Drei Feiertage und eine Hochzeit - Uzma Jalaluddin - E-Book

Drei Feiertage und eine Hochzeit E-Book

Uzma Jalaluddin

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Beschreibung

Als im Dezember 2000 Weihnachten, Chanukka und das Zuckerfest in denselben Zeitraum fallen, ist fast die ganze Welt unterwegs zu ihren Liebsten. Anna möchte zu ihrem Freund und dessen Eltern reisen. Maryam ist mit ihrer Familie auf dem Weg zur Hochzeit ihrer Schwester. Doch das Flugzeug, in dem sie alle sitzen, muss notlanden. Und so stranden sie in der Kleinstadt Snow Falls. Dort finden gerade Dreharbeiten für einen romantischen Weihnachtsfilm statt, in dem zufällig Annas Lieblingsschauspieler die Hauptrolle hat. Währenddessen versucht Maryam alles, um die Hochzeit ihrer Schwester zu retten. Und sie muss sich mit ihren Gefühlen für einen ganz bestimmten Mann auseinandersetzen. Auf sie alle warten drei Feiertage, die sie so leicht nicht vergessen werden … »Magisch. Das festlichste Buch, das Sie dieses Jahr lesen werden.« Carley Fortune, Bestsellerautorin von Fünf Sommer mit dir

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Seitenzahl: 489

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Uzma Jalaluddin | Marissa Stapley

Drei Feiertage und eine Hochzeit

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Irmengard Gabler

 

Über dieses Buch

 

 

​Als wären drei Feiertage und eine Hochzeit ​nicht schon kompliziert genug, sorgt ein Schneesturm für chaotische Zustände. Maryam und Anna, die sich während ihres Flugs nach Toronto angefreundet haben, stranden ​deshalb ​unfreiwillig ​im beschaulichen Snow Falls.

Maryam​, die ​versucht, ihre nervöse Familie zu beruhigen und die Hochzeit ihrer Schwester zu retten, bekommt​ unerwartet ​Unterstützung von jemandem, für den sie schon seit langer Zeit viel empfindet … 

Anna ist überwältigt davon, dass ​gerade ein Weihnachtsfilm​ in Snow Falls gedreht wird​ – ausgerechnet mit ihrem Lieblingsschauspieler​,​ der in der Realität mindestens genauso charmant ist​ ...

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Uzma Jalaluddin ist eine internationale Bestsellerautorin, deren Romane bereits verfilmt worden sind. Sie war Gymnasiallehrerin und Kolumnistin für den Toronto Star. Mit ihrer Familie lebt sie in Toronto.

 

Marissa Stapley ist New-York-Times-Bestsellerautorin von Reese's Book Club Pick »Lucky«. Viele ihrer Romane wurden für das Fernsehen verfilmt. Ihre journalistischen Arbeiten sind in Publikationen in ganz Nordamerika erschienen. Sie lebt mit ihrer Familie in Toronto.

 

Irmengard Gabler hat Anglistik und Romanistik studiert. Sie übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Die Übersetzerin lebt in München.

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

Vor langer Zeit

EINS

Anna

ZWEI

Maryam

DREI

Anna

VIER

Maryam

FÜNF

Anna

SECHS

Maryam

SIEBEN

Anna

ACHT

Maryam

NEUN

Anna

ZEHN

Maryam

ELF

Anna

ZWÖLF

Maryam

DREIZEHN

Anna

VIERZEHN

Maryam

FÜNFZEHN

Anna

SECHZEHN

Maryam

SIEBZEHN

Anna

ACHTZEHN

Maryam

NEUNZEHN

Anna

ZWANZIG

Maryam

Dank

Ein Gespräch mit den Autorinnen

Für unsere Familien

 

… und für alle, die sich in der Weihnachtszeit fragen, wohin sie gehören

»Das Sonnenlicht spielt auf dieser Wand ein wenig anders als auf jener, und wieder anders auf der dort drüben, trotzdem ist es ein und dasselbe Licht.«

Rumi

Vor langer Zeit – im Jahr 2000, um genau zu sein –, da begab es sich, dass Weihnachten, Chanukka und Eid in denselben Zeitraum fielen.

Man plünderte die Regale mit den Backzutaten. Die Angestellten der Reiseagenturen machten Überstunden, um Flüge zu buchen, mit denen die Menschen nach Hause kamen. Die Geschäfte erzielten mit dem Verkauf von Spielzeug und anderen Geschenken Rekordumsätze.

Weltweit herrschte eine Atmosphäre gefühlsgeladener, glückseliger Feierlaune.

Und in einem überfüllten Flughafen in Denver, Colorado, war eine kleine Gruppe Fremder im Begriff, ein Flugzeug zu besteigen. Sie ahnten nicht, dass ihr Leben sich bald grundlegend verändern würde … Denn Weihnachtswunder können überall geschehen, uns allen, ganz gleich, welches Fest wir feiern.

EINS

Anna

20. Dezember 2000

Denver, Colorado

Noch fünf Tage bis Weihnachten

Zwei Tage bis zum Beginn des Lichterfestes Chanukka

Der 25. Tag des Fastenmonats Ramadan

Zart klingende Glöckchen rissen Anna Gibson aus ihrem Traum, und sie schlug die Augen auf. Nicholas Vandergrey, seit sechs Monaten ihr fester Freund, stand vor ihrem Bett. Seine blonden Locken waren noch vom Schlaf zerzaust, und er trug den dunkelblauen Bademantel, der so gut zu seiner Augenfarbe passte. Er hatte sich eine Nikolausmütze aufgesetzt, etwas schief – und hielt eine Schleife, an der Glöckchen befestigt waren.

»Guten Morgen, perfekteste aller Frauen«, sagte er und lächelte zu ihr hinunter. »Zeit, aufzustehen.« Er schüttelte die Glöckchen, und sie versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Na los, raus aus den Federn! Dieser Tag bringt dich schließlich nach Toronto, wo du mit den Vandergreys das beste Weihnachten deines Lebens feiern wirst.« Er kniete sich zu ihr ans Bett und blickte ihr tief in die Augen. »Ich liebe dich, Anna.«

»Ich liebe dich auch, Nick«, sagte sie und hoffte dabei, dass sie vor dem Zubettgehen nicht vergessen hatte, sich abzuschminken.

»Wie sehr ich mich auf diese Woche freue! Ich kann’s kaum noch erwarten! Ich hab so viele Überraschungen für dich.«

»Und ich für dich!«, sagte sie und setzte sich auf. »Es wird das perfekte Weihnachten, ganz sicher.« Beim Wort »Weihnachten« spürte sie unweigerlich einen kleinen Stich. In diesem Jahr fiel es mit Chanukka zusammen, dem jüdischen Lichterfest, so dass sie zwangsläufig an ihre Kindheit denken musste. Ihre Familie hatte immer beide Feste gefeiert, ganz gleich, auf welches Datum Chanukka fiel. Am besten war es natürlich, wenn Weihnachten und Chanukka zeitgleich stattfanden, wie in diesem Jahr.

Nur hatte sie jetzt ein anderes Leben. Ein perfektes Leben. Mit Nick.

»Alles klar bei dir, Anna?«

»O ja, alles bestens. Ich bin nur« – sie lächelte ihm zu und schummelte ein klein wenig – »glücklich.«

Es gibt nur ein wahres Glück im Leben. Zu lieben und geliebt zu werden. Wieder einmal hatte Anna die aufmunternde Stimme ihres Vaters im Kopf. Jack Gibson war stets ein großer Freund nützlicher Lebensweisheiten gewesen – und jetzt, nach seinem Tod, war Anna dankbar für seine Sprüche, weil sie ihr oft das Gefühl vermittelten, dass er ihr immer noch zur Seite stand.

Wieder lächelte sie, dieses Mal ein ehrliches Lächeln. Sie war siebenundzwanzig und auf dem besten Weg zu einem Happy End. Und außerdem war es einfach wunderbar, dass ihre beiden Lieblingsfeste gleichzeitig stattfanden. Offensichtlich fiel auch das Ende des Ramadans in diese Zeit – das hatte sie gestern in der Denver Post gelesen –, was den Riesenandrang in den Geschäften und am Flughafen erklärte. Das war auch der Grund, warum Nick und sie nicht im selben Flieger sitzen würden – es gab einfach keine Tickets mehr. Seine Mutter Alicia hatte natürlich schon vor einer Ewigkeit den Flug für ihn gebucht. So gern Anna gemeinsam mit ihrem Freund geflogen wäre, der etwas spätere Flugtermin gab ihr zumindest noch die Zeit für einen kurzen Abstecher ins Büro – als stellvertretende Bildredakteurin des Denver Decor Magazine musste sie eine letzte Sache abnicken – und für einen Friseurtermin. »Man spürt überall die Aufregung in der Luft«, sagte Anna zu Nick. »Das wird mit Sicherheit das beste Weihnachtsfest unseres Lebens.«

»Garantiert«, sagte Nick. »Und jetzt beeil dich, Schlafmütze. Ich hab dir Kaffee gemacht. Er steht in der Küche, also nichts wie raus aus den Federn!« Er zwinkerte ihr zu. »Ich geh inzwischen duschen.«

Anna wartete, bis er im Bad verschwunden war, ließ sich aufs Kissen zurückfallen und rollte sich auf die Seite, um sich das kleine gerahmte Foto neben dem Bett anzusehen. Es war an dem Abend entstanden, als sie sich kennenlernten, vor sechs Monaten im Botanischen Garten von Denver. Janey Sawchuk, Annas Chefin, hatte sich damals die Grippe geholt und in Panik bei ihr angerufen. Jemand vom Denver Decor Magazine müsse unbedingt für sie zur Sternen-Gala, einer Benefizveranstaltung, gehen, insistierte Janey. Anna war eigentlich mit Freunden verabredet gewesen, konnte ihrer Chefin aber schlecht absagen, wenn sie ihren Job behalten wollte. Janey hatte den Ruf, ihre Leute aus einer Laune heraus zu feuern.

Am Abend der Gala war Anna deshalb pflichtbewusst in die Einkaufspassage geflitzt, um sich mit ihrem begrenzten Budget ein Kleid zu besorgen, das dem Anlass wenigstens halbwegs entsprach. Von Karina, der Moderedakteurin, hatte sie sich hochhackige goldfarbene Slingbacks geborgt, und Janeys geduldige Assistentin Gia hatte ihr mit der Frisur und dem Make-up geholfen. So war, den Kolleginnen sei Dank, aus der gestressten Büroangestellten Anna im Handumdrehen eine elegante Galabesucherin geworden.

»Blamier uns nicht, Anna!«, sagte Janey zu ihr. »An deinem Tisch sitzt Nicholas Vandergrey von Vandergrey Industries – und wenn du es geschickt anstellst, schalten sie möglicherweise Werbung bei uns.«

Damals wusste Anna nur, dass die Vandergreys eines der weltweit größten Unternehmen für Haushaltsreiniger besaßen. Eine rasche Google-Suche ergab, dass die Firma in Toronto gegründet worden war, und so ging Anna, die immerhin in Toronto geboren war, mit dem zuversichtlichen Gedanken zur Gala, dass sie zumindest ein mögliches Gesprächsthema in der Hinterhand hätte.

Sie nahm an, Nicholas Vandergrey sei ein grauhaariger Typ in einem Business-Anzug. Dass es auch einen Nicholas Vandergrey Junior gab, der es bevorzugte, Nick genannt zu werden, ziemlich charmant war und außerdem Scott Foley täuschend ähnlich sah, wusste sie nicht. Na schön, eigentlich war ja Scott Speedman ihr absoluter Felicity-Schwarm –, aber nach ein paar Gläsern Champagner hatte sie das total vergessen. Gut möglich, dass ihr sogar etwas in der Art herausgerutscht war wie: »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aussiehst wie …«

»Scott Foley?«, entgegnete Nick. »Das höre ich oft. Und hat dir schon mal jemand gesagt, dass du glatt für Audrey Hepburn durchgehen könntest? Ganz ehrlich, du bist wahrscheinlich die perfekteste Frau, die ich je gesehen habe.«

Es war das erste Mal, dass er sie als »perfekt« bezeichnete –, doch dabei sollte es nicht bleiben. Auch wenn sie im tiefsten Inneren wusste, dass sie nicht mal annähernd perfekt war, fing sie nach sechs Monaten fast an, es ihm zu glauben.

Sie schmiegte sich tiefer in Nicks luxuriöse Laken und gab sich große Mühe, nicht daran zu denken, was sie ihm alles noch nicht erzählt hatte. Zum Beispiel dass der plötzliche, unerwartete Tod ihres Vaters vor zwei Jahren sie völlig aus der Bahn geworfen hatte. Ihr Leben war ein einziges Chaos gewesen, weil in ihrem Job für Trauer kein Platz war. Als Nick sie bei dem Empfang damals gefragt hatte, wie ihr Leben vor Denver Decor ausgesehen habe, hatte sie ihm etwas vorgeflunkert: Sie hätte spontan beschlossen zu reisen und sich kurzerhand ins Flugzeug gesetzt – was in gewisser Weise ja auch stimmte. Nur verschwieg sie ihm, dass sie ohne ihrem Arbeitgeber Bescheid zu sagen, nach Paris gereist war. Dort war sie dann in ein so tiefes depressives Loch gefallen, dass sie fast einen Monat lang im Quartier Latin nur das Innere ihres Hotelzimmers und die Unterseite ihrer Bettdecke zu Gesicht bekommen hatte. Irgendwann war ihr das Geld ausgegangen, und für ein Flugticket nach Hause hatte sie ihre Kreditkarte bis zum absoluten Limit ausgereizt.

»Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, dass du auf Reisen warst und in Europa zu dir selbst gefunden hast«, hatte Nick einmal zu ihr gesagt. »Denn die Person, die du dabei gefunden hast, ist absolut perfekt für mich.«

Wenn du nur wüsstest, dachte sie dann. Aber jetzt war es für Bekenntnisse zu spät. Sie musste die Vergangenheit abhaken – was nicht weiter schwierig war, weil Nick ohnehin kaum etwas davon ahnte. Am Abend der Gala waren sie sich beide einig, tief im Herzen Toronter zu sein. »Bis vor wenigen Jahren haben mein Dad und ich dort immer die Weihnachtstage verbracht«, erzählte sie ihm in einem Anflug von Heimweh.

»Und dann nicht mehr? Warum?«, fragte Nick. Es saßen sicher noch andere Leute an ihrem Tisch, aber Anna und Nick hatten nur Augen füreinander.

»Mein Dad ist voriges Jahr gestorben«, erzählte Anna ihm.

Nick drückte sein Mitgefühl aus, fragte aber nicht weiter nach. Es war eines seiner typischen Verhaltensmuster. Anna hatte mit der Zeit erkannt, dass Nick nicht gern über unangenehme Dinge sprach. Das Leben war zum Leben da, die Vergangenheit vergangen, lautete seine Devise. Was ja auch stimmte. Statt sich in Einsamkeit und Elend zu suhlen, sollte man lieber sein Leben genießen.

»Und wenn ich dir hier und jetzt verspreche, dich zu Weihnachten nach Toronto zu entführen?«, fragte er Anna auf der Gala damals. Sie schmolz im Ballsaal regelrecht dahin – und dann forderte er sie zum Tanzen auf.

Als sie am nächsten Tag ihren Arbeitskolleginnen davon erzählte, waren deren Reaktionen gespalten.

»Das ist magisch«, fand Gia und ließ sich theatralisch auf die Klamotten-Samples fallen, die sich auf der Couch in Karinas Büro stapelten.

Karina dagegen wirkte eher zynisch. »Ich könnte schwören, dass ich erst letzten Monat sein Foto in den Klatschblättern gesehen habe, zusammen mit seiner Freundin Elsa Miller. Sie ist Model.«

»Tja, gestern hat er jedenfalls keine Models erwähnt«, erwiderte Anna mit verträumter Miene. Kein Zweifel, sie hatte sich Hals über Kopf verliebt.

Karina berührte sie an der Schulter und sagte: »Ich freu mich, dass du glücklich bist – aber sei vorsichtig.«

Anna unternahm daraufhin einen halbherzigen Versuch, sich über Nicks frühere Beziehungen zu informieren, blätterte ältere Magazine durch und hörte sich um. Nur wollte sie ihr Glück nicht herausfordern. Wenn sie ihn allzu genau unter die Lupe nahm, tat er vielleicht dasselbe mit ihr – und womöglich gefiel ihm nicht, was er dabei entdeckte. Also beschloss Anna, das Graben sein zu lassen und Nick beim Wort zu nehmen. Vom ersten Tag an war Nick die Aufmerksamkeit in Person. Er gab den perfekten Freund ab, sie die perfekte Freundin – und zusammen führten sie ein perfektes Leben. Dazu gehörte nun auch das perfekteste Weihnachtsfest aller Zeiten.

Anna sprang aus dem Bett und ging hinüber zu Nicks gepacktem Koffer, der noch offen stand: sauber aufgerollte Socken, exakt gefaltete Boxershorts und Unterhemden, diverse Seidenpyjamas und Krawatten in mehreren Farben, ein wahres Wunder an Ordnung. Eine schwere Kleiderhülle neben dem Koffer enthielt Nicks Anzüge und den für ein Weihnachtsfest in der Familie Vandergrey unerlässlichen Smoking. Anna wusste, es würde ein rauschendes Fest werden – und dabei äußerst kostspielig. Ihr wurde ganz schwindelig, wenn sie an den erbärmlichen Zustand ihres Bankkontos dachte, nachdem sie sich die passenden Outfits und für jedes Familienmitglied eine geschmackvolle Aufmerksamkeit besorgt hatte. In ihrer Kindheit hatte es Anna an nichts gefehlt, aber zu Weihnachten und Chanukka war es ihrer Familie wichtiger gewesen, etwas Selbstgemachtes zu verschenken, statt sich teure Präsente zu machen – weil so etwas von Herzen kam, wie ihr Vater zu sagen pflegte.

Obwohl Anna schon ahnte, dass Selbstgemachtes nicht dem Stil der Vandergreys entsprach, hatte sie nicht widerstehen können und sich eine kleine Besonderheit für Nick überlegt – um ihm zu zeigen, wie viel er ihr bedeutete, und ihm eine ihrer Weihnachtstraditionen nahezubringen. Er sollte ihr Geschenk aber nicht unbedingt im Beisein der Familie öffnen. Dazu war es viel zu bescheiden und zu persönlich: ein selbstgemachtes Fotoalbum, das ihre Beziehung dokumentierte. Obwohl sie erst seit sechs Monaten zusammen waren, hatte Anna schon eine Menge Fotos beisammen. So viele, dass es ihr nicht leichtgefallen war, aus all den Schnappschüssen von ihrem Wochenende in New York, vom Skiausflug nach Vail, den Wohltätigkeitsbällen, Picknicks und Dinner-Dates die richtige Auswahl zu treffen. Während sie durch das kleine Album blätterte und ihr breites Lächeln auf den Fotos betrachtete, vermittelten ihr diese Erinnerungen ein Gefühl von Sicherheit und Zuversicht in Bezug auf ihr gemeinsames Leben. Sie war nervös bei dem Gedanken, bald seine Familie kennenzulernen, aber es würde schon alles gutgehen. Vorsichtig schob sie ein Paar Socken beiseite, um das Album in Nicks Koffer zu schmuggeln. Sie wollte ihn überraschen.

Stattdessen wurde sie selbst überrascht: Zwischen Nicks Klamotten steckte ein kleines Schmucketui.

Lieber nicht hineinsehen, dachte sie. Doch im selben Moment befiel sie eine geradezu unbezwingbare Neugier. Sie hatte Nick goldene Manschettenknöpfe in der Form kleiner Sterne gekauft, ein liebevolles Andenken an ihre Begegnung auf der Sternen-Gala – falls das Geschenk von Nick aber deutlich teurer wäre, müsste sie noch etwas anderes für ihn besorgen. Sie wollte nicht riskieren, in Anwesenheit seiner Familie überrumpelt zu werden und sich letztlich zu blamieren. Zu viel hing davon ab. Nur ein flüchtiger Blick, sagte sie sich. Nur um sicherzugehen, dass es das zauberhafteste Weihnachtsfest ihres Lebens sein würde und Nick nicht enttäuscht wurde.

Rasch öffnete sie das Etui – und schnappte nach Luft.

Es war ein quadratischer Brillant auf einer Ringschiene aus Gelbgold – den gleichen hatte Brad Pitt Gwyneth Paltrow geschenkt.

Ein Verlobungsring.

Für sie.

Anna starrte ihn an und versuchte, ihre Gedanken einzufangen.

Nick plante also, ihr zu Weihnachten einen Antrag zu machen. Wahnsinnig romantisch!

Und … wahnsinnig bald.

Sie hörte, wie er den Duschhahn zudrehte, und legte den Ring schnell zurück in den Koffer. Dann flitzte sie durchs Zimmer und hüpfte wieder ins Bett. Ihr Herz klopfte wie wild. Natürlich hatte sie schon mal daran gedacht, Nick zu heiraten, sogar oft – na klar. Man traf nicht den Märchenprinzen, ohne davon zu träumen, mit ihm gemeinsam Richtung Sonnenuntergang zu entschweben. Doch sie hatte immer angenommen, sie würden wenigstens ein Jahr miteinander ausgehen, bevor sie sich verlobten.

War es schrecklich romantisch, dass er die Sache überstürzte? Oder einfach nur schrecklich?

Die Badezimmertür ging auf. Anna starrte an die Decke und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.

Nick kam ins Zimmer, ein Handtuch um die Hüften. Als er sie sah, blieb er stehen. »Hey, wolltest du nicht ins Büro und dann zum Flughafen? Heute muss alles klappen, vergiss das nicht.«

»Ja, na klar«, sagte Anna, sprang aus dem Bett, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und lief in die Küche, um sich ihren Kaffee zu holen.

Nachdem sie geduscht hatte, schlüpfte sie in das Outfit, das sie sich für diesen ereignisreichen Tag zurechtgelegt hatte. Dabei hörte sie, wie Nick in der Küche Weihnachtssongs trällerte, die aus sämtlichen Lautsprechern seiner Wohnung tönten. Sie begutachtete sich im Spiegel. Ihr Outfit war nicht gerade wintertauglich, dafür aber wandelbar: ein blaues schulterfreies Cocktailminikleid kombiniert mit einem Oversized-Blazer, den sie abends zum Champagnerempfang ablegen und durch den Paschminaschal ersetzen konnte, der zusammengerollt in ihrer Handtasche steckte.

Sie überprüfte noch einmal, ob ihr Koffer genauso ordentlich gepackt war wie der von Nick. Sie hatte den kleinen Kabinentrolley genommen, um sicherzustellen, dass sie möglichst schnell aus dem Flughafen kam. Sie fuhren dann nämlich direkt zu einem Champagnerempfang, für den seine Familie einen Saal im Ritz gemietet hatte. Anschließend ging es zu einer Weihnachtssinfonie in die Roy Thomson Hall, wo für eine auserlesene Gruppe von Verwandten und Freunden Logenplätze zur Verfügung standen. Anna konnte nicht mehr genau sagen, für wann das Abendessen geplant war, vor der Sinfonie oder danach – aber sie wusste, dass alles schwarz auf weiß in dem Terminplan stand, den Nick für sie ausgedruckt und in ihren Koffer gelegt hatte, damit sie die vielen Events, die seine Familie geplant hatte, nicht durcheinanderwarf.

Normalerweise hätte sie für eine Reise nach Toronto im Winter warme Kleidung eingepackt, wie Parkas und Stiefel, aber Nick hatte erklärt, dass für Aktivitäten im Freien keine Zeit bliebe.

»Nicht mal zum Schlittschuhlaufen am Nathan Phillips Square?«, hatte Anna gefragt und sofort eine ihrer schönsten Kindheitserinnerungen im Kopf gehabt.

Nick hatte sie nur verständnislos angesehen, als wäre ihm der Gedanke, in Torontos City Hall eislaufen zu gehen, nie gekommen. Anna hatte beschlossen, es dabei zu belassen – und schlug ihm kein Rodeln auf dem Christie Pits Hügel vor, auch keinen Winterspaziergang durch den High Park.

»Okay, Schatz, ich muss los.«

Anna begleitete Nick an die Tür seiner geräumigen Eigentumswohnung – mit Blick auf die Innenstadt von Denver auf der einen Seite und die Rockies auf der anderen –, um ihm einen Kuss mit auf den Weg zu geben. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch immer den Verlobungsring funkeln, wunderschön … und überwältigend. Sie blickte zu ihm auf und überlegte, wann er sie wohl fragen würde. In einem gestohlenen Moment der Zweisamkeit vielleicht? Oder am Weihnachtsmorgen, vor dem Baum … in Anwesenheit der gesamten Familie?

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Abschiedskuss zu geben.

»Mmm«, murmelte sie. Er schmeckte nach der teuren Zahnpasta, die er immer aus Italien kommen ließ.

Er dagegen verzog das Gesicht und schob sie von sich. »Kaffeeatem«, sagte er ungerührt. »Hoffentlich hast du die Zahnbürste noch nicht weggepackt.« Dann legte er ihr die Hände auf die Schultern und hielt sie fest. »Also denk dran. Alles muss klappen. Wir sehen uns dann dort am Flughafen.«

»Natürlich. Ich weiß. Ich hab die Termine im Kopf«, sagte Anna und senkte wegen des Kaffeeatems verlegen den Blick. Dabei schmiegte sie sich kurz an seine Brust und lauschte dem Schlag seines Herzens. Es würde das beste Weihnachten ihres Lebens werden. Sie musste nur noch den Vormittag im Büro durchstehen, sich ein Taxi zum Flughafen nehmen, nach Toronto fliegen – und ihr Weihnachtsmärchen konnte beginnen. Sie blickte wieder zu Nick auf und lächelte. »Alles wird perfekt sein.«

»Davon gehe ich aus«, sagte Nick und streichelte ihr über den Kopf. »Ich muss los. Aber bevor ich gehe, hab ich noch eine Überraschung für dich.«

Anna wurde schwindelig. Jetzt schon? War das der große Augenblick? Na ja, dann hätte sie es zumindest hinter sich. Plötzlich waren ihre Hände schweißnass. Sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte. Vielleicht könnte sie um ein wenig Bedenkzeit bitten. Hätten Sie überhaupt noch die Gelegenheit, in Ruhe darüber zu reden? »Die lieblichste Gesellschaft und Gemeinschaft ist die unter Eheleuten«, hatte ihr Vater einmal anlässlich der Hochzeit von Freunden auf eine Glückwunschkarte geschrieben, ein Lutherzitat. Die Ehe war eine ernste Sache; in diesem Glauben war sie erzogen worden. Man nahm sie nicht auf die leichte Schulter – oder gab sein Jawort aus einer Laune heraus. Sie liebte Nick und war fast sicher, dass sie ihr ganzes Leben mit ihm verbringen wollte. Aber ihr Herz schlug jetzt so schnell, dass sie fast in Panik geriet.

Nick kniete nieder. Anna presste die Augen zu.

Da merkte sie, dass er ihre Füße berührte. Sie schlug die Augen wieder auf und sah, wie er Schuhe aus einer Schachtel holte. Und es war nicht irgendeine Schachtel: Sie trug unübersehbar den Namenszug »Manolo Blahnik«.

»Ein Geschenk? Jetzt schon?«, stieß sie aus, atemlos vor Erleichterung. »Aber es ist doch noch gar nicht Weihnachten …«

Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Sie hatte es wieder mal vermasselt. Ihr eigenes Vorgeschenk, das kleine Fotoalbum, das sie für ihn gebastelt und in seinen Koffer gesteckt hatte, war ja eine hübsche Idee – aber im Vergleich zu einem Paar Manolos waren die Fotos doch eher peinlich. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll …«

»Wie wär’s mit ›Danke, Nick‹?« Er zog ihr den ersten Schuh an, dann den zweiten. Die blauen Satin-Pumps passten genau zur Farbe ihres Cocktailkleids; jede Schuhspitze zierte eine silberne Kristallspange, der Pfennigabsatz war hoch.

»Die sind toll! Danke!«

»Jetzt wirst du wirklich absolut perfekt aussehen.«

Anna biss sich auf die Lippe. Im Koffer war kein Platz mehr, und eigentlich hatte sie sich für flache Schuhe entschieden, in denen sie besser laufen konnte. Sie musste noch so viel erledigen heute. Aber konnte sie zu Manolos nein sagen? Sie würde ganz einfach ihre innere Carrie Bradshaw heraufbeschwören.

Sie streckte einen Fuß aus. »Passt perfekt.«

»Alles passt perfekt.« Er sah auf die Uhr. »Apropos, ich sollte jetzt besser gehen, sonst erwische ich den Flieger nicht mehr. Dann bis heute Abend – aber ruf an, wenn du am Flughafen bist, damit ich weiß, dass alles glattläuft. Denk dran, meine Mutter ist sehr anspruchsvoll. Es darf nichts schiefgehen.«

Annas Lächeln schwand, was Nick aber nicht zu bemerken schien. Die Tür fiel ins Schloss, und weg war er.

ZWEI

Maryam

20. Dezember

Denver International Airport

»Maryam. Maryam beti. Sieh dich um. Die schönste Zeit im Jahr«, sagte Dadu.

Maryam Aziz, die neben ihrem Großvater lief, nickte zwar, sah aber nicht hoch. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihre Eltern und ihren Großvater wie ein Hirte seine Herde durch den Denver International Airport zu treiben – anders ließ es sich nicht beschreiben – und gleichzeitig den übervollen Gepäckwagen, auf dem sich schief die Koffer türmten, durch die Menge zu bugsieren.

Dadu, Maryams Großvater väterlicherseits, mutierte in der Weihnachtssaison wieder zum glücklichen Kind. Zu einem etwas ältlichen, einen Meter siebzig großen Kind, mit kugelrundem Bauch und einem runzeligen, aber strahlenden Gesicht. Er trug eine Weste in festlichem Rot, dazu eine grüne Kordhose und glänzende braune Lacklederslipper. Den Wollschal um seinen Hals schmückten grinsende Schneemänner, und am Rand waren in Knallgrün die Worte »Fröhliche Weihnachten« eingestickt – ein Geschenk von ihrer Nachbarin Mrs. Lyman. Maryam hatte den Verdacht, dass die verwitwete fünfundsiebzigjährige Frau einen Narren an ihrem Dadu gefressen hatte. Das Komische daran war, dass weder ihre muslimische Familie noch die jüdische Mrs. Lyman tatsächlich Weihnachten feierte.

Doch in diesem Jahr war alles anders. In diesem Jahr würden Weihnachten, Chanukka und Eid – die große Feier am Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan – zum ersten Mal nach über drei Jahrzehnten in dieselbe Zeitspanne fallen. Aus diesem Grund berührten die geschmückten Straßen, die Weihnachtsmusik und die ausgelassene Stimmung Maryam ein wenig mehr als sonst; sie war schon fast einunddreißig, und zum ersten Mal fühlte sie sich in die verschiedenen Festtagstraditionen, die sie ihr Leben lang nur von außen beobachtet hatte, miteingeschlossen. Ihr Großvater war ganz aus dem Häuschen und hatte die gesamte Nachbarschaft sowie seine Freunde aus der Moschee mit bunt verpackten indischen Mithai-Süßigkeiten und Zuckerstangen versorgt, bevor sie zur Hochzeit ihrer kleinen Schwester Saima nach Toronto aufgebrochen waren.

»Beti, du siehst ja gar nicht hin! Da, der Baum! Und hör doch, sie spielen dein Lieblingsweihnachtslied.« Und tatsächlich, in den Lärm, den viele tausend erschöpfte Reisende verursachten, mischten sich die Töne des Songs »All I Want For Christmas Is My Two Front Teeth«. Maryam wurde rot.

»Damals war ich sechs, Dadu«, murmelte sie, tat ihm aber den Gefallen, den zehn Meter hohen Baum in der Mitte der Abflughalle zu bewundern. Er war mit weißen Lichterketten und großen roten, silbernen und goldenen Kugeln geschmückt. Auf seiner Spitze prangte ein lächelnder Engel im Rüschenkleid, das dunkelbraune Haar mit einem goldenen Heiligenschein versehen.

»Der Engel sieht aus wie deine Dadi-ma«, sagte ihr Großvater und meinte damit seine verstorbene Frau.

Sie schwiegen einen Augenblick, beide in Erinnerungen versunken. Ihre Großmutter war vor einigen Jahren verstorben. Es war die erste Reise, die ihr Dadu seither unternahm, was den Druck, der heute auf Maryam lastete, noch erhöhte.

Sie hatte nicht darum gebeten. Mit einem raschen Blick vergewisserte sie sich, dass ihre Eltern Ghulam und Azizah ihr folgten, und bahnte sich einen Weg durch das Gedränge.

»Was für eine Freude«, seufzte Dadu. »Und dazu noch eine Hochzeit! Wir sind wirklich gesegnet, nicht wahr?«

Maryam schob den Gepäckwagen und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Als sich ihre kleine Schwester Saima, die Weltenbummlerin der Familie, sechs Wochen zuvor spontan mit einem gewissen Miraj Sulaiman verlobt und gleich darauf verkündet hatte, sie wollten während der letzten zehn Nächte des Ramadan den Bund fürs Leben schließen, waren ihre Eltern erwartungsgemäß ausgeflippt. Während Maryam die übereilte Heiratsabsicht ihrer Schwester Sorgen bereitete, ging es ihren Eltern, nachdem sie erfahren hatten, dass Miraj ebenfalls Mediziner war und zudem aus einer angesehenen Familie in Toronto stammte, eher um den Zeitpunkt der Hochzeit.

»Du kannst nicht im Ramadan heiraten«, hatte Azizah eingewendet. »Im Ramadan wird gefastet und gebetet, da bleibt man zu Hause, da gibt’s keine Partys, auch kein Tanzen oder Shopping!«

»Wir heiraten am 25. Dezember und damit basta«, sagte Saima mit Nachdruck. Sie rief aus Sierra Leone an, wo sie ihre zweijährige Tätigkeit für die Organisation Ärzte ohne Grenzen zu Ende brachte. Ausgerechnet in einem Kriegsgebiet musste ihre Schwester die wahre Liebe finden. »Es ist der einzige Termin, der für uns beide funktioniert. Außerdem heiraten Muslime andauernd zu Weihnachten! Maryam hat doch auch …«, fing sie an, brach dann aber abrupt ab.

»Muslime heiraten zu Weihnachten, weil es eben einfach gut passt. Da sind ohnehin alle zu Hause. Aber kein Mensch heiratet im Ramadan!«, sagte Azizah und ging gar nicht erst auf Saimas Bemerkung ein. »Ich verbiete es dir ein für alle Mal.«

»Miraj und ich gehen im Januar zurück nach Sierra Leone. Du willst doch wohl nicht, dass wir ohne Nikahnama reisen, oder? Was würden die Leute sagen?«

Das musste Maryam ihrer Schwester lassen: Wie sie ihren Eltern den Doppelhammer der aufopfernden Ärztin und des Log Kya Kahenge, »Was würden die Leute sagen?«, um die Ohren haute – alle Desi-Eltern hatten panische Angst davor, in die Gerüchteküche der Community zu geraten –, das war schon genial.

»Ihr heiratet nicht im Ramadan«, wiederholte Azizah.

»Na schön. Wenn ihr keine Lust habt, zu meiner Hochzeit zu kommen, heiraten wir eben in Sierra Leone. Nicht weit von meiner Unterkunft gibt es eine Moschee, ich kann schon morgen eine Nikah organisieren«, entgegnete Saima, was ihrer Mutter einen entrüsteten Aufschrei entlockte.

»Soll ich meinen Freund Schah Rukh Khan bitten, als Vermittler zu fungieren?«, erbot sich Dadu. In einem früheren Leben war Dadu alias Mohamed Ali Mumtaz Aziz ein erstklassiger Bollywood-Regisseur gewesen und hatte einige der größten Blockbuster der Siebziger und Achtziger auf die Leinwand gebracht. Ein Umstand, den er in jedes Gespräch einfließen ließ.

Azizah würde sich ganz gewiss nicht kampflos ergeben, auch wenn der letzte Grund für ein Familienfest schon eine Weile zurück lag. Maryam wusste, dass es auch ihre Schuld war, warum Log Kya Kahenge eine so große Wirkung auf ihre skandalscheuen Eltern hatte.

»Beti, sei vernünftig. Ramadan ist schon in sechs Wochen. Wie kannst du in Sierra Leone eine Hochzeit organisieren und gleichzeitig Kranke behandeln? Und du weißt doch, im Dezember gibt es in der Apotheke am meisten zu tun; außerdem werden wir alle fasten …« Ihre Mutter verfiel in vielsagendes Schweigen, und Maryam erkannte ihr Stichwort. Jedes Familienmitglied wusste, wie dieses Gespräch enden würde: Maryam würde sich einmischen und wie üblich alle Probleme aus der Welt schaffen.

»Mach dir keine Sorgen, Saima«, sagte sie. »Ich kann die Hochzeit von Colorado aus arrangieren.«

»Im Ramadan wird nicht geheiratet!« Ein letzter Versuch ihrer Mutter.

»Es wird eine kleine Nikah, nur Familienmitglieder und ein paar Freunde«, meinte Maryam beschwichtigend. »Das Wichtigste ist doch, dass Saima einen Mann gefunden hat, der sie glücklich macht.« Sie stockte. Und wagte dann doch, nachzuhaken: »Du bist doch glücklich? Die Sache wirkt ein bisschen übereilt.«

»Entspann dich, Fad-yam, ich bin glücklich, versprochen.« Saima lachte. Der Spitzname versetzte Maryam einen Stich, aber sie ließ sich nichts anmerken. Wie üblich eben.

»Maryam, beti, ich frag A.R. Rahman, ob er uns den DJ macht. Es wäre das Mindeste, schließlich hab ich seine Karriere ins Rollen gebracht«, sagte Dadu mit Verweis auf den weltberühmten Komponisten, der für seine Bollywood-Hits bereits mehrere Grammys und Oscars gewonnen hatte.

Maryam lächelte ihrem Großvater zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich bekomme das schon allein hin«, sagte sie. »Ich glaube sogar, es macht Spaß, Saimas Ramadan-Hochzeit zu arrangieren!«

 

Berühmte letzte Worte, dachte Maryam jetzt säuerlich, während sie sich im Schneckentempo an einer großen Gruppe von Reisenden vorbeischob, die offensichtlich alle unterwegs zum Disney World Resort waren. Zumindest trugen sie die gleichen T-Shirts und Mickymaus-Mützen. Auch wenn Saima glücklicherweise eine relativ entspannte Braut war, hatte sich die Koordination mit Mirajs Familie in Toronto als Albtraum herausgestellt.

Bis jetzt entsprachen Saimas künftige Schwiegereltern keinem einzigen kanadischen Klischee: Weder durchsetzten sie ihre Gespräche mit »äh«, noch schwärmten sie für Tim Hortons oder legten großen Wert darauf, ihre nagelneue amerikanische Verwandtschaft besonders freundlich zu behandeln. Nach der Verlobung ihrer Schwester hatte Maryam zwei ganze Wochen gebraucht, um sie überhaupt telefonisch zu erreichen.

Als sie dann endlich Mirajs Mutter in der Leitung hatte, bestand der erste Punkt auf deren Agenda darin, die Bedeutsamkeit ihrer aus Ärzten bestehenden Familie in Torontos muslimischer Community hervorzuheben, gefolgt von einem Kreuzverhör bezüglich der Familie Aziz. Nachdem Maryam sich als Apothekerin geoutet hatte, versicherte ihr Saimas Schwiegermutter in spe, es sei nie zu spät, noch einmal die Schulbank zu drücken, zumal es in den Staaten doch so viel leichter sei, einen Studienplatz in Medizin zu ergattern. In Kanada war man da offenbar weitaus wählerischer.

Mit dem Argument, sie hätte sicher ohnehin nichts Besseres zu tun, weil sie mit fast einunddreißig noch immer Single sei (»In Colorado gibt es offenbar keine geeigneten Kandidaten; das erklärt, warum Ihre Schwester in Sierra Leone auf Männerjagd ging!«), übertrug sie Maryam die gesamte Organisation der Hochzeit.

Dabei war Maryam immer davon ausgegangen, die Kanadier seien nett.

Als Maryam am Flughafen eintraf, hatte sie von ihrer eigenen Familie, der von Miraj und der Welt im Allgemeinen die Nase gestrichen voll. Der Einzige, der sie nicht nervte, war ihr Dadu, und sogar der stellte ihre Geduld im Augenblick auf eine harte Probe.

In ihrem Frust versetzte sie dem gefährlich überladenen Gepäckwagen, auf dem sich ein halbes Dutzend Rollkoffer türmten, einen besonders heftigen Schubser. Ihre Familie neigte schon unter normalen Umständen zu Übergepäck, doch für dieses besondere Ereignis mit drei traditionellen Bestandteilen – Mehndi, Nikah, Walima – plus Geschenken für Mirajs Familie, hatten sie sich selbst übertroffen. Beim Einchecken hatten sie draufgezahlt, außerdem führten sie noch jede Menge Handgepäck mit sich.

Warum hat Saima uns das bloß angetan?, dachte sie wieder, bevor sie Dadu gerade noch davor bewahren konnte, beim Grimassenschneiden für ein Kleinkind über einen Kinderwagen zu stolpern.

Maryam war normalerweise nicht nachtragend. Eigentlich war sie die Ruhe selbst, geduldig und verantwortungsbewusst. Dadu nannte sie »die Unerschütterliche«. Es war nur so, dass sie sich im Augenblick am liebsten irgendwo verkrochen hätte, wo es still war, in einer Hütte im Wald, auf einer einsamen Insel im Südpazifik oder in irgendeinem Kaff am Ende der Welt.

Egal wo, nur nicht am Denver International Airport, kurz vor Weihnachten, während sie am Fasten war. Seit fünf Uhr morgens hatte sie nun nichts mehr gegessen, und ihr knurrte der Magen. Wegen der zweistündigen Zeitverschiebung hätte sie bei ihrer Ankunft in Toronto vierzehn Stunden weder gegessen noch getrunken. Natürlich war sie daran gewöhnt – sie war zehn gewesen, als sie zum ersten Mal gefastet hatte –, aber für einen Schuss Koffein, vorzugsweise intravenös, würde sie jetzt töten.

Ihre kleine Gruppe zog auch besondere Aufmerksamkeit auf sich, wie sie bemerkte. Sie spürte neugierige, interessierte, gelangweilte und gelegentlich auch feindselige Blicke auf ihrem Hidschab und auf dem langen graumelierten Bart ihres Vaters.

Sie trug den Hidschab nun seit einem Jahr. Während ihre Mutter nur gelegentlich einen Dupatta-Schal über den Kopf zog und Saima sich gegen jede Art der religiösen Kopfbedeckung entschieden hatte, verspürte Maryam mittlerweile den starken Drang, das traditionelle Kopftuch zu tragen, musste sich allerdings nach wie vor noch daran gewöhnen, dass sie damit die Blicke auf sich zog.

Eine junge weiße Frau stöckelte auf himmelhohen, teuer aussehenden Stilettos aus blauem Satin an ihnen vorbei, ein schickes cremefarbenes Köfferchen hinter sich herziehend. Ihr braunes Haar mit den karamellfarbenen Strähnen war perfekt geföhnt und umschmeichelte in sanften Wellen ihr Gesicht. Die hohen Wangenknochen ihres herzförmigen Gesichts brachten große braune Augen zur Geltung, eine perfekt geschwungene Stupsnase und einen breit lächelnden Mund. In ihrer Eile stieß sie an den schiefen Kofferturm ihrer Familie, so dass Maryam rasch die Hand ausstrecken musste, um den Einsturz zu verhindern. Ärgerlich starrte sie der Frau hinterher, die nichts davon mitbekommen hatte.

»Komm schnell, Maryam beti, unser Flieger startet bald«, rief Ghulam. »Ich hab mir den Wetterbericht angesehen, die sagen Schnee voraus für Toronto.«

»Wir fliegen nach Kanada, schneit es da nicht immer?«, murrte Maryam, aber sie stemmte die Schultern gegen den Gepäckwagen und ging weiter.

In der Securityschlange entdeckte sie die brünette Barbie erneut; im Nu war sie ohne »zufällige« Sicherheits-Checks oder zusätzliches Screening durchgeschlüpft. Bei ihr hingegen nahm sich der Sicherheitsbeamte mindestens drei Minuten Zeit, um das zugegebenermaßen nicht sehr schmeichelhafte Foto in ihrem amerikanischen Pass mit ihrem Gesicht abzugleichen. Und als sie die Gepäckstücke endlich auf das Förderband des Scanners zu stapeln begann, ging ein vernehmliches Stöhnen durch die Reihen hinter ihr.

Die junge Frau hatte mittlerweile schon zur Hälfte die Abflughalle durchquert und telefonierte jetzt eindringlich mit einem kleinen Klapphandy. Leute mit Handys waren entsetzliche Nervensägen, fand Maryam und war sich ganz sicher, dass es sich bei den Dingern um eine vorübergehende Modeerscheinung handelte. Sie würde sich niemals eines zulegen, schwor sie sich zum wiederholten Mal.

Nachdem die Aziz-Familie es endlich zu ihrem Gate geschafft hatte, ließ sich Maryam erschöpft auf einen Sitzplatz fallen. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade einen Marathon absolviert. Ihre weiße Bluse war sicher völlig durchgeschwitzt. Träge ließ sie den Blick über die Menge gleiten – und blieb an einem vertrauten Gesicht hängen. Maryam sah noch mal genau hin. Das konnte nicht sein. Mit klopfendem Herzen wagte sie einen dritten flüchtigen Blick auf den jungen Mann, der ein paar Reihen weiter saß.

Saif Rasool hatte ein kantiges Gesicht, große braune Augen, dunkle Locken, die ihm in die Stirn hingen, trug einen zweckmäßigen schwarzen Hoodie zur Blue Jeans und sah unglaublich gut aus. Sie hatte ihn fast fünf Jahre nicht mehr gesehen, seit er nach seinem Jurastudium nach Kalifornien gezogen war. Er war der Sohn der besten Freundin ihrer Mutter, und sie himmelte ihn an, seit sie ein Kind war. Typisch, dass er ihr gerade jetzt über den Weg laufen musste.

Im Grunde war es ganz egal – Saif würde sie wahrscheinlich nicht mal mehr erkennen. Sie war ja auch nur eines der Mädchen, denen er bei den Daawats, den Dinnerpartys seiner Eltern, flüchtig zugenickt hatte.

Immer wenn Maryam sich vorgestellt hatte, wie es wohl wäre, Saif außerhalb des familiären Dunstkreises über den Weg zu laufen, war sie in ihrer Phantasie mühelos schick gewesen: perfektes Make-up, Hidschab lässig geschlungen – und nicht wie jetzt verschwitzt, unleidlich und auf Koffeinentzug. In dem Bemühen, ihn nicht auf sich aufmerksam zu machen, drehte Maryam sich behutsam zur Seite, so dass Saif sie allenfalls im Profil sehen konnte, und warf einen Blick hinter sich, geradewegs auf die strahlende brünette Barbie.

Offenbar sollte sie auf die Probe gestellt werden.

»Das sind mal wirklich viele Koffer«, stellte die junge Frau laut und ungeniert fest und ließ ihr Handy in eine teuer aussehende Handtasche gleiten. Dabei lächelte sie Maryam freundlich zu. Wenn diese Frau am Flughafen ihrem Kindheitsschwarm begegnen würde, wäre sie bestimmt die Coolness in Person.

»Meine Familie betrachtet die Beschränkung auf zwei Gepäckstücke pro Person eher als Vorschlag statt als unumstößliche Regel«, erwiderte Maryam.

Die hübsche Frau lachte laut. Aus dem Augenwinkel heraus hätte Maryam schwören können, dass Saif aufblickte.

»Würdest du bitte leiser sprechen?«, zischte Maryam.

»Warum?«, fragte ihre ahnungslose Gesprächspartnerin mit gerunzelter Stirn.

»Na weil … weil … mein Großvater schrille Stimmen nun mal nicht ausstehen kann!«, sagte Maryam hastig.

Die Frau zeigte sich unbeeindruckt. »Ist das dort dein Großvater, der sich gerade unterhält? Er ist so süß! Meine Großväter sind beide gestorben, als ich noch klein war, ich hab sie überhaupt nicht gekannt. Hi, ich bin Anna«, fügte sie hinzu und streckte Maryam die Hand hin.

»Maryam.« Die Frauen schüttelten einander die Hände, und obwohl Maryam Smalltalk nicht ausstehen konnte, empfand sie dieses Gespräch als eine willkommene Ablenkung von der Frage, ob Saif sie schon bemerkt hatte, und sie sich bis zum Abflug hinter dem Weihnachtsbaum verstecken sollte.

»Ich hab dich und deine Familie in der Abflughalle gesehen. Deine Eltern?«, fragte Anna und wies auf Ghulam und Azizah, die hinter Maryam saßen. Wieder warf sie einen Blick auf die Koffer, die sich rings um Maryam stapelten. »Und hier drin transportiert ihr wohl die ganze Schmuggelware, was?«

Wieder brach Anna in ihr melodisches Gelächter aus, und Maryam blickte sich unbehaglich um. Einige der Passagiere hatten bei dem Wort »Schmuggelware« aufgemerkt. Barbie kapierte offenbar gar nichts.

»Das ist nicht komisch«, sagte Maryam. »Dir ist schon klar, dass wir als dunkelhäutige Muslime reisen, oder? Du bringst uns noch in Teufels Küche mit solchem Gerede.«

Augenblicklich hielt sich Anna die Hand vor den Mund, und ihre hübschen braunen Augen weiteten sich vor Verlegenheit. »Tut mir leid!«

Maryam stand auf. Sie brauchte frische Luft, ein wenig Abstand von Saif, und auch von Anna. Es war wahrscheinlich auch höchste Zeit, dass ihr zuckerkranker Großvater etwas zu essen bekam, bevor sein Blutzucker absank.

Als Maryam ein paar Minuten später mit einem Smoothie zurückkam, traute sie ihren Augen nicht. Anna war nicht etwa verschwunden, wie Maryam gehofft hatte, sondern plauderte fröhlich mit Maryams Eltern und ihrem Dadu.

»Ja, wir fliegen zum ersten Mal nach Toronto. Unsere Tochter heiratet einen Chirurgen«, prahlte Azizah.

Als sie Maryam kommen sah, grinste Anna ihr zu. »Das hast du mir gar nicht erzählt!«, sagte sie strahlend. »Ich fliege nach Toronto, um die Familie meines Freundes kennenzulernen. Dann wagen wir wohl beide einen großen Schritt!«

»Ich hab nicht vor zu heiraten«, sagte Maryam und reichte den Smoothie ihrem Großvater.

»Die Dulhan, die Braut, ist unsere jüngere Tochter Saima. Sie ist auch Ärztin! Sie und Miraj arbeiten beide für Ärzte ohne Grenzen«, erklärte Azizah voller Stolz. Auch Maryam wuchs um einen Meter bei diesen Worten – sie war verdammt stolz auf ihre kleine Schwester. Saimas impulsives Wesen war zwar schwer auszuhalten, trotzdem freute sie sich darauf, ihre Schwester wiederzusehen. Sie standen sich sehr nahe, und wenn Saima zu Hause war, verbrachten sie viel Zeit miteinander. Ihr letzter Besuch lag schon viel zu lange zurück.

»Wenn ihr alle gemeinsam nach Toronto fliegt, wo ist dann deine Schwester?«, fragte Anna Maryam.

Maryam sah auf die Uhr. Saimas Flieger müsste inzwischen gelandet sein. Sie hatten geplant, sich am Denver International zu treffen und dann gemeinsam nach Toronto zu fliegen. Saima hatte darauf bestanden, im Kreis ihrer Familie kanadischen Boden zu betreten.

Eine Lautsprecherdurchsage unterbrach ihre Antwort. »Dies ist eine Eilmeldung für den Direktflug AC 7164 zum Pearson International von Toronto. Aufgrund der Witterungsverhältnisse verzögert sich die Bereitstellung der Maschinen um wenige Minuten. Neue Abflugzeit ist fünfzehn Uhr.«

Maryam sah ihre Eltern an. Da sie beschlossen hatten, heute zu fasten, auch wenn es auf Reisen schwerfiel, bedeutete diese neue Verzögerung, dass das Fastenbrechen bereits im Flieger stattfinden musste, nicht erst in Toronto.

»Ich hol uns schnell was zu essen«, sagte Maryam resigniert. »Sicher telefoniert Saima gerade mit Miraj. Ich sehe mich nach ihr um.« Dieser zusätzliche Botengang würde sie wenigstens einmal mehr von Saif ablenken. Doch als sie verstohlen zu ihm hinübersah, saß er nicht mehr an seinem Platz. Mit ein wenig Glück war auch Anna verschwunden, wenn sie zurückkam.

Während sie auf das Essen wartete, entdeckte Maryam ihre Schwester im Duty-free, wo sie sich Parfum auf die Handgelenke rieb. Maryam winkte, und ihre kleine Schwester kam auf sie zugelaufen und fiel ihr um den Hals. Sie roch stark nach einem schweren blumigen Duft, und Maryam zog die Nase kraus, hielt ihre Schwester aber trotzdem fest an sich gedrückt. Lachend gab Saima sie frei und hielt Maryam ihr Handgelenk unter die Nase.

»Es heißt Happy, gefällt’s dir? So süß und blumig!«, sagte Saima.

Maryam wich zurück. Jetzt, da sie einander gegenüberstanden, war der Geruch noch stärker.

Ihre Schwester lachte. »Ach ja, wie konnte ich das vergessen. Unsere Fad-yam kann Rosenduft nicht ausstehen!«

Schon wieder dieser Spitzname. Fad-yam – die fade Maryam. »Ich bin bloß allergisch gegen Rosen …«, wollte Maryam sich rechtfertigen.

Saima grinste. Da dämmerte Maryam, dass ihre Schwester sie nur necken wollte. Saima war vier Jahre jünger, aber abgesehen vom identischen Schwung ihrer üppigen dunklen Brauen sahen sie beide sich überhaupt nicht ähnlich. Während Maryam in der Familie als die Größte galt, war Saima klein und zierlich. Maryams Teint blieb das ganze Jahr über ein helles Sonnenbraun, wogegen Saimas Haut einige Schattierungen dunkler war. Ihr Gesicht war rund, Maryams dagegen herzförmig. Saima hatte volle Lippen und mandelförmige Augen, aus denen unentwegt der Schalk funkelte, Maryam schmale Lippen und große dunkle Augen. Dadu nannte die Schwestern sein Grumpy-meets-Sunshine-Gespann, und obwohl Maryam ihm zu verstehen gab, dass dieser Begriff ausschließlich für Liebespaare in Romanen und Filmen verwendet wurde und sich nicht auf Geschwister übertragen ließ, musste sie zugeben, dass er ihre schwesterliche Dynamik ganz gut einfing. Maryam liebte Saima heiß und innig, aber manchmal brachte ihre kleine Schwester sie regelrecht zur Verzweiflung. Das war schon in ihrer Kindheit so gewesen. Und nun, als ausgebildete Ärztin, die in einigen der konfliktreichsten Gegenden der Erde arbeitete, legte Saima ihrer Familie gegenüber oft eine Respektlosigkeit an den Tag, die an Unreife grenzte. Maryam staunte immer wieder, wenn Saimas Kolleginnen und Kollegen von ihrer Zuverlässigkeit schwärmten.

»Wie geht’s mit der Hochzeitsplanung voran? Was ziehst du an? Hoffentlich hast du Mom diesen hässlichen orangefarbenen Sari ausgeredet. Ich weiß ja, dass wir aus Hyderabad sind und auf dicke Klunker und grellbunte Farben stehen, aber es gibt doch Grenzen«, plapperte Saima fröhlich, fast ohne Atem zu holen. Beinah wie die mitteilsame Anna, dachte Maryam, während sie ihrer Schwester zuhörte. Fünfzehn Minuten später hielten sie ihre Lunchpakete in Händen und gingen gemeinsam zu ihrem Gate zurück, wo die Familie schon darauf wartete, die heimgekehrte Tochter willkommen zu heißen.

Azizah drückte Saima an sich, als wollte sie ihr jüngeres Kind nie mehr loslassen, Ghulam wischte sich Freudentränen aus den Augen, und Dadu blickte strahlend in die Runde.

»Es ist herrlich, endlich wieder die ganze Familie beisammen zu haben«, sagte er glücklich.

Maryam blickte sich um und sah, wie Anna, die jetzt einige Reihen weiter hinten saß, ihre Familie wehmütig betrachtete.

»Wo sitzt ihr denn?«, fragte Saima und holte ihr Flugticket aus der Tasche. Maryam zeigte ihr stolz die vier Plätze, die sie in der Economy Plus gebucht hatte.

Ihre Schwester verzog das Gesicht. »Ich hab zu spät gebucht – mein Platz ist ganz hinten. Noch dazu am Gang. Das sind die schlimmsten.« Saima sah Maryam hoffnungsvoll an, aber noch bevor sie etwas sagen konnte, meldete sich ihr Vater zu Wort.

»Die Dulhan braucht doch nicht dort hinten zu sitzen. Du sollst meinen Platz haben, beti – deine Schwester hat uns Plätze mit mehr Beinfreiheit besorgt, damit wir es bequem haben und während des Flugs keine Wadenkrämpfe bekommen«, sagte Ghulam galant.

Maryam seufzte. »Ist schon gut, Dad. Sie kann meinen Platz haben. Ich sitze eh lieber am Gang.«

Ihre Schwester grinste und umarmte sie von der Seite. »Ich hab euch alle ja so vermisst! In nur fünf Tagen werde ich in Kanada heiraten, ist das zu glauben?«

Die Passagiere gingen allmählich an Bord, und Maryam half ihren Eltern und Dadu, Handgepäck und Lunchpakete einzusammeln, bis ihre Gruppe endlich aufgerufen wurde – natürlich als Letzte.

Anna stand ein paar Meter weiter und telefonierte wieder mit ihrem Klapphandy. Sie sah nicht mehr so fröhlich und selbstbewusst aus wie zuvor. Maryam wollte eigentlich nicht lauschen, aber es war nicht zu überhören, dass Anna eine heftige Auseinandersetzung hatte.

»Nein, ich hab’s ja verstanden. Alles muss klappen. Genau aus diesem Grund hab ich nur den kleinen Handkoffer gepackt, wie wir’s besprochen haben. Um auf jede Eventualität vorbereitet zu sein. Wie die hier. Ich weiß, aber …« Sie zog besorgt die Stirn kraus. »Ja, schon, aber gegen einen verzögerten Abflug bin ich machtlos! Ich kann mir denken, dass deine Mutter aufgebracht ist, aber das Ganze ist doch nicht meine Schuld!« Sie wurde laut, und dann, als sei ihr wieder eingefallen, dass sie in der Öffentlichkeit war, bemühte sie sich, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. »Sobald wir gelandet sind, nehme ich mir das erste Taxi. Ich sehe dich dann dort. Wahrscheinlich komme ich nur ein kleines bisschen zu spät zur Cocktailparty, das fällt keinem auf.« Noch eine Pause, dann: »Na schön, deiner Mutter wird’s auffallen, aber sonst keinem. Ich muss jetzt wirklich los. Hab dich lieb. Bye.« Anna klappte ihr Handy zu.

»Dein Freund scheint ein richtiger Pünktlichkeitsfanatiker zu sein«, sagte Maryam mitfühlend.

Anna wurde steif. »Er kann’s eben nicht erwarten, mich zu sehen. Ich finde das süß.« Sie stapfte los und reihte sich, ohne sich noch einmal umzublicken, in die Boardingschlange ein.

Maryam erkannte, dass sie wohl einen wunden Punkt berührt hatte, und ließ Anna einen kleinen Vorsprung, bevor sie sich selbst in die Schlange stellte. Im Grunde war es egal, es war ohnehin nicht sehr wahrscheinlich, dass sie sich je wieder begegnen würden. In wenigen Stunden würde ihre Familie in Toronto ankommen, wo sie die Hochzeit ihrer kleinen Schwester einläuten und dann das Zuckerfest feiern würden. Eine Welle der Erregung erfasste sie und zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht – ihr erstes aufrichtiges Lächeln an diesem Tag. Nun stand die schönste Zeit im Jahr an, und sie konnte es kaum erwarten, was sie für sie bereithielt.

DREI

Anna

20. Dezember

Denver International Airport

»Also schön, wo waren wir?« Anna schob sich eine verirrte Locke hinters Ohr – sie hatte an diesem Vormittag ein kleines Vermögen für perfekte Stufen und Strähnchen ausgegeben. Stilinspiration: Rachel Green aus Staffel sechs der Serie Friends.

Sie lächelte dem groß gewachsenen rotblonden Steward zu, der ihr gerade erklärte, sie müsste ihm ihren Koffer aushändigen, obwohl sie es mit ihrem Mini-Köfferchen bis an die Spitze der Schlange geschafft hatte. Sie war so nah dran, konnte schon das Flugzeug sehen. Anna unterbrach sanft seinen passiv aggressiven, aber immer noch fröhlichen Monolog.

»Aber er hat doch nur Handgepäckgröße«, sagte sie, wobei sie ihr Lächeln beibehielt und den cremefarbenen Lederkoffer auf seinen kleinen braunen Rädern um dreihundertsechzig Grad drehte. »Außerdem hat er viereinhalb Kilo Untergewicht. Sie werden nicht mal merken, dass er da ist.« Anna machte Anstalten, das Flugzeug zu besteigen. Mit ihrem kostbaren Koffer. Der enthielt nämlich neben ihrer minimalistischen Garderobe für vier Tage vornehmer Weihnachtsfeierlichkeiten auch all die teuren Geschenke für die Vandergreys: einen Kaschmir-Schal für Nicks Vater, einen Flachmann mit Gravur für seinen Bruder, ein Statement-Collier für seine Mutter, ausgefallene Ohrgehänge und Schmetterlingsbroschen für seine Schwestern.

»Das ist leider nicht möglich, fürchte ich.«

»Bitte. Ich hab regelrecht gezaubert. Sie ahnen nicht, wie viel ich in diesen Koffer gequetscht habe. Er muss einfach mit rein.« Aber der Flugbegleiter verstellte ihr noch immer den Weg, und er lächelte nicht mehr.

»Tut mir leid, Miss, aber für ein weiteres Gepäckstück ist schlicht kein Platz mehr an Bord. Nicht mal für – das da.« Sein geringschätziger Blick auf ihr Köfferchen, als er das sagte, zollte diesem nach Annas Meinung nicht den Respekt, den es verdiente. Mehrfaches Räuspern von hinten verriet ihr, dass die anderen Passagiere allmählich die Geduld verloren.

»Aber ich hab nicht die Zeit, nach der Ankunft in Toronto noch an der Gepäckausgabe zu warten.«

»Miss …«

»Bitte. Die Mutter meines Freundes ist schon wegen der Flugverspätung am Rande eines Nervenzusammenbruchs – diese Frau legt großen Wert auf Pünktlichkeit –, und als wäre das noch nicht genug, soll ich meiner Chefin sofort nach der Landung mein Okay für eine Layout-Änderung faxen und …« Anna verstummte, suchte verzweifelt nach einem überzeugenden Schlussargument. Es stimmte alles: Nachdem sie am Morgen noch ins Büro gehetzt war, um die Foto-Layouts für die Neujahrsausgabe von Denver Decor durchzuwinken, hatte Janey ihre Meinung zum Malone-Entwurf gleich darauf noch einmal revidiert. Doch da war Anna schon unterwegs zum Flughafen gewesen. Am liebsten hätte sie ihrer Chefin den Job vor die Füße geworfen … mitsamt den brennenden Reifen, durch die sie Anna so gern springen ließ – aber sie brauchte diesen Job nun mal. Sie musste Schulden abbezahlen und außerdem weiterhin in der Lage sein, Nick die perfekte Frau vorzuspielen, für die er sie hielt.

»Ich hatte einen Plan, sehen Sie das nicht?«

Seine Stimme war genauso eisig wie der Schnee, der jetzt draußen fiel. »Ihretwegen wird sich der Flug noch weiter verspäten. Bitte überlassen Sie mir jetzt Ihren Koffer und gehen Sie weiter.«

Anna spürte ein ängstliches Flattern in der Brust, als wollte eine Schar Vögel auffliegen und die Flucht ergreifen. Sie hob den Koffer auf und drückte ihn an sich wie ein kleines Kind. »Ich behalte ihn auf dem Schoß.«

»Einen Koffer dieser Größe auf dem Schoß zu halten, verstößt gegen die Sicherheitsregeln, außerdem ist für ein weiteres Gepäckstück schlichtweg kein Platz mehr an Bord. Es sei denn, Sie entscheiden sich für einen anderen Flug – was ich Ihnen nicht empfehlen würde, weil wir draußen schon jetzt eine Menge Schnee haben und das Flugpersonal mich darüber informiert hat, dass wir unverzüglich starten müssen – geben Sie mir jetzt bitte Ihren Koffer, und ich checke ihn für Sie ein.« Es klang, als tue er ihr einen Gefallen. »Sie bekommen ihn wieder, sobald wir in ungefähr drei Stunden in Toronto gelandet sind, falls wir Glück haben.«

»Falls wir Glück haben? Was soll das heißen?« Anna hatte schon unter normalen Umständen Flugangst, und seine düsteren Worte trugen nicht gerade dazu bei, dass sie sich entspannte. Doch den Flug vor lauter Angst sausen zu lassen kam nicht in Frage. Wäre sie erst mal an ihrem Platz, würde sie eine Reisetablette einwerfen. Sie wäre dann ausreichend betäubt, um während des Flugs die Nerven zu behalten, aber doch nicht so schläfrig, dass sie völlig übernächtigt zur Cocktailparty der Vandergreys erschien. »Na schön«, murmelte sie und überließ ihm den Koffer. Sie ging an Bord, wobei sie aus einem Reflex heraus die glatte weiße Tür des Flugzeugs berührte, was ihr Glück bringen sollte.

Das kleine Ritual beruhigte sie ein wenig. Sie machte es sich auf ihrem Platz am Gang des vollbesetzten Fliegers bequem. Ihr Sitznachbar war noch nicht da, und so hatte sie noch einen unverstellten Blick auf die fedrigen Schneeflocken, die draußen fielen. Während sie sie betrachtete, verschwanden allmählich ihre ängstlichen Gedanken und Gefühle. Die Welt draußen wirkte wie die Kulisse eines Weihnachtsfilms, in dem sich nach ein paar Holprigkeiten alles zum Guten wenden würde. Happy End garantiert.

Anna war nun fest entschlossen, dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen: Sie hatte jetzt mehrere Stunden Zeit, um sich ihrer Lieblingsbeschäftigung zu widmen, der Lektüre von Zeitschriften über Einrichtungsstile und Filmstars, also Leute mit einem Leben, das überhaupt nichts mit ihrem eigenen zu tun hatte. Die ideale Flucht aus der Wirklichkeit. Sie hatte sämtliche Zeitschriften in ihre Handtasche gepackt, die sie in diesem Monat noch nicht gelesen hatte, von People bis zu Architectural Digest.

Beim Durchblättern von People landete ihr suchender Blick auf einem kurzen Beitrag mit der Schlagzeile »… und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende«. Das zugehörige Foto zeigte ein Schauspielerpärchen – das umwerfend schöne und talentierte Hollywood-It-Girl Tenisha Barlowe und einen gut aussehenden Kerl, den Anna noch nicht kannte, Chase Taylor. Die beiden lagen einander vor einer romantisch verschneiten Kleinstadtkulisse in den Armen.

Gerüchte um Tenisha Barlowe und Chase Taylor, die sich am Set von Zwei Nächte zur Weihnachtszeit, dem kostspieligen Nachfolger von Eine Nacht zur Weihnachtszeit verliebt in die Augen sehen. Hollywood und der Rest der Welt erwarten mit Spannung diesen Film – und das völlig zu Recht! Noch nie hat eine Geschichte, die im Heartline Channel begann, den Weg zu Drehbuchautorin Nora Ephron und damit in die Universal Studios gefunden.

»Wir versuchen, die Stimmung des Originalfilms beizubehalten, verleihen Story und Kameraführung aber unseren eigenen Dreh«, hieß es unlängst aus dem Umfeld der berühmten Drehbuchautorin. Man sprach von der noch geheimen Location des neuen Drehorts (Gerüchten zufolge in Kanada). Die Produktion im Hinterland von New York musste vorigen Monat abgebrochen werden, als Fans und Paparazzi das Set stürmten, wodurch es zu ausgedehnten Verspätungen und Behinderungen kam. Doch obwohl die Aufnahmen nun bedauerlicherweise hinter dem Zeitplan liegen, sollte einem Filmstart zu Weihnachten 2001 nichts im Wege stehen.

Anna seufzte glücklich, als sie das las. Obwohl sie wusste, dass es sich dabei nur um ein Filmset handelte, wünschte sie sich beim Anblick der Setfotos für Zwei Nächte zur Weihnachtszeit, sie könnte das Städtchen besuchen. Natürlich freute sie sich darauf, Weihnachten in Toronto mit Nick und seiner Familie zu feiern. Es war nur alles ein bisschen viel. Außerdem war da noch die Sache mit dem Verlobungsring, der vor ihrem geistigen Auge funkelte. Sie betrachtete das glückliche Paar in der Zeitschrift. Du liebst Nick, rief sie sich ins Gedächtnis. Du bekommst nur kalte Füße.

Ein Räuspern neben ihr riss sie aus den Gedanken.

»Entschuldigung? Ich glaube, du sitzt auf meinem Platz.«

Anna blickte auf und erkannte die junge Frau, die sie vorhin in der Abflughalle getroffen hatte, die mit den eindringlichen weitstehenden braunen Augen, umrahmt von dichten, dunklen Wimpern. Ein weicher marineblauer Baumwollschal bedeckte ihr Haar. Ihr kleiner Mund, geformt wie ein Amorbogen, wies missmutig nach unten.

»Maryam! Hi!« Anna war sich bewusst, dass sie sich vorhin, nach ihrem angespannten Telefonat mit Nick, Maryam gegenüber nicht von ihrer besten Seite gezeigt hatte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen und hoffte, den Fehler wieder gutmachen zu können. »Was für ein glücklicher Zufall, wir sind Sitznachbarinnen!«

»Tja, was für ein Glück«, sagte Maryam, aber Anna hatte nicht den Eindruck, dass sie es auch wirklich so meinte. »Und jetzt … mein Platz?«

Anna legte die Zeitschrift beiseite und kramte in der Handtasche nach ihrem Ticket. Tatsächlich, sie hatte sich geirrt.

»Tut mir echt leid«, sagte sie. »Ich hasse es, wenn Leute so was tun. Man sollte meinen, ich kenne den Unterschied zwischen A und B. Aber ich sitze sowieso viel lieber am Fenster, du nicht? Willst du wirklich tauschen?«

»Unbedingt.«

Anna lächelte Maryam zu, während sie auf den Platz am Fenster rückte, doch deren Lächeln spiegelte sich nicht in ihren hinreißenden Augen. Im Flughafen hatte sie den Eindruck gemacht, als stünde sie im Mittelpunkt ihrer fröhlichen, chaotischen Familie. Als schaffe sie alles mit Leichtigkeit, sei für alle verantwortlich – und durch nichts aus der Fassung zu bringen. Es hatte ihr einen Stich versetzt, als sie Maryam beobachtete und sich fragte, wie es wohl wäre, von so vielen Familienmitgliedern umgeben zu sein.

Maryam holte ein Buch aus ihrer Tasche – Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können von Malcolm Gladwell – und versenkte sich darin. Anna dachte daran, ein Gespräch anzufangen, beschloss dann aber, noch ein wenig zu warten. Vorerst würde sie sich wieder ihren Zeitschriften widmen. Diesmal entschied sie sich für House Beautiful. Zu ihrer Verwunderung fiel ein an sie adressierter Brief heraus.

Sie hob ihn auf. Die Handschrift kannte sie gut. Der Brief stammte von ihrer Stiefmutter Beth und war wohl irgendwie zwischen die ungelesenen Zeitschriften geraten.

Ex-Stiefmutter, rief sich Anna ins Gedächtnis, während sie nachdenklich den Briefumschlag betrachtete. Sie wusste, was er enthielt: Es waren die üblichen Weihnachtswünsche, die Beth und Anna früher gemeinsam formuliert hatten. Sie zu verschicken, war ihre Art und Weise gewesen, sich wie eine richtige Familie zu fühlen –, es hatte Anna einmal sehr viel bedeutet. Ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt an Präeklampsie gestorben, und bevor Beth in ihr Leben trat, hatte Anna immer das Gefühl gehabt, als fehlte ihrem Familienleben ein Rad. Damals hatte Beth stets darauf geachtet, Anna das Gefühl zu geben, dass sie geliebt wurde, geborgen war – das Zentrum einer kleinen, aber feinen Familie.

Sie wog den Umschlag in der Hand. Er war dicker als sonst, was verstörend war. War Beths Leben jetzt, da Annas Dad tot war, noch erfüllter und lohnender geworden? Der alljährliche Weihnachtsbrief an Verwandte und Freunde hatte stets einige Farbfotos von den Highlights des Jahres enthalten (ihre abenteuerlichen Autofahrten nach Salt Lake City, Wyoming, Montana; Annas Klassenfotos; lustige Schnappschüsse von ihren Zwillingskatzen Brenda und Brandon). Und meistens gab es auch Neuigkeiten zu verkünden: Beths Entschluss, die Innenausstattungsfirma, in der sie gearbeitet hatte, zu verlassen und sich selbständig zu machen; Annas kindliche Begeisterung für Design und Dekor, angeregt durch Beths Karriere (auf einigen Fotos sah man sie und Beth gemeinsam an Einrichtungsprojekten arbeiten); der Entschluss von Annas Vater, sich nicht mehr mit Körperschaftsrecht, sondern mit Familienrecht zu befassen.

Anna fiel Beths neue Adresse, Highlands Ranch, ins Auge. »Unfassbar«, murmelte sie. Dass Beth vor wenigen Monaten, so kurz nach dem plötzlichen Herztod von Annas Vater vor zwei Jahren, wieder geheiratet hatte, war schlimm genug – jetzt schickte sie auch noch eigene Weihnachtsbriefe aus ihrem neuen Leben. Als hätte ihr altes nie existiert. Als könnte jemand einfach so eine neue Existenz annehmen und alles Vergangene vergessen.

Anna schob den Brief in die Sitztasche vor ihr, hinter die Spucktüte – dort sollte er ungeöffnet stecken bleiben, bis einer der Flugbegleiter ihn herausnehmen würde. Dann wäre Anna längst über alle Berge, auf dem Weg zu ihrem glücklichen Weihnachtsmärchen mit Nick in Toronto. Sie würde nicht zurückblicken – schon gar nicht zu Beth, die sie zutiefst verletzt hatte.

Als Nächstes schlug sie Architectural Digest auf. Sie hatte sich so auf die neuesten Einrichtungstrends für 2001 gefreut, doch jetzt konnte sie sich nicht mehr konzentrieren.

»Es schneit ganz schön dicht, nicht wahr?«, sagte sie versuchsweise.

Maryam ließ sich merkwürdig lange Zeit, bevor sie den Blick Anna zuwandte. »Tja, wir sind in Colorado«, sagte sie. »Da kommt so was schon mal vor.«

»Stimmt schon. Aber so viel hab ich noch nie gesehen.«