musste Eugene auch plötzlich den Drang verspüren, zur See zu fahren? Sie konnte ihn trotz ihres Ärgers verstehen. Manchmal hatte sie auch Sehnsucht nach dem ewig präsenten Ozean, der Teil ihres Namens war: Kaimana, Kraft des Meeres.

Aber sie musste hier leben und durfte nun ihren Tag mit der Suche nach einer seltenen Wurzel verbringen. Die vollen Auslagen der Händler boten Gewürze, Gemüse und Obst an. Unter den Fenstern der ersten Etage der meist zweigeschossigen Häuser hingen gefüllte Blumenkästen, deren Blüten in allen Farben schillerten.

Kaimana bemühte sich, den fruchtigen Duft einer orangefarbigen, sternförmigen Blüte nicht zu tief einzuatmen. Es gab genügend Blumen mit latent hypnotisierenden Eigenschaften, die extra gezüchtet wurden, um Menschen in Kauflaune zu versetzen. Insbesondere die Priesterinnen der Hestia verstanden sich ganz hervorragend auf diese Kunst, auch wenn ihre Göttin vor vielen Jahren gemeinsam mit allen anderen vollwertigen Göttern und den meisten Halbgöttern die Erde verlassen hatte.

Sie hatten damals alle Menschen, die sie für würdig hielten, mitgenommen. Zurück blieben jene, die nicht vollkommen rechtschaffen waren. Und nach der großen Katastrophe blieben noch weniger übrig. Ein kümmerlicher Rest, den die göttlichen Nachkommen an den letzten Bastionen der Menschheit um sich scharrten, dort, wo sie sicher vor den Naturgewalten lebten, die jetzt die Erde beherrschten.

Ein paar Schritte weiter hielt Kaimana vor einem Geschäft, das dutzendweise verknäulte graubraune Wurzeln auf den Bänken und Fächern vor dem Schaufenster ausstellte und noch mehr in den dunklen Tiefen des Ladenlokals. Bei einigen handelte es sich um normale Knollen wie Süßkartoffeln oder Topinambur, aber als Kaimana erste Schritte in das Geschäft setzte, wo die Wurzeln in Plastikkisten in den Regalen ruhten, wusste sie, dass sie hier richtig war. Der leicht pfeffrige Geruch nach Kava hing in der Luft, versteckt hinter Weihrauch und Maniok, aber gut genug erkennbar für sie. Zielsicher griff sie in eines der Regale und griff einen Ballen der fein verästelten Wurzeln heraus.

»Kann ich dir helfen?«

Erschrocken fuhr Kaimana herum. Sie hatte die Frau nicht kommen hören, die nun in weiten, rotbraunen Gewändern vor ihr stand. Feine Hörner lugten aus ihren hochgesteckten braunen Haaren hervor und verrieten, dass es sich bei ihr um einen Nachkommen handelte. Vermutlich Satyrblut.

»Ja, danke«, sagte Kaimana und fasste sich wieder. »Wir benötigen einen neuen Zulieferer für Kava. Ich würde gerne zwei Kilo mitnehmen und eine wöchentliche Bestellung aufgeben.«

Die Frau zog die Stirn kraus. »Das sind kaum haushaltsübliche Mengen. Kava ist eine Droge, die nur zeremoniell …«

Automatisch legte Kaimana ihre Schulter frei, so dass die Frau das Tattoo erkennen konnte, das sie als Kahuna auszeichnete, Familienmitglied einer Gottheit.

Lōkahi, das Symbol der Einheit von Mensch, göttlichen Nachkommen und der Natur. Ein Dreieck, in dessen drei Spitzen sich jeweils ein goldenes, ein eisernes und ein kupfernes Dreieck befanden, um diese drei Aspekte ihrer Welt zu ehren. Im goldenen Dreieck oben waren bei Kaimana darüber hinaus noch drei nach oben zeigende Spitzen aus jeweils zwei Linien übereinander gestochen. Das Symbol für Familie. Im Prinzip hieß es: Ich bin zwar kein göttlicher Nachkomme, aber ich bin mit einer echten Gottheit verwandt oder verbandelt, verpiss dich also oder mach, was ich sage. An manchen Tagen fragte sie sich, wozu sie das Zeichen überhaupt bedeckte. Um ihnen die Chance zu geben, mich um meiner selbst willen respektvoll zu behandeln, beantwortete Kaimana sich diese Frage und presste die Zähne aufeinander.

Und wie schon beim Zentauren vor ihr schlug das Verhalten der Frau innerhalb von Sekunden in Ergebenheit um. Zu den göttlichen Nachkommen zu zählen, den Geschöpfen des Olymps oder anderer Pantheons, war eine Sache. Zur Familie eines echten Gottes zu gehören eine ganz andere.

»Natürlich, wie du wünschst, Kahuna. Wohin soll ich das Kava liefern lassen?«

»Ins Oahu im Kakoskala.«

Drei Stunden später befand sich Kaimana auf dem Rückweg ins Oahu, der Bar und Herberge, die sie mit ihrer Schwester betrieb und bei der es sich gleichzeitig um einen Tempel handelte. Sie durchquerte Skala, einen Bezirk, der hauptsächlich von Menschen und entfernten Nachkommen bewohnt wurde und den größten Teil von Neu-Olymp darstellte. Die Häuser hier bestanden aus verputzten Ziegeln und die Straßen aus Kopfsteinpflaster, so dass sich ein eindeutiger Unterschied zu den wohlhabenderen Vierteln wie Zeusthron und Skolio abzeichnete.

Zwischen kleinen Häusern stachen mehrstöckige Gebäude aus dem Stadtbild hervor, die nach alten Methoden erbaut waren und ganzen Großfamilien ein Heim boten. Viel erinnerte hier an die menschliche Architektur vor dem Kollaps, die Kaimana nur von alten Fotos kannte. Immer gleiche Formen, in denen sich Grau und Glas ablösten. Der Platz zwischen den Gebäuden wurde von aufgeräumten Gärten eingenommen, in denen nach Vorschrift gepflanzt wurde. Ein Gebetstempel des Arcas stand am Straßenrand mit einem Foto des blonden Halbgottes und Werbung seiner Bäckereikette darin.

Kaimana schickte ein kurzes Gebet an ihn, woraufhin ein Glöckchen im Schrein klingelte. Ein Gebet an den Gott des Brotes und Weizens zu schicken, konnte nie schaden in einer Stadt, in der es immer noch vielen Menschen am Nötigsten fehlte. An jene außerhalb der Stadtgrenzen wollte sie gar nicht denken.

Nur wer in Neu-Olymp lebte, bemerkte die unsichtbare Grenze zwischen den Bezirken Skala und Kakoskala: Das Baumaterial änderte sich von Ziegeln zu Holz und anderen leicht erhältlichen Materialien, die Einheitlichkeit wich einem bunten Sammelsurium an Formen und Farben und obwohl die Häuser kleiner und ärmlicher wirkten, zeigte alles rundum einen Anstrich von Fröhlichkeit, der dem ernsthafteren Skala fehlte. Hier lebten die Verlorenen, die Ausgestoßenen, die es aufgegeben hatten, in den Ringen der Stadt zu Wohlstand aufzusteigen. Menschen ohne Beziehungen sowie göttliche Nachkommen ohne Ambitionen sich am politischen Ränkespiel um Neu-Olymp zu beteiligen. Und natürlich der Abschaum, die Gangster und Gauner. Jene, denen ehrliche Arbeit ein Gräuel war oder die die Arbeit in Freudenhäusern, Casinos, Bars und Diebesbanden der auf den Äckern und Baustellen außerhalb Neu-Olymps vorzogen.

Erschöpft verlagerte Kaimana die Tasche mit den wichtigsten Einkäufen von einer Schulter auf die andere. In genau dem Moment, wo sie den Griff wechseln wollte, riss ihr jemand die Tasche aus den Händen und rannte davon.

»’Ino!«, fluchte sie und stürmte hinter der drahtigen Gestalt her, die hinter einer Häuserecke verschwand. Zum Glück trug Kaimana heute eine Cargohose und ihre leichten Turnschuhe, so dass ihr nicht schwerfiel, dem Dieb hinterherzujagen, der sie direkt in das Labyrinth der Gassen Kakoskalas führte. Offensichtlich hoffte er, sie abzuschütteln. Vermutlich hielt er sie für eine Außenseiterin, einen reichen Menschen aus einem der wohlhabenden Distrikte, hierhergekommen auf der Suche nach etwas Aufregung und Nervenkitzel.

Po’o, schimpfte sie sich selbst. Du Idiotin. Kaimana wusste, dass sie in diesen Straßen keinen Augenblick nachlässig sein durfte. Ihr Gesicht war nicht allen bekannt. Wie auch, in einer Millionenstadt wie dieser? Da war vollkommen egal, zu wem sie gehörte. Vor allem dank ihrer Entscheidung, das Lōkahi zu verhüllen und selbst zurechtkommen zu wollen.

Sie rannte mit langen Schritten durch eine im Zwielicht liegende Gasse, folgte den Schritten des Diebes nach links. Dann sah sie einen Schatten um eine Ecke nach rechts huschen und passte sich auch diesem Richtungswechsel an, ohne ihre Umgebung aus den Augen zu verlieren.

Er führte sie weg von den großen Straßen, hin zu den Freudenhäusern und Armenvierteln, wo die Phylax keine Macht hatten und die Stimmen der Göttlichen nicht mehr zu hören waren. Das war nicht gut.

Einige Straßenkinder johlten, als Kaimana an ihnen vorbei wetzte, eine alte Frau, die gerade Knochen geworfen hatte, rief Kaimana Verwünschungen hinterher. Der Geruch von Blumen wich dem einer nicht funktionierenden Kanalisation, deren Dämpfe in der allgegenwärtigen Sonne schwelten.

Wie konnte der Dieb nur dauerhaft in dieser Geschwindigkeit laufen? Vor allem, da sie nackte Füße gesehen hatte. Bermudas. Ein schwarzes Shirt mit Kapuze.

Nichts, was auf seine Herkunft oder seinen Glauben schließen ließ. Vermutlich hoffte er nur auf wertvolle Beute, die er an irgendeiner Ecke verticken konnte. Nun, zumindest mit dem Kava konnte er einen schönen Nachmittag verbringen, wenn er wusste, was er da gefunden hatte.

Sie bog um eine weitere Ecke, die Häuser wichen hohen Lagerhallen, zwischen denen Bretter von Dach zu Dach führten, die das Sonnenlicht nur in flackernden Streifen hindurchließen. Zumindest schienen hier keine weiteren Gassen abzugehen. Und nur wenige Meter vor ihr lief der Dieb mit ihrer Tasche.

Kaimana setzte zu einem finalen Sprint an, bereit zu springen, als der Verfolgte sich links gegen eine Mauer warf und Kaimana so schnell abbremste, dass sie ins Straucheln geriet. Was sie für eine Wand gehalten hatte, entpuppte sich als Tür, gut getarnt im gleichen Hellgrau gestrichen, wie die Mauer und mit identischer poröser Textur. Sie hielt inne, nur einen Moment, dann folgte sie durch den Spalt ins Innere der Lagerhalle.

Kaum war sie drinnen, fiel die Tür hinter ihr zu und Kaimana wirbelte herum. Absolute Schwärze umfing sie und kein einziges Geräusch diente der Orientierung.

Automatisch zog sie ihr Messer aus dem Gürtel und stabilisierte sich in einem festen Stand. Die messerlose Hand tastete vorsichtig nach hinten, ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Irgendwer hatte sie in eine Falle gelockt, und sie war reingelaufen wie eine dumme Skala, nicht wie jemand, der fast sein Leben lang in diesem Distrikt wohnte. »Zeigt euch.«

Langsam erfasste sie Schemen in der Dunkelheit. Regalreihen vermutlich.

Der Lichtschein blendete ihre Augen so plötzlich, dass sie den Unterarm mit der Messerhand nach oben zog und so ihre Deckung freigab. In genau diesem Moment griffen Hände nach ihr. Eine feste Umklammerung hielt einen ihrer Arme weiter nach hinten und ihre Messerhand vor der Brust.

Instinktiv versuchte sie, in den fremden Körper zu beißen, erwische aber nur Stoff.

»Hō’ino wale! Lasst mich los ihr Scheißkerle!«

Kaimana entging nicht, dass derjenige, der sie festhielt, mit ungewöhnlicher Sanftheit vorging und ihr das Messer nicht entwand. Sein Pech.

Ein gezielter Tritt nach hinten, gefolgt von einem Stöhnen und der Griff an ihren Armen lockerte sich für einen Sekundenbruchteil. Mehr brauchte sie nicht, um sich mit ihrem ganzen Gewicht nach vorn zu werfen, aus der Umklammerung und dem Scheinwerferlicht heraus. Sie rollte über den Boden, darauf bedacht, weder das Messer zu verlieren noch sich selbst zu verletzen, kam auf die Knie und blickte sich um, wobei sie bereits das Messer hochzog.

Ein langsames Klatschen ertönte aus den Regalreihen vor ihr und Schritte näherten sich im Rhythmus der aufeinandertreffenden Handflächen.

»Bravo. Ich bin wirklich beeindruckt.«

Eine Gestalt trat so weit aus den Schatten, dass Kaimana eine Person erkennen konnte, die etwa einen halben Kopf weniger maß als sie selbst. Kurze, dunkelbraune Haare und einfache dunkle Kleidung, die weibliche Konturen zeigte. Das Gesicht offenbarte nur auf einer Hälfte rosafarbene Haut, die andere zeigte das unnatürliche Weiß einer schweren Verbrennung, die vom Kinn bis zum stahlgrauen Auge reichte.

»Ich war ein bisschen enttäuscht, als du Kumo so leicht auf den Leim gegangen bist, aber diese Vorstellung macht das wieder wett.« Die Stimme klang amüsiert, aber kalt, mit einem dunklen Unterton, der an das Schnurren einer Raubkatze erinnerte.

»Was willst du? Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst.« Kaimana wollte bereits zum dritten Mal an diesem Tag nackte Haut zeigen, da unterbrach sie das Lachen der Fremden. Ein merkwürdiges Geräusch, das vibrierte, als könne es Glas zerschneiden. »Mach dir nicht die Mühe, wir wissen, wer du bist, Kahuna Kaimana und das ist auch der Grund, warum du hier bist.«

Eiseskälte durchfuhr Kaimana. Normalerweise sorgte ihr Name für andere Reaktionen und ihre Verwandtschaft versorgte sie mit Respekt, der sie auf den Straßen aus jeder Situation herausbugsieren konnte. Anscheinend galt diese Regel hier nicht und sie war zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich auf sich allein gestellt.

Schnell warf sie ihren Kopf herum, erhaschte einen Blick auf eine große Gestalt im Hintergrund, diejenige, die sie festgehalten hatte. Vor ihr war die Fremde, neben ihr das Kind – Kumo? – das sie hergelockt hatte, und immer noch ihre Tasche hielt. Wenn sie schnell war, konnte sie ihnen entkommen. Aus der Lagerhalle verschwinden, ohne das Kava. Scheiß drauf, sollte sie sich ihre Drogen selbst besorgen.

Kaimana bereitete sich auf einen Sprint vor, spannte ihre Sehnen an.

»Warte!« Die Frau hob eine Hand, in einer Geste, die mehr nach Beschwichtigung als nach Angriff aussah.

»Wir wollten dich allein sprechen, Kaimana. Du hast einen gewissen Ruf hier in Kakoskala. Die Leute erzählen, du kümmerst dich um die Menschen.«

Kaimana richtete sich auf, legte den Kopf schief und musterte ihr Gegenüber. Beide Frauen taxierten einander.

»Ich bin ein Mensch«, antwortete Kaimana schlicht, weil sie keine Ahnung hatte, wohin das hier führen sollte.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Du bist mehr als das, du bist Kahuna, du gehörst zu einer Familie des Göttlichen. Und trotzdem hilfst du in Suppenküchen und sorgst dafür, dass Kinder Nahrung bekommen. Euer Tempel steht allen in den Slums offen, obwohl ihr genauso gut in Skolio leben könntet.«

Nachdem keine Bedrohung zu spüren war, regte sich ein neues Gefühl in Kaimana: Ungeduld. Und das Bedürfnis nach einem kalten Bier, das ihre von der Rennerei ausgetrocknete Kehle befeuchten konnte.

»Weiß ich. Wenn das alles ist, würde ich gerne meine Tasche nehmen und verschwinden. Ich bin spät dran. Und wenn du so gut über uns Bescheid weißt, hast du vielleicht auch gehört, dass sie nicht gerne wartet.«

Die Miene der Fremden verzog sich zu einem Grinsen, was das vernarbte Gewebe der linken Gesichtshälfte in feine Falten legte.

»Mein Name ist Ada Blood. Wir möchten dich als Teil des menschlichen Widerstands haben. Mit deinem Insider-Wissen könntest du den Menschen in dieser Stadt noch mehr helfen. Wenn du dich uns anschließt.«

Kaimana starrte sie an. Sie hatte genügend Gerüchte gehört, um zu ahnen, dass es eine Gruppierung gab, die versuchte, der Stimme der Menschen mehr Gewicht zu verleihen. Aber dass man sie von all den, den Göttlichen Nahestehenden ausgewählt hatte, um dieser Sache zu folgen, erschien ihr absurd.

»Wenn ihr mich von irgendwas überzeugen wollt, dann habt ihr euch dafür einen wirklich bescheuerten Plan zurechtgelegt.«

Sämtliche Angst über Bord werfend, trat Kaimana jetzt an Ada vorbei und riss Kumo ihre Tasche aus der Hand, der keinen Widerstand leistete.

»Wir mussten sicher sein, dass du allein bist.«

Kaimana warf sich die Tasche über die Schulter, hielt dabei weiterhin das Messer bereit. »Wenn das dann alles ist.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Bitte denk darüber nach.« Eine Hand berührte sie an der Schulter, hielt sie aber nicht wirklich fest. Kaimana schaute Ada in die Augen, die bei aller Kälte Ehrlichkeit ausstrahlten. Sie hielt Kaimana ein gefaltetes Stück Papier hin.

»Hier steht, wie du uns findest, wenn du dem Auge des Re folgst.«

Unwirsch pflückte Kaimana ihr das Papier aus der Hand und verstaute es zwischen den Kava-Wurzeln.

»Verlass dich nicht zu sehr darauf, Sonnenschein.«

Ungeduldig trommelte Makani mit den Fingern über die hölzerne Theke des Oahu. Zu dieser Uhrzeit trieben sich hier nur wenige Gläubige herum, die sie mit ehrfürchtigen Augen anstarrten oder ignorierten. Zylla, ihre Kellnerin, servierte Getränke oder brachte kleine Gerichte zu den Tischen. Beim Oahu handelte es sich gleichzeitig um eine Bar, einen Ort der Zusammenkunft und einen Tempel. Ihren Tempel.

Wobei die Bezeichnung nicht ganz zu der hölzernen Bretterbude aus zwei Etagen passte. In der unteren befand sich der große, allen zugängliche Raum voller Leis, hawaiianischer Schnitzereien und Gemälde. Außerdem die offene Küche, in der sie traditionelle Mahlzeiten für alle kochten, Getränke mixten und ein offenes Ohr für die Anliegen der Gläubigen hatten.

»Oh Makani, gewährst du mir eine Party ohne Hangover?«

»Bitte verschaffe mir einen Sieg beim Blackjack!«

»Ich brauche einen guten Preis für meine Ernte, bitte wende mein Glück.«

Sie kannte die Gebete, hörte sie laut ausgesprochen in diesem Raum und als Gemurmel in ihrem Hinterkopf, seit dem Tag, als ihr Vater diese Welt verlassen hatte, um woanders sein Glück zu suchen.

Makani, Göttin des Windes, der in ihrem Namen steckte. Tochter von Māui, Halbgott des Windes und der See, der die Götter austrickste, einst verehrt von allen Menschen Polynesiens.

Und für was stand sie hier, in Neu-Olymp? Bestimmt nicht für den Wind. Jedenfalls hatte sie noch kein Gebet gespürt, das um sanfte Winde für ein Fischerboot bat. Wenn sie für etwas verehrt wurde, dann für ihre Cocktails, nicht vorhandene Hangover und Partys, die die Menschen vergessen ließen, dass das Leben seit dem Verschwinden der großen Götter nicht mehr so einfach war wie vor dem Tag, an dem sie aufgetaucht waren, nur um kurz darauf das Projekt Erde inklusive Menschen für gescheitert zu erklären.

Was würden sie wohl sagen, wenn sie wüssten, dass in den Gigametropolen, die von den göttlichen Nachkommen geschützt wurden, immer noch Menschen lebten? Dass die Erde sich erholte, neue Landmassen auftauchten? Wenn sie wüssten, dass Technologien wie das Internet und Satellitensysteme verloren gegangen waren, aber es immer noch genug Solarenergie zum Betreiben von Kühlschränken gab. Um den Rest kümmerten sich die göttlichen Nachkommen, wenn ihnen genug Macht zur Verfügung stand.

In einer fließenden Bewegung ließ sie sich vom Barhocker rutschen und öffnete den kanariengelben Kühlschrank, den Hibiskusblüten in unterschiedlichen Rot- und Pink-Tönen zierten. Darüber hingen Notizen wie »Kava nachbestellen«, »Root hat Hausverbot bis Dienstag« oder »Mehr Bier«. Seit Zylla sie unterstützte, verzichteten sie auf hawaiianische Notizen.

Makani nahm zwei Flaschen ihres selbstgebrauten Bieres aus dem Kühlschrank, dann setzte sie die erste Flasche am Kronkorken an der Theke an und versetzte ihr einen kleinen Schlag, um sie zu öffnen. Genauso verfuhr sie mit der zweiten, die sie in dem Moment vor sich auf die Theke stellte, als die breite Holztür sich öffnete und Kaimana hereinkam.

Ohne ein Wort knallte ihre Schwester die Tasche auf den Boden, nahm die Bierflasche und leerte sie zur Hälfte, bevor sie das Getränk zurück auf die Theke setzte.

»Scheißtag gehabt, Schwesterchen?«, fragte Makani und legte den Kopf schief.

Kaimanas Rehaugen schimmerten vor unverhohlener Wut und unter dem Terrakotta ihrer Haut glühte es rötlich, wie immer, wenn sie sich aufregte. Der messy Bun, zu dem sie ihre Haare zusammensteckte, wirkte unordentlicher als sonst und die Hibiskusblüte hinter ihrem rechten Ohr wirkte mitgenommen.

Kaimana rollte mit den Augen. »Erst musste ich bis zum anderen Ende der Stadt, um eine neue Kava-Händlerin zu finden. Du weißt, wie die Phylax nahe Skolio ist.«

Makani kniff die Augen zusammen. Aus vielen Gründen war sie keine Freundin der Wache von Neu-Olymp. Und wenn sie ihrer Schwester etwas angetan hatten …

Aber Kaimana winkte bereits ab. »Alles gut. Nur hat mich, als ich zurückkam, der selbsternannte Widerstand aufgehalten. Wollten, dass ich ihrer Sache beitrete.« Sie ließ ein Stück gefaltetes Papier auf die Theke fallen und Makani hob es auf. Es handelte sich um handgeschöpftes Papier, dick und ungleichmäßig. Doch als sie es entfaltete, konnte sie nichts erkennen. Irritiert hielt sie Kaimana das leere Blatt entgegen, die ebenfalls die Stirn runzelte und es ihr dann aus der Hand riss.

»Merkwürdig, sie haben gesagt … egal.« Sie faltete den Zettel wieder zusammen und steckte ihn in eine ihrer Hosentaschen.

»Jedenfalls habe ich erstmal genug von Besorgungen. Da hast du dein geliebtes Kava.« Sie deutete auf die Tasche vor der Theke.

Makani umrundete den Tresen und nahm die Wurzeln mit zum Ofen. Dort begann sie mit schlafwandlerischer Sicherheit die Prozedur, um aus der Wurzel das rituelle ’Awa herzustellen, für das viele zu ihnen kamen. Soweit Makani wusste, handelte es sich bei ihr und Kaimana um die letzten Wesen, die sich auf die Herstellung verstanden, seit die hawaiianischen Inseln untergegangen waren.

»Hallo Kai«, begrüßte Zylla hinter ihr Kaimana. Die Frau gorgonischer Abstammung trug wie immer eine Augenbinde und bewegte sich trotzdem sicherer durch die Bar als mancher Gast. Ihre Großmutter war die Medusa und auch wenn Zylla bislang niemanden durch ihren Blick versteinert hatte, verlangten die Gesetze von Neu-Olymp an öffentlichen Orten diese Vorsichtsmaßnahme. Niemand wollte zu Stein verwandelt werden, nur weil sie in die falsche Richtung geschaut hatte.

Aber Zylla trug die Auflage mit Fassung. Vielleicht auch, weil sie nichts anderes kannte.

Makani prüfte die Kava-Wurzeln, die zu ihrer Befriedigung frisch getrocknet wirkten und wusch sie. Dann nahm sie ihr Bambusmesser und hieb eine Wurzel in Stücke, die sie vorkaute und in einzelne Kokosnussschalen gab. Dort hinein legte sie heiße Steine, die sie im Ofen vorbereitet hatte, und füllte die Schüsseln bis zur Hälfte mit Kokosnusswasser auf. Mit einem Mörser zerrieb sie die Wurzeln auf den Steinen in der Schale. Dann schlug sie das Wasser in jeder Schüssel mit einem Bambus-Rührbesen auf und murmelte einige rituelle Worte.

Schon während sie arbeitete, traten Menschen an den Tresen und nahmen dankbar die Schalen mit der warmen Flüssigkeit entgegen. Jeden musterte sie kurz, bevor sie die Kokosnusschale mit einem Segenswort herausgab.

Glaube und Hoffnung sprudelten ihr als Gegenleistung entgegen und stärkten sie.

’Awa hatte den Ruf einer Droge, auch wenn Makani das traditionelle Gebräu anders sah. Es beruhigte und reinigte die Gedanken und war Balsam auf den Seelen vieler gepeinigter Menschen in dieser Stadt. Der Tee zerstreute Stress und ließ jeden ruhig und ohne Sorgen schlafen.

»Bist du fertig?«, Kaimana klang vorwurfsvoll. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie kein ’Awa serviert, aber es bescherte ihnen mehr Gläubige. Und Glauben war die härteste Währung in Neu-Olymp, er stärkte die Kräfte von jedem mit göttlichem Blut. Makani spürte jetzt die Macht in sich pulsieren und wusste, dass heute einer der Tage war, an dem sie ohne Probleme den magischen Fischhaken ihres Vaters einsetzen konnte.

»Nicht ganz«, antwortete sie daher, setzte sich aber kurz ihrer Schwester gegenüber und trank von ihrem Bier, das mittlerweile warm geworden war. Zum Glück war sie an warmes Bier gewöhnt, die Hitze in Neu-Olymp verschonte nichts, was länger als fünf Minuten außerhalb eines Kühlschranks stand.

»Was meinst du mit ›Nicht ganz‹?«, fragte Kaimana fordernd, obwohl sie die Antwort ahnen musste.

»Ein Ausflug«, sagte Makani und grinste sie an. »Am besten nach Skolio. Da war ich lange nicht mehr.«

Kaimana sprang so schnell auf, dass der Barhocker unter ihrem Hintern zu Boden polterte. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Du weißt, wie gefährlich das ist? Von verboten mal ganz zu schweigen?«

Schulterzuckend schluckte Makani das blumig schmeckende Bier herunter und verbarg ihre Vorfreude hinter dem Flaschenhals. »Ich bin Māuis Tochter. Das ist meine Pflicht.«

Ein leichter Schlag auf den Hinterkopf ließ sie in Kaimanas Augen schauen, die jetzt dicht vor ihr standen. »Du schuldest ihm gar nichts, Lôlô! Er hat dich verlassen. Und unsere Mutter.«

»Sei froh, sonst gäbe es dich womöglich nicht«, entgegnete Makani lachend. Dann wurde sie ernst. »Was ich finde, gebe ich an der Suppenküche ab, du hast mein Wort.«

Sanft strich Kaimana ihr über die Wange. »Dein Wort nützt mir nichts, wenn dir etwas passiert, Großmaul.«

»Mir passiert nichts. Ich weiß ja, dass ich zurückkommen muss, weil du ohne mich aufgeschmissen wärst.«

Kaimana lächelte nachgiebig. »Ohne den Wind bleibt das Meer still.«

»Doch ohne das Meer, erkennt man den Wind nicht«, antwortete Makani und legte die Stirn an die ihrer Schwester. Einen Moment verharrten sie in inniger Zweisamkeit, dann löste sich Makani. »So, ich muss los.«

Sie drückte Kaimana einen Kuss auf die Wange und konnte durch die Tür kaum noch hören, wie diese ihr hinterher schimpfte.

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Kapitel 2

Zielstrebig huschte Makani an den schäbigen Hauswänden Kakoskalas vorbei, verschloss ihre Augen geübt vor der Armut, die ein treuer Begleiter der Menschen im größten Stadtteil Neu-Olymps war. An sie gerichtete Gebete nahm sie auf, antwortete mit flüchtig gemurmelten Segenssprüchen und fühlte, wie ihre Macht sich weiter auflud. Eine perfekte Gelegenheit.

Bald erreichte sie das größte Bauwerk des Viertels, den alten Uhrenturm, dessen Hauptgebäude schon ewig in Trümmern lag, über die sie ins Innere kletterte. Dort suchte sie mit ihren Fingern Halt im Mörtel zwischen den Backsteinen und zog sich an der Mauer hoch. Ihr Körper kannte jede Ritze, jeden Spalt, in dem sie Halt finden konnte und so schob sie sich Meter um Meter am zerschmetterten Treppenhaus vorbei nach oben.

Sie wusste nicht, ob die hölzerne Wendeltreppe in der Zeit des Umbruchs oder danach zerstört worden war. Es spielte auch keine Rolle, niemand hatte auch nur einen Gedanken daran verschwendet, sie wieder in Stand zu setzen. Wozu auch? Nach Uhrzeiten richtete sich kaum noch jemand und Makani bezweifelte, dass es überhaupt jemanden gab, der die Uhr wieder hätte reparieren können. Ihr kam das zugute, denn sie liebte den Glockenturm. Schon allein, weil niemand außer ihr so lebensmüde war, aus Spaß die sechzig Meter ohne Sicherung hinaufzuklettern.

Sie setzte ihren rechten Fuß in eine weitere Spalte und hebelte mit aller Kraft ihren Körper so weit hinauf, dass sie die Balustrade vor dem Uhrwerk mit der linken Hand erreichen konnte. Furchtlos zog sie die andere Hand hinterher, sprang mit den Füßen und nutzte den Schwung, um sich auf den Holzboden zu ziehen.

Sie gönnte sich zwei ruhige Atemzüge, dann zwängte sie sich durch ein Loch in der Außenwand und griff nach der das Dach umgebenden Verzierung, um sich hochzuziehen. Mit einer Hand hielt sie sich an einem der kleinen Türmchen fest, die alle vier Ecken des Turms zierten, und bugsierte ihren Hintern in eine gute Position, um ihren Blick über die Stadt schweifen zu lassen. Ihre Stadt.

Nun ja, eigentlich regierten vor allem die Reste des griechischen Pantheons Neu-Olymp. Aber so schlecht hatte sie es nach dem Untergang der hawaiianischen Inseln nicht getroffen.

Gegen ihren Willen richteten sich ihre Augen auf das Meer, das viel zu nahe an Neu-Olymp herankroch, als lauerte es auf eine gute Gelegenheit, auch eine der letzten Bastionen der Menschheit zu verschlucken.

Es gab einen Grund, warum Menschen mit den göttlichen Nachkommen zusammenlebten und sie anbeteten. Sie waren der einzige ernstzunehmende Schutz gegen die Naturgewalten, die ihre unverhohlene Rache an den Jahrtausenden menschlicher Dekadenz nahmen.

Makani blickte zum Himmel, der durch den Schein der langsam untergehenden Sonne in ein leuchtendes Pink getaucht wurde. Kein einziger Satellit mehr, der Wetterdaten an die Erde gab. Die göttlichen Oberangeber hatten gemeinsam mit den irdischen Katastrophen dafür gesorgt, dass den Überlebenden kaum noch Technik blieb, die sie den Unbillen des Klimawandels entgegenwerfen konnten. Diejenigen, die nicht das Paradies betreten durften, wurden als Abschaum bezeichnet und die Erde als vorgelagertes Fegefeuer. Nur dass Wasser und Wind hier die zerstörerischen Aufgaben des Feuers übernahmen.

Wasser und Wind. Makani musste lächeln. Die Namensinspirationen der Schwestern. Nur ihre Mutter hatte inmitten untergehender Inseln ihre frisch geborene Tochter nach dem verheerenden Element benennen können, in der Hoffnung, dass es auch wieder eine Zeit gäbe, in der das Meer so ruhig und schön war wie Kaimana.

Vom Meer aus wanderte Makanis Blick weiter zu den Fischerbooten und dann zu den Feldern, die bis an die unteren Hänge des Olymps reichten.

Aus Respekt vor dem Schicksal so vieler anderer Städte hatten sie Neu-Olymp an den Berghang gebaut, hatten sogar mit göttlicher Kraft und Bulldozern das Gelände noch mehr erhöht, um eine Stadt zu errichten, die den Fluten widerstand, auch wenn sie zukünftig noch näher kamen. Die Frage, wie sie dann im verwilderten Landesinneren Nahrung erschließen sollten, stand auf einem anderen Blatt. Aber vielleicht käme diese Frage auch nie auf und die Fluten zogen sich irgendwann zurück, so wie es die Augurien vorhergesehen hatten.

Ihr Blick schweifte weiter über die Dächer Neu-Olymps. Über die löchrigen, teils mit Stroh verkleideten oder schlecht mit Brettern vernagelten Hausbedeckungen in ihrer Nähe zu den stabiler wirkenden Schindeln in Skala, die ihre Bewohner vor Regen und Sonne schützten. Dann die aufwendig verzierten, teils farbigen Dächer der Handelsresidenzen in Zeusthron, die wiederum lächerlich schäbig wirkten im Gegensatz zu den glänzenden Kuppeln und Türme des alles überragenden Skolio. Und darüber thronte Mytikas, der Ort, der ihres Besuches würdig wäre.

Makani seufzte. Ein Besuch im Paradies wäre allerdings leichter als ein Einbruch in Mytikas. Nicht zuletzt, weil Kaimana sie umbrächte, wenn sie ohne Vorbereitung etwas so Leichtsinniges wagte.

Nein, heute sollte ihr Ziel eines der Handelshäuser in Zeusthron sein. Dieser fette, selbstzufriedene Salmoneus, der mit seiner Waffenherstellung und seinen Intrigen die Bandenkriege in Kakoskala schürte. Und Übergriffe wie die, deren Opfer Kaimana heute fast geworden wäre.

In einer fließenden Bewegung erhob sie sich, ihr Stadtviertel lag weit unter ihr. Sie atmete aus. Dann ließ sie sich fallen und berührte zugleich den Angelhaken, das Vermächtnis ihres Vaters. Im Moment der Berührung verschmolzen ihre Gedanken mit der Kraft, die vergessene Gottheiten ihrer Familie geschenkt hatten, aktiviert durch den Glauben der Menschen von Kakoskala. Ihr Skelett zog sich zusammen, Luft durchströmte ihren Körper, während Federn aus ihren Poren sprossen und ihr Fleisch zusammenschrumpfte. Der Schmerz, den die Verwandlung verursachte, wog gering im Vergleich zu der Freude, die ihr Gelingen in ihr auslöste.

Ihrer Kehle entfuhr ein Freudenschrei im gleichen Moment, in dem ihre Arme zu Schwingen wurden und sie sich in den Wind legte, getragen von einer freundlichen Böe. Der Ruf des Falken erreichte ihr Ohr, eine Freiheit, die sie alle Sorgen vergessen ließ. Übermütig schoss sie über die Dächer, ihrem Ziel entgegen, fühlte, wie die menschlichen Gedanken ihr entglitten und sie nur vom Göttlichen in ihr abgehalten wurde, ganz Falke zu werden.

Fliegen, Freiheit, Beute. Genug Futter, um zu überleben, um zu fliegen. Nur jetzt sein. An das Nest denken. Sie flog eine unnötige Schleife, ließ sich tiefer tragen, vergaß für einen Moment ihr Ziel und genoss nur die Luftströmungen unter ihren Flügeln.

Ihre Augen scannten die Gassen ab, nach Getier, in das sie ihre Krallen schlagen konnte. Ihre Flügel wünschten sich in die Ferne. Salmoneus, erinnerte sie die Stimme, die Makani genug war und bedauernd änderte sie die Flugrichtung, überkam den Drang, auf eine Maus hinabzustoßen, die sie in dem Moment erspähte. Ein weiterer Schlag ihrer Schwingen ließ sie schneller durch die Lüfte sausen. Sie liebte es, so zu reisen. Ohne Menschen oder ihresgleichen begegnen zu müssen. Allein mit sich selbst. Unerkannt erreichte sie innerhalb weniger Minuten eines der offenstehenden Fenster im dritten Stock eines Hauses, segelte in vollem Tempo hinein und krachte in schwere Samtvorhänge.

’Ino. Der Falke hatte Mühe, auf die Beine zu kommen, doch die getigerte Katze kroch geschmeidig aus den Vorhängen. Heute verfügte sie über genug Macht zum Springen zwischen Formen. Warum sollte sie das nicht ausnutzen?

Sie schaute sich um. Dank der Katzenaugen konnte sie sich im Halbdunkel orientieren und putzte dabei die Pfoten. Säugetiere steuerten sich einfacher, da sie Menschen ähnelten. Anders als ihr Vater vermied Makani Insekten, Fische, Reptilien und Amphibien. Einmal hatte sie sich daran versucht und beinahe in der Fremdartigkeit dieser Wesen verloren. Vögel waren gerade noch angenehm.

Sorgsam musterte sie die Umgebung aus dreißig Zentimetern Höhe. Terrakottafliesen und eine Stofftapete mit goldenem Blattmuster veredelten den Raum. Das protzige, pinkfarbene Bett erschlug den Raum endgültig. Du liebe Zeit, verfügte der Typ über keinerlei Geschmack?

Offenkundig nicht, denn als sie weiter stromerte, erfasste sie ein lebensgroßes Porträt des graubärtigen Salmoneus mit goldenem Lorbeerkranz in den Haaren und einer ihn anschmachtenden Bardin, deren Laute seine Flöte bedeckte.

Es gab Dinge, die konnte sie nicht ungesehen machen. Zum Glück war er nicht da, so dass sie sich nicht von der Naturtreue des Gemäldes überzeugen musste. Das hätte ihr gerade noch gefehlt.

Sie stieß sich mit den Hinterbeinen ab und landete auf dem ausladenden Bett, um sich einen Überblick zu verschaffen. Ihre Krallen zogen sofort Fäden in der dekadenten Seide und sie fauchte irritiert. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung. Wo mochte der alte Mann seine Wertsachen aufbewahren?

Makani sprang auf eine Kommode und riss dabei ein paar Flakons um, die auch verschlossen Düfte von Zeder und Moschus verrieten. Wer brauchte so viel Parfüm?

Salmoneus nahm sich eindeutig zu wichtig, um seine Schätze hier zu verstecken, also musste sie keine Zeit verschwenden, um nach Geheimfächern hinter Bildern oder unter Fliesen zu suchen. Die Auswahl knallbunter Morgenmäntel drückte genug Reichtum aus, da brauchte er nicht noch mehr Schnickschnack im Schlafzimmer.

Sie sprang von der Kommode in Richtung Schlafzimmertür, erwischte die Klinke mit den Pfoten und zog sie mit ihrem Katzengewicht nach unten. Eine Baumelbewegung im richtigen Moment sorgte dafür, dass die Tür sich öffnete und Makani ließ sich zu Boden plumpsen, um durch den Türspalt zu schlüpfen. Im imposanten Flur warteten weitere Gemälde und wäre sie ein einfaches Mädchen aus Kakoskala oder Skala gewesen, hätte sie vermutlich geglaubt, dass nicht Herakles, sondern Salmoneus die zwölf herkulischen Aufgaben bewältigt hätte.

Weitere egozentrische Ausschweifungen des Kaufmannes ignorierend tapste sie leichtfüßig eine Treppe hinunter. Vierbeinig Treppen hinunterzulaufen war eine Kunst für sich. Trotz jahrelanger Übung fürchtete sie bei steilen Treppen immer noch, ihr Hintern könnte sie überholen und sie nach unten kugeln. Doch der Gleichgewichtssinn ihres Katzenkörpers brachte sie sicher und ungesehen von der Dienerschaft drei Etagen nach unten in ein Kellergewölbe.

Keller galten als ein großer Luxus in Neu-Olymp, denn es gab nur wenige schwere Maschinen, die einen ausheben konnten. Ansonsten blieben als Optionen die Schaufel (langwierig!), Magie (ungenau!) oder magische Erdwesen wie ein Stollenwurm (launisch!). Dabei konnten Keller gerade in den Außenbezirken mit den wackeligen Holzbauten Leben retten, wenn die Zeit der großen Stürme heranbrach. Aber nein, die Reichen benutzten sie, um ihre Reichtümer zu schützen.

Ihre Pfoten trugen sie in einen gut verputzten Gang, der mit Feenfackeln ausgeleuchtet war. Wie viele der kleinen Geschöpfe dafür ihr Leben hatten lassen müssen, wollte Makani nicht an sich heranlassen. Stattdessen wuchs ihre grimmige Entschlossenheit, diesem Mann das zu nehmen, was ihm am liebsten war.

Am Ende des Gangs wartete eine Tür mit aufwendigen Intarsien auf sie. Das Motiv zeigte die Wiedergabe des Lebens eines erfolgreichen Handelsreisenden in Kirschholz. Der aufwendige Schmuck konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass mehrere komplexe Schlösser die Tür in ihren Angeln hielten. Mit jedem Schritt, dem sie sich diesem Hindernis näherte, legte sie ein Stück Katze ab und wurde wieder zu Makani. Katzen konnten viel, aber Schlösser knacken wäre mit fehlenden Daumen eine Herausforderung. Sie war dankbar, dass alles, was sie zum Zeitpunkt der Verwandlung trug, sich mitverwandelte und sie jetzt nicht nackt und ohne ihr Werkzeug in einem fremden Keller stand. Vor allem da Schlösser knacken nicht ihr Spezialgebiet war. Da gab es jemanden, der ihr weit voraus war.

Makani schüttelte den Gedanken ab. An diesen großspurigen Idioten wollte sie jetzt auf gar keinen Fall denken, auch wenn sie sich den einen oder anderen Trick bei ihm abgeschaut hatte.

Schritt eins: Gibt es Fallen oder Alarme? Makani betrachtete die Fliesen vor der Tür, die Wände und die Tür selbst, suchte nach Unregelmäßigkeiten und markierte im Geist zwei Fliesen, die etwas höher lagen, als sie sollten.

Schritt zwei: Welche Schlösser sichern die Tür? Drei Schlösser konnte Makani entdecken. Auf der sich öffnenden Seite der Tür befand sich ein klassisches Schloss, das mit einem Dietrich problemlos geöffnet werden konnte. Darunter ein Mechanismus, der einen Zahlencode forderte. An den Angeln erspähte sie eine weitere Sicherung, die vermutlich einen Alarm auslöste, wenn sie nicht deaktiviert wurde. Kein Problem.

Schritt drei: Du bist der Trickster. Durchschaue die Illusion. Makani trat einen Schritt von der Tür weg. Zu offensichtlich. Zu protzig. Sie drehte sich um, marschierte die fünf Meter zum Ende des Gangs, vermied verräterische Fliesen und stand vor einem nichtssagenden Stück Wand. Ihr Blick wanderte nach oben, zur holzvertäfelten Decke. Lächelnd drückte sie den winzigen Kristall, der beinahe unsichtbar in einen Balken eingelassen worden war. Beinahe. In die Berührung legte sie genau so viel Magie, dass der Kristall sie für einen pummeligen Kaufmann hielt.

Die Realität vor ihr faltete sich zusammen und aus der weißen Wand wurde eine Tür mit sieben Schlössern, magisch gesichert. Grinsend zog Makani ihre Dietriche hervor. Sie liebte Herausforderungen.

Kaimana schloss die Tür des Oahu und lehnte sich seufzend mit dem Rücken an die Bambustür. Nicht, dass Bambus jemanden abgehalten hõtte, der wirklich in ihr Haus eindringen wollte. Aber das Lōkahi an der Hauswand stellte eine eindeutige Warnung dar – zumindest an Menschen. Mehr als einmal hatte Makani den Fußboden mit jemandem gewischt, der ungebeten bis zu ihnen vorgedrungen war. Wörtlich. Obwohl sie Wischen hasste.

Lieblos feudelte Kaimana mit einem Tuch über die Tische und stellte dann die Stühle nach oben. Den alten Göttlichen sei für Skylla gedankt, die sich in der Frühe um den Boden kümmern würde. Kaimana schnappte sich ihr zweites Bier für heute aus dem Kühlschrank und stieg die schmale Holztreppe nach oben, die hinter einem Paravent und Vorhängen verborgen begann. Die Stufen knarzten vertraut, als sie sich nach oben schleppte, wo sie ihre Kleidung bis auf die Unterwäsche auszog und über den Stuhl an ihrem Bett hing. Sie löste den Bun und stellte die Hibiskusblüte aus ihrem Haar in ein Wasserglas. Sie schüttelte einmal die schwarzen Locken, dann zog sie ein altes, verwaschenes T-Shirt über und trat auf den Balkon in die schwüle Nachtluft Neu-Olymps hinaus. Um sie herum hüllte sich die Stadt fast vollständig in Dunkelheit, nur wenige hier konnten sich elektrisches oder magisches Licht leisten. Doch je näher die Stadt den Ausläufern des Bergs Olymp kam, desto heller leuchtete sie, am hellsten Helenas Palast.

Wie mochte es gewesen sein, während die Götter die Erde lange nicht betreten hatten und die elektrischen Lichter jeden Ort der Welt erhellten? Makani hatte ihr von diesen Tagen erzählt, den Tagen vor der Götterdämmerung, als die Götter zurückkehrten, weil die Menschen die Erde beschissen behandelt hatten. Deshalb beschlossen sie, mit ihren Lieblingsmenschen abzuhauen und den Rest ihrem Schicksal zu überlassen, während die Naturgewalten den Planeten zurückeroberten.

Kaimana konnte sich nicht vorstellen, wie diese Zeit des Umbruchs gewesen sein musste, die ihre Halbschwester hautnah erlebt hatte, nachdem Māui sie im Stich gelassen hatte. Makani redete nicht gern darüber, doch Kaimana rechnete ihr hoch an, dass sie für ihre Mutter geblieben war. Und dass sie damals ihre Mutter beschützte auf ihrer Flucht von einer untergehenden Stadt zur nächsten.

Kaimana hielt die kühle Flasche Bier an ihre Stirn, trank dann einen weiteren Schluck, lauschte den Geräuschen der Nacht. Ihre Schwester war unberechenbar, wie alle göttlichen Nachkommen, aber sie hatte Kaimana bereits als Baby verehrt und ihr das Geschenk eines unmenschlich langen Lebens gegeben. Vielleicht auch aus Angst vor der Einsamkeit. Und sie hatte sie nach Neu-Olymp gebracht, wo das Leben ziemlich in Ordnung war. Meistens zumindest, wenn auch nicht für alle. Aber es gab jeden Tag Hoffnung.

Nachdenklich stand Kaimana auf und fischte den Zettel aus ihrer Hosentasche. Sie faltete ihn vor einer Kerze auseinander und nahm einen leichten Geruch von Orangen wahr, der so typisch für Neu-Olymp war. Dann stutzte sie. Als sie den Zettel in die Nähe der Flamme hielt, zeigten sich dünne Konturen, wie die Schatten eines Wortes. Verblüfft bewegte sie das Papier so nah an das Feuer, wie sie es wagen konnte, ohne es zu verbrennen. Was für eine merkwürdige Magie, aber unter der flammenden Hitze erkannte sie endlich die Botschaft des Widerstands. Eine Adresse am anderen Ende von Kakoskala, näher am Gebirge. Und eine eindeutige Warnung: Hele wale mai. Komm allein.

Makani war äußerst zufrieden mit ihrer Leistung und lächelte wie eine Katze, ohne eine zu sein. Über ihren Körper verteilt hingen die größten Schmuckstücke aus Salmoneus Schatzkammer, sorgsam verborgen vor neugierigen Augen. Zugegeben, das Diadem glänzte vielleicht ein bisschen auffällig, aber wer wollte die Tochter Māuis darauf ansprechen? Die Phylax? Wohl kaum.

Wie vermutet war das Knacken der Schlösser ein Kinderspiel gewesen, nachdem sie die Geheimtür entdeckt hatte. Der Rest verlief wie ein Shopping-Trip in Zeusthron. Einfach die wertvollsten Stücke identifizieren und mitnehmen. Makani wunderte nicht, dass Salmoneus eine Schwäche für glitzernde Steine hatte. Wer hatte die nicht? Selbst sie stand auf Glitzer, auch wenn sie das niemals zugeben würde. Viele Schmuckstücke und Edelsteine der alten Welt waren verloren gegangen. Es gab ganze Expeditionsteams, die sich unter großen Gefahren in die Ruinen der alten Städte begaben – häufig in rudimentären Taucherausrüstungen oder mit Unterstützung von Nixen – auf der Suche nach Schmuck und Tand. Jenen Dingen, die Götter und Menschen bis heute gleichermaßen begeisterten und mit deren Verkauf auf dem Schwarzmarkt Makani Geldmittel beschaffte, die sie zu Gunsten von Kakoskala verwenden konnte.

Ihre Hand in die Luft haltend betrachtete sie die großen Steine auf den Ringen, in denen sich das Mondlicht brach. Wie konnten Menschen danach gieren, während andere hungerten? Dass sich die göttlichen Erben einen Scheiß um die Belange der Menschen kümmerten, war bekannt. Aber dass sich auch ihresgleichen so ignorant verhielten, irritierte Makani. Sie selbst hatte Kaimana, die sie immer an ihre menschliche Seite und ihre Verantwortung erinnerte, obwohl es so leicht sein konnte, das zu vergessen. So leicht, wie es ihrem Vater gefallen war, seine Verantwortung ihr gegenüber zu vergessen. Oft erschien es Makani, als bedeutete mehr göttliches Blut in den Adern einiger Wesen, eine im gleichen Maße ansteigende Gefühlskälte. Dabei sollten die Mächtigen Verantwortung übernehmen. Jedenfalls hatte das ihre Mutter immer gepredigt. Ihre Mutter, die vor zu langer Zeit alt geworden und gestorben war.

Das Scharren eines Stiefels auf dem Pflaster hätte sie eigentlich bemerken sollen, bevor es so nahe zu ihr gelangte. Doch versunken in ihren Gedanken, hatte sie nicht auf die Umgebung geachtet, zu sehr von ihrem Sieg berauscht. Geschmeidig wich sie in den Schatten eines Hauses zurück und versuchte, Bewegungen zu erkennen.

Das Gewicht, das sich ohne weitere Vorwarnung auf sie legte, riss sie zu Boden. »Hō’ino wale!«, fluchte Makani, als sie auf dem Asphalt aufschlug.