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Maria (20), Infanta (18) und Katerina (16) leben in den 1930ern auf einem Landgut in der Nähe von Athen und teilen alle Geheimnisse miteinander. Dabei könnten die Schwestern unterschiedlicher nicht sein: Maria ist ständig in einen anderen Jungen verliebt, Infanta widmet sich lieber ihren Stickereien, und Katerina will als Schriftstellerin die Welt bereisen. Jeder Sommer, der vergeht, führt die Lebenswege der drei in unterschiedlichere Richtungen. Besonders Katerina löst sich immer mehr aus dem Familienverbund und blickt hinter die Fassaden der ländlichen Idylle. Dabei gibt ihr vor allem das einsame Leben ihrer geschiedenen Mutter Anna große Rätsel auf. Der Versuch, diese zu lösen und sich dabei nicht von der ersten ohnmächtigen Liebe vereinnahmen zu lassen, stellt Katerina schließlich vor eine brennende wie zeitlose Frage: Muss ich als Frau auf Liebe und Familie verzichten, um selbstbestimmt und freiheitlich zu leben?
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Seitenzahl: 465
Margarita Liberaki
Drei Sommer
Roman
Aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger
Die Originalausgabe erschien erstmals 1946 unter dem Titel ΤΑ ΨΑΘΙΝΑ ΚΑΠΕΛΑ.
© Margarita Liberaki – Kastaniotis Editions S.A., Athens, 1995. Diese Ausgabe erschien durch Vermittlung der Iris Literary Agency.
© der deutschsprachigen Ausgabe: Arche Literatur Verlag AG, Zürich-Hamburg 2021
© 1946 by Margarita Liberaki
Lektorat: Dr. Angelika Künne
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln, unter Verwendung zweier Motive von
© Catherine Abel/Bridgeman Images und © Elena Medvedeva/istock-images
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03790-132-8
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Für meine Schwester
In jenem Sommer kauften wir große Strohhüte, der von Maria hatte eine Kirschenbordüre, der von Infanta blaue Vergissmeinnicht und meiner feuerrote Mohnblumen. Wenn wir auf der Heuwiese lagen, verschmolzen wir mit dem Himmel und den Feldblumen. »Wo habt ihr euch wieder versteckt?«, rief Mutter, und wir gaben keinen Laut von uns. Dann tauschten wir flüsternd unsere Geheimnisse aus. In früheren Sommern hatten Maria und Infanta vor mir, der Jüngsten, vieles geheim gehalten. Dieses Jahr war alles anders. Infanta legte sich ein Stück entfernt hin und sagte nichts, während Maria und ich uns unterhielten. Sie redete und redete, wälzte sich auf dem Heu hin und her, ihre Wangen röteten sich, ein eigenartiger Glanz stieg in ihre Augen. Wenn ich abgelenkt war und in die untergehende Sonne schaute oder ein Insekt beobachtete, das in sein Nest zurückkehrte, wurde Maria böse. »Ach so, meine Geschichten interessieren dich wohl nicht?«, rief sie. »Und dabei gebe ich mir alle Mühe, dir die Augen zu öffnen. Du kannst von mir aus gern weiter daran glauben, dass der Storch die Kinder bringt!«
Ich wollte ihr schon entgegenhalten, dass ich – pff, längst schon! – wusste, dass die Kinder nicht vom Storch gebracht werden, aber ihr Lachen hielt mich davon ab. Es war ein lautes, heftiges Lachen, das über die Wiese bis zum Berg gegenüber schallte, als Echo zurückkehrte und selbst die reifen Körner in den Ähren erbeben ließ. In solchen Augenblicken ärgerte ich mich über Marias Lachen. Darin schien mir eine Frivolität zu liegen, die den Dingen ihr Geheimnis und ihren Reiz nahm. Plötzlich musste ich an das letzte Kirchweihfest der Prophet-Elias-Kirche denken, wo ich bei der Kirmes einen toten Säugling gesehen hatte, der, in Chloroform präpariert, in einem Glas schwamm. Ganz so, wie er vor der Geburt im Mutterleib ausgesehen haben musste.
Mittags hielt ich keine Siesta, das hatte ich mir von klein auf abgewöhnt. Die Verweigerung des Mittagsschlafs hielt ich für eine revolutionäre Tat, die Willenskraft und einen unabhängigen Geist bewies. Stattdessen kletterte ich den Nussbaum hoch und flocht Blumenkränze und Armbänder aus Pferdehaar. Dann legte ich alles an und versuchte, mein Abbild im Wasser der Zisterne zu erkennen. Aber es gelang mir nie, da die Sonne zu hoch stand, die Wasseroberfläche wie flüssiges Gold glitzerte und meine Augen blendete.
Auch für meine Schwestern fertigte ich Schmuckstücke an. Doch kaum trugen sie sie, war ich enttäuscht. Nicht weil sie ihnen besser standen als mir, sondern weil sie sie nicht genug liebten und wertschätzten. Sie schienen damit zu rechnen, dass die Blumen schnell verwelkten – was diese dann auch taten. Ihr Blick schien zu sagen, dass die Armbänder ja nur aus Pferdehaar waren – und das stimmte, noch dazu bestanden sie aus den Schwanzhaaren, mit denen die Pferde Fliegen von ihrer Kruppe scheuchten.
Wurden meine Wimpern schwer vom Sonnenlicht und meine Glieder so müde, als hätte ich süßen Wein getrunken, trat ich in den würzig duftenden Heuschober, wo ich schattige Stille vorfand. Personen und Reisen füllten in Gedanken dort meine Einsamkeit, farbige, im Wind flatternde Bänder, orangefarbene Meere, Gulliver im Land der Houyhnhnms, Odysseus auf den Inseln der Kalypso oder Kirke. Kirke war eine böse Frau, die Männer in Schweine verwandelte. Beeindruckend, dass sie so etwas konnte. Würde ich, später irgendwann, auch stark sein? Um andere Dinge zu tun, meine ich, und nicht, um Männer in Schweine zu verwandeln. Ich kuschelte mich tiefer ins Heu, mein Kopf sank langsam nach unten. Und für ein paar Minuten nickte ich ein, was ich aber nie eingestanden hätte. Es war ein süßer Schlaf, beim Erwachen kehrte ich zurück wie aus einer anderen Welt. Die Wiese strahlte, die reifen Weinbeeren hingen von der Rebe, meine Hand langte nach ihnen, und mein Mund wollte sie kosten. Von allen möglichen Welten, so sagte ich mir, war die Erde gewiss die schönste.
Unser Haus lag eine halbe Stunde von Kifissia entfernt, ein wenig abgeschieden mitten auf einer Wiese und zwischen Gemüsegärten. Bis zum nächsten Haus, wo Doktor Parigoris lebte, brauchte man gute zehn Minuten. »Da büßt du mit vollen Einkaufstaschen alle deine Sünden ab«, meinte unsere alte Haushälterin Rodia. Großpapa hatte es ganz nach seinen Vorstellungen gebaut, mit quadratischen, geräumigen, hohen Zimmern, zwei Veranden, auf denen wir Mais und Früchte trockneten, einer gesonderten Gärtnerwohnung, und ein Stück entfernt lagen der Stall und die Hühnersteigen. Ganz besondere Aufmerksamkeit hatte er dem Garten gewidmet – nicht nur weil er studierter Landwirt war, sondern weil er Bäume liebte. Er pflanzte sie eigenhändig, zog sie auf wie Kinder, erinnerte sich an ihre Krankheiten, an den Frost und die ruppigen Winde, die ihre Wipfel niederdrückten, er wusste von jedem, wann er veredelt wurde und wann er zum ersten Mal Früchte trug. »Die Bäume«, sagte er, »symbolisieren die ganze Schöpfung. Ihre tief in die Erde reichenden Wurzeln zeigen, wie alle Wesen miteinander und auch mit Gott verbunden sind.« Im Frühjahr legte er sich unter einen Apfelbaum, den wir »Opas Apfelbäumchen« nannten, und lauschte dem Summen der Bienen, die in die Blüten schlüpften, um die goldgelben Pollen zu sammeln.
Mir kam es so vor, als würde der arme Großpapa sich mit dem Hof trösten, da er seine Frau verloren hatte, als Mutter und Tante Tereza fünf und sieben Jahre alt waren. Nicht der Tod hatte sie ihm genommen, sondern ein Musiker, der auf einer Konzerttournee nach Athen gekommen war. Beim ersten Konzert verliebte sich Großmama in ihn, sie lernten sich näher kennen, und nach dem zweiten konnte sie nicht länger widerstehen und ging mit ihm fort. Sie waren beide Fremde und passten zueinander. Großmama, die grüne Augen hatte, stammte nicht von hier, sondern aus Polen.
Als mir Rodia zum ersten Mal davon erzählte, war ich sehr verwundert. Es war ein Winterabend, das weiß ich noch, und wir saßen in der Küche und brieten Kartoffeln. Dass eine Großmutter so etwas tat, wollte mir nicht in den Kopf.
»Dummerchen«, erwiderte sie, »damals war sie noch keine Oma, deine Mutter und Tante Tereza waren ganz klein.« Stimmt, damals war sie noch jung … »Wir haben nie erfahren, wo sie hingegangen ist«, fuhr Rodia fort. »Wer weiß, ob sie überhaupt noch am Leben ist. Dein Großpapa wollte von da an nichts mehr von ihr wissen.«
In der Tat nahm niemand, weder Mutter noch Tante Tereza, je ihren Namen in den Mund. Nur wir Kinder dachten manchmal an sie, nachdem wir eine Fotografie von ihr in einem alten Pult entdeckt hatten. Mein Gott, wie schön sie war! Wir nannten sie »polnische Großmama«, um sie von der Mutter unseres Vaters zu unterscheiden, einer ehrwürdigen, weißhaarigen Dame mit einem bitteren Lächeln, die ihren eigenen – wer weiß, welchen – unerfüllten Sehnsüchten nachtrauerte.
»Ich muss gestehen, ich bewundere sie«, meinte ich eines Nachmittags, als wir auf der Heuwiese lagen und von ihr sprachen.
»Ach?«, wunderte sich Infanta.
»Und warum?«, wollte Maria neugierig wissen.
»Na, sie traute sich etwas. Großpapa so einfach zu verlassen …«
»Mutig ist, wer bleibt«, fiel mir Maria ins Wort. Infanta äußerte sich gar nicht dazu.
Maria hatte damals wohl recht, und ich war noch zu jung, um mitzureden. Später dachte ich mir, die polnische Großmama musste sich bei uns ihrer Heimat sehr fern gefühlt haben.
Den Winter über hatte es viel geregnet. Der feuchte Waldboden kam gar nicht zum Trocknen, das gefallene Laub verrottete, wurde zu Humus, aus dem neue Triebe sprossen. Die Abende waren windig, und die Vorhänge im Esszimmer raschelten, ohne dass irgendjemand sie berührt hätte.
»Wer ist da?«, fragte Großpapa.
»Niemand«, antworteten wir.
»Es hat doch geklopft.«
»Nein«, sagten wir mit einem Seufzen. »Du hast dich verhört, Großpapa.«
Wenn wir von der Schule kamen, war unser Haar klatschnass. Auf dem Nachhauseweg zogen wir unsere Kapuzen nicht über den Kopf, sondern streiften sie nach hinten und gingen barhäuptig. Maria schwankte beim Gehen, den Mund halb geöffnet, als wäre sie betrunken. Infanta ging schnurgerade, und wenn ein Tropfen an ihren Wimpern hängen blieb, wischte sie ihn fort wie eine Träne. Es war verwunderlich, warum sie sich gerade an einem Tropfen störte, obwohl ihr ganzes Gesicht nass war. Ich rannte singend nach Hause und breitete die Arme zwischen Himmel und Erde aus. Wenn ich draußen unterwegs war, freute ich mich, wenn es regnete. Aber wenn ich ihn in meinem Zimmer aufs Dach prasseln und über die Fensterscheiben rinnen hörte, überkam mich ein anderes Gefühl. Dann schloss ich mich ein, ließ mich matt aufs Bett fallen und weinte lange. Ob das Gefühl Traurigkeit war, kann ich nicht sagen.
»Katerina ist ein bisschen nervös«, bemerkte Tante Tereza zu Mutter. »Man muss auf sie aufpassen.«
»Aufpassen?«
»Ja, damit sie nicht so wird wie …«
Sie meinten die polnische Großmama. Das merkte ich an ihrem Tonfall und an den Blicken, die sie wechselten. Ich war also nervös, aha! Von diesem Tag an bekam ich jedes Mal einen Schreikrampf, wenn ich gescholten wurde oder mit meinen Schwestern stritt. Am selben Nachmittag noch holte ich ihre Fotografie, hielt sie an mein Gesicht und betrachtete mich dabei im Spiegel. Trotz aller Bemühungen konnte ich kaum Ähnlichkeiten feststellen. Ihre Augen waren grün, meine braun. Bei mir war ein Auge dunkler als das andere, das wirkte zwar eigentümlich, aber durchaus anziehend, und Rodia meinte, so etwas bringe Glück. Ihr Haar war schwarz, meines braun, ihr Teint war hell, meiner bernsteinfarben. Was uns verband, waren die Kontur des Halses, auf die ich besonders stolz war, und das ähnlich geschwungene Kinn. Die klare, stolze Linie von den Schultern den Hals empor bis zum Kinn, die das Gesicht besonders zur Geltung brachte, deutete künftige Schönheit an. Die Kontur meines Halses gefiel mir nicht nur, sondern sie schenkte mir Sicherheit und Selbstvertrauen. Manchmal, wenn ich allein war, schob ich den Ausschnitt meines Kleides nach unten und entblößte meine Schultern. Vor dem Schlafengehen tat ich dasselbe mit meinem Nachthemd und versank im Anblick meines Spiegelbilds, als gäbe es niemanden sonst auf der Welt als uns beide, mich und mein Abbild, an dem ich anscheinend Gefallen fand. Als ich eines Nachts eine Kerze anzündete, weil der Strom ausgefallen war, zuckte ich erschrocken zusammen: An der Wand gegenüber zeichnete sich mein Schatten ab und reichte – übernatürlich und riesenhaft – von meinem Bett bis hinauf zur Zimmerdecke.
Tante Tereza hatte recht behalten, es wurde ein Mohnblumenjahr. Durch die Regenfälle hatten sich die Samen unglaublich vermehrt, und die ganze Wiese war mit Blüten übersät. Über das ganze Gut verstreut lagen außerhalb der bepflanzten Bereiche rote Blütenteppiche. Diese Farbtupfer kündigten baldige Veränderungen an. So geschah es laut Rodia, wenn man von etwas Rotem träumte. Wie schön, dass ich mich für einen Strohhut mit roten Mohnblumen entschieden hatte! So stand ich in harmonischem Einvernehmen mit der Welt. Auch Maria hatte mit den roten, saftigen und süßen Kirschen die richtige Wahl getroffen. Nur Infantas blaue Vergissmeinnicht tanzten aus der Reihe.
In der Erinnerung erscheinen mir all die vergangenen Jahre so kurz wie ein Tag, so kurz wie ein Augenblick. Im Frühling und Sommer deckten wir nachmittags den kleinen Verandatisch mit einem kirschroten Tischtuch. Kurz vor Sonnenuntergang, wenn es kühler wurde, drangen Geräusche aus Tante Terezas Zimmer, als würde sie ein Möbelstück verrücken. Danach hörte man ihren tastenden Schritt, als wäre ihr schwindelig, und man befürchtete, sie könnte jeden Moment stürzen. Mutter trat lautlos aus dem Haus und setzte sich auf ihren gewohnten Platz, den Blick nicht auf den Wald, sondern auf das alte Flugfeld von Tatoi gerichtet. Auch Großpapa ließ die Arbeit ruhen, wusch sich Hände und Gesicht und setzte sich, erfrischt nach den Anstrengungen des Tages, dazu. Ich höre noch das Rauschen aus dem Badezimmer, das sich mit dem Gluckern der Bewässerungsrinne vermischte. Die Luft war lau, Mavroukos starrte auf das fließende Wasser und bellte es an, da er es für etwas Lebendiges hielt. Aus der Ferne drang die Stimme von Mutter Kapatos, die nach ihren Kindern rief: »Kostas, Koula, heee, Manolis!« Dann brachte Rodia ein großes Tablett mit einer Teekanne und Keksen. Alles war vollkommen und von Schwermut erfüllt.
Unterhalb der Veranda war ein Beet ganz für mich allein angelegt, das mir Großpapa zum Bepflanzen überlassen hatte. Dort säte ich allerlei Blumen aus, ohne mich um irgendein Muster, um drei- oder viereckige Rabatten oder geradlinige Reihen zu kümmern. Ich säte einfach zur passenden Zeit aus und versuchte dann zu vergessen, was ich pflanzen wollte, um mich überraschen zu lassen, was dann alles wie von selbst aus dem Boden schoss. Farben und Arten waren bunt gemischt, Gelb, Rot, Violett, Blau und Orange, hohe und niedrige Pflanzen dicht beieinander, die teilweise unter den Blättern versteckt blieben. Ob das nun sehr schön oder sehr hässlich war, konnte ich da noch nicht sagen. Mutter jedenfalls murrte, so etwas lasse auf den Charakter schließen, man müsse nur einen Blick auf mein Beet werfen und könne erkennen, wie unordentlich ich sei. Auch die anderen empfanden es als ein Durcheinander. Nur Großpapa äußerte eines Tages zu mir: »Du liebst die Natur, unterwirfst dich ihr aber nicht. Ich unterwerfe mich ihr, und sie erlaubt mir, ihr zu dienen. Aber wirklich nah komme ich ihr nicht.«
Bei der Laube lag Marias kleiner Gemüsegarten, der in winzige Quadrate für alle Sorten von Saisongemüse unterteilt war. Ihre Erbsen waren wirklich die köstlichsten weit und breit. Abgesehen davon, dass sie nur zwei bis drei Okka pro Jahr erntete, die gerade mal für zwei Mahlzeiten reichten. Maria beharrte darauf, nur ein Gäbelchen davon zu kosten, um den anderen den Hochgenuss nicht vorzuenthalten.
Infanta hatte sich anstelle eines Beetes für zehn wilde Mandelbäume entschieden, die nicht viel Pflege benötigten. Sie brauchte sie nicht oft zu gießen, die Erde nicht umzugraben und ihre Früchte nicht zu ernten, da sie nicht essbar waren. Ihr Anblick stimmte einen im Frühling froh und im Winter traurig. Infantas Hand berührte immer wieder die Zweige – egal, ob sie nackt oder voller Blüten waren – und ruhte lange darauf. Infanta war damals noch ein Kind, aber sie hatte die Hände einer erwachsenen Frau.
Wenn es abends kühler wurde, harkte ich die Erde meines Beetes, Maria grub ihren Gemüsegarten um, Infanta betrachtete ihre Bäume, und die Erwachsenen versammelten sich auf der Veranda um die kirschrote Tischdecke. Kurz darauf erschien Herr Louzis zu seinem regelmäßigen Besuch. Tagtäglich und fast immer zur gleichen Uhrzeit hörten wir das Knarren der Gartenpforte und die Kieselsteine des Gartenpfads, die unter seinen schweren Schritten knirschten, als wollten sie zerbersten. Da hatte er schon die drei Pistazienbäume auf dem schmalen Feldweg passiert und ihre tief hängenden Zweige mit den jähen Bewegungen seiner Hände und seines Spazierstocks so heftig gestreift, dass ich mich genötigt sah zu überprüfen, ob er welche abgeknickt hatte. Aber Herr Louzis hatte keinem einzigen Zweig Schaden zugefügt. Nur ein paar Blätter waren seiner Zerstreutheit zum Opfer gefallen. Er hatte sie versehentlich abgerissen, während er seinen Spazierstock mechanisch von der einen Hand in die andere wechselte.
»Wer könnte das um diese Uhrzeit sein?«, fragte Tante Tereza jedes Mal. »Das kann nur ein Fremder sein, da gehe ich lieber rein. Ich habe keine Lust auf fremden Besuch.« Sie erhob sich, wie von Furien gehetzt, und schaffte es gerade noch, sich im Esszimmer zu verbergen, das auf die Veranda führte. Nur um zwei Minuten später mit den Worten aufzutauchen: »Ah, Sie sind es, Herr Louzis! Ich dachte, es wäre fremder Besuch.«
»Setzen Sie sich doch!«, sagte Mutter, den Blick auf das alte Flugfeld von Tatoi gerichtet. »Rodia, den Kaffee …«
Herr Louzis trank Tee, wie er behauptete, nur im Falle einer schweren Erkältung.
»Mach ihm keinen Kaffee!«, wisperte ich Rodia in der Küche zu. »Wieso braten wir ihm eine Extrawurst? Er soll Tee trinken wie alle anderen auch.«
»Wieso denn?«, fragte Rodia.
»Wieso? Na ja, weil …«
Kurz darauf wurde ihm sein Kaffee in einer großen Teetasse serviert. Herr Louzis schnupperte daran und zündete sich eine Zigarre an. Mal nahm er einen Schluck Kaffee, mal einen Zug von der Zigarre, und das Ganze zog sich eine ganze Stunde lang hin.
Er war zwar dick, aber stets gut gekleidet, im Frühjahr trug er hellgrauen, englischen Flanell, im Sommer weißes Leinen oder indische Seide.
»Was gibt’s Neues?«, meinte Großpapa und rieb sich die Hände.
Herr Louzis kannte nicht nur die Athener Neuigkeiten, sondern er wusste weltweit Bescheid. Behände und zugegebenermaßen charmant sprang er von einem Thema zum nächsten, von der Hochzeit des Herrn Sowieso zur neuesten Erfindung aus Amerika, von der bildenden Kunst – stammte das besagte Gemälde wirklich von El Greco? – zur besten Methode für die Rosenveredelung. Er war weltgewandt und kenntnisreich. Für die Erwachsenen war er eine angenehme und geschätzte Gesellschaft. Und für Großpapa hatten seine Besuche noch größere Bedeutung. Dadurch konnte er alle Informationen von der Hochzeit des Herrn Sowieso und der Rosenveredelungsmethode bis hin zur letzten amerikanischen Erfindung zu einem allgemeinen Eindruck von der weiten Welt zusammenfügen und so dem Gedanken entgegenwirken, dass er abgeschnitten von ihr im Exil lebte. Von dieser quälenden Vorstellung befreit, konnte er genauso weiterleben wie bisher, nämlich tatsächlich weit weg von der Welt und ganz so, wie es ihm am besten gefiel. Herr Louzis schenkte ihm, ohne es selbst zu ahnen, das Gefühl, er dürfe mit Fug und Recht und ohne schlechtes Gewissen ein Leben nach seinem eigenen Gutdünken führen. Dafür war ihm Großpapa mehr als dankbar.
Ich hingegen hatte den Eindruck, dass er allem, dem er mit grobem Lachen und schweren Schritten seinen Stempel aufdrückte, die Bedeutung raubte. Selbst die große Erfindung schrumpfte für mich, durch seine persönliche Optik betrachtet, zu etwas Nichtssagendem. Und wenn Mutter über seine Witze lachte, hätte ich am liebsten das Gesicht in meinem verrückten Blumenbeet verborgen und losgeheult.
Damals hatten wir eine Gouvernante, die uns Französisch beibrachte und uns jeden Samstag badete. Zuerst stieg Maria in die Wanne, danach Infanta und zum Abschluss ich. Der Badetag war für Mademoiselle Sina am schlimmsten. Schon allein die Pflege von Marias langem Haar verursachte ihr Kreuzschmerzen. Auch über mich ärgerte sie sich, da ihr mein Hals immer schmutzig vorkam, als hätte ich ihn die ganze Woche lang nicht gewaschen. Die Wahrheit war, dass ich – obwohl ich nicht wasserscheu war – bei der allmorgendlichen Dusche den kalten Strahl lieber nur auf meinen Rücken prasseln ließ, da ich vor Kälte bibberte, wenn er meinen Hals berührte. Nur wenn ich kopfüber ins Meer sprang oder in der Zisterne untertauchte, störte es mich nicht, wenn auch der Hals nass wurde. Immer wenn ich als Letzte in die Wanne stieg, war die Luft im Badezimmer von Dampf und Seifenduft geschwängert. Der Heizkessel bollerte, die Holzscheite waren zu Glut zerfallen. Die große Hitze ließ mein Herz langsamer schlagen, ich verdrehte die Augen und fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Aber ich tat nichts dagegen, denn es gefiel mir. Es war, als redete ich im Halbschlaf in einer unbekannten Sprache. Die verschwommenen Gedanken, die mir beim Baden kamen, waren mir so fremd, dass ich mich dafür schämte.
Der Samstag unterschied sich durch das Bad von allen anderen Tagen der Woche. Wir nahmen den Tee früher als sonst und ohne Brot und Marmelade, damit wir kein Magendrücken bekamen. Zum Abendessen saßen wir nicht mit am Tisch, sondern bekamen es ans Bett serviert. Wir schlüpften ins frisch gemachte Bett, das Kopfkissen wurde feucht von unserem Haar, unsere Haut glänzte, und unser Geist war klar – die Gedanken, für die ich mich vorhin geschämt hatte, waren wie weggeblasen, als hätten sie niemals in meiner Vorstellung existiert – und Rodia brachte jeder ein Tablett mit Suppe und gekochtem Schafskopf. Stück für Stück nahmen wir ihn auseinander, saugten die Knochen aus und nutzten die Gelegenheit, uns wie wilde Kannibalen zu benehmen. Ich aß die Augen auf – weder Infanta noch Maria hatten Appetit darauf, ihnen taten die Schafe leid –, und Maria aß die Zungen.
An den Samstagen kam Mutter, im Gegensatz zu den anderen Tagen, zum Gute-Nacht-Sagen zu uns. Sie beugte sich über jedes Bett, umfasste unsere Gesichter mit ihren samtweichen Händen, blickte uns in die Augen und küsste uns auf beide Wangen. Ihre Haut war zart und weiß wie die Blumen in Herrn Louzis’ Treibhaus, ihre Augen glänzten schwarz wie ihr Haar. Mutter war schön, sehr schön. Ich bat sie um noch einen Kuss. Dann beugte sie sich entweder noch einmal zu mir herunter und nahm meinen Kopf in ihre Hände, oder sie tat, als hätte sie nichts gehört, und ging hinaus.
»Mama, hast du mich lieb?«
»Still jetzt, Katerina, schlaf ein.«
»Sesina, hast du mich lieb?«
»Bist du immer noch wach? Morgen gehst du eine halbe Stunde früher ins Bett.«
»Infanta, Maria, habt ihr mich lieb?«
»Was ist denn heute Abend mit dir los?«
Alle lachten.
Mademoiselle Sina, die wir auch Sesina riefen, las uns gern die Geschichten von Bécassine vor. Mir jedoch war Hector Malots Roman Das Findelkind lieber. Damals war ich der festen Überzeugung, dass Komik das Leben herabwürdigt und Tragik es verschönert. Bei der Lektüre von Das Findelkind liefen mir die Tränen über die Wangen, aber ich genoss sie zugleich. Je größer die Prüfungen und Schwierigkeiten wurden, die Remi zu überwinden hatte, desto besser fühlte ich mich dem Leben gewachsen.
Meine Zuneigung zu Mademoiselle Sina kam erst zum Vorschein, nachdem sie gegangen war. Als sie noch bei uns war, fühlte ich mich von ihr bevormundet und gemaßregelt. Dieser Eindruck war – im Nachhinein betrachtet – falsch, aber genau deshalb umso stärker.
Sie kam aus der Schweiz, hatte rosige, von feinen Äderchen durchzogene Wangen und sprach so oft von Wilhelm Tell, dass ich heute noch unter dem Eindruck stehe, er sei der größte Held aller Zeiten. Darüber hinaus erzählte sie von der dicken Schweizer Milch, von den verschneiten Berggipfeln und von den Tartelettes aus der Bäckerei ihres Vaters. Ich stellte mir vor, wie ich mit dem Schlitten vom höchsten Gipfel heruntersauste und vor der Bäckerei ihres Vaters abbremste. Dann ließ ich den Schlitten einfach auf der Straße stehen – dort konnte man alles auf der Straße lassen, sogar Geld, keiner stahl es – und nahm mir ein Tartelette mit Aprikosen und eines mit Erdbeeren. Bei dieser Vorstellung lief mir das Wasser im Mund zusammen, und der Duft der heißen Süßigkeit stieg mir verführerisch in die Nase. »Dort gibt’s jede Menge Walderdbeeren«, erzählte Mademoiselle Sina. »Schon auf einem kurzen Spaziergang sammelst du einen ganzen Korb voll. Ich darf sie aber nicht essen. Schon von einer einzigen bekomme ich Schüttelfrost und Fieber.«
Das stimmte wirklich. Irgendwann überredete ich sie, zwei von unseren Erdbeeren zu probieren, ob sie auch davon Schüttelfrost bekäme. Es dauerte keine halbe Stunde, und sie war einer Ohnmacht nahe.
Immer wieder trieben wir die Arme zur Weißglut und kicherten, wenn ihr das Blut in den Kopf schoss und sich die roten Äderchen violett verfärbten. Dabei durften wir nicht vergessen, dass sie uns mit ihrem gutmütigen Charakter die Angst wieder nahm, die uns Miss Gost, die frühere Gouvernante, eingejagt hatte. Miss Gost spielte mitten in der Nacht Geige und verhängte die Spiegel mit weißen Tüchern. Sie machte lange Waldspaziergänge mit uns, wir mussten uns im Kreis hinsetzen, und sie erzählte, unsere Seele habe vor unserer Geburt in einem anderen Menschen oder Tier gewohnt und nach unserem Tod würde sie weiterwandern.
Den Gedanken, meine Seele könnte einfach davonfliegen wie ein Vogel, fand ich völlig verrückt. Und was war, wenn ich im nächsten Leben ein Pferd wurde und mich die Kutscher auf der Straße mit der Peitsche schlugen?
»Das Geigenspiel übe ich für mein nächstes Leben«, fügte sie mit fiebrigem Blick hinzu.
»Aber wie wollen Sie Geige spielen, wenn Sie als Ferkel oder Katze wiedergeboren werden, Miss Gost?«, fragte ich eines Tages mit einem lauten Auflachen, zerknüllte aber gleichzeitig vor lauter Nervosität das Taschentuch in meinen verschwitzten Händen.
»Unsinn«, zischte sie, leichenblass.
Miss Gost war immer aschfahl bis leichenblass und strich ihr schwarz glänzendes Haar streng hinters Ohr. Nur ihre Kleider leuchteten in allen Farben.
Damals durchlebte ich schreckliche Nächte. Ich konnte nicht einschlafen, und wenn es mir endlich gelang, hatte ich Albträume. Immer wieder sah ich eine Sandwelle auf mich zukommen, die über mir zusammenschlug und mich blind machte. Vergeblich versuchte ich, die Lider zu öffnen. Mein Geschrei weckte das ganze Haus auf. Selbst heute kann ich nicht sagen, ob diese blind machende Sandwelle ein nächtlicher Albtraum war oder ob meine durch den Schlafmangel überspannte Fantasie mit mir durchging.
Also waren wir Sesina zu Dank verpflichtet, die uns im Wald nichts über die Seele erzählte, sondern uns herumtollen ließ, die unseren Schlaf mit harmlosen, heute vergessenen Märchenerzählungen aus der Schweiz besänftigte. Dass ihre Wangen rosig und nicht aschfahl waren, sprach für sie. Ihr Haar war hellbraun und zeigte zunächst nur ein paar graue Strähnen am Haaransatz, die sie sorgfältig zupfte, bis sie immer dichter wurden und einen schimmernden Kranz um ihren Kopf bildeten. Darüber war sie kreuzunglücklich, obwohl ich ihr versicherte, wie gut er ihr stand.
Der Sonntag war unser Tag mit Vater, und er war stets mit innigen und schwermütigen Gefühlen verbunden. Durch die Zeit, die wir mit ihm verbrachten, wurde uns erst bewusst, wie kurz sie bemessen war. Genau deshalb wollten wir zusammen Spaß haben und heckten etwas Verrücktes aus, dem wir uns voll und ganz hingaben. So machten wir einen Ausflug mit seinem Wagen, den wir nach einem Helden aus dem griechischen Unabhängigkeitskampf von 1821 »Karaiskakis« nannten, zu einem entlegenen Strand. Oder wir gingen in ein Theaterstück, das nicht für unser Alter geeignet war, oder in einen Kinofilm, in dem Pferde in gestrecktem Galopp über endlose Prärien rasten oder faszinierende Heldinnen die Hauptrolle spielten. In einem dieser Filme tötete Greta Garbo einen Offizier, der nichtsahnend in seinem Sessel saß, und rief dann, als jemand an der Tür klopfte, mit der natürlichsten Stimme der Welt »Herein!« und tat – auf der Armlehne neben dem Toten sitzend – so, als würde sie ihn umarmen und mit ihm sprechen.
Gleich am Montagmorgen berichteten wir das Gesehene und Gehörte Marios, dem Nachbarssohn. Kaum war die Sonne aufgegangen, kam er angeblich zum Spielen, aber in Wirklichkeit wollte er hören, was wir erlebt hatten. Anfangs stellten wir uns dumm und diskutierten lang und breit, welches Spiel wir spielen wollten. Dann sagte er mit Blick zum Himmel:
»Was ist heute für ein Tag?«
»Montag, warum?«
»Da muss ich mein Curriculum vorbereiten.«
»Aha!«
Viel länger hielten wir nicht durch. Maria knickte als Erste ein.
»Das hättest du sehen sollen, Marios …«
Wir setzten uns auf den Boden, und die Minuten wurden zu Stunden, zu Tagen, zu einem ganzen Leben.
In den letzten Tagen sind die Frösche ganz aus dem Häuschen. Diejenigen, die an der Leoforos Anixeos, gegenüber von Doktor Parigoris’ Haus, im Schilf leben, machen den Anfang. Dort strömt der Bach von Kefalari herunter, um die Felder zu bewässern, und das Gurgeln, der Duft und die oszillierende Farbe des Wassers machen sie ganz trunken. Die anderen Frösche erwidern das Quaken, dann sind wieder unsere am Zug, zunächst zögerlich und vereinzelt, mit der Zeit immer durchdringender, bis ihre Stimmen den ganzen Gemüsegarten erfüllen mit ihrem nächtlichen Lied. Ruhig und monoton ertönt ihr Ruf, dann wieder schrill und exaltiert. Das heisere Quaken eines alten Frosches verleiht dem Ganzen zum Glück auch eine komische Note.
Zu dieser Stunde zählen meine Schwestern und ich die Sterne, während sich der Mondschein auf unser Haar legt. Marias Blick wird plötzlich unruhig.
»Woran denkst du?«, frage ich.
Wir sind im Freien, liegen auf dem Rücken und haben die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
»An einen Stierkampf.«
Ich muss laut auflachen.
»Ja!«, flüstert sie mir ins Ohr. »Stell dir nur mal vor … Das rote Tuch, die vor Wut schäumenden Stiere, die Toreros, die ihnen den Degen zwischen die Schulterblätter rammen oder sehen müssen, wie ihnen selbst die Eingeweide aus dem Bauch quellen. Und die Frauen, die sich Luft zufächeln und, erregt vom Anblick des Kampfes, nur darauf warten, sich dem Sieger hinzugeben.«
Was redet Maria da für wirres Zeug. Ich werfe ihr einen Blick zu. Nun, sie ist schon zwanzig, aber trotzdem …
»Was für ein Unfug!«, meint Infanta und erhebt sich, um Tante Tereza Gesellschaft zu leisten. Die beiden sind unzertrennlich, widmen sich komplizierten Stickmustern und studieren dicke Bücher.
»Hör nicht auf sie«, fährt Maria fort. »Sie versteht nichts vom Leben, und das wird sich auch nicht ändern. Sie wird unantastbar bleiben wie ein Stück Marmor.«
Die Jungfrösche erwachen zum Leben, der Alte hält sich noch zurück.
»Es ist aus mit Nikos, weißt du. Stefanos und Eleni gehören jetzt zu unserer Gruppe. Eleni fand Nikos interessanter und ich Stefanos. Also haben wir getauscht, sozusagen.«
Als ich nichts erwidere, meint sie: »Was? Spielst du jetzt auch den Moralapostel wie Infanta?«
»Darum geht’s nicht, Maria …«
Es fühlt sich an, als würden die Bäume umstürzen und mich unter sich begraben, meine Beine sind bleischwer, der Mond wirkt wie eine billige Fälschung. Stefanos, Maria, Eleni, Nikos … Wenn das so ist … Ich stelle mir etwas ganz anderes darunter vor …
»Warum schenkst du Marios nicht mehr Beachtung?«, frage ich sie. »Er mag dich. Wenn er herkommt, hat er nur Augen für dich, und wenn ich ihn auf der Straße treffe, fragt er jedes Mal nach dir.«
»Pff, er ist albern und spindeldürr. Was für ein Langweiler!« Sie wälzt sich im Gras hin und her: »Er ist ganz verrückt nach mir, ich weiß.«
Stille.
»Unter uns gesagt, Katerina, Nikos und Stefanos sind auch albern, aber ein netter Zeitvertreib.«
Ich bin anders als Maria. Ich würde nie zulassen, dass mich ein Junge nur so zum Zeitvertreib anfasst. Vielleicht finde ich irgendwann einen, der mit mir die blühenden Margeriten auf der Wiese betrachtet oder mir im Herbst auf noch feuchten Blättern die ersten Früchte des Erdbeerbaums bringt. Vielleicht breche ich auch ganz allein zu einer Weltreise auf.
»Ich verstehe gar nicht, was Infanta und Tante Tereza die ganze Zeit miteinander zu flüstern haben«, sagt Maria unvermutet. »Wieso rennt sie zu ihr nach oben, wenn man hier so bequem im Gras sitzen kann? Was habe ich schon gesagt? Ich hab doch nur die Stierkämpfe erwähnt. Infanta! Infanta!«, ruft sie mit Blick auf das Haus und Tante Terezas Zimmer. »Komm doch wieder runter, Infanta!«
Tante Terezas Zimmer liegt etwas abseits im oberen Stockwerk. Sie nennt es »Atelier« und möchte, dass auch wir es so nennen. Es stehen nur ein paar Möbel darin, eine Staffelei, auf dem kleinen Tisch ihre Palette und in der rechten Ecke teils fertige, teils unvollendete Bilder.
Am interessantesten – ja, sogar interessanter als ihre Bilder – finde ich ihre Palette mit den blau, orange, gelb, rot und grün schimmernden Farbtupfern. Als ich noch klein war, ist mir damit ein kleines Malheur passiert. Verführt vom Zauber der Farben, dachte ich, wenn ich sie vermischte, würde etwas Außergewöhnliches, noch nie Dagewesenes entstehen. Ich drückte den Inhalt aller Tuben auf die Palette, fasste mit beiden Händen hinein und rührte um. Überrascht hielt ich inne: Vor mir lag eine bräunliche Masse, die ganz anders aussah als erwartet. Zu allem Überfluss wurde ich auch noch ausgeschimpft. Heute weiß ich, dass nicht alle Farben zueinander passen. Tante Tereza hat es mir beigebracht: »Um Violett zu bekommen, musst du Rot und Blau mischen, und Blau und Gelb, wenn du Grün haben willst.«
Tante Terezas Werke gleichen Abziehbildern der Wirklichkeit. Sie malt, was sie vor sich sieht, und zwar ganz getreu. Ihr entgeht kein Blättchen, kein Grashalm und keine einzige ferne Wolke. Nur dass sie die ferne Wolke ganz nah malt, und das verdirbt alles. Das Porträt allerdings, das sie von Infanta gemalt hat, gefällt mir gut. Infanta sei so schön wie die Venus von Botticelli, meint Tante Tereza, eine keusche Venus. Von uns dreien ist sie zweifellos die Hübscheste. Nur dass Marias Körper üppiger, aber trotzdem biegsam ist und meine Augen heller leuchten.
Tante Tereza malt Landschaften, Porträts und Stillleben. Eines ihrer Lieblingssujets sind Bäume, die sie sowohl auf unserem Gut als auch im Wald findet. Obwohl sie ihre Form und Farbe haargenau abbildet, stehen sie auf der Leinwand zusammenhanglos nebeneinander, jeder einzelne ganz für sich, wie in seiner eigenen Landschaft, selbst wenn das Ensemble geschickt komponiert ist. Auf ihren Stillleben malt sie am liebsten Obst, vor allem Aprikosen und aufgeschnittene Honigmelonen. »Die sehen so echt aus, zum Anbeißen!«, sagt sie mit einem kleinen Auflachen. Mir gefallen sie nicht. Ich mag keine Stillleben und schon gar keine mit Obst. An Früchten erfreut man sich, indem man sie berührt, beschnuppert und kostet.
Infanta verbringt Stunden in Tante Terezas Atelier. Ihr gefielen, so meinte sie, der Ausblick von dort oben und die Stille, im Gegensatz zur Stimmung im Erdgeschoss mit Mutters Krittelei, Opas Murren, meinem Geschrei und Marias Gelächter. Aber diese Stille ist unnatürlich und manchmal sogar furchterregend, bringt einem Albträume in Erinnerung, in denen man Schmerzen leidet, verfolgt wird, die Erde sich öffnet, um einen zu verschlingen, man etwas sagen will, aber keinen Ton herausbringt und einem der Schrei »Hilfe! Hilfe!« im Hals stecken bleibt.
Trotzdem ist Tante Tereza ein liebenswerter Mensch, aber auch ein Angsthase. Sie zuckt beim leisesten Geräusch zusammen, und ihre Unterlippe beginnt zu zittern, sobald nur der Wind ein bisschen stärker pfeift.
»Es kommt jemand«, wispert sie.
Für sie verkörpert dieser Jemand das Böse.
»Stimmt, ich habe auch etwas gehört«, erwidere ich – zum einen, um sie in ihrer Angst zu bestärken, zum anderen, weil für mich dieser Jemand das große Unbekannte ist, das mich erwartet.
»Den Schrecken von damals hat sie nie überwunden«, meinte Rodia eines Abends und erzählte mir die ganze Geschichte.
Dabei rösteten wir Kartoffeln vor dem Kamin. Nur so kann ich Rodia für mich allein haben und sie zum Reden bringen. Denn ich will einfach alles wissen. Ich bin nicht so teilnahmslos wie Infanta.
»Deine Tante Tereza war noch ganz jung, als das Unglück passierte«, begann Rodia. »Sie war im selben Alter wie Infanta jetzt, und sie war ihr auch recht ähnlich. Deine Mutter, dein Vater, Tante Tereza und ihr Verlobter, ein groß gewachsener junger Mann mit glänzendem Haar und fleischigen Lippen, haben zusammen einen Ausflug unternommen.«
»Und wo war ich?«
»Du warst damals noch nicht auf der Welt. Frau Anna war mit Maria im dritten oder vierten Monat schwanger. Nachdem sie ein Picknick gemacht hatten, ruhten sich deine Eltern unter den Kiefern aus, und Tante Tereza ging mit ihrem Verlobten spazieren. Unterwegs machten sie in einer Höhle Rast. Dort muss es den jungen Mann überkommen haben und … wie soll ich es ausdrücken …«
»Sag schon, Rodia.«
»Nun, er machte deine Tante Tereza gegen ihren Willen zur Frau. Er hat ihr Zwang angetan.«
»Oh …«
Ich sehe sie in jenem Augenblick vor mir. Draußen sirrt die Hitze, die Bäume stehen reglos, das Harz trieft von den Stämmen, die Steine glühen, die Insekten sind verstummt. In der kühlen Höhle, muffig und feucht, hängen die Tropfen von den Felsen. Wie lang kann sich ein Tropfen in der Schwebe halten, ohne zu fallen? Und Tante Tereza ist außerstande, sich hinzugeben. Ein Schauder lief mir über den Rücken.
»Aber, Rodia, wenn eine Frau einen Mann liebt, gibt sie sich ihm dann nicht hin?«
»Nicht, bevor sie verheiratet ist, mein Kind! Das ist Sünde. Dazu noch die Art und Weise, wie es passiert ist. Tante Tereza wollte es nicht. Warum hat er keine Rücksicht genommen? Danach war sie wie von Sinnen, eine ganze Weile lang. Kein Wort wollte sie mehr von ihm hören. Seit damals erträgt sie keinen Mann mehr in ihrer Nähe.«
Jetzt verstehe ich, warum Tante Terezas Stimme zittert, wenn sie sagt: »Da kommt jemand.« Warum die Bäume, die sie auf die Leinwand zeichnet, zusammenhanglos nebeneinanderstehen, als gehörten sie nicht zur selben Landschaft, und auch, warum sie Früchte weder fühlen noch riechen oder schmecken kann.
Trotzdem malt sie viel in der letzten Zeit. Sie steht am Fenster, ihr Blick schweift über das Gut bis hin zum Wald, wo niedrige, bis zur Erde niedergebückte Kiefern stehen, die aus gelichteten Kronen dürre Zweige in den Himmel strecken, umkränzt von fahlem Mittagsdunst.
»Das wird ein Panorama«, sagt sie.
Sie kneift ein Auge zusammen und tritt einen Schritt von der Palette zurück, um es zu betrachten.
»Ein Panorama«, wiederholt Infanta.
Infanta macht beim Sticken niemals einen Buckel, sondern hält Rücken und Becken immer ganz gerade. Schleicht sich der heiße Mittagsdunst heran, verscheucht sie ihn mit der Hand: »Und wie findest du das?«
Sie breitet die Stickerei auf ihren Knien aus. Darauf ist eine Unzahl von Pfauen zu sehen, die ihr Rad schlagen. Nur ihre Beine bleiben im Verborgenen. Pfauen haben nämlich hässliche Beine und schämen sich dafür. Ein Jahr schon arbeitet Infanta an dieser Stickerei und wird noch zwei weitere dafür brauchen. Sie ist für Tante Terezas großen Ohrensessel gedacht, der am Fenster steht.
»Wenn ich versuche, die Stiche zu zählen, wird mir ganz schwindelig.«
Wenn man bedenkt, wie viele Federn jeder Pfauenschwanz hat und wie viele Farben jede Pfauenfeder … Das Sticken bietet ihr Schutz. Wenn Infanta stickt, spürt sie keine Gefahr, keine Unruhe, nichts kann ihr etwas anhaben.
»Das wird ein Meisterwerk«, sagt Tante Tereza laut. »Es ist nahezu vollkommen, Infanta.«
Vollkommenheit ist beider Ziel, sie sprechen oft davon, egal, ob Malen oder Sticken gemeint ist. Wenn du eine schöne Stickerei anfertigst, wirst du innerlich schön. Und je schöner sie ist, desto schöner wirst auch du.
»Um das zu erreichen, musst du allein bleiben, Infanta.«
»Allein?«, fragte sie damals noch.
Jetzt, da sie Bescheid weiß, fragt sie nicht mehr. Sie richtet sich auf, stolz und unbeugsam sitzt sie an ihrer Pfauenstickerei, und ihr Blick wird jeden Tag entrückter.
Früher dachte ich, sie hätte eine Schwäche für Marios, da sie rot wurde, wenn sie sein Pfeifen hörte und sah, wie er zu uns herüberkam. Auch neckte sie ihn nicht, wie ich und Maria es taten, sondern wisperte nur Guten Abend und zog sich nach oben ins Atelier zurück.
Eines Tages ertappte ich sie, als sie ihm durch die halb geschlossenen Fensterläden hinterherblickte, bis er in der Biegung der Leoforos Anixeos verschwand. Da brach es aus mir heraus:
»Infanta, wieso kommst du nicht herunter, wenn du Marios sehen möchtest? Suchst du ihn vielleicht in irgendeinem fernen Idealbild, das dir noch dazu den Rücken zukehrt?«
»Dumme Kuh«, antwortete sie. »Ich habe nur auf die Wiese geschaut, hörst du? Nur auf die Wiese!«
Wir sprachen nie wieder darüber. Auch auf Nachfragen hätte mir Infanta bestimmt nicht mehr erzählt. Vielleicht habe ich mich auch geirrt und sie hatte ihn gar nicht im Sinn, sondern betrachtete wirklich nur die Wiese.
Marios dagegen, das ist offensichtlich, hat nur Augen für Maria. Das war mir schon vor Jahren aufgefallen. Einmal hatten wir »Burgfräulein« gespielt und waren auf den höchsten Feigenbaum geklettert. Uns war nicht bewusst, dass wir Tag für Tag, Stunde für Stunde älter und erwachsener wurden und es wohl das letzte Mal war, dass wir so zusammen spielten. Dabei bemerkte ich, wie Marios’ Hand im Spiel zufällig Marias Bein streifte und wie er uns von unten anblickte – wir saßen ja oben als »Burgfräulein«, und er stand unten als Prinz und Eroberer – und ihm langsam das Blut aus dem Gesicht wich.
»Marios!«, rief ich. »Was hast du?«
»Zu viel Sonne erwischt«, stammelte er. Und kurz darauf fügte er hinzu: »Dieses Spiel reicht mir jetzt.«
Er wollte auch nicht mehr mit Maria rangeln, da sie sich mit dem ganzen Körper auf ihn warf und kratzte und biss, wenn sie auf anderem Wege nicht gewinnen konnte.
So fanden die Kinderspiele ein Ende, und fortan widmeten wir uns dem Studium und ernsten Themen. Marios kommt jetzt nur noch ab und zu nachmittags vorbei, ganz formell und gut gekleidet. Er mag es nicht mehr, dass wir ihm wie früher durchs Haar fahren. Seit er studiert, nimmt er sich selbst sehr wichtig. Er liest dicke Schwarten, und wenn wir ihm einen Spaziergang oder einen Ausflug vorschlagen, meint er, es tue ihm leid, aber er müsse lernen oder nach Athen ins Labor. Marios wird Arzt, genauer gesagt, Chirurg.
»Der Arztberuf liegt der Parigoris-Familie im Blut«, sagt Frau Parigori. Dann lässt sie durchblicken, was für ein Glück wir mit solchen Nachbarn hätten. »Man weiß ja nie, wir sind alle nur Menschen. Es kann einem so schnell etwas zustoßen.«
Gott sei Dank stößt uns nichts zu, wir sind alle kerngesund. Selbst Großpapa, obwohl schon fünfundsiebzig, geht nie zum Arzt. Er hat ein großes medizinisches Wörterbuch, das er konsultiert, wenn er sich unwohl fühlt. Dann stellt er die Diagnose und behandelt sich selbst. Rodia hingegen hat bei feuchtem Wetter Schmerzen in den Beinen. Aber dagegen ist auch der Arzt machtlos. Genauso machtlos wie dann, wenn bei Tasia, der Frau des Gärtners, die Geburtswehen einsetzen. Bei all ihren drei Kindern hat sie sich die Seele aus dem Leib geschrien. Obwohl ihr Häuschen ganz am Rand des Guts liegt, drangen ihre Schmerzensschreie bis in Großpapas Zimmer, auch wenn er Türen und Fenster verrammelte und sich Watte in die Ohren stopfte.
Tasia tat mir von Herzen leid. Jedes Mal, wenn ihr Bauch dicker wurde, fühlte ich mich so angespannt, als trüge ich selbst eine große Last mit mir herum. Maria fand ihren Zustand auch interessant. Wenn die Wehen einsetzten, versteckte sie sich in der Nähe des Hauses im Gebüsch und wartete. Kurz darauf trafen der Arzt und Mutter Kapatos ein. Sie verstand ihr Handwerk, obwohl sie keine ausgebildete Hebamme war. Tasia bestand darauf, dass sie bei der Entbindung dabei war. Ansonsten waren die beiden Todfeindinnen und erzählten nur Schlechtes übereinander. Vor lauter Neid und Eifersucht stritten sie sich beim geringsten Anlass. Sobald Tasia aber im achten Monat war, änderte sich die Lage. Dann schickte sie Mutter Kapatos selbst gemachte Süßigkeiten aus Mastix und Milch für die Kinder. Knapp vor der Geburt folgte der offizielle Antrittsbesuch.
»Das war doch nicht nötig«, meinte Mutter Kapatos.
»Ach, wir sind doch Nachbarn. Da kann ich doch mal vorbeischauen …«
Stimmt, es waren nur ein paar Schritte zum Waldrand, wo das ärmliche, halb zerfallene Haus der Familie Kapatos stand, das aus einer einzigen Kammer mit Küche bestand. Was konnte eine Frau mit fünf Kindern dagegen schon tun? Der Ehemann verbrachte, bis auf wenige Unterbrechungen, den Großteil seines Lebens im Gefängnis. Kaum hatte er die eine Strafe abgesessen, setzte er alles daran, seinen Aufenthalt zu verlängern. Die Familie hatte sich daran gewöhnt. »Wo ist euer Vater?« – »Eingesperrt«, antworteten die Kinder gerade so, als sagten sie: »Verreist.« Koula, damals die Jüngste, gestand mir, es gehe ihnen besser, wenn er weg sei. »Er wird schnell rabiat, und dann rutscht ihm die Hand aus.«
Maria lag also in ihrem Versteck auf der Lauer. Beim letzten Kind konnte sie sogar einen Blick nach drinnen werfen. Sie hatte sich zum Fenster an der Längsseite geschlichen, während ich weiter unten auf einen Lagebericht aus erster Hand wartete. Als sie zurückkam, war sie knallrot im Gesicht und ganz aus dem Häuschen. Ihr Mund versuchte zu lachen, aber in ihren Augen standen Tränen. Ich begriff kein Wort von dem, was sie erzählte.
Jetzt ist Nontas, Tasias nunmehr Jüngster, zwei Jahre alt. Auch wir sind zwei Jahre älter und sehen die Dinge mit anderen Augen. Was Infanta denkt, wissen wir jedoch nicht, denn sie spricht nicht über solche Dinge.
Was aus Infanta wohl einmal wird?
»Sie ist die Bescheidenste und Schönste«, sagt Mutter. »Sie wird den besten Mann bekommen.«
Und Tante Tereza lächelt geheimnisvoll dazu.
Es ist ein heißer Tag, kein Blatt rührt sich, und der Geist ist, genau wie Leib und Seele, träge. Wir versuchen den Dingen, die uns umgeben, Sinn zu verleihen. Ich gehe zu den Kühen, die mich anblicken, als sähen sie mich zum ersten Mal. Dann zu den Hühnern, die sich vergeblich um mich scharen, weil sie Brotbröckchen von mir erwarten. Dann zu Romeo, Infantas Lieblingshengst, der mir die Kruppe zuwendet. Auch Mavroukos’ sonst so kühler Grabstein glüht. Mein alter Liebling würde heute schwitzen. Der Sommer war ihm immer zu heiß, seine Zunge hing ellenlang heraus, er hechelte, und sein Bulldoggengesicht nahm einen tragischen Ausdruck an. Dann stellte er sich an den Zisternenrand und wartete, bis ich ihm einen Schubs gab. Allein traute er sich nicht.
Durch die halb offene Tür zum Esszimmer sehe ich, wie Mutter den Tisch deckt. Diese Aufgabe erledigt sie immer selbst und mit größter Sorgfalt. Sie legt das Besteck so sanft hin, als wäre es aus Glas, sie hält die Abstände millimetergenau ein, in die Mitte kommt der Salzstreuer – Pfeffer ist, da schädlich für die Gesundheit, von Großpapa verboten –, und dann legt sie das geschnittene Brot ins Körbchen. Beim Tischdecken wirkt sie konzentriert, als studierte sie aufmerksam jede ihrer Bewegungen. Ihr ganzer Körper wird sichtbar mit dem schwarz glänzenden, im Nacken zu einem schweren Knoten zusammengebundenen Haar.
»Mutter …«
Ihre Taille ist nicht mehr so schlank wie früher, auch ihre Hüften sind runder geworden. Obwohl ihre Wangen etwas blass sind, wirkt sie immer noch jung und schön.
»Hast du mich erschreckt!«, ruft sie aus. »Wann bist du hereingekommen? Ich hab dich gar nicht bemerkt.«
Und als sie meine nackten Füße sieht: »Wieder barfuß? Wo hast du deine Sandalen?«
Ich erkläre ihr, dass ich im Garten gegossen habe und dann bei den Kühen, den Hühnern und Romeo war. Mavroukos’ Grab erwähne ich nicht.
»Heute weiß ich gar nichts mit mir anzufangen, Mutter. Ich fühle mich so …« Meine Stimme zittert.
»Bist du krank?«
Ich lege mich bäuchlings auf die Chaiselongue. Sie kommt und legt mir die Hand auf die Stirn. Ich wünschte, sie würde mich in den Arm nehmen, mich an die Brust legen und stillen wie ein Baby. Sie sieht doch, dass ich nicht krank bin. Warum fragt sie? Wenn sie wirklich wissen wollte, was los ist, würde ich es ihr erzählen. Die Frage liegt ihr schon auf der Zunge, ihre Stimme wird wärmer und liebevoller, aber dann stockt sie. Zwischen uns stand schon immer ein angstvolles Zögern. Wir können einander unsere Geheimnisse nicht enthüllen, selbst wenn wir gar keine haben.
»Wahrscheinlich warst du zu lang in der Sonne«, sagt sie schließlich.
Wie schade, Mutter, ich hätte dir so gern vom Land der Houyhnhnms, von Mavroukos’ Grab und auch davon erzählt, was ich vom Nussbaum aus alles sehen kann.
»Rodia!«, ruft sie. »Eine Limonade für Katerina!«
Sie wirft einen letzten Blick auf den Esstisch und korrigiert die Position eines Messers, das weiter entfernt vom Teller liegt als die übrigen. Ein tiefer Seufzer dringt aus ihrer Brust. Da hat man Kinder und weiß nicht, was für Geheimnisse sie vor einem verbergen.
»Was hast du, Mutter?«
»Nichts.«
»Aber du hast doch geseufzt.«
»Nein, nur Luft geholt.«
Und kurz darauf: »Mir ist schleierhaft, warum du so überspannt bist. Ich frage mich, woher du das hast. Dein Vater und ich sind doch …«
»Und was ist mit der polnischen Großmama?«
Sie fährt herum, mit zornigem und keineswegs mütterlichem Blick.
»Du wagst es!«
Das Blut ist ihr in den Kopf geschossen.
»Ja und abermals ja!«, rufe ich. »Ihr alle hier hasst sie. Ich bin die Einzige, die sie mag. Weil sie schön war, weil sie anders Musik gespielt hat als du, weil sie querfeldein galoppiert ist.«
Ich zapple auf der Chaiselongue wie ein junges, unbändiges Fohlen. Meine Unterlippe zittert vor lauter Nervosität. Mutter wird kreidebleich. Vielleicht denkt sie jetzt, sie hätte sich umsonst aufgeopfert, sie hätte wieder heiraten, sie hätte ihr Leben selbst in die Hand nehmen sollen. Und diejenigen, um derentwillen sie geblieben ist, bewundern die andere, die sich aus dem Staub gemacht hat.
Sie tut mir leid. Am liebsten würde ich ihr die Hände küssen, Danke und nochmals Danke sagen.
»Katerina, komm her«, wispert sie. »Setz dich zu mir, du kennst doch die ganze Geschichte. Man soll seine Eltern nicht kritisieren, aber die polnische Großmama war keine gute Mutter. Sie ist mit einem fremden Mann durchgebrannt und mit ihm, ohne ein Zuhause, ohne eine Heimat zu haben, durch die Welt gezogen.«
»Aber sie war frei und glücklich.«
»Das weiß man nicht. Komm, beruhig dich, Kleines. Morgen habe ich die Schneiderin für dein gelbes Kleid zur Anprobe bestellt.«
Sie streicht mir übers Haar und gibt mir einen Kuss. Aber ich darf nicht klein beigeben.
»Ich jedenfalls mag sie«, sage ich. »Und nichts kann mich davon abbringen.«
In diesem Moment läutet es unten an der Tür. Es ist Leda, Marios’ kleine Schwester.
»Ich hab eine Nachricht für euch!«, sagt sie. »Marios lädt euch alle drei für nächste Woche ein. Die Einladung soll ich aber nur Maria persönlich übergeben. Das wird schön!« Dann flüstert sie, mit ihren knapp dreizehn Jahren, mir vertraulich an der Haustür zu: »Es werden auch große Jungen dabei sein, Kommilitonen von Marios.«
Das Haus der Familie Parigoris war das letzte in der Leoforos Anixeos. Groß und zweistöckig stach es unter den anderen Häusern hervor. Im Gegensatz zu ihnen gab es dort keine Nutztiere, weder Gemüsegarten noch Obstbäume. An der Nordseite stand eine Reihe von Zypressen, die als Windfang dienten, im Garten waren Mimosensträucher, Akazien und die unterschiedlichsten Blumen gepflanzt. Im vorderen Teil lag ein riesiges, rundes, kurz getrimmtes Rasenbeet von sattem Grün, aus dessen Mitte strahlenförmig sechs Reihen mit roten, weißen, rosafarbenen, gelben, pfirsichfarbenen und ganz bestimmten anderen Rosen ausgingen, deren Farbe man nur schwer beschreiben konnte. Sie erinnerte an hellen Tee oder an Wolken, die lange nach Sonnenuntergang vergessen am Himmel zurückbleiben.
Gleich zwei Jahre hintereinander waren Frau Parigoris Rosen bei der Gartenschau in Kifissia prämiert worden. Einmal hatte sie einen exotischen Kaktus präsentiert, groß wie ein Kindergesicht, das aussah, als würde es eine monströse Grimasse ziehen. Frau Parigori liebte Pflanzen und die Gartenarbeit, und sie liebte es, das Haus mit Blumen zu schmücken. Herr Parigoris wiederholte gern in scherzhafter Weise, er habe sich in seine Frau verliebt, als er sie beim Arrangieren eines Blumenstraußes beobachtete. Keiner ahnte, dass es die Wahrheit war. Sie waren bei gemeinsamen Freunden eingeladen, als ihm ihre Hände mit den langen, blassen Fingern auffielen, die mit sachten, sparsamen Bewegungen einen Bund Zyklamen in einer flachen Glasschale verteilten und deren aschgrüne Stängel ins Wasser tauchten. Immer wieder wanderte sein Blick zu diesen Fingern, die aussahen wie ein im Meer schwimmender Frauenkörper. Einen Monat später hielt er um ihre Hand an. Laura war überrascht. Sie liebte ihn nicht, kannte ihn nicht einmal näher. Doch ihre Mutter beharrte: »Er ist reich, er hat eine Zukunft, und er ist anständig. Ebenbürtig ist er uns zwar nicht …« Die Montelandis hielten sich zugute, dass sie zu den vornehmsten Familien der Ionischen Inseln zählten. »Leute unseres Standes wollen eine Mitgift sehen, und die hast du nicht.«
So wurde Laura seine Frau. Er bot ihr Zuneigung und ein bequemes Leben, sie brachte ihre Kontakte in die besseren Kreise und ihre zartgliedrigen, blassen Finger mit in die Ehe. Und die Kombination gelang. Nach kaum drei Jahren war Parigoris der bekannteste Arzt in ganz Athen. Er arbeitete hart und pendelte zwischen Krankenhaus, Hausbesuchen und Vorstandssitzungen hin und her. An den Abenden kehrte er bei Sonnenuntergang gern nach Hause aufs Land zurück, setzte sich in seinen Lehnstuhl, im Winter vor dem Kamin, im Sommer auf der Veranda, rauchte mit tiefen Zügen seine Zigarette und genoss das Zusammensein mit seiner Frau. Als Marios geboren wurde, änderte sich sein Glück. Lauras Stimme und Gesten drangen wie aus weiter Ferne zu ihm, doch die weinerliche Stimme des Sohnes, seine ersten Schritte waren seinem Herzen ganz nah. »Was für ein lieber Junge«, flüsterte er. »Der liebste Junge auf der ganzen Welt«, hörte er auch die Stimme seiner Frau sagen. Fast ärgerte er sich darüber, nur er allein durfte so etwas denken und aussprechen.
In der ersten Zeit ihrer Ehe ging Laura ganz in der Beziehung zu Giannis und im Haushalt auf. Danach wurden die Tage immer schwerer zu ertragen. Am Morgen ein wenig Lektüre, eine Stickerei, ein Blick auf die Blumen, aber die Nachmittage und die Abende zogen sich hin.
Marios kam zur rechten Zeit. Als sie sein Klopfen spürte wie einen ersten Gruß, sah sie einen langen, schnurgeraden und steinigen Weg ohne irgendeine Gabelung vor sich. Bis dahin lag die Erinnerung an ihre Jahre im Elternhaus, an die ersten Männerblicke in einem fahlen Licht, als hätte sie sich noch nicht entschieden, ob sie diesen Weg gehen wollte oder nicht. Es war Karfreitag, als sie Marios’ Botschaft im fünften Monat ihrer Schwangerschaft spürte. Die Glocken der nahe gelegenen Marienkirche verkündeten den Tod Christi. Sie lehnte sich aus dem Fenster und betrachtete den schweren Himmel. Immer war es bewölkt am Karfreitag, das konnte kein Zufall sein. Da spürte sie plötzlich das dumpfe Klopfen. Sie beugte sich über ihren Bauch, legte die Hände sanft, aber mit Nachdruck darauf, und da war es wieder, das Klopfen. Das war’s, sie brach in Tränen aus. Sie schluchzte laut, wie es Kinder tun, natürlich waren es Freudentränen. Doch irgendwo in einem fernen Winkel ihres Herzens saß eine Sehnsucht nach dem, was sie nie erleben würde, da sich nur noch der eine Weg vor ihr auftat. Was ihr Leben an Tiefe gewann, verlor es an Weite. An jenem Abend gab ihr Giannis eine kräftige Dosis Baldrian. »Viele Frauen leiden an nervösen Störungen in der Schwangerschaft«, meinte er.
Als Marios drei oder vier Jahre alt war, nahm sie ihn mit auf ihre Spaziergänge. Die Schlucht lag ganz nah, im Frühling sprossen am Bachufer weiße und lilafarbene Krokusse, Venushaar hingegen das ganze Jahr über. Frau Parigori legte sich mit einem etwas altmodischen Roman ans Ufer – die neueren mochte sie nicht –, und der Kleine warf Kiesel in den Fluss. Ihm war aufgefallen, dass jeder Kiesel anders klang, wenn er auf die Oberfläche traf. So wurde ihm dieses Spiel nie langweilig. Manchmal schleuderte er Strohhalme ins Wasser, um zu sehen, wohin sie getrieben wurden. Manche verschwanden, mitgerissen von der Strömung, in der Ferne, manche wirbelte der Wind davon, noch bevor sie die Wasseroberfläche erreichten, andere wieder blieben unterwegs an einem großen Stein hängen. »Komm, hilf ihnen, damit sie weiterschwimmen können«, sagte seine Mutter eines Nachmittags, als er betrübt zu dem großen Stein hinübersah, an dem ihre Reise zu Ende war. Aber er weigerte sich. Er hatte Angst, dasselbe Schicksal zu erleiden wie sie. »Sei kein Feigling. Das Wasser ist nur knöcheltief!« Er brach in Tränen aus, klammerte sich an ihren Hals und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Laura spürte, wie ihr seine Umarmung die Luft abschnürte. Sie hob den Blick zu den Abhängen der Schlucht, die ihr hoch, sehr hoch erschienen.
»Etwas Gymnastik würde Marios guttun«, sagte sie am Abend zu ihrem Mann. »Dann würde er sich mehr zutrauen.«
Als Marios neun war, wurde Leda geboren, ein blässliches, aschblondes Mädchen mit grauen Augen und widerspenstigem Charakter. Sie hatte ihren eigenen Kopf, was ihre Mutter zur Verzweiflung trieb und ihren Vater amüsierte. Mittags lief sie mit den Nachbarskindern umher, jagte Zikaden und Maikäfer und stahl mit ihnen Obst aus den Nachbargärten. In der letzten Zeit hatte sie sich mit Kapatos’ Kindern angefreundet, die auf derartige Dinge spezialisiert waren. Als Frau Parigori davon erfuhr, sperrte sie sie im Haus ein. Aber es brachte nichts, und Leda setzte ihre mittäglichen Ausflüge fort. Marios hingegen vergräbt sich in seine Bücher. Er hat ein anatomisches Modell. Immer wenn er das Skelett anfasst, vermeidet er, an Marias Körper zu denken, der inwendig genauso aussehen muss.
Infanta überlässt beim Tanzen ungern ihrem Kavalier die Führung, während sich Maria umso lieber anschmiegt. Frau Parigoris Garten ist traumhaft schön. Voller Stolz führe ich mein gelbes Kleid aus.
»Die Farbe des Hasses«, säuselt mir Petros zu.
»Wäre dir ein rotes lieber?«
»Schwärmst du denn für gar keinen?«
»Für gar keinen«, seufze ich. Die Blütenblätter des Oleanders segeln mir zu Füßen.
»Nicht mal für mich? Kein bisschen?« Er legt seinen Arm um meine Taille.
»Wenn du mich auffordern willst, dann tanze ich mit dir«, sage ich zu ihm. »Nur nimm die Hand da weg, davon werde ich seekrank.«
Er lacht laut auf.
»Du kleiner Witzbold!«, ruft er.
Wie passen venezianische Laternen mit Gospelgesang zusammen? Sind Frau Parigoris Rosen, die, weit geöffnet und dem Tode nah, kurz vor dem Verblühen stehen, bei der Gartenschau dieses Jahr leer ausgegangen?