Alain Boulanger und das
Mörderfoto von Paris: Frankreich Krimi
von Henry Rohmer
Eine Serie von Attentatsversuchen und Morden erschüttert
Paris. Doch die Opfer scheinen nichts gemeinsam zu haben.
Privatdetektiv Alain Boulanger übernimmt den Fall, aber plötzlich
will niemand mehr, dass er ihn auch tatsächlich aufklärt.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
COVER A.PANADERO
Henry Rohmer ist ein Pseudonym von Alfred Bekker
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
Paris 1995 …
Als sich Gerard Lefebre an diesem Morgen von seinem Chauffeur
ins Büro fahren ließ, war seine Laune nicht gerade besonders
gut.
„Ärger, Monsieur?“
„Sprechen Sie mich besser nicht drauf an.“
„Wie Sie meinen, Chef.“
„Wenigstens auf Sie kann ich mich verlassen!“
„Schön, dass Sie das sagen, Monsieur.“
„Ansonsten bin ich leider nur von Idioten umgeben!“
„Wem sagen Sie das, Chef!“
„Naja, muss ja nicht Ihre Sorge sein!“
Es gab Ärger in seiner Firma, und wie es schien, würde er mit
dem eisernen Besen fegen müssen, um da wieder aufzuräumen. Aber im
Augenblick schienen seine Gedanken ganz woanders zu sein. Er
blickte nachdenklich aus dem Fenster, während der Chauffeur die
schwarze Limousine durch den Pariser Stadtverkehr lenkte.
Es gab einen Punkt, an dem man sich fragte: Wozu das alles?
Und vielleicht war Gerard Lefebre an diesem Punkt.
Zwischendurch schaute er kurz auf die Uhr. Er war spät dran. Wenn
man hinaus in den Regen sah und auf die Blechlawine schaute, die
sich durch die Straßen quälte, konnte man auf die Idee kommen, dass
es damit zu tun hatte, dass Gerard Lefebre heute zum ersten Mal
seit Jahren nicht pünktlich war.
Aber daran lag es nicht.
Lefebre hatte seinem Notar noch einen kurzen Besuch
abgestattet. Auch eine Sache, die ihm nicht angenehm gewesen war
und die er lange vor sich hergeschoben hatte.
Was soll‘s!, dachte er. Jetzt habe ich wenigstens das hinter
mir!
Und die Firma lief ihm schließlich nicht davon. Wenn es sich
einer leisten konnte, spät dran zu sein, dann er, denn er war der
Chef.
Sollte man zumindest meinen.
Es dauerte nicht mehr lange, und der Wagen hielt vor dem
mächtigen Gebäude, in dessen Mauern die Lefebre Compagnie ihre
Büros hatte.
Der Wagen hielt; der Chauffeur stieg als erster aus, um seinem
Chef die Tür zu öffnen. Die Tür ging Sekunden später auf.
„Vielleicht brauche ich Sie in einer halben Stunde wieder“,
meinte Lefebre zum Chauffeur. „Halten Sie sich also bereit!“
„Jawohl, Chef!“
Lefebre stieg mit umständlichen, etwas ungeschickt wirkenden
Bewegungen aus. Er hatte mindestens ein Dutzend Kilo Übergewicht,
und das machte ihn langsam. Er keuchte erbärmlich, und sein Gesicht
war puterrot angelaufen, als er schließlich neben seinem Chauffeur
stand.
Dann geschah es.
Lefebre hörte quietschende Reifen und das Heranbrausen eines
anderen Wagens. Er drehte sich unwillkürlich dorthin um. Es war ein
zweisitziger Sportwagen mit verdunkelten Scheiben, soviel sah er
noch.
Alles Weitere dauerte nur Sekunden!
Eine der Scheiben ging ein Stück hinunter, etwas Längliches
schob sich einige Zentimeter hindurch, und dann blitzte es auf
einmal. Es war ein Mündungsfeuer ohne Schussgeräusch. Nur ein
Klacken des Abzugs, das durch die Geräusche der Umgebung fast
völlig verschluckt wurde.
Und trotzdem war es ein Geräusch, das Gerard Lefebre das Blut
in den Adern gefrieren ließ, denn er kannte es nur zu gut. Es war
ein verdammt hässliches Geräusch, auch wenn es kaum zu hören
war.
Gerard Lefebre sah eine Kugel am Lack der Limousine kratzen,
direkt vor seinen Augen, oben auf dem Dach.
Und noch ehe er wirklich begriffen hatte, was vor sich ging,
und dass der Fahrer des fremden Wagens es ganz offensichtlich auf
sein Leben abgesehen hatte, wurde ein zweiter Schuss abgefeuert.
Und ein dritter und dann noch ein vierter. Lefebre sah den
Chauffeur mit einem kleinen, runden Loch im Kopf auf dem Pflaster
liegen. Die Augen starrten weit aufgerissen in den smogverhangenen
Himmel. Er war tot.
Lefebre war wie gelähmt.
Dann fühlte er einen höllischen Schmerz in der linken
Schulter. Die Wucht des ersten Treffers riss ihn herum. Die zweite
Kugel fuhr ihm seitlich in den Brustkorb.
Das Letzte, was er fühlte, war Schwindel. Alles begann sich
drehen. Und dann kam die Schwäche.
Seine Beine knickten ihm unter dem Körper weg, und er sackte
zu Boden. Er hörte noch, wie Leute zusammenliefen und aufgeregt
durcheinander redeten. Irgendjemand schrie hysterisch.
Und dann hörte Lefebre die quietschenden Reifen des
Sportwagens mit den verdunkelten Scheiben, der offensichtlich
davonraste.
Dann wurde es auf einmal stumm in seiner Umgebung und dunkel
vor seinen Augen.
Sehr, sehr dunkel.
2
Die Tür flog auf, und Alain Boulanger kam schwungvoll herein.
Er hatte den Mantel bereits ausgezogen, knöpfte sich nun den
obersten Hemdenknopf auf und lockerte dann seine Krawatte
etwas.
„Guten Morgen, Jeanette!“, grüßte er gutgelaunt Jeanette
Levoiseur, seine Assistentin.
„Tag, Alain!“
„Ich weiß, ich bin etwas spät dran. Aber dieser verdammte
Verkehr!“
Jeanette erhob sich von ihrem Platz und trat an Boulanger
heran, der unterdessen seinen Mantel irgendwo abgelegt hatte.
„Du hast Glück, Alain!“
„Inwiefern?“
„Die Klientin, die seit fast einer Stunde in deinem Büro
wartet und der ich bereits die dritte Tasse Kaffee aufgebrüht habe,
sieht dermaßen verzweifelt aus, dass sie wahrscheinlich auch noch
ein paar weitere Stunden auf sich genommen hätte.“
Alain zuckte mit den Schultern.
„Leute, die ein sorgloses Leben führen und keinerlei Probleme
haben, sind ja auch nicht gerade die typische Kundschaft eines
Privatdetektivs, oder?“
Als Alain Boulanger einen Moment später sein Büro in der 7.
Etage in der Rue Saint-Dominique nahe des Parc Champ de Mars
betrat, wusste er, was Jeanette gemeint hatte.
Da saß eine junge Frau vor ihm im Sessel, die wirklich alles
andere als ein glückliches Gesicht machte. Sie hatte
ausdrucksstarke, grün-graue Augen, ein fein geschnittenes Gesicht
und das lange blonde Haar fiel ihr auf die Schultern herab. Sie
gefiel Alain.
Aber es war ihrem Gesicht anzusehen, dass sie große Sorgen
haben musste.
Alain grüßte höflich.
„Bonjour, Mademoiselle...“
„Cathèrine Lefebre“, sagte sie.
Alain gab ihr die Hand und versuchte zu lächeln.
„Angenehm.“
„Sie sind Alain Boulanger, der Privatdetektiv?“
„Richtig.“
„Eigentlich eine dumme Frage. Ich habe Ihr Bild nämlich vor
ein paar Tagen in der Zeitung gesehen. Sie sollen der Beste sein,
Monsieur Boulanger.“
„Man tut, was man kann“, erwiderte Alain bescheiden und setzte
sich hinter seinen Schreibtisch. „Aber nennen Sie mich Alain! Und
dann sagen Sie mir bitte, was Sie auf dem Herzen haben,
Mademoiselle Lefebre.“
„Vielleicht haben Sie schon einmal den Namen meines Vaters
gehört – Gerard Lefebre.“
Alain überlegte kurz, aber dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, tut mir leid. Jedenfalls fällt es mir im Moment nicht
ein.“
„Gerard Lefebre von der Gerard Lefebre Compagnie.“
„Ich lese zwar nicht regelmäßig den Wirtschaftsteil in der
Zeitung, aber den Namen der Firma habe ich schon gehört. Was ist
mit Ihrem Vater?“
„Auf ihn wurde gestern ein Mordanschlag verübt. Es steht heute
in den Zeitungen.“
Alain sah das zusammengefaltete Exemplar der Zeitung Le Monde
auf seinem Tisch liegen.
„Ich bin heute noch nicht dazu gekommen, in die Zeitung zu
sehen“, gab er zu.
„Ein Wagen kam vorbei. Mit verdunkelten Scheiben. Und dann
wurde geschossen. Der Chauffeur ist dabei ums Leben gekommen, aber
es sieht wohl ganz so aus, als hätte man es eigentlich auf meinen
Vater abgesehen gehabt. Mein Vater liegt jetzt noch immer auf der
Intensivstation. Er ist noch nicht über den Berg.“
„Hat die Polizei schon …“
„Die können nicht viel machen.“
„Aber …“
„Es ist nicht der erste Versuch, meinen Vater umzubringen,
Monsieur Boulanger – ich meine: Alain!“
„Ach, nein?“
„Nein. Einmal hat jemand seinen Wagen in die Luft gesprengt.
Das ist drei Wochen her. Er hatte Glück, denn er ist noch mal
ausgestiegen, weil er etwas vergessen hatte. Da ist der Wagen in
die Luft gegangen.“
„Das sieht nach der Arbeit von Profis aus“, meinte Boulanger.
Cathèrine Lefebre nickte. „Ja, das haben die Leute von der
Polizei auch gesagt.“
„Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?“
„Ja. Die Sache ist ziemlich eindeutig.“
Alain runzelte die Stirn. So etwas hatte man selten. „Und
wer?“
„Antoine ‚Toni‘ Trappani. Ich denke, dass er hinter den
Killern steckt.“
Alain pfiff durch die Zähne. „Trappani, französischer
Staatsbürger italienischer Herkunft?“ Er atmete tief durch. „Wenn
das der Trappani ist, den ich im Auge habe, dann hat Ihr Vater aber
keinen besonders guten Umgang, Mademoiselle Lefebre!“
„Ich weiß, Alain.“
„Haben Sie Polizeischutz für Ihren Vater gefordert?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Er hat seine eigenen Bewacher und Sicherheitsleute.“
„Die kann Trappani mit seiner Portokasse kaufen.“
„Das könnte er auch bei einem Polizisten, oder etwa nicht?“
Da musste Alain ihr recht geben.
„Stimmt! Aber er ist in Gefahr. Und Sie auch.“
„Ich bin nicht ängstlich!“
„Das sollten Sie in diesem Fall aber … Trappani war schon eine
große Nummer in der Unterwelt, als ich noch bei der Pariser Polizei
war. Man konnte ihm allerdings nie etwas nachweisen, obwohl jedem
klar war, dass seine Geschäfte faul waren. Waffen, Drogen,
Schutzgelderpressung – der hat seine Finger überall, wo es viel zu
verdienen gibt.“ Alain beugte sich etwas vor. „Was hatte Ihr Vater
mit Toni Trappani zu tun? Wie kommt es, dass Trappani ihn tot sehen
will? Vorausgesetzt es stimmt, was Sie mir da erzählt haben.“
Cathèrine schwieg.
Alain lehnte sich zurück und legte etwas die Stirn in Falten.
Etwas war faul an der Sache. Etwas stimmte hier nicht, vielleicht
betraf das nicht die junge Frau, die vor ihm saß, aber bestimmt
ihren Vater.
„Dazu möchte ich nichts sagen“, meinte sie. „Und ich denke,
Sie müssen das auch nicht wissen. Ich möchte einfach nur, dass Sie
dafür sorgen, dass mein Vater am Leben bleibt. Mehr nicht!“
„Warum können das nicht die Sicherheitsleute Ihrer
Firma?“
„Sie können das schon, aber ich traue ihnen nicht.“
„Aber mir trauen Sie?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Irgendetwas muss
man ja unternehmen!“
Alain sah sie einen Moment lang nachdenklich an. Dann sagte
er: „Sie sollten mir sagen, was zwischen Ihrem Vater und Trappani
war, und wodurch er ihm auf die Füße getreten hat.“
Einen Moment lang schien sie unschlüssig zu sein. Dann
schüttelte sie mit Entschiedenheit den Kopf.
„Nein“, sagte sie. „Das kommt nicht infrage!“
„Dann kann ich leider nichts für Sie tun!“
„Aber …“
„Ich muss wissen, worum es geht, wenn ich Ihren Vater schützen
soll. Jedenfalls ungefähr! Wenn Sie nur einen Mann brauchen, der
mit einer Kanone umzugehen versteht, sollten Sie sich jemand
anderen suchen.“ Alain hatte sich erhoben.
„So war das nicht gemeint“, beeilte sich Cathèrine zu sagen.
„Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen?“
„So, als wenn Sie zur Beichte gehen würden.“
Sie schluckte.
3
Als Cathèrine gegangen war und bei Mademoiselle Levoiseur ihre
Adresse sowie die Adresse des Krankenhauses, in dem sich ihr Vater
befand, hinterlassen hatte, wusste Alain Boulanger, dass sie ihm
nicht alles gesagt hatte, was sie wusste.
Fest stand wohl, dass Gerard Lefebre nicht immer jener seriöse
Geschäftsmann gewesen war, als der er heute auftrat. Die Tatsache
allein, dass Lefebre mit einem Mann wie Toni Trappani in Beziehung
stand, belegte das noch nicht, denn Trappanis Unternehmen teilten
sich in einen legalen und einen kriminellen Zweig – sowie alles,
was dazwischen denkbar war. Cathèrine hatte gesagt, es sei vor
vielen Jahren um ein illegales Waffengeschäft gegangen, bei dem
Lefebre dann ausgestiegen sei. Und das hätte Trappani ihm nicht
verzeihen können. Aus seinem Syndikat stieg man nicht so einfach
aus. Lefebre – er hatte damals diesen Namen noch nicht getragen –
war untergetaucht und hatte unter neuer Identität von vorne
angefangen. Aber jetzt – nach all den Jahren – schien Trappani auf
ihn aufmerksam geworden zu sein.
Der Instinkt sagte Boulanger, dass da noch mehr war. Er konnte
das nicht begründen, jedenfalls nicht logisch. Es war einfach so
ein Gedanke, der ihn angeflogen hatte und sich nun hartnäckig in
seinem Gehirn festsetzte.
Wie beiläufig griff Alain zum Telefon und wählte eine Nummer –
eine Nummer, die er im Schlaf kannte.
„Hallo?“, kam zwischen seinen Lippen hindurch, als auf der
anderen Seite jemand den Hörer abnahm.
„Wer spricht dort?“
Es war eine unfreundliche, gestresste Männerstimme, die er da
auf der anderen Seite hörte. Aber sie gehörte nicht dem Mann, den
er jetzt sprechen wollte.
„Hier ist Alain Boulanger. Ist Commissaire Dubois zu
sprechen?“
„Nein, ist nicht da. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
„Wann kommt Dubois zurück?“
„Keine Ahnung. Könnte länger dauern. Vielleicht am
Nachmittag.“
Boulanger verzog ärgerlich das Gesicht.
„Wiederhören“, brummte er und legte auf. Dann erhob er sich
und ging hinaus zu Jeanette.
„Du kannst etwas für mich tun“, meinte er.
Jeanette lächelte von einem Ohr zum anderen.
„Aber immer, Alain!“
„Bring alles in Erfahrung, was sich über Gerard Lefebre
herausbekommen lässt! Das dürfte nicht allzu schwierig sein,
schließlich ist er relativ bekannt.“
„Okay, Alain. Und wohin gehst du?“
„Kleiner Ausflug“, meinte er nur und grinste. Und dabei hatte
er schon den Mantel gegriffen. Draußen regnete es Bindfäden.
4
Es war eine ziemlich heruntergekommene Bar. Dicke
Rauchschwaden hingen über den einfachen Tischen. An der Theke saßen
ein paar Damen des horizontalen Gewerbes herum und tranken mit
verkaterten Gesichtern Kaffee. Es war noch zu früh am Tag. Zu früh,
um zu arbeiten, zu früh für Kundschaft. Ein Stockwerk höher war
das, was sich offiziell ein Hotel nannte. Dort hatten die Frauen
ihre Zimmer.
Der dicke Barkeeper hinter dem Schanktisch, der
höchstwahrscheinlich auch sein eigener Rausschmeißer war, hatte
durchgehend geöffnet. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur
einen Cent zu verschenken, den irgendein Zecher hier vertrinken
wollte.
Als Alain Boulanger den Laden betrat, glitt sein Blick schnell
durch den Raum. Dann, als er zum Billardtisch sah, hatte er
gefunden, was er suchte. Ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann
versuchte sich dort in verschiedenen Kunststößen. Er spielte
allein.
Das war der Mann, den Boulanger gesucht hatte!
„Tag, Heliòr!“, meinte der Privatdetektiv knapp, als er zu ihm
an den Billardtisch ging.
Heliòr blickte auf und runzelte zunächst die Stirn. Dann
entspannte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig. Schließlich
grinste er von einem Ohr bis zum anderen.
„Tag, Monsieur Boulanger. Wie geht‘s?“
„Ich kann nicht klagen. Und Ihnen?“
„Die Zeiten sind hart für Leute wie mich!“
„Für Leute wie Sie gibt‘s doch immer ein paar Schleichwege,
oder irre ich mich da etwa?“ Boulanger hatte damit rechnen können,
Heliòr um diese Zeit hier anzutreffen. Er war ein Hehler, der
Geschäfte mit allem machte, was sich zu Geld machen ließ.
Gilbert Heliòr war fünf Nummern kleiner als Leute vom Schlage
eines Toni Trappani, aber mit diesen hatte er gemein, dass die eine
Hälfte seiner Geschäfte diesseits, die andere Hälfte jenseits der
Grenze lag, die das Gesetz zog. Heliòr handelte mit allem. Auch mit
Informationen, und genau das war der Grund, weshalb Alain Boulanger
ihn ab und zu aufsuchte.
Alain blickte sich nach den Mädchen an der Theke um, aber die
kümmerten sich nicht um ihn oder Heliòr. Und auch der Barkeeper
machte sich – nach ein paar anfänglichen misstrauischen Blicken –
an seinen Gläsern zu schaffen. Er spülte ab und schepperte dabei so
laut herum, dass das allein schon einen guten Schutz gegen
unliebsame Zuhörer bedeutete.
„Ich schätze, Sie sind nicht gekommen, um mir beim Billard
zuzusehen“, meinte Heliòr.
„Nein, das ist richtig.“
„Kommen Sie! Es ist langweilig, allein zu spielen!“
„Nein, danke. Ich habe es ziemlich eilig.“
Heliòr ließ die Kugeln über den Tisch sausen, dann richtete er
sich auf und stützte das Queue auf den Boden.
„Also, zur Sache, Boulanger! Was wollen Sie wissen?“
„Toni Trappani“, murmelte Alain.
Heliòr pfiff durch die Zähne.
„Wie kommen Sie denn an den?“
„Meine Sache.“
„Gut, aber Auskünfte über Trappani sind nicht billig,
Boulanger!“
„Ich verstehe.“
Alain Boulanger griff in seine Manteltasche und holte ein paar
Scheine heraus, von denen er Heliòr einige auf den Billardtisch
legte.
Heliòr zählte nach und steckte das Geld weg. Aber sein
hungriger Blick blieb bei den Scheinen, die Alain noch in den
Händen hielt.
„Was wollen Sie über Trappani wissen?“
„Alles. Was macht er im Moment so?“
„Sie sind doch mal bei der Polizei gewesen, oder?“
„Ja.“
„Dann dürfte Ihnen der Name Trappani doch geläufig sein,
Monsieur Boulanger!“
„Ist er auch. Ich möchte aber wissen, was er jetzt so
treibt.“
„Dasselbe wie eh und je. Aber er bemüht sich nun sehr darum,
saubere Finger zu behalten. An seinen Händen klebt kein Blut, nicht
einmal Dreck. Da achtet er sehr drauf. Wollen Sie genau wissen, in
welchen Geschäften er im Moment drin hängt?“
„Ja, das kann nicht schaden. Hören Sie sich in der Szene
um!“
„Gut, ich rufe Sie dann an, Monsieur Boulanger. War‘s
das?“
„Nein. Da ist noch etwas Spezielles.“
Heliòr zog die Augenbrauen hoch. „Raus damit,
Boulanger!“
„Irgendjemand hat es auf Gerard Lefebre von der Gerard Lefebre
Compagnie abgesehen. Gestern ist auf ihn geschossen worden, jetzt
liegt er in der Intensivstation.“
„Und Sie denken, dass Trappani dahintersteckt.“
„Ja.“
„Das ist ‘ne heikle Sache!“
„Ich weiß.“
„Wenn Trappani tatsächlich dahintersteckt, macht er das so,
dass niemand die Sache mit ihm in Verbindung bringen kann. Profis,
Sie verstehen?“
„Natürlich. Versuchen Sie trotzdem, etwas
aufzuschnappen!“
„Dafür reicht das aber nicht, was Sie mir gerade gegeben
haben.“
Alain Boulanger lachte und legte Heliòr die restlichen Scheine
hin, die er noch in der Hand hielt. Dann drehte sich Alain um und
ging.
5
Draußen war das Wetter immer noch hundsmiserabel. Aber
immerhin war der Platzregen von einem beständigen Nieseln abgelöst
worden.
Alain Boulanger schlug den Mantelkragen hoch und beeilte sich
damit, hinter das Steuer seines 500 SL zu kommen. Eine halbe Stunde
später war Alain Boulanger auf der Intensivstation jener Klinik,
die Cathèrine ihm angegeben hatte. Als er das rotgeweinte Gesicht
der jungen Frau sah, wusste er, dass etwas geschehen war. Es war
nicht schwer zu erraten, was. Alain legte ihr den Arm um die
Schulter und gab ihr sein Taschentuch.
„Er ist tot“, murmelte sie. „Papa ist tot! Er ist seinen
Verletzungen erlegen, hat der Arzt gesagt. Sie konnten nichts mehr
machen.“
„Es tut mir leid für Sie!“
Sie blickte auf und Alain Boulanger geradewegs in die
Augen.
„Jetzt ist ein Mordfall daraus geworden, nicht wahr?“
Alain nickte. „Ja.“
„Ich möchte, dass Sie den finden, der meinen Vater umgebracht
hat. Geld spielt dabei keine Rolle!“
„Ich werde tun, was ich kann, Mademoiselle Lefebre.“
„Tun Sie das, Alain!“
„Sind Sie mit dem Taxi gekommen, das da draußen wartet?“
„Ja.“
„Soll ich Sie nach Hause bringen?“
Zwei Sekunden lang schien sie unschlüssig zu sein und zu
überlegen. Aber dann nickte sie schließlich.
„Ja.“
Es machte den Eindruck, als wären ihre Gedanken weit weg. Sehr
weit.
6
Sie fuhren durch den dichten Stadtverkehr und den Regen. Beide
schienen innerhalb der letzten halben Stunde wieder zugenommen zu
haben. Sie sprachen kaum mehr als das Nötigste.
Cathèrine wohnte in der Villa ihres Vaters.
Und genau dorthin ging es jetzt.
Vielleicht würde es etwas bringen, sich dort etwas umzusehen,
irgendetwas – und wenn es nur eine Kleinigkeit war. Wenn es
wirklich Trappani war, der hinter diesem Mord steckte, dann würde
die Schwierigkeit darin bestehen, es ihm zu beweisen. Zumindest,
dass er den Auftrag gegeben hatte. Den Mann, der den Abzug der
Schalldämpfer-Pistole betätigt hatte, würde man wahrscheinlich in
hundert Jahren nicht in die Hände bekommen. Der hatte sich
wahrscheinlich längst abgesetzt und war über alle Berge. Und
irgendwann würde er dann wieder aus dem Nichts heraus auftauchen,
um einen anderen Menschen umzubringen, für einen anderen
Auftraggeber.
Aber vielleicht hatten sie Glück und es handelte sich um einen
Killer, der öfter für Trappani arbeitete, einen aus seinem eigenen
Stall. In dem Fall gab es vielleicht eine Fährte, die nicht schon
völlig kalt war.
Und vielleicht war in Gerard Lefebres Haus, in seinen
Unterlagen, privaten Aufzeichnungen, irgendwo etwas zu finden, das
auf Trappani hindeutete.
Während der 500 SL über die Straße glitt, blickte Alain kurz
zu Cathèrine hinüber, die mit in sich gekehrtem Gesicht neben ihm
auf dem Beifahrersitz saß und aus dem Fenster blickte. Direkt in
den trostlosen Regen hinein. Und genau so sah es auch wohl in ihrem
Inneren aus.
Alain hatte Verständnis dafür. Aber vielleicht war es an der
Zeit, sie ein wenig abzulenken.
„Hat die Polizei Sie eigentlich schon vernommen, Mademoiselle
Lefebre?“, fragte er plötzlich und unterbrach damit das
Schweigen.
„Ja, kurz. Gerade eben im Krankenhaus. Der Mann ist gegangen,
bevor Sie kamen, Alain.“
„Und?“
„Der Kerl hat mir wenig Hoffnung gemacht. Er meinte, so etwas
würde immer wieder mal passieren. Jemand wird auf offener Straße
erschossen, und es kommt nie heraus, wer das war und wer den
geschickt hat, der es war. Bandenmorde, Amokschützen, Psychopathen,
Profikiller. Er hat mir alles Mögliche erzählt.“
„Wie hieß der Mann?“
„Ich glaube, Tessier. Kennen Sie ihn, Alain?“
„Nein.“
„Einen sehr aufgeweckten Eindruck machte der jedenfalls
nicht.“
„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich in den Sachen Ihres Vaters
herumstöbern würde, Mademoiselle Lefebre?“
„Nein. Was hoffen Sie denn zu finden?“
Er zuckte mit den Schultern. „Vorher weiß man das nie so
genau!“
7
Die Villa der Lefebres war gut gesichert, das fiel Alain
sofort auf. Es war das Haus eines Mannes, der in ständiger Angst
davor gelebt haben musste, dass er eines Tages unliebsamen Besuch
bekommen würde. Jedenfalls machte es ganz den Anschein.
Eine hohe Mauer umgab das Anwesen, und ein Wachmann öffnete
für Alain Boulangers 500 SL das Tor, nachdem Cathèrine sich an
einem Sprechgerät zu erkennen gegeben hatte. Ein massives,
gusseisernes Tor glitt zur Seite, und Alain fuhr den Wagen bis vor
das Haus, das von einem weiträumigen Garten umgeben wurde.
Alain blickte sich kurz um und bemerkte die Video-Anlage, die
das Grundstück überwachte. Irgendwo bellte ein Hund. Es war ein
aggressives Geräusch und klang ganz und gar nicht nach einem
Schoßhund.
Vielleicht ein Dobermann, überlegte Alain. Irgend so etwas in
der Art musste es sein.
„Kommen Sie, Alain!“, meinte Cathèrine und öffnete die Tür.
Sie stiegen beide aus, die Türen klappten zu.
Ein paar Stufen führten zu einem großen Portal, und wenig
später waren sie dann drinnen. Ein Hausmädchen empfing sie bei der
Tür. Als sie dann in das große Wohnzimmer kamen, erstarrte
Cathèrine plötzlich.
Auf dem Sofa lag ein Mann.
Er lag ausgestreckt da, hatte die Schuhe ausgezogen und über
den Teppich verstreut. Auf dem Tisch standen ein paar Flaschen,
alles Spirituosen und ein Tropfen edler als der andere.
„Olivier!“, entfuhr es Cathèrine Lefebre völlig überrascht.
Alain Boulanger hob die Augenbrauen und wartete ab. Cathèrine
ging auf Olivier zu, der sich offenbar mit einiger Mühe aufsetzte.
In der Rechten hatte er ein Glas. Er rülpste ungeniert. Anscheinend
hatte er ein paar Gläser zu viel zu sich genommen.
„Tag, Cathèrine“, murmelte er. „Wie geht‘s dir?“
Sie schien alles andere als erfreut zu sein.
„Seit wann bist du hier, Olivier?“, erkundigte sie sich dann
in einem ziemlich reservierten Tonfall.
„Ein paar Stunden schon.“
„Was willst du hier? Geld?“
„Ich habe das mit Vater gehört und da …“
„Im Krankenhaus bist jedenfalls noch nicht gewesen!“ Ihr
Gesicht war eisig geworden, und ihr Gegenüber musste ihre letzten
Worte wie einen Schlag ins Gesicht empfinden. Aber Olivier zuckte
nur mit den Achseln, als wäre es nichts.
„Na, und? Ich dachte mir, ich komme erst einmal
hierher.“
„Vater ist inzwischen gestorben!“
Zunächst verursachte diese Nachricht bei Olivier keine
sichtbare Reaktion. Dann zuckte er erneut mit den Schultern.
Cathèrine wandte sich zu Alain herum.
„Das ist Olivier Lefebre – mein ehrenwerter Bruder!“
Alain nickte ihm zu, und Olivier hob sein Glas.
„Angenehm!“, rief er und stand dann auf. Er war sichtlich
unsicher auf seinen Füßen. „Vielleicht sagst du mir mal, wen du da
mitgebracht hast, Schwesterherz! Einen Geliebten vielleicht?“
„Du bist geschmacklos, Olivier!“
„War ja nur eine Frage!“
„Das ist Alain Boulanger. Er ist Privatdetektiv und soll
herausfinden, wer Vater umgebracht hat.“
Olivier Lefebre verzog das Gesicht.
Dann brummte er: „Das liegt doch auf der Hand! Trappani hat
ihn endlich erwischt! War ja letztlich auch nur eine Frage der
Zeit!“ Er rülpste erneut.
„Das ist eine Vermutung“, erklärte Alain Boulanger. „Mehr
nicht.“
„Klar, ich verstehe!“, meinte Olivier. „Sie wollen auch Ihr
Geld verdienen. Habe ich Verständnis für! Bestimmt! Und unser alter
Herr war ja auch kein armer Mann. Da können Sie gesalzene Honorare
einfordern.“ Er wandte sich an Cathèrine. „Du musst wissen, was du
tust, Schwester!“
„Ich weiß sehr genau, was ich tue“, versetzte Cathèrine
bissig. Olivier wandte sich ab, nahm eine der Flaschen vom Tisch
und verließ den Raum. Irgendwo hörte man ihn eine Treppe
hochschlurfen.
„Ihren Bruder haben Sie mir bisher verschwiegen, Mademoiselle
Lefebre“, meinte Alain.
„Sie haben mich bisher auch nicht danach gefragt.“
„Eins zu null für Sie, Cathèrine! Ihr Verhältnis scheint nicht
das Beste zu sein, habe ich recht?“
Sie atmete tief durch.
„Olivier hat ein paar Probleme.“ Sie deutete auf die Flaschen
und Alain verstand, was sie meinte.
„Das ist nicht zu übersehen“, meinte er.
„Er trinkt unmäßig, ist über dreißig und hat bisher immer nur
von dem gelebt, was unser Vater ihm geschickt hat.“
„Er lebt nicht in Paris, nicht wahr?“
„Nein, in Marseille. Dort hat er studiert – oder besser
gesagt: Er hat dort das getrieben, was er so zu nennen pflegt. Es
wundert mich, dass er offensichtlich genug Geld zur Hand gehabt
haben muss, um sich einen Flieger von Marseille nach Paris zu
leisten.“
„Wir sollten uns jetzt beeilen, Mademoiselle Lefebre“, meinte
Alain.
„Beeilen?“
„Ja, mit der Durchsicht der Sachen Ihres Vaters. Wenn die
Polizei erst einmal alles in Unordnung gebracht hat …“
„Sie meinen, dass die noch kommen?“
„Es ist ein Wunder, dass sie noch nicht da waren.
Wahrscheinlich sehen die sich erst einmal die Büroräume der Gerard
Lefebre Compagnie an.“
8
Die Durchsicht der Privatsachen von Gerard Lefebre brachte
kaum neue Erkenntnisse.
Sie wollten es schon aufgeben, da tauchte ein merkwürdiger
Brief auf. Cathèrine fand ihn in einem der Jacketts ihres Vaters.
Die Buchstaben waren aus Zeitungen und Magazinen herausgeschnitten
und auf ein weißes Blatt Papier geklebt worden:
ENDLICH HABE ICH DICH GEFUNDEN, DU RATTE! DEIN LEBEN IST
KEINEN CENT MEHR WERT!
Cathèrine gab Alain das Papier, und dieser las mit
nachdenklichem Gesicht die zwei Zeilen.
„Könnte Trappani sein, nicht wahr?“, meinte Cathèrine.
Alain Boulanger nickte. „Ja, es passt alles zusammen.“
Als Alain und Cathèrine wieder ins Wohnzimmer zurückkehrten,
klingelte es an der Tür. Das Hausmädchen machte die Tür auf. Wenig
später geleitete das Mädchen zwei Männer ins Wohnzimmer. Einer von
ihnen trug eine Polizeiuniform, der andere war in Zivil.
Aber in was für einem Zivil!
Alain Boulanger musste unwillkürlich etwas schmunzeln. Der
Mann trug einen riesigen Stetson auf dem Kopf und eine kurze braune
Jacke, dazu Blue Jeans und Cowboystiefel. Er sah aus, als wäre er
einem Wildwest-Film entstiegen. Lediglich die Rolex an seinem Arm
störte diesen Eindruck ein wenig. Er zog seine Marke hervor und
hielt sie Alain und Cathèrine entgegen.
„Tessier, Kriminalpolizei!“, raunte er. Er hatte einen
furchtbare hohe Stimme.
Alain hätte am liebsten sein Gesicht verzogen.
Tessier holte ein Papier aus der Tasche und hielt es Cathèrine
unter die Nase.
Alain brauchte gar nicht erst hinzusehen. Er wusste auch so,
worum es sich handelte. Solche Blätter hatte er oft genug
gesehen.
Alain lächelte dünn, während Tessier eine überaus wichtige
Miene aufsetzte und sich breitbeinig aufbaute. Er wandte sich an
Cathèrine.
„Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, Mademoiselle Lefebre.
Ich denke, Sie machen uns keine Schwierigkeiten!“ Sein Tonfall war
ziemlich scharf, und Cathèrine Lefebre machte einen teils
überrumpelten, teils verwirrten Eindruck.
„Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich?“, meinte sie und hob
dabei die Augenbrauen.
Tessier zuckte mit den Schultern.
„Hätte ja sein können.“ Dann wandte er sich an Alain. „Darf
ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?“
Die burschikose Art seines Gegenübers sagte Alain nicht allzu
sehr zu. Aber er sagte sich, dass dahinter vermutlich eine große
Unsicherheit verborgen lag. Alain hoffte nur, dass sich mit diesem
Cowboy zusammenarbeiten ließ, denn schließlich waren sie beide
hinter demjenigen her, der Gerard Lefebre auf dem Gewissen hatte.
Alain stellte sich vor.
„Mein Name ist Alain Boulanger“, sagte er. „Ich bin
Privatdetektiv.“
„Zeigen Sie mal Ihren Ausweis!“
Alain holte ihn hervor und hielt ihn Tessier hin. Dieser nahm
ihn mit einer nachlässigen Geste an sich. Tessier warf einen Blick
auf das Dokument, nickte dann und gab es seinem Besitzer
zurück.
„Okay. Und was tun Sie hier?“
„Mademoiselle Lefebre hat mich engagiert, um den Mörder ihres
Vaters zur Rechenschaft zu ziehen.“
Tessier schob sich den riesigen Stetson in den Nacken und
verzog das Gesicht. Die Anwesenheit des Privatdetektivs schien ihm
nicht so recht zu schmecken.
„Sie vertrauen der Arbeit der Polizei nicht?“, brummte er.
„Ist ja reizend.“
„Nehmen Sie es nicht persönlich“, meinte Alain und lächelte
dünn.
Tessier machte eine großspurige Geste.
„Wie käme ich dazu“, meinte er sarkastisch. Er nahm es sehr
wohl persönlich, das war ihm deutlich anzusehen.
„Dann ist ja alles in Ordnung“, murmelte Alain und dabei
dachte er: Der Mann hat etwas von einem bissigen Terrier, der um
jeden Preis sein Revier verteidigt.
„Ich glaube, Commissaire Dubois hat Ihren Namen mal erwähnt,
Boulanger.“
„Grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie ihn sehen!“
„Ich sehe ihn öfter, als mir lieb ist!“ Er atmete tief durch.
„Ich schätze, Sie haben hier schon alles durchwühlt.“
„So ist das nun einmal, wenn man zu spät dran ist, Monsieur
Tessier!“
„Wir waren in den Büroräumen.“
„Habe ich mir gedacht.“
„Haben Sie irgendetwas gefunden, das für den Fall von
Interesse sein könnte? Sie wissen, dass das Zurückhalten von
Beweismaterial strafbar ist, nicht wahr?“
„Monsieur Tessier, ich schlage vor, dass wir
zusammenarbeiten!“
Tessier lachte rau.
„Wie stellen Sie sich das konkret vor?“
„Ein Deal, Monsieur Tessier! Sie sagen mir, was in den
Büroräumen gefunden wurde, und ich sehe dann, was ich für Sie tun
kann!“
„Oh, nein, Monsieur Boulanger! So nicht!“
„Bitte, wie Sie wollen! Aber Sie könnten vielleicht eine Menge
Zeit sparen.“
Tessier schien unsicher. Er kniff die Augen zu schmalen
Schlitzen zusammen. Dann nickte er.
„Gut. Erst Sie, Boulanger!“
„Nein, umgekehrt!“
„Sie sind eine harte Nuss, Boulanger!“
„Wollen Sie weiter lamentieren oder Ihre Pflicht tun und etwas
unternehmen, damit ein Mörder gefasst wird?“
Tessier bleckte die Zähne. Dann seufzte er hörbar.
„Sie haben gewonnen, Boulanger! Aber wehe, wenn Sie dann am
Ende nichts vorzuweisen haben!“
„Schießen Sie los!“
„Wir haben die Leute in der Firma vernommen und die Büroräume
durchsucht. Die Lefebre Compagnie hat nicht mehr als zwei Dutzend
Angestellte, obwohl sie einen Umsatz von mehreren hundert Millionen
Francs im Jahr hat. Diese Firma besitzt ihrerseits wiederum
erhebliche Beteiligungen an verschiedenen Firmen und bestimmt zum
Teil auch deren Firmenpolitik.“
„Was für Firmen?“
„Quer durch den Garten. Von der Seifenfabrik bis zur
Elektronik. Offensichtlich gab es Ärger in der Firma. Gerard
Lefebre war mit einigen Angestellten nicht zufrieden und hat
offenbar daran gedacht, sie zu feuern. Und dann hat es den
Anschein, dass einer der Angestellten in die eigene Tasche
gewirtschaftet hat. Ein gewisser Arthur Albertini.“
„Ja“, meinte Cathèrine plötzlich. „Das stimmt! Mein Vater hat
herausbekommen, dass er mit Firmengeldern spekuliert hat.“
„Und warum hat Ihr Vater diesen Albertini nicht
entlassen?“
„Um einen Skandal zu vermeiden. Die Lefebre-Aktien wären
sofort in den Keller gegangen, wenn etwas durchgesickert wäre.
Vater wollte mit ihm ein Arrangement treffen.“
Tessier machte eine unbestimmte Geste mit der Hand.
„So, Monsieur Boulanger! Jetzt sind Sie dran!“
„Ein bisschen dünn, was Sie da geboten haben, finden Sie nicht
auch?“ Er holte den zusammengeklebten Brief aus der Tasche und
reichte ihn dem Kriminalbeamten. „Hier!“
„Was ist das?“
„Sehen Sie es sich das erst einmal genau an, bevor Sie fragen!
Mademoiselle Lefebre hat es in einem Jackett ihres Vaters
gefunden.“ Alain wandte sich an Cathèrine. „Sie sollten dem
Monsieur jetzt sagen, was Sie wissen, Cathèrine. Auch von Ihrem
Verdacht gegen Trappani.“
„Aber …“
„Ihr Vater ist tot, und selbst wenn er sich in einem früheren
Leben die Hände schmutzig gemacht hat – es kann ihm nun nicht mehr
schaden, wenn es irgendjemand erfährt.“
Tessier runzelte die Stirn.
„Habe ich da eben Trappani gehört?“
„Haben Sie“, nickte Alain.
„Ich bin noch nicht lange hier in Paris, aber selbst in der
kurzen Zeit ist mir dieser verdammte Name schon ein paarmal zu
Ohren gekommen.“
Alain zuckte mit den Schultern. „Das ist kein Wunder!“, meinte
er.
Und dann machte Cathèrine ihre Aussage und Tessier
anschließend ein langes Gesicht.
„Üble Sache!“, meinte er. Er hob den Brief in die Höhe und
fuhr dann fort: „Scheint wirklich alles darauf hinzudeuten, dass
Trappani dahintersteckt. Welchen Namen trug Ihr Vater, bevor er
seine Identität wechselte?“
Sie errötete und musste schlucken. Aber sie behielt die
Fassung.
„Yves Tallien“, sagte sie dann.
9
Wenig später brachte Cathèrine Alain Boulanger zur Tür.
„Was werden Sie jetzt unternehmen, Alain?“
Aber Alain gab ihr keine Antwort, sondern stellte seinerseits
eine Frage.
„Wo wohnt Monsieur Albertini?“
Cathèrine hob die Augenbrauen.
„Wollen Sie seine Adresse?“
„Ja, ganz richtig.“
„Er hat eine Wohnung in der Rue Oudinot. Aber im Moment
dürften Sie ihn in seinem Büro antreffen. Sie wissen ja, wo das
ist.“
„Ja.“
„Was wollen Sie von Albertini?“
„Mit ihm reden!“, gab Alain lakonisch zurück.
„Trappani ist der Mann, den Sie sich vorknöpfen müssen“, gab
sie ihrer Überzeugung Ausdruck. „Ich glaube nicht, dass Albertini
etwas mit Vaters Tod zu tun hat.“
„Er hatte aber ein Motiv!“
„Sie meinen die Veruntreuung? Ich sagte doch, dass Vater ein
Übereinkommen mit ihm treffen wollte. Sein Tod konnte ihm höchstens
Nachteile bringen.“
„Ich möchte mich trotzdem mit ihm unterhalten. Wer weiß, was
dabei herauskommt.“
„Und ich sage Ihnen, Sie irren sich, Alain!“
Alain lächelte.
„Versuchen Sie nicht, mir vorzuschreiben, wie ich meine Arbeit
zu machen habe, Mademoiselle Lefebre!“
„Die Sache ist doch klar! Kümmern Sie sich um Trappani!“
„Soll ich vielleicht in Trappanis Büro spazieren –
vorausgesetzt, ich komme soweit – und ihn fragen, ob er zufällig
der Mörder Ihres Vaters ist? Nein, so einfach geht das nicht! Das
fängt man anders an.“
„Und wie?“
„Jedenfalls nicht, indem man vorzeitig sämtliche Pferde scheu
macht!“
Sie atmete tief durch. Dann begegneten sich ihre Blicke. Sie
sah ihn einen Augenblick lang ruhig an und meinte dann: „Vielleicht
haben Sie recht, Alain. Vielleicht sollte ich Ihnen mehr
vertrauen.“
Das war auch Alains Meinung, und so nickte er. „Ja, das
sollten Sie! Ich verstehe meinen Job!“
„So war das nicht gemeint!“
„Das weiß ich!“
„Sie sind ein toller Kerl, Alain!“
Und dann schlang sie plötzlich ihre schlanken Arme um seinen
Hals und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Alles ging viel zu
schnell. Bevor Alain so recht gemerkt hatte, was hier gespielt
wurde und den Zungenschlag erwidern konnte, war es auch schon
vorbei.
Sie hatte sich von ihm gelöst und war etwas
zurückgetreten.
„Machen Sie Ihre Sache gut, Alain!“
„Das verspreche ich Ihnen hiermit“, murmelte Alain, der noch
immer ein wenig verwirrt war.
10
Alain Boulanger traf Arthur Albertini nicht in seinem Büro an,
sondern in einem Restaurant in der Umgebung. Ein kleiner, dicker
Mann saß vor einem riesigen Steak, und Alain dachte sich, dass
dieser Mann Arthur Albertini musste.
„Monsieur Albertini?“
Der Mann blickte auf, kaute seinen Bissen zu Ende und murmelte
dann: „Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht!“
Alain setzte sich zu ihm an den Tisch.
„Ich Sie auch nicht, aber die Beschreibung Ihrer Sekretärin
passt auf Sie.“
Albertini verzog das Gesicht. „So?“
„Mein Name ist Alain Boulanger.“
„Aha …“
„Mademoiselle Lefebre hat mich engagiert wegen der Sache mit
ihrem Vater.“
Albertini blickte auf und nahm einen Schluck aus dem Glas
Rotwein, das neben seinem Teller stand. Dann wischte er sich mit
der Hand den Mund ab und schob den halb leergegessenen Teller ein
Stück von sich weg. Aus irgendeinem Grund schien ihm der Appetit
mit einem Mal vergangen zu sein.
„Was wollen von mir, Monsieur Boulanger? Ich bin ein
vielbeschäftigter Mann, und wenn Sie mir schon meine Mittagspause
stehlen, dann haben Sie dafür hoffentlich einen guten Grund.“
„Ich habe ein paar Fragen“, erklärte Alain sachlich. „Und
diese Fragen halte ich für einen guten Grund!“
Albertini machte ein zweifelndes Gesicht.
„Ich habe eigentlich keine Lust, mich mit Ihnen zu
unterhalten.“
„Sie haben Gelder der Gerard Lefebre Compagnie veruntreut,
nicht wahr?“
Er runzelte die Stirn, dann löste er den obersten Hemdknopf,
so dass sein Doppelkinn etwas mehr Platz bekam. Albertini schien
sich sichtlich unwohl in seiner Haut zu fühlen, und Alain konnte
das durchaus nachvollziehen.
„Sie können es ruhig zugeben, Monsieur Albertini. Ich weiß es,
die Polizei weiß es.“
„Es hat mich niemand angeklagt.“
„Weil niemand einen Skandal wollte.“
„Sehr richtig. Monsieur Lefebre und ich waren uns einig, dass
…“
„Was, wenn Lefebre und Sie sich doch nicht so einig gewesen
sind, wie Sie es allgemein glauben machen wollen und er Sie auf
irgendeine Art und Weise ans Messer liefern wollte?“
„Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Monsieur Boulanger.
Ich habe aber nicht die Absicht, dieses Spiel mitzumachen.“
„Es ist kein Spiel, Monsieur Albertini!“
Der dicke Mann zuckte mit den Schultern.
„Wie dem auch sei …“ Dann verengte er die Augen und fixierte
Alain Boulanger mit einem ärgerlichen Blick. „Sie wollen doch nicht
behaupten, dass ich in dem Wagen gesessen habe, von dem aus auf
Monsieur Lefebre geschossen wurde?“
„Sie hätten vielleicht ein Motiv!“
„Aber ich habe ein handfestes Alibi! Ich war auf einer
Konferenz, als es passierte. Dafür gibt es ein halbes Dutzend
Zeugen.“
„Sie könnten die Tat in Auftrag gegeben haben, Monsieur
Albertini.“
Er wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. Dann bleckte
er wütend die Zähne.
„Guten Tag, Monsieur Boulanger! Ich habe Ihnen nichts mehr zu
sagen!“
Boulanger erhob sich.
„Ich schätze, dass ich nicht der einzige bleiben werde, der
Ihnen diese Fragen stellt.“
Albertinis Gelassenheit machte auf Boulanger einen gespielten
Eindruck.
„Abwarten, Monsieur Boulanger!“
„Auf Wiedersehen, Monsieur Albertini. Es würde mich nicht
wundern, wenn wir uns in nächster Zeit noch öfter über den Weg
laufen.“
Während Boulanger schon in Richtung Tür unterwegs war, knurrte
Arthur Albertini noch etwas Unverständliches vor sich hin. Aber es
hörte sich alles andere als freundlich an.
11
Paul Dubois war nicht gerade gut gelaunt, als Alain ihn auf
dem Flur abpasste.
„Ah, Alain! Du hast mir heute noch gefehlt!“ Er keuchte und
wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Du solltest langsam mal ans Abnehmen denken, Paul, dachte
Alain bei sich, aber er hütete sich davor, es auch laut
auszusprechen.
„Hey, Paul! Was soll denn das heißen? Ich dachte, wir sind
Freunde!“
„Klar, sind wir auch! Aber wenn du hier auftauchst, dann gibt
das garantiert Arbeit für mich. Und ich stecke schon bis über beide
Ohren drin! Bis über beide Ohren, hörst du, Alain?“ Dubois stemmte
die Arme in die Hüften und baute sich breitbeinig auf.
Alain wollte nicht wissen, auf welche Werte der Blutdruck des
Commissaires in den letzten zwanzig Sekunden gestiegen war.
Dubois atmete tief durch und quetschte dann zwischen den
Lippen hindurch: „Also schieß los! Worum geht‘s?“
„Es geht um den Mordfall Lefebre.“
„Gerard Lefebre?“
„Ja, welcher Lefebre wohl sonst?“
„Ein Mann aus meinem Revier bearbeitet den Fall. Er heißt
Tessier. Sieht ein bisschen merkwürdig aus, aber er soll ein ganz
toller Hecht sein. So viele Belobigungen in einer Personalakte habe
ich selten gesehen.“
„Ich habe mit Tessier bereits gesprochen. Die Sache ist die:
Hinter dem Mord steckt wahrscheinlich Toni Trappani. Und ich möchte
wissen, was der im Augenblick so treibt.“
Dubois prustete wie ein Walross.
„Komm mit!“, meinte er. „Wozu habe ich schließlich so ein
gastliches Büro?“
Wenig später saßen sie sich dann in Dubois‘ Büro gegenüber.
Der Commissaire lehnte sich zurück und kratzte sich im
Genick.
„Der Name Trappani dürfte dir doch noch von früher her
geläufig sein, Alain“, meinte er.
Boulanger nickte.
„Ist er auch. Aber das ist schließlich schon eine ganze Weile
her.“
„Aber einer wie Trappani ändert sich nicht. Der steigt
entweder auf oder endet vorher als Wasserleiche in der Seine – mit
einem schönen, runden Loch in der Stirn!“
Alain Boulanger zog die Augenbrauen in die Höhe.
„Nach allem, was man hört, ist Trappani aufgestiegen!“
„Kann man wohl sagen! Früher haben wir ja immer vermutet, dass
er illegal Elektronik in den Osten exportiert hat. Aber das ist
lange her. Heute vermutet man ihn hinter Waffenschieber- und
Drogenringen. Aber wir konnten dem verflixten Hund bisher nichts
nachweisen. Er ist einfach zu geschickt! Strohmänner machen die
Drecksarbeit für ihn, und die schweigen eisern, denn jeder von
ihnen weiß, dass er ein toter Mann ist, sobald er singt. Sein Arm
reicht bis in die Gefängnisse hinein – vielleicht sogar bis in die
Polizei und die Staatsanwaltschaft.“
„Dann gibt es also im Grunde genommen nichts Neues.“
„Nein. Was Trappani angeht, nicht. Es ist alles nur ein paar
Nummern größer geworden.“
„Nichts Konkretes?“
„Alain, wenn ich etwas Konkretes hätte, würde er nicht mehr
frei herumlaufen und seine unsauberen Geschäfte machen!“
„Verstehe.“
„Dann ist da allerdings noch etwas, das dich interessieren
könnte.“
In Alains Augen blitzte es.
„Heraus damit, Paul!“
„In den letzten Wochen gibt es eine Art Mordserie. Alle
begangen in der Art von professionellen Killern – so, wie es auch
bei Gerard Lefebre der Fall zu sein scheint. Alle Opfer hatten
etwas gemeinsam: Sie machten Geschäfte mit Toni Trappani!“
„Eine Säuberungsaktion?“
„Ja, so etwas in der Art muss es wohl sein.“
„Ich möchte eine Liste der Opfer.“
„Kannst du haben!“ Paul Dubois stand auf, holte eine Akte aus
dem Schrank und knallte sie vor Boulanger auf den Tisch. „Schreib
dir die Namen heraus, wenn es dir Spaß macht!“
„Danke!“
„Was willst du damit, Alain?“
Boulanger zuckte mit den Schultern. „Mal sehen. Ich weiß es
noch nicht.“
12
Es war bereits ziemlich dunkel und es regnete wieder, als
Gilbert Heliòr ins Freie trat und sich nach rechts und links
umdrehte. Er schlug sich den Mantelkragen hoch und schlang sich den
Schal vor den Mund.
Es war hundekalt, und dennoch stand Heliòr der Schweiß auf der
Stirn, als er die Straße überquerte. Es war kalter Angstschweiß,
und sein Gesicht war von nackter Furcht gezeichnet.
„Oh, mein Gott“, flüsterte er kaum hörbar in seinen Schal
hinein, obwohl er eine Kirche zum letzten Mal von innen gesehen
hatte, als seine Mutter ihn zur Taufe getragen hatte. Er
schluckte.
Ich hätte mich nie auf diese Dinge einlassen sollen, durchfuhr
es ihn.
Aber nun war es zu spät. Einfach zu spät.
Bis zum Hals steckte er im Sumpf und sah nicht die geringste
Chance, sich selbst wieder herauszuziehen. Heliòr fühlte seinen
Puls bis zum Hals schlagen. Überall konnte er auf ihn lauern.
Er musste auf der Hut sein und aufpassen.
Er musste unbedingt telefonieren. Er wollte auf jeden Fall
ungestört sein, wenn er den Anruf tätigte.
Heliòr atmete schwer. Er war derart nervös, dass ihn beinahe
ein Auto erwischte, das dann hupend weiterfuhr.
Oh, verdammt!, schoss es ihm durch den Kopf. Ich beginne
bereits die Nerven zu verlieren!
Jetzt hieß es kühlen Kopf bewahren. Nur dann hatte er noch
eine Chance. Kühlen Kopf und stahlharte Nerven. Aber wie es schien,
hatte er weder das eine noch das andere. Schließlich hatte er die
andere Straßenseite erreicht. Noch einmal blickte er sich nach
allen Seiten um. Er sah einen Stadtstreicher mit speckigem Parka,
vor Dreck starrenden Jeans und einer schmuddeligen Wollmütze, die
er tief ins Gesicht gezogen hatte. Der Mann hob eine Zeitung vom
Boden auf, die irgendjemand achtlos weggeworfen hatte, und
blätterte darin.
Keine Gefahr, dachte Heliòr bei diesem Anblick oder besser: Er
versuchte, es sich einzureden. Immer wieder: Keine Gefahr!
Außer dem Stadtstreicher sah er niemanden in der Nähe. Er
öffnete die Tür des Hauses, ließ sie dann hinter sich zuschlagen
und fingerte mit zitternden Händen sein Handy aus der Manteltasche
heraus. Dann begann er eine Nummer zu wählen.
Mach schon!, rief es in ihm. Verdammt noch mal, nun nimm doch
endlich ab!
Sein Stoßgebet wurde im nächsten Moment erhört. Eine weibliche
Stimme meldete sich.
„Ist da das Büro von Alain Boulanger?“
„Ja. Wer spricht dort, bitte?“
„Hier ist Gilbert Heliòr. Ich habe Monsieur Boulanger etwas
Wichtiges mitzuteilen. Ich …“
„Kann ich Monsieur Boulanger etwas ausrichten, Monsieur
Heliòr? Hallo? Sind Sie noch dran?“
Heliòr hatte das Handy noch am Ohr, aber ihm waren die Worte
vor Entsetzen buchstäblich im Halse steckengeblieben, als er sich
umgewandt und in das Gesicht des Stadtstreichers geblickt hatte,
der urplötzlich im Flur aufgetaucht war. Alles, was dann geschah,
dauerte kaum länger als eine Sekunde.
Plötzlich war Heliòr klar, dass dieser Mann gar kein
Stadtstreicher war sondern sich nur so aufgemacht hatte. Der Kerl
hatte hier auf ihn gewartet, ihn wahrscheinlich schon längere Zeit
beobachtet, und nun war seine Chance gekommen. Der Mann hatte ein
kalt glitzerndes Augenpaar, das ihn geschäftsmäßig musterte. Eine
hässliche Narbe, die vermutlich von einer Messerstecherei
herrührte, zog sich von der Stirn über das Auge und fast die
gesamte rechte Wange.
Der Mann verzog das Gesicht und bleckte die Zähne. Heliòr sah
die Zeitung seines Gegenübers, jene Zeitung, die dieser vom Boden
aufgesammelt hatte. Die Zeitung glitt zur Seite, und die Mündung
einer Automatik mit Schalldämpfer wurde für den Bruchteil eines
Augenblicks sichtbar.
Heliòrs Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.
„Nein“, flüsterte er fast tonlos, aber da hatte sein Gegenüber
bereits abgedrückt.
Am Ausgang des Schalldämpfers blitzte ein Mündungsfeuer. Es
gab ein hässliches, dumpfes Geräusch. Das Projektil fuhr Heliòr
direkt in die linke Brust. Heliòr wurde durch die Wucht des
Geschosses nach hinten gerissen, ließ das Handy fallen und ächzte
noch einmal unterdrückt.
Der Killer wollte sichergehen.
Ein zweiter Schuss traf Heliòr mitten in der Stirn, bevor er
dann mit starren, weit aufgerissenen Augen zu Boden rutschte. Der
Killer steckte die Waffe in die weite Seitentasche seines Parkas,
beugte sich nieder, hob das Handy auf und schaltete es aus.
13
Das Autotelefon schnurrte, und Alain nahm augenblicklich den
Hörer ab. Es war Jeanette.
„Was gibt es?“, fragte Alain.
„Ein Mann namens Gilbert Heliòr hat angerufen. Er ist ein
Informant, nicht wahr?“
„Ja, was hat er gesagt?“
„Er ist nicht mehr dazu gekommen, etwas auszupacken. Es sei
sehr wichtig, hat er gesagt, und dann gab es ein merkwürdiges
Geräusch – wie aus einer Schalldämpfer-Pistole. Ich fürchte, er
lebt nicht mehr, Alain.“
Alain atmete tief durch.
„Das fürchte ich auch, Jeanette.“
„Er hat mit einem Handy angerufen, ich denke von einem Gebäude
aus, denn da hat eine Tür geknarrt und ist dann zugeklappt.“
„Ich kann mir denken, wo er war“, flüsterte Alain, mehr zu
sich selbst als zu seiner Gesprächspartnerin an der Strippe. „Hast
du die Polizei schon benachrichtigt?“
„Nein. Ich dachte mir, ich sage erst dir Bescheid.“
„Okay, dann werde ich das von hier aus erledigen.“ Zwei
Sekunden später hatte Alain Boulanger aufgelegt. Er suchte eine
Seitenstraße, in der er seinen 500 SL drehen konnte. Verdammt!,
dachte er.
Heliòr war umgelegt worden und es gab sicher ein paar Dutzend
Leute, die dafür infrage kamen. Aber einer von ihnen war Toni
Trappani!
Alain Boulanger dachte an die Liste, die Commissaire Dubois
ihm gegeben hatte. Heliòr passte vorzüglich in diese Liste von
Leuten hinein, die zwei Dinge gemeinsam hatten: Sie hatten mit
Trappani zu tun, und sie waren mausetot.
So viele Zufälle kann es nicht geben, dachte Boulanger. Heliòr
hatte ihm etwas Wichtiges zu sagen gehabt, was nur heißen konnte,
dass er etwas über Trappani herausgefunden haben musste. Eine
andere Möglichkeit gab es kaum.
Endlich hatte Alain eine Möglichkeit zum Drehen gefunden. Es
dauerte ein bisschen, bis er sich wieder in den Verkehr – diesmal
in entgegengesetzter Richtung – einfädeln konnte. Dann wählte er an
seinem Autotelefon die Nummer der Polizei.
14
Es war ganz so, wie Alain Boulanger gedacht hatte. Heliòr war
in dem Haus ermordet worden, das der Kaschemme gegenüber lag, in
der man ihn sonst immer antreffen konnte. Heliòr hatte mal erwähnt,
dass er dort hinging, um ungestört telefonieren zu können, denn
hier waren fast alle Wohnungen leer. Nur in der obersten Etage
wohnte ein Kerl mittleren Alters, der entweder high war oder
stockbetrunken – oder auch beides.
Wahrscheinlich hat er von hier wieder mit mir sprechen wollen,
kam es Alain in den Sinn, als er seinen Wagen an der Seite
abstellte, die Haustür öffnete und das Blut an der Hauswand
sah.
Heliòr lag mit seltsam verrenkten Armen und Beinen am Boden.
Seine Augen blickten Alain starr an, während sich mitten auf seiner
Stirn ein kleines, rotes Loch befand. Alain schluckte.
Er kannte Heliòr schon einige Jahre, und der kleine Hehler
hatte ihn immer mit wertvollen Informationen über die Pariser
Unterwelt versorgt. Nicht alles, was Heliòr getan hatte, war legal,
aber im Grunde war er nur ein ganz kleiner Fisch. Und ein solches
Ende hatte er in keinem Fall verdient. Niemand hatte das.
Alain Boulanger ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und
fühlte Grimm in sich hochsteigen.
Wer immer dahinter steckte und die Fäden zog: Es musste sich
um jemanden handeln, der buchstäblich über Leichen ging.
Alain blickte sich dann nach Spuren um. Aber da war auf den
ersten Blick nichts zu sehen, das irgendeinen Hinweis geben konnte.
Mit was für einer Waffe Heliòr erschossen worden war, das würde
später die Polizei feststellen. Doch viel würde dabei vermutlich
auch nicht herauskommen.
Dies schien Alain das Werk von Profis zu sein. Man konnte
Heliòrs Augen noch ansehen, wie überrascht er gewesen sein
musste.
Alain beugte sich nieder und drückte ihm die Lider zu. Mehr
konnte er nicht mehr für ihn tun – außer vielleicht denjenigen zu
finden, der dafür verantwortlich war.
Eine Weile verharrte Alain Boulanger so bei dem Toten, dann
nahm er aus den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung in der Nähe
war. Blitzartig war seine Rechte unter den offenen Mantel und das
Jackett gefahren und hatte mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit die
Automatik aus dem Schulterholster gerissen und in Anschlag
gebracht.
„Nicht schießen, Monsieur!“
Der Mann, der da zitternd vor Alain Boulanger stand, wirkte
wie eine Jammergestalt. Er hatte die Hände gehoben, in der Rechten
hielt er eine Bierflasche. Alain blickte in ein stoppelbärtiges
Gesicht mit einer roten Trinkernase.
„Bitte, nicht schießen!“, wiederholte er noch einmal. Ihm
schlotterten vor Angst schier die Knie, und Alain ließ die Waffe
sinken.
„Keine Angst!“, meinte er. „Ich schieße nicht.“
Der Mann drehte sich um und wollte sich wohl davonmachen. Aber
Alain hatte noch ein paar Fragen an ihn.
„Hey, stehen bleiben!“
Der Kerl zuckte zusammen und drehte sich vorsichtig herum.
Erleichtert stellte er fest, dass Alain seine Waffe inzwischen
wieder eingesteckt hatte.
„Ich tue Ihnen nichts“, versicherte Alain noch einmal, denn er
sah deutliches Misstrauen in den Augen seines Gegenübers. Alain kam
ein paar Schritte heran.
„Was ist noch? Was wollen Sie?“
„Nur ein paar Fragen!“
„Wer sind Sie?“
Alain kam noch näher heran und hielt ihm seine Lizenz unter
die Nase.
„Privatdetektiv“, fügte er noch als Erklärung hinzu. Der Mann
atmete auf.
„Gott sei Dank. Ich dachte schon, Sie gehörten zu ihm.“
Alain runzelte die Stirn.
„Wer ist das?“
„Schließlich tragen Sie auch eine Waffe.“
„Von wem, zum Teufel, haben Sie gerade gesprochen?“
Er deutete auf den Toten.
„Sie haben ja gesehen, was hier passiert ist, Monsieur.“
„Allerdings!“
„Ich spreche von dem Mann, der das getan hat!“
„Sie haben ihn gesehen?“
„Ich habe alles beobachtet!“
„Raus mit der Sprache!“
Alain hatte selbst gemerkt, dass in seiner Stimme ein
Quäntchen zu viel Ungeduld mitgeschwungen hatte. Und das hatte sein
Gegenüber genauestens registriert.
Der Mann zögerte mit seiner Antwort, rieb sich mit der Linken
die rote Nase und trank dann seine Bierdose leer. Die Büchse warf
er in die Ecke des Hausflurs und meinte: „Ich habe nichts mehr zu
trinken.“
Alain begriff, worauf er hinauswollte. Er gab ihm hundert
Francs.
„So!“, meinte der Privatdetektiv. „Jetzt will ich aber auch
eine überzeugende Story hören! Sonst hole ich mir die zwanzig Mäuse
zurück!“
„Ich habe alles gesehen!“
„Das sagten Sie bereits!“
„Der Kerl ist seinem Opfer bis ins Haus gefolgt. Er blieb an
der Tür stehen, und dann hat er geschossen.“
„Haben Sie den Schuss gehört?“
„Nein. Man konnte nichts hören. Aber ich habe die Waffe
gesehen, und ich sah es in der Dunkelheit aufblitzen.“
„Wie sah der Mann aus?“
„Er hatte eine Narbe quer über das Gesicht.“ Und dabei zog er
mit dem Finger eine Linie von der Stirn über das Auge und die
rechte Wange.
Alain runzelte die Stirn.
„Von wo aus haben Sie das alles beobachtet?“
„Von der anderen Straßenseite aus. Als es dann passiert war,
bin ich schließlich hergekommen, um …“
Er zögerte und Alain vollendete schließlich: „… um die Leiche
zu fleddern, nicht wahr?“
„Unsereins muss auch leben!“
Alain warf einen kurzen Blick hinüber. Dann meinte der
Privatdetektiv ziemlich ungehalten: „Das ist unmöglich. Auf die
Entfernung und bei diesen Lichtverhältnissen konnten Sie unmöglich
die Narbe des Mannes sehen! Sie erzählen mir was!“
„Nein, mein Monsieur! Das war anders! Ich habe die Narbe des
Mannes vorher gesehen.“
„Wann vorher?“
„Als wir ein Bier zusammen getrunken haben, drüben vor dem
Kiosk.“
„Sie haben ein Bier zusammen getrunken?“
„Ja, er sah aus wie einer von uns. Wie einer, der auf der
Straße lebt. Und dann haben wir einen zusammen gehoben. Aber in
Wirklichkeit hat er wohl die ganze Zeit über nur auf den gewartet,
der da jetzt mausetot hier im Flur liegt.“
Alain nickte. „Okay“, murmelte er.
Wenn der Täter wirklich eine so auffällige Narbe hatte, wie
dieser Mann behauptete, dann war das vielleicht eine Spur. Und wenn
er bereits einschlägig in Erscheinung getreten war, dann würde man
das Rätsel um seine Identität auch bald lüften können.
Die Sirenen von Polizeiwagen ließen Alain Boulanger
herumfahren und als er dann eine Sekunde später den Blick zurück zu
seinem Gegenüber schnellen ließ, da hatte sich dieser bereits
davongemacht. Alain sah keine Spur mehr von ihm. Er konnte in eine
der dunklen Nischen zwischen den Häusern geflüchtet sein. Es gab
hier Dutzende von Orten, an denen man sich verkriechen
konnte.
Und dann wurde der Privatdetektiv durch das grelle
Scheinwerferlicht der Polizei geblendet.
Der Mann war über alle Berge. Offensichtlich legte er keinen
Wert darauf, mit den Gesetzeshütern zusammenzutreffen, aus welchem
Grund auch immer. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen mit der
Polizei gemacht, vielleicht hatte er auch selbst irgendwelche
kleineren Sachen auf dem Kerbholz.
Ein paar uniformierte Beamte sprangen aus den heulenden
Streifenwagen. Und dann kamen auch Männer in Zivil. Ein paar
Augenblicke nur und die Nacht schien zum Tag zu werden.
Aus den umliegenden Häusern liefen die Leute zusammen, um zu
sehen, was sich dort abspielte.
Ein paar Augenblicke später sah Alain dann die massige Gestalt
von Commissaire Dubois zum Tatort wanken.
„Hey, Paul! Was machst du denn hier? Ist das nicht eher etwas
für deine Sklaven?“
Dubois verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Ein müdes,
gequältes Lächeln ging über seine Züge, bevor er dann einen
hörbaren Seufzer ausstieß.
„Diese Mordserie scheint inzwischen auch ein paar Etagen über
mir Unruhe auszulösen. Und so, wie du es am Telefon dargestellt
hast, passt dieser Mord hier genau ins Raster“, presste Dubois
heraus. „Die Sache ist jetzt mein Job. Und zwar
höchstpersönlich!“
„Armer Paul!“
„Auf dein Mitleid kann ich verzichten, Alain!“ In seinen Augen
blitzte es giftig. „Ich hoffe, du hast nichts angefasst.“
„Ich bin ja kein Anfänger!“
„Dann ist es ja gut. Sag mal, was könnte Heliòr denn über
Trappani herausgefunden haben? Du hast am Telefon nicht mehr
darüber gesagt.“
„Ich weiß auch nicht mehr darüber, Paul. Er wurde zuvor
erschossen.“
Sie gingen weiter in den Flur, in dem sich bereits ein paar
Leute von der Spurensicherung zu schaffen machten. Blitzlichter von
Fotoapparaten leuchteten auf.
„Sag mal, kennst du einen Mann, der eine Narbe hat, die etwa
so verläuft?“ Und dabei fuhr Alain sich mit dem Finger über die
rechte Gesichtshälfte.
Commissaire Dubois runzelte die Stirn.
„Was soll das für einer sein?“, murmelte er dann.
„Ein Killer“, erklärte Alain.
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„Wir sollten uns Heliòrs Wohnung vorknöpfen“, meinte Alain
etwas später an Dubois gewandt.
Der Commissaire nickte.
„Alles zu seiner Zeit. Wenn wir hier fertig sind, Alain.“
Aber Alain Boulanger war damit überhaupt nicht
einverstanden.
„Dann kann es zu spät sein“, meinte er.
Dubois runzelte die Stirn. „Wie kommst auf diese Idee?“
„Heliòr war ein Informant von mir. Er sollte sich mal umhören,
was Trappani so in letzter Zeit treibt. Und kurz bevor er Jeanette
am Telefon etwas sagen konnte, wurde er erschossen.“
„Du meinst, dass er etwas herausgefunden hatte?“
„Warum hätte er sonst mein Büro anrufen sollen?“
„Worum könnte es sich dabei handeln, Alain?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber vielleicht finden
wir etwas in seiner Wohnung, das uns Aufschluss geben könnte. Aber
wenn wir zu langsam sind, dann könnte uns der zuvorkommen, der
Heliòr umgebracht hat …“
„… und vielleicht verhindern wollte, dass er dir eine
Nachricht zukommen lässt.“
Alain nickte. „Ja, das könnte sein.“
„Sieht ganz nach Trappani und seinen Leuten aus, nicht
wahr?“
„Ja, scheint so.“
Dann machte sich Alain endgültig davon. Bevor er in den 500 SL
stieg, rief er noch zu Dubois hinüber: „Falls du mit deiner Meute
doch noch nachkommen willst: Heliòr trägt einen Führerschein bei
sich, da steht seine Adresse drin!“
Dubois zog eine Grimasse.
16
Boulanger parkte den 500 SL am Straßenrand, wobei er wusste,
dass es schon fast einer Provokation gleichkam, einen solchen Wagen
in einer Gegend wie dieser abzustellen.
Aber was sollte er machen? Sich eigens für seinen Abstecher zu
Heliòrs Wohnung einen anderen, weniger auffälligen Wagen
zulegen?
Alain öffnete die Tür und stieg aus. Es war finster hier, die
Straßenlaternen waren zerschlagen. In einiger Entfernung sah Alain
ein altes, ausgebranntes Telefonhäuschen, an dem mal irgendeine der
unzähligen Straßengangs wohl ihren Zorn ausgelassen hatte.
Alain verschloss sorgfältig den 500 SL, obwohl er wusste, dass
das im Ernstfall wenig nützen würde. Dann blickte er sich um.
Diese Straße hatte schon bessere Zeiten gesehen, das ließen
die Fassaden der Häuser erahnen, die jetzt sämtlich herunter
blätterten. Aber das musste schon lange her sein.
Jetzt wohnten hier vor allem jene, die es sich nicht leisten
konnten, anderswo zu wohnen.
Heliòr wohnte in einem dreistöckigen Haus, das seit zwanzig
Jahren nicht mehr gestrichen worden war. Von irgendwoher waren
Stimmen zu hören.
Alain ließ den Blick schweifen, sah aber zunächst nichts. Dann
bogen drei hochgewachsene, kräftig wirkende Kerle um die die
nächste Straßenecke.
Sie trugen dunkle Lederjacken mit martialischen
Totenkopfemblemen, die bei allen dreien identisch waren.
Es war kurz vor dem Haus, in dem Heliòrs Wohnung war, als
Alain mit ihnen zusammentraf. Sie bedachten den Privatdetektiv mit
einem überheblichen Grinsen. Einer der Kerle hatte einen
Schlagring, ein anderer wedelte mit einer Eisenkette herum.
Alain begann sich darauf einzustellen, dass es Ärger geben
würde.
Sie kam in breiter Front nebeneinander auf Alain zu und
blieben dann vor ihm stehen.
„Vielleicht haben Sie sich in der Straße geirrt“, meinte einer
von ihnen. Es war der Mittlere, ein massiger Blondschopf mit einem
gemeinen Zug um die Mundwinkel.
„Macht keinen Ärger!“, warnte Alain.
Die Kerle kamen noch etwas näher heran. Der Blondschopf machte
eine unbestimmte Geste, zeigte einen Moment lang die Zähne und
meinte dann: „Es war ein verdammter Fehler, in diese Straße zu
kommen! Dies ist nämlich unsere Straße!“
„Der sieht aus, als hätte er Geld“, meinte der Rechte.
Der Blondschopf grinste hässlich.
„Er könnte uns ja etwas davon abgeben – und wir vergessen
dafür, dass er hier nichts zu suchen hat.“
„Besser, ihr geht mir aus dem Weg!“, warnte Alain, aber als er
ihre Gesichter studierte, wusste er, dass das in den Wind geredet
war. Auf diesem Ohr waren sie taub.
Alain musterte sie einen nach dem anderen und versuchte sie
abzuschätzen. Sie fühlten sich sehr sicher. Einer gegen drei, das
schien eine klare Angelegenheit zu sein.
Für den Bruchteil eines Augenblicks hing alles noch in der
Schwebe. Noch war nichts geschehen, hatte niemand einen Finger
gerührt. Dann packte der Blondschopf Alain an den Mantelkragen, um
ihm die Brieftasche abzunehmen.
Alain hörte rechts das Rasseln der Kette. Und der Kerl auf der
linken Seite holte nun einen kurzläufigen Revolver aus dem
Hosenbund und richtete ihn auf Alain.
Alain Boulanger reagierte blitzschnell.
Er packte den Blondschopf beim Handgelenk und verpasste ihm
gleichzeitig einen Handkantenschlag, der ihn rückwärts in Richtung
seiner Komplizen taumeln ließ.
In der nächsten Sekunde schon sah er dann das Aufblitzen des
Revolvers, aber er hatte sich rechtzeitig zu Boden geworfen und auf
dem Pflaster abgerollt, so dass der Schuss über ihn hinweg pfiff.
Alain musste erneut herumrollen.
Dicht neben ihm, nur Zentimeter von seinem Körper entfernt,
schlug ein Projektil ein und sprang dann als Querschläger weiter.
Indessen hatte Alain die Automatik herausgerissen und ballerte
zurück. Sein Gegenüber schrie und hielt sich den Arm. Der Revolver
fiel zu Boden.
„Der Kerl hat eine Waffe!“, hörte Alain einen der Kerle rufen,
und da schwang so etwas wie Entsetzen im Tonfall mit.
„Verflucht! Das muss ein Bulle sein! Ein Flic“, rief ein
anderer. Und dann sah Alain sie einen Augenblick später in die
Dunkelheit davonrennen, auch den, den er am Arm erwischt
hatte.
Alain erhob sich und steckte seine Waffe weg. Dann klopfte er
sich Dreck von den Sachen und ging zu dem noch immer auf dem
Pflaster liegenden Revolver, bückte sich und steckte diese Waffe
ebenfalls ein.
So konnte jedenfalls niemand mehr Unfug damit machen. Als
Alain Boulanger sich dann umwandte, sah er dort, wo Heliòrs Wohnung
sein musste, eine Bewegung am Fenster. Einen Moment lang war das
Licht an gewesen, aber jetzt war alles dunkel.
Soweit Alain wusste, war Heliòr unverheiratet und lebte
allein. Der Privatdetektiv ließ noch einmal den Blick über jene
dunklen Fenster schweifen, hinter denen Heliòrs Wohnung liegen
musste. Nichts regte sich.
Aber Alain mochte nicht daran glauben, dass er sich so
getäuscht haben sollte.
Vielleicht war er schon zu spät dran.
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Alain hetzte die Treppe hinauf und befand sich wenig später
vor der Tür von Heliòrs Wohnung. Auf dem Weg dorthin war ihm
niemand begegnet.
Alain wusste nicht, ob es einen zweiten Ausgang gab, aber
sofern sich tatsächlich jemand in Heliòrs Wohnung befand, musste
davon ausgegangen werden, dass er noch dort war. Die Tür war
verschlossen, aber für Alain Boulanger war es kein Problem, sie mit
Hilfe eines kleinen Stücks Draht, das er aus der Manteltasche zog,
zu öffnen.
Knarrend ging die Tür auf, und Alain nahm seine Automatik in
die Rechte.
Drinnen herrschte gähnende Finsternis. Alain wusste, dass er
vorsichtig sein musste. Er lauschte angestrengt, aber es war
nirgends etwas zu hören. Dann suchte er den Lichtschalter und fand
ihn schließlich auch. Alain Boulanger blickte sich um und sah eine
halb offene Tür, die in einen dunklen Nachbarraum führte. Alain
schlich sich an die Tür heran, die Automatik im Anschlag.
Alles schien in Ordnung zu ein.
Mit der Automatik in Schussposition kam er in den Raum und
riss die Tür zu Seite. Aber da lauerte niemand auf ihn. Er ließ die
Waffe sinken, ging zum Fenster und blickte von dort aus hinunter
auf die Straße. Als er sich dann wieder herumdrehte, erstarrte er
mitten in der Bewegung.
Alain Boulanger starrte direkt in die Mündung eines Revolvers
Kaliber 38 Special.
Die Hand, die diese Waffe auf Alain gerichtet hielt, war sehr
zart, die Fingernägel lackiert.
„Waffe weg!“, sagte eine weibliche Stimme, deren Tonfall es an
Entschlossenheit nicht mangeln ließ, und so legte Alain seine
Automatik-Pistole erst einmal auf den nahen Glastisch, der in der
Mitte des Zimmers stand. „Schön langsam und vorsichtig!“
Alain lächelte dünn. „Bleibt mir wohl nichts anderes übrig“,
meinte er.
„Und jetzt die Hände hoch! Schön hochhalten und oben
lassen!“
Alain atmete tief durch und gehorchte.
Die Frau, die da mit der 38er vor ihm stand, mochte Mitte
zwanzig sein, war ziemlich klein und grazil. Mochte der Teufel
wissen, was sie hier suchte, aber es sah ganz danach aus, als würde
Alain zunächst keine Gelegenheit bekommen, ihr seine Fragen zu
stellen.
„Wer sind Sie?“, fragte sie und kam einen Schritt näher.