Dreifuffzig die Nacht und keine Damenbesuche - Andreas Pietzsch - E-Book

Dreifuffzig die Nacht und keine Damenbesuche E-Book

Andreas Pietzsch

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Beschreibung

Den frischgebackenen Junglehrer Felix Hohndorf verschlägt es aus dem geschäftigen und quirligen Leipzig nach Neustadt in die tiefste Provinz der Republik. Der Philanthrop und Mathematiklehrer Meisner hilft ihm, die Praxis des pädagogischen Alltags zu bewältigen. Jo, die liebeshungrige Bäckersfrau, weiht ihn in die Geheimnisse des Kamasutra ein und während Felix am Tage lehrt, lernt er des nachts Liebe machen. Er freundet sich mit Edda an, die auf Frauen steht, schnuppert Theaterluft, macht die Bekanntschaft mit den Sicherheitsnadeln des Arbeiter- und Bauernstaates und verliebt sich in Helene. Als Helene wegen illegalem Handel mit Morphium im Gefängnis landet und nach Verbüßung ihrer Strafe heimlich die Republik verlässt, fällte Felix in ein tiefes, schwarzes loch Während des Prager Frühlings lehnt sich Felix zu weit aus dem Fenster und stürzt ab.

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Das Buch

Den frischgebackenen Junglehrer Felix Hohndorf verschlägt es aus dem geschäftigen und quirligen Leipzig nach Neustadt in die tiefste Provinz der Republik. Der Philanthrop und Mathematiklehrer Meisner hilft ihm, den pädagogischen Alltag zu bewältigen. Jo, die nach Liebe ausgehungerte Bäckersfrau, weiht ihn in die Geheimnisse des Kamusatras ein, und während Felix am Tage lehrt, lernt er des Nachts Liebe machen. Felix freundet sich mit Edda an, die auf Frauen steht, schnuppert Theaterluft, macht die Bekanntschaft mit den Sicherheitsnadeln des Staates und verliebt sich in Helene.

Als Helene im Gefängnis landet und danach das Land verlässt, fällt Felix in ein tiefes, schwarzes Loch.

Während des Prager Frühlings lehnt er sich zu weit aus dem Fenster und stürzt ab.

Der Autor

Andreas Pietzsch ist gebürtiger Dresdner. Er arbeitete als Chemiearbeiter, Heizer, auf dem Bau und in der Landwirtschaft, studierte Naturwissenschaften und Pädagogik und wurde Lehrer. Sein Roman „Dreifuffzig die Nacht und keine Damenbesuche“ ist das erste Buch einer Trilogie um Felix Hohndorf.

Die Drehtür spuckte mich wie einen alten Kaugummi auf den glühend heißen Bahnhofsvorplatz. Da stand ich und blickte ziemlich debil auf die Karikatur einer Parkanlage. Zwei zum Sterben bereite Birken versuchten einem verdorrten, mit Hundekot verzierten, bräunlichen Rasen einen Hauch von Schatten zu spenden und ein Springbrunnen tat alles, nur nicht springen.

Er tröpfelte. Prostata!

Wie gesagt, da stand ich mit meinem abgewetzten Vulkanfiberkoffer, wollte die Welt aus den Angeln heben, wusste aber nicht, wo ich heute Nacht schlafen würde. Links vom Bahnhof erstreckten sich die tristen Anlagen eines Güterbahnhofs, halb von einem Wasserturm aus rotbraunen Backsteinen verdeckt und rechts gab mir der Anblick eines grauen, herunter gekommenen Gebäudes, das sich als Bahnhofshotel anpries, zu denken.

Kuhkaff.

Ich wuchtete meinen Koffer auf die Schulter, bog nach rechts ab und stand nach wenigen Minuten vor den drei ausgelatschten Treppenstufen, die zu der Schwingtür des Hotels hinauf führten.

Die zerknitterte Dame an der Rezeption warf einen verächtlichen Blick auf meinen Koffer mit den zerkratzten Holzleisten, drehte sich um, griff einen Schlüssel mit Holzei, schob ihn über den Tresen und knurrte: „Dreifuffzig die Nacht und keine Damenbesuche.“

„Keine Sorge, Madam, bin schwul.“

Ihr Unterkiefer klappte nach unten und landete auf ihrem hoch geschnallten, welken Busen.

Bei dem Anblick konnte schwul keine Schande sein.

Mir war egal, was die Alte jetzt von mir dachte, Hauptsache, ich hatte eine Bleibe für die erste Nacht in dieser Klitsche. Eisernes Bettgestell mit grauer Bettwäsche, wurmstichiger Kleiderschrank, eine dunkle Kommode mit Marmorplatte, Waschschüssel und Wasserkrug.

Purer Luxus. Hatte schon schlimmer gewohnt. Ich stellte meinen Koffer in eine Ecke, riss das Fenster weit auf und schmiss mich aufs Bett. Draußen donnerte ein Güterzug durch den späten Nachmittag und ich spürte, wie das eiserne Bettgestell vibrierte.

Heute war Sonntag und morgen begann die Schule.

Ich hatte verdammtes Pech gehabt und keine Stelle in Leipzig erwischt. Nicht verheiratet, keine kranken, pflegebedürftigen Eltern, keinen guten Bekannten bei der Bezirksleitung der SED in Connewitz, also ab aufs Land.

Dabei hatte ich noch Glück im Unglück.

Ede hatte es richtig erwischt, Dorf irgendwo weit hinter Magdeburg und Werner saß nach seinem missglückten Fluchtversuch kurz nach dem Mauerbau irgendwo im Knast. Roter Ochse oder Gelbes Elend oder sonst wo.

Dumm gelaufen für Werner. Wir hatten uns während des Studiums die letzte Kippe und beinahe sogar Monika geteilt, hatten Gedichte geschrieben und jetzt saß er im Knast. Wollte durch irgend einen Kanal nach Westberlin schwimmen.

Zu Monika.

Und lässt sich erwischen.

Monika hatte noch vor dem 13. August die Flocke gemacht. Zwei Jahre Knast waren ihm sicher, und genauso sicher war, dass er eine Anstellung als Lehrer in den Wind schreiben konnte.

Das ganze Studium für die Katz.

Schöne Kacke.

Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, war die Dämmerung hereingebrochen, ich hatte einen mordsmäßigen Hunger und noch an die zwanzig Mark. Los Alter, mach dich auf die Socken und sieh zu, dass du noch irgendwo eine Bockwurst auftreibst.

Ich klatschte mir das lauwarme Wasser aus der Schüssel ins Gesicht und in die Haare, kämmte mich und zog ein frisches Hemd an.

Als ich das Hotel verließ, war es inzwischen völlig dunkel geworden. Ich schlenderte die Hauptstraße entlang, blickte in die erleuchteten Fenster einiger Wohnungen und ein ziehendes Gefühl von Heimweh machte sich in mir breit. Vor einer Kneipe, über deren Eingang in großen Lettern THÄLMANNHAUS stand, blieb ich stehen, ging dann die Stufen hoch und trat ein.

Bahnhofshalle, Steinfußboden, zerkratzte Holztische, wacklige Metallstühle und Qualm. Musste wohl gerade eine Olympiade im Kettenrauchen stattfinden. Wahrscheinlich F6-Meisterschaft.

Die Kneipe war krachend voll.

Rechts vom Tresen saßen zwei junge Frauen, zwei Stühle waren noch frei.

„Gestatten?“ Ich ließ mich auf den Stuhl neben der Rotblonden fallen.

Mann, was hatte die Schnalle für Dinger in der Bluse.

Mir war klar, dass ich für eine dieser Megadatteln beide Hände brauchen würde. Die struppige Blonde mit den etwas groben Gesichtszügen sah mich unfreundlich an und knurrte mit geteerten Stimmbändern:

„Wenn`s sein muss.“

Sie legte ihre Hand der Rotblonden auf den Unterarm und blies mir eine Wolke Tabakqualm vor die Nase.

Achtung, Privatbesitz!

Alte Ziege. Dir werd` ich den Abend versauen, verlass dich drauf.

Auf dem Tisch lag die Miniatur einer Speisekarte. Na immerhin, das Angebot war nicht schlecht. Als die Kellnerin kam, bestellte ich Königsberger Klops.

„Ist aus.“

„Sülze mit Bratkartoffeln?“

„Ist aus.“

„Hackbraten?“

„Ist aus.“

„Scheiße,“ knurrte ich.

„Führen wir nicht, junger Mann. Was erwarten Sie an einem Sonntagabend?“ Die Kellnerin mit dem ausladenden Hinterteil eines Brauereipferdes grinste mich an.

„Bockwurst mit Kartoffelsalat?“

„Salat ja, aber Bockwurst kommt erst Dienstag wieder. Wie wär`s mit Spiegelei und Salat?“

„Klingt gut und ein Bier und einen Pfeffi.“

„Wird erledigt, mein Herr.“

Die Rothaarige sah mich mitfühlend an, was mir von der Struppigen einen Giftblick einbrachte.

Blöde Weiber, dachte ich. Wobei mir klar war, dass ich die Rothaarige mit ihrer zarten Pergamenthaut nicht von der Bettkante gestoßen hätte.

Wenn ja, dann nach innen.

Ich zog meine zerknautschte Packung F6 aus der Hosentasche und hielt sie der Zarten hin. Sie sah mich aufmerksam an, lächelte kurz und schüttelte den Kopf.

„Ganz recht“, sagte ich und starrte dabei ungeniert auf die grobporige Nase der Blonden, „Mädchen kriegen vom Rauchen einen schlechten Teint, hab ich irgendwo gelesen.“

Ihre Blicke waren tödlich.

Meine Getränke kamen. Ich kippte den Pfeffi runter und spülte mit einem ordentlichen Schluck Bier nach. Die Brühe war lauwarm und schmeckte abgestanden, aber das war mir egal. Es beruhigte auf jeden Fall meinen knurrenden Magen und ich wurde friedlicher, wie immer nach einem Doppelten und einem Bier.

„Ganz schöner Betrieb in dem Puff hier.“ Ich lächelte die beiden Damen freundlich an.

„Arschloch“, kam es in einer dicken Rauchwolke zurück.

Gut, dass die Kellnerin das Essen brachte, ich hätte wahrscheinlich noch mehr nette Sprüche von mir gegeben, aber mein Hunger machte mir klar, dass Reden Silber, Essen aber auf jeden Fall Gold war.

„Mannomann“, lachte die Rothaarige, „der frisst ja wie ein Scheunendrescher.“ Ich schob den letzten Bissen in den Mund, schluckte, ohne zu kauen, und sah auf.

Die beiden Frauen blickten mich mit weit aufgerissenen Augen an.

„Dumm frisst, Intelligenz säuft.“ Der männliche Teil des Paares mir gegenüber grinste, hob das Glas und sagte: “Prost!“

Ich lachte und hob mein Glas. Nicht schlecht, die Alte hatte Charakter.

Ich überschlug in Gedanken meine Barschaft.

Dreifuffzig die Bude, Bier und Pfeffi so bei einsfuffzig und die Eier mit Salat so gegen einssechzig. Drei doppelte Pfeffi dazu machte summa summarum so an die zehn Mäuse. Blieben noch fast zehn Mark für morgen und dann musste eben der Minister für Volksbildung für mich sorgen.

„Trinken die Damen einen Pfeffi?“

Die Blonde sah mich an, grinste schief, nickte und bot mir eine Gold Dollar an.

Klarer Fall von Westverwandtschaft!

Ich inhalierte wie einer, der weiß, dass er seinen letzten Atemzug macht.

„Is` was Anderes als dieser Bahndamm, dritte Ernte“, feixte die Blonde und tippte verächtlich auf meine F6.

„Wobei Bahndämme auch ihren Reiz haben können“, erwiderte ich und sah dem rothaarigen Schneckchen tief in die grünen Augen.

Das war`s. Die Stimmung kippte wieder, aber meine F6 ließ ich nicht beleidigen, auch wenn die Verpackung Scheiße war und die Westzigaretten eben doch ein anderes Aroma hatten.

Ich hob mein Glas. „Prost auf die Bahndämme dieser Welt.“

Schneckchen hob ihr Glas, zwinkerte mir zu und nippte am Pfeffi.

Blondie sagte nichts, kippte den grünen Rachenputzer in einem Zug weg, sah ihre Gespielin an und machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Tür.

Schneckchen schüttelte sich und lispelte: „Mich ist kalt, ich möchte zu Hause gehn.“

Jetzt schüttelt es mich ebenfalls.

***

Oh verdammt, fast hätte ich verschlafen. Ich schabte mir in Windeseile meine Bartstoppeln ab, klatschte mir eine ordentliche Portion Birkenhaarwasser auf den Kopf und fuhr in meine Klamotten. Plötzlich merkte ich, dass es an verschiedenen Körperstellen juckte. Im Halbschlaf hatte ich mich schon gekratzt, aber jetzt, da ich hellwach war, spürte ich den Juckreiz ziemlich heftig.

Schöne, gerötete Quaddeln machten mir klar, dass ich die Nacht nicht allein im Bett verbracht hatte.

Wanzen!

Ich schnappte meinen Koffer, stürmte die Treppen runter und knallte 2,50 Mark auf den Tresen.

„Dreifuffzig, hatte ich gesagt“, fuhr mich die alte Vettel wütend an.

„Zweifuffzig und keinen Pfennig mehr. Den Rest brauche ich noch für Wanzensalbe“, schob ich nach.

An der Tür hörte ich noch das Gekeife von Polizei und Anzeige, aber ich war sicher, dass sich das alte Reff hüten würde, ihrem Wanzenschuppen in der Öffentlichkeit weitere Minuspunkte zu verschaffen.

Ich trabte vom Hotel die breite Friedensstraße entlang Richtung Thälmannplatz, bog links in die Lindenstraße ein und stand nach einigen hundert Metern auf der Straße der Befreiung. Von da etwa fünfhundert Meter nach rechts Richtung Tierpark, stand auf meinem Zettel. Ich hatte mir in der vergangenen Woche den Stadtplan von Kuhkaff besorgt und eine grobe Skizze gemacht.

Dann stand ich vor meiner neuen Wirkungsstätte. Polytechnische Oberschule, dunkelroter Backstein hinter schmiedeeisernem Zaun. Das große Tor stand weit offen.

Kurz vor halb acht.

Die letzten Schüler tröpfelten in Richtung des rechten Eingangs, über dem in großen Buchstaben KNABEN stand. Der linke Eingang mit den Buchstaben MÄDCHEN war geschlossen.

Lehrer! Himmel, Arsch und Zwirn, worauf hatte ich mich da bloß eingelassen.

Am Eingang traf mich der Schlag. Die struppige Blonde von gestern Abend machte Einlassdienst. Ihre Gesichtszüge bei meinem Anblick entgleisen zu sehen, war mir allerdings ein geistiges Fußbad. Dann sah ich die Angst in ihren Augen flackern. Plötzlich hob sie die rechte Hand und legte den Zeigefinger senkrecht auf ihre schmalen Lippen.

Ich tat das Gleiche.

Sie gab mir die Hand. „Edda Vorhof, Russisch, Geschichte, Geografie.“

„Felix Hohndorf, Mathe, Chemie.“

Pause.

„Zur Schulleitung?“

„Eine Treppe, dritte Tür links.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.

Ich stieg die Treppe hoch, klopfte an die Tür mit dem Schild SEKRETARIAT und trat ein. Die Frau, deren großer Busen schwer auf dem Schreibtisch lag, musterte mich von Kopf bis Fuß und ließ ihre Augen dann auf meinem Prachtstück von Koffer ruhen.

„Hohndorf, Felix.“

„Schneller“, erwiderte die Sekretärin.

Ich sah sie verständnislos an.

„Frau Schneller, Schulsekretärin hiesiger sozialistischer Bildungs- und Erziehungseinrichtung.“ Sie verzog keine Miene und ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte.

„Übrigens, mit Ihnen haben wir hier nicht mehr gerechnet. Hatten Sie nicht die Stelle abgelehnt?“

In den Augen der Frau sprangen kleine Funken hin und her.

Durchschaut, dachte ich. Was ja auch nicht weiter schwer war. Wer mit so einem Koffer unterwegs ist, pfeift auf dem letzten Loch.

Sie erhob sich und ich stellte fest, dass ich mich hinter der Frau bedenkenlos hätte umziehen können.

Sie öffnete eine Tür, die vom Sekretariat abging.

„Verstärkung, Trude. Mathe und Chemie.“

„Hohndorf?“

„Hohndorf!“

„Hat sich`s wohl doch noch überlegt. Schick ihn rein.“

Die Sekretärin drehte sich um, sah mich an, dann meinen Koffer, schüttelte kaum merklich den Kopf und gab die Tür frei. Ich stellte mein Prachtstück an die Wand und betrat das Zimmer der Schulleiterin.

Die Frau erhob sich und kam mir entgegen.

Graue Maus, Mittelalter, halblanger Rock und rotweiße Ringelsöckchen. Ich hielt kurz die Luft an, es roch muffig in diesem Kabuff.

„Trude Baginski, Schulleiterin.“

Mehr Sockentrude, dachte ich, sagte aber höflich: „Hohndorf, Felix, Mathematik, Chemie.“

„Sie kommen wie gerufen, Herr Hohndorf. Mathe und Physik hat seinen Dienst nicht angetreten.“

Abgehauen, der Herr Pädagoge, hat die Flocke gen Westen gemacht wie Tausende anderer Pauker auch.

Man munkelte von bis zu zwanzigtausend Lehrern in den letzten Jahren. Mir fiel wieder Werner ein. Er hatte bis zuletzt gehofft, dass ich mit rüber gehen würde. Aber ich war noch nie ein Freund schneller und einschneidender Veränderungen gewesen und so hatte ich immer wieder gezögert.

Und plötzlich war die Mauer da und es gab laut Buschtrommel den ersten Mauertoten. Die Trapo sollte in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße einen jungen Mann bei einem Fluchtversuch erschossen haben.

„Pass auf dich auf, Junge“, hatte mein Vater gesagt, „die machen ernst.“

„Entschuldigung, hören Sie mir überhaupt zu?“

Sockentrude hatte gemerkt, dass ich geistig weggetreten war.

„Wann können Sie anfangen, Herr Hohndorf?“

„Wenn`s sein muss, sofort.“

Die Frau sah mich erstaunt an und hielt mir dann ihre Hand entgegen. „Willkommen in unseren Reihen, Herr Hohndorf. Endlich tritt, dank unserer Grenzsicherung, wieder Kontinuität im Schulwesen und auch so ein.“

Die weißen Speichelbläschen in den Mundwinkeln und der unverkennbar ostpreußische Dialekt, den ich von meiner letzten Zimmerwirtin kannte, hätten mich um ein Haar dazu verleitet „Tschüss dann bis Morgen, Marjellchen“ zu sagen. Aber ich sah noch rechtzeitig das Abzeichen mit den beiden Händen am Revers ihrer Jacke und das NEUE DEUTSCHLAND auf dem Schreibtisch.

***

Wohne nicht im Schulbezirk und saufe nicht im Wohnbezirk. Mach das mal in Kuhkaff. Ich hatte gleich am ersten Abend dagegen verstoßen und zwar heftig.

Nach der Vorstellung bei Sockentrude hatte mir die Sekretärin einen Zettel und einen Schlüssel in die Hand gedrückt.

Straße der Befreiung 47.

Die alte Grundschule, in der nur noch die beiden ersten Klassen unterrichtet wurden. Backsteinbau mit zwei provisorisch ausgebauten Wohnungen unterm Dach.

Himmel, was für eine Bruchbude. Küche mit Büfett aus Urgroßmutters Zeiten, gusseiserne Gosse mit grünem Messinghahn, ein ehemals weißlackierter, wurmstichiger Küchentisch mit Elektrokocher, zwei rote Gartenstühle. Auf der anderen Bodenseite das Wohnzimmer, eine verkeimte, durchgelegene Doppelbettcouch, ein runder, hochglanzlackierter Biedermeiertisch auf drei Füßen und geäderter Marmorplatte und mehrere leere Kartons.

Ich stellte drei der Kartons übereinander, hatte einen Kleiderschrank und stapelte darin Socken, Unterwäsche, Pullover und Hemden. Einen der Kartons stellte ich neben die Couch als Nachttisch und verstaute darin meine ansehnliche Reclambibliothek.

Das erste, was ich mir kaufen würde, war eine ordentliche Leselampe.

Ich schmiss mich auf die Couch, versuchte Zolas „Die Erde“ zu lesen, schlief aber ein. Ich erwachte, als es draußen dunkel wurde und fühlte ich mich wie der erste Eiszeitjäger.

Höhlenkoller!

Was dagegen half, war klar.

Thälmannhaus! Bier und Pfeffi!

Für zehn Mark konntest du dir ein hässliches Entlein zu einem geilen Schwan saufen, und auch aus einen alten Hühnerstall wurde ein Adlerhorst. Diese zehn Mark hatte ich noch, als ich im Thälmannhaus einrückte. Beim Verlassen der Kneipe hatte ich noch dreißig Pfennig.

Am Morgen donnerten Güterzüge hinter meinen Augen bis zum Wirbel durch meine verätzten Gehirnwindungen und bremsten mit dem entsetzlichen Kreischen von Stahl auf Stahl, Schaffner trillerten rücksichtslos mit ihren Pfeifen durch meine Gehörgänge und hatten wahrscheinlich statt der Fahrkarte meine Zunge gelocht. Sie fühlte sich dick und geschwollen an. Ich schätzte so an die fünfzehn bis zwanzig F6, plus Bier, plus Pfeffi. Kurz, mir war hundeelend.

Sockentrude hatte mich merkwürdig angesehen und dann in den zweiten Stock gelotst, in die Klasse geschoben, ein paar Worte gesagt und war wieder verschwunden. Ich hatte nicht alles von ihrer feuchten Rede verstanden, aber dass ich der neue Klassenlehrer der 5a sein sollte, hatte ich mitbekommen.

Junge, Junge, das sah verdammt Ernst aus. Der Spaß war vorbei.

Da stand ich nun, ich armer Tor … „Guten Morgen“, krächzte ich mit verkaterter Stimme.

„Immer bereit!“ brüllten mich an die dreißig grelle Kinderstimmen an.

Mein Vorgänger musste ein perfekter Heuchler gewesen sein.

„Guten Morgen“, wiederholte ich.

Stille.

Ich drehte mich um und schrieb Herr Hohndorf an die Tafel.

„Guten Morgen!“

„G-u-t-e-n M-o-r-g-e-n, Herr H-o-h-n-d-o-r-f.“

„Setzen.“

Im Klassenbuch lag die Sitzordnung.

„Setzt euch, wie ihr wollt.“ Ich zerriss das Blatt.

Der Tumult war gigantisch. Nach einigen Minuten steckte ein Lehrer aus dem Nachbarzimmer den Kopf zur Tür herein und rief: „Brauchen Sie Hilfe, Herr Kollege?“

„Alles in bester Ordnung“, lachte ich und winkte ab.

Nichts war in Ordnung. Diese verdammte Schleudertruppe nutzte mein Entgegenkommen und mein Bestreben, alles anders und natürlich viel besser zu machen, schamlos aus.

Meine erste Unterrichtsstunde, wenn man das, was da fünfundvierzig Minuten lang abgegangen war, als solche bezeichnen wollte, war ein Schuss in den Ofen.

Wer den Schaden anrichtet, muss sich um den Spott nicht sorgen.

Im Lehrerzimmer wurde es schlagartig still, als ich eintrat. Nur die beiden Tussis, die oben auf dem Dachboden die Wohnung neben meiner Bruchbude bewohnten, kicherten noch eine Weile. Ich hatte in dem benebelten Zustand von gestern Abend die Wohnungstüren verwechselt und die beiden Jungfern zu Tode erschreckt.

Edda Vorhof, meine Kneipenbekanntschaft vom Sonntagabend, hielt mir zögerlich ihre Schachtel F6 hin.

Dienstlunte, dachte ich und sagte: „Bahndamm, dritte Ernte“, griff aber zu.

Wir gingen ans Ende des langgestreckten Lehrerzimmers, stellten uns ans Fenster und pafften.

„Muss nicht unbedingt jeder hier wissen.“

Kunstpause, dann fiel bei mir der Groschen.

„Klar.“

Es klingelte.

Ich drückte meine Zigarette aus, schnappte das Klassenbuch der 8b und marschierte Richtung Chemieraum.

Was mich empfing, war das perfekte Chaos.

Papierflieger segelten durch den Raum, ein Fettkloß schrie mit kreischender Stimme: „Sanitäter, Hilfe, ich verblute!“ Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf.

Ein Lulatsch neben ihm brüllte: „Schnell, Herr Monddorf, Fetti verblutet.“

Ich wühlte mich durch das Gedränge. „Was ist passiert?“

„Ein Flugzeug hat meine Schädeldecke gerammt“, feixte Fetti, hob einen Papierflieger vom Boden auf und zerknüllte ihn in der Hand.

Die Klasse schrie und tobte und weitere Flugobjekte segelten durch den Raum.

Ich ging zurück zum Pult, schlug das Klassenbuch auf und griff mir die Sitzordnung.

Es wurde schlagartig still.

Na also, dachte ich.

„Ilona Reifegerste.“ Ich sah zur ersten Bank links.

„Ja.“ Ein Junge mit Kürbiskopf grinste mich an und krähte mit Falsettstimme: „Bin operiert worden, abgeschnitten und umgekrempelt, Herr Mondpferd.“

Das Gebrüll war garantiert bis in den Keller zu hören. Meine rechte Hand zuckte und ich schob sie vorsichtshalber in die Hosentasche. Die kurze Pause hatte also gereicht, dass sich das mit der Sitzordnung herumgesprochen hatte.

Vielleicht hilft ein Experiment.

Ich mischte eine ordentliche Portion Kupferoxid mit Zinkpulver, schüttete das Gemisch in ein Reagenzglas und zündete den Bunsenbrenner an.

Die Tobsucht ließ sofort nach und dreißig Augenpaare blickten gespannt nach vorn. Ich brachte das Reagenzglas an den Rand der Brennerflamme, und während ich das Gemisch erhitzte, sah ich zur ersten Bank links und sagte: „Ilona, komm doch bitte nach vorn und schreib die Wortgleichung an die Tafel.“

Irgendwo im Raum erhob sich ein Mädchen.

„Ilona“, wiederholte ich und zeigte auf die erste Bankreihe links. Kürbis stand mit knallrotem Kopf auf. Die Klasse feixte. „Komm an die Tafel, schönes Mädchen, und schreib die Wortgleichung an!“

„Los Ilona!“, brüllte die Klasse mit der Schadenfreude, die sich immer einstellt, wenn es den Anderen trifft.

Ich kannte das aus meiner Schulzeit und war sicher, die erste Runde gewonnen zu haben.

Dann platzte das Reagenzglas und das glühende Gemisch fiel aufs Klassenbuch.

Mein anfänglicher pädagogischer Erfolg verpuffte wie die Reagenzglasmischung. Am wildesten gebärdete sich Kürbis.

Die nächsten zwei Stunden verliefen ähnlich. Die Schülertrommeln arbeiteten schnell und gewissenhaft und die Blicke der Kollegen lagen zwischen Schadenfreude und Mitleid.

Scheiße, dachte ich, hast den falschen Beruf erwischt. Noch ein Tag von der Sorte, und du bist reif für die Klapse. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte Kürbiskopf für das Mondpferd eine ordentliche geknallt, dann wäre der Spuk vorbei gewesen, ehe er richtig begonnen hatte und ich hätte in irgend einem Chemielabor gearbeitet. Aber aufgeben, ohne richtig begonnen zu haben?

Ich lag auf dem Bett in meiner Bude hoch oben unterm Dach. Notunterkunft für Zugewiesene, von denen man nicht wusste, ob sie bleiben würden. Vom Schulhof weit unten drang der gedämpfte Lärm Fußball spielender Jungen durch das geöffnete Fenster, und aus der Wohnung der beiden Tussis nebenan tönte Peter Alexander: „Ich zähle täglich meine Sorgen …“

Ich brauchte nicht zählen, es gab nur eine Sorge, die eigentlich mehr eine Frage war: Wie kriegst du diese Bande zur Ruhe? Pädagogisches Feingefühl war hier für die Katz. Ich wusste aus meiner eigenen Schulzeit, dass jeder neue Pauker erbarmungslos getestet wurde. Terror der Masse gegen das Individuum.

Die ersten Tage waren entscheidend.

Gegen Morgen, als die Dämmerung einsetzte, war mir klar, dass ich heute Sieg oder Niederlage feiern würde. Feiern würde ich auf jeden Fall.

Ich hatte die Nacht über Lehrplänen und Lehrbüchern gehockt und mich vorbereitet.

Zwei Minuten vor dem Klingelzeichen zur ersten Stunde machte ich mich auf den Weg zur 5a. Als es klingelte riss ich die Tür auf, schob den Unterkiefer vor, zog die Augenbrauen zusammen und imitierte den Blick eines Mafiakillers. Dann schmiss ich meine Aktentasche auf den Lehrertisch, nahm das vorbereitete Blatt heraus, schrieb Leistungskontrolle an die Tafel und darunter die ersten Aufgaben.

Ich hatte für die Lösungen zehn Minuten angesetzt.

Die Mädchen waren die ersten, die den Ernst der Lage begriffen. Vielleicht spürten sie instinktiv den Zorn, den ich in mir aufgebaut hatte früher als die Jungen, die in diesem Alter im Wesentlichen mit der Festlegung der Rangordnung beschäftigt waren.

Nach fünf Minuten, in denen ich keinen Ton von mir gegeben hatte, saßen die letzten Rabauken auf ihrem Platz und wühlten in ihren Schultaschen.

Genau nach zwölf Minuten sammelte ich die Zettel ein.

Sofort brach Tumult aus. Ich nahm das einen Meter lange, schön breite Lineal und krachte es mit voller Wucht auf den Lehrertisch.

Es klang wie ein Pistolenschuss. Gleichzeitig brüllte ich: „Ruhe, verdammt noch mal.“

Eine Herde wilder Paviane erstarrte zu Salzsäulen. Mir war klar, dass ich alle Regeln der sozialistischen Pädagogik verletzte, aber das war mir scheißegal.

Der Schock saß.

Weit aufgerissene Kinderaugen blickten mich verstört an.

Nett sein kommt später, dachte ich.

„Ist das klar?“ Hans Albers Blick.

Stummes nicken.

Ich war das Alphatier.

Und auf die Schulhaustrommel war verlass. Die 8b hatte vorsichtshalber mit dem Klingelzeichen ihre Plätze eingenommen, und zwar laut Sitzordnung.

***

Am nächsten Tag, ich hatte gerade eine Freistunde, bat mich die Schulsekretärin zur Schulleitung.

„Herr Hohndorf“, Sockentrude hatte bereits Speichelbläschen in den Mundwinkeln, „was sind das für rüde Methoden, die Sie hier einführen. Seit heute Morgen klingelt ununterbrochen mein Telefon und aufgebrachte Eltern fragen an, was für unqualifizierte Lehrkräfte neuerdings an dieser Schule arbeiten. Sind Sie von allen guten Geistern verlassen, die Schüler mit einem Lineal zu bedrohen und wie ein Pferdehändler zu fluchen.“

Der Pferdehändler gab mir Kraft und ich musste grinsen. Wie eine Furie fuhr Sockentrude hinter ihrem Schreibtisch in die Höhe und stemmte die Hände in die Hüften.

„Sie haben nicht den geringsten Grund hier noch überheblich zu grinsen, Herrrr Hohndorrrrf.“

Die ersten Spritzer aus ihren Mundwinkeln trafen meine Hosenbeine.

„Nicht den geringsten Grund. Unser aller Aufgabe ist es, die Schüler zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen, die die Deutsche Demokratische Republik als ihr sozialistisches Vaterland …“ Sie holte tief Luft und ich dachte, die Sorte hat früher bestimmt schnell den rechten Arm gehoben. Eiferer bleiben Eiferer, egal unter welchem Symbol.

„ … Vaterland lieben und bereit sind, die historische Aufgabe des ersten deutschen Arbeiter-und Bauernstaates zu erfüllen.“

Amen, hätte ich beinahe gesagt, aber ich sagte nichts, und das schien Trude anzuspornen, mir die hehren Ziele des Sozialismus und die Rolle der Bedeutung noch einmal ausgiebig vor Augen zu führen.

Armes Marjellchen, dachte ich, während sie ihrem marxistisch- leninistischen Orgasmus entgegen strebte, jetzt hast du endlich was zu sagen, hast was, woran du dich festhalten kannst und kannst nach unten treten und nach oben katzbuckeln.

Sie war jetzt bei den Thälmannpionieren und der FDJ angekommen und in ihren Mundwinkeln klebte dicker Schaum. Ich war erneut versucht, mein Taschentuch zu greifen und ihr den Mund abzuwischen.

„ … friedliebendes und fortschrittliches Land und so erwarten wir von unseren sozialistischen Pädagogen, dass sie unsere Kinder und Jugendlichen im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten und charakterfesten Menschen erziehen.“

Trude machte eine Pause, sah mich mit ihren wasserhellen Augen durchdringend an, setzte sich und fuhr sehr leise fort: „Und das geschieht bei uns ohne Bedrohung durch Schläge mit dem Lineal oder vulgäre Schülerbeschimpfungen, Herrrr Hohndorrrrf!

Haben wir uns verstanden?“

Ich sagte nichts. Was hätte ich auch sagen sollen? Von wegen bedroht. Den Lehrertisch hatte ich malträtiert, aber ich hätte niemals ein Kind geschlagen.

Mein Abgang war ohne Worte und ich wusste, dass Trude in Zukunft mit Argusaugen meine Arbeit verfolgen würde. Vielleicht hätte ich sagen sollen: „Bitte vielmals um Entschuldigung, kommt nicht wieder vor.“

Das hätte ihr Ego gestärkt, aber einer, der nichts sagt, ist ein Renitenter und die musste man im Auge behalten.

Der Rest des Vormittages verlief angespannt. Schüler haben einen unglaublichen Instinkt dafür, wann Vorsicht geboten ist. Wahrscheinlich rochen sie, ähnlich wie Hunde die Angst beim Menschen, die Gefahr, die von einem angeschossenen Lehrer ausgehen konnte.

Mittag bot mir Klaus Meisner an, mit in die Sonne zu kommen, um der Schulspeisung zu entgehen. Dienstag war Tote-Oma-Tag und das war nicht jeder Manns Geschmack, meiner schon gar nicht. Das Problem war nur, dass in meiner Kasse totale Ebbe herrschte.

Edda Vorhof, die neben Meisner stand und, wie es aussah, mit von der Partie sein würde, erfasste mein Zögern auf Anhieb. Sie griff in ihre Tasche und drückte mir einen Zwanziger in die Hand.

„Gepumpt, bis du dein erstes Geld kriegst.“

Mein Glück war, dass ich am nächsten Tag erst zur dritten Stunde hatte. Trotzdem war der Vormittag beschissen wie eine Hühnerleiter. Der einzige Trost war, dass es meinen Taufpaten nicht viel besser ging.

Meisner versteckte seine verkaterte Visage hinter einer dunklen Sonnenbrille, Bernd Müller, der später zu uns gestoßen war, hatte eine Stimme, die an grobes Sandpapier erinnerte, das über ein stark verrostetes Eisenrohr gezogen wurde, und Edda sah verdammt grau aus.

Nachdem Meisner und Müller gegangen waren, hatte Edda noch eine Runde Bier und Doppelkorn bestellt.

Das war fast der Gnadenstoß für mich gewesen. Ich hatte sie nach Hause gebracht, zu Fuß bis ans Ende der Welt, jedenfalls kam es mir so vor. Vor ihrem Haus, das zu einem Baubetrieb gehören musste, hatten wir uns auf eine Bank gesetzt und uns noch eine angezündet.

Ich hatte meine Hand vorsichtig unter Eddas Pullover geschoben. Als ich ihre Brust berührte, hatte sie mich angesehen und leise gesagt: „Pfote weg, Felix, steh nicht darauf und das weißt du.“

Ich hatte es gewusst, aber gegen Neugier ist noch kein Kraut gewachsen. Probieren sollte man es immer, sonst halten dich die Weiber für eine taube Nuss..

„Ich mag Männer, aber nur als Kumpels. Das, was da zwischen euren Beinen hängt, hat mich noch nie interessiert.“

Edda war aufgestanden und im Haus verschwunden.

***

Die Wochen vergingen und plötzlich standen die Elternabende an. Verdammt, ich hatte keinen Schimmer, was da abgehen sollte. Elternabend klang eigentlich nach Glühwein und Pfefferkuchen. Meisner gab mir einige Tipps, wie ich die Sache angehen sollte. Aber wenn du dann vor gut fünfundzwanzig Eltern stehst, die alle älter sind als du selbst, hilft nur noch Beten und Gottvertrauen. Als dann noch, kurz vor Beginn, Sockentrude mit der blauen Hospitationsmappe den Gang entlang marschiert kam und vor meinem Klassenzimmer halt machte, spürte ich, wie meine Handflächen feucht wurden.

Mann, Felix, reiß dich bloß zusammen!

Die Schulleiterin stellte mich kurz den Eltern vor und setzte sich dann in die letzte Bank. Die erste Viertelstunde war grausam. Ich redete und redete und die Leute sahen mich nur an. Endlich meldete sich ein Vater mit starkem Silberblick und schnitt das leidige Thema Mathe an. Es sah nicht gut aus. Die Klasse hatte echte Probleme, was daran lag, dass sie im vergangenen Schuljahr zu viele Ausfälle hatte und zu wenig gefordert worden war.

Ich hatte mich an den Lehrplan gehalten. Das Ergebnis war haarsträubend. Der Klassendurchschnitt lag nach sechs Unterrichtswochen knapp unter vier und die Schüler hassten Mathe wie die Pest.

Nachdem Silberblick, ich wusste sofort, dass es Rudi Heinzes Erzeuger war, seinem Unmut über die zu strenge Zensierung und die komischen Rechenwege – „wir haben das viel einfacher gerechnet“ - , Luft gemacht hatte, setzte ein allgemeines Palaver ein.

Ich stand ziemlich hilflos vor den immer heftiger diskutierenden Eltern, drehte mich dann zur Tafel und schrieb zwei Aufgaben an. Die erste rechnete ich laut vor und allmählich wurde es still.

Silberblick stand auf, kam zur Tafel und rechnete die zweite Aufgabe. Der Rechenweg war anders, aber das Ergebnis stimmte. Er sah zur Tür, aber ich ahnte, dass er mich im Blick hatte.

„Ist doch wohl sonnenklar,“ sagte er, „dass die Kinder durcheinander kommen, wenn die Eltern zu Hause mit ihnen üben, aber ganz andere Rechenwege benutzen.“

Ich schrieb noch einige Aufgaben an und nach wenigen Minuten standen alle in einem Pulk an der Tafel. Nach einer Stunde fragte die rotblonde Elternaktivvorsitzende, ob ich vielleicht hin und wieder eine Stunde Mathe mit den Eltern machen könnte.

Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung.

Mir gefiel er auch und ich hoffte insgeheim, den Satz des Cavalieri an den fantastischen Halbkugeln der Dame überprüfen zu können.

Sockentrude kam nach vorn und verabschiedete sich mit einem feuchtwarmen Händedruck.

Ich war der Held der nächsten Dienstberatung. Meine Taufpaten grinsten hinterhältig und Meisner murmelte: „Mittags drei Bier und der Tag gehört dir.“

Dann kam der Hammer.

Sockentrude hielt eine flammende Rede gegen die imperialistischen Kriegstreiber, den Klassenfeind jenseits des antifaschistischen Schutzwalls und die vom Bundesnachrichtendienst ferngesteuerten Volksverhetzer von Presse und Fernsehen.

Zum Schluss verlas sie das Drei-Punkte-Programm des Rabbinersohns Albert Norden: Sofortige Beseitigung aller auf den Westen gerichteten Antennen.

Selbstverpflichtung der Elektromonteure, keine Westantennen mehr zu installieren.

Selbstverpflichtung aller Hausgemeinschaften, freiwillig auf Westfernsehen zu verzichten.“

Eisiges Schweigen. Dann erhob sich Eichinger, Parteisekretär, Russisch und Werken.

„Höchste Zeit, dass auch hier bei uns diese Feindfahnen von den Dächern verschwinden. Allerhöchste Zeit, muss ich anmerken, kritisch anmerken, denn die Aktion ist in den meisten Gegenden des Landes bereits abgeschlossen. Der Soz … „

Von Meisner kam ein gemurmeltes: „Blödmann.“

Eichinger fuhr wie von der Tarantel gestochen herum.

„Sag das noch mal, Klaus.“

Sockentrude bat um Ruhe. „Unsere FDJler treffen sich morgen 15 Uhr mit den FDJlern des Kreises auf dem Marktplatz. Blauhemd, versteht sich, die roten Armbinden werden von den Genossen der Kreisleitung verteilt.“

Sie schlug ihre blaue Mappe auf und nannte die Teilnehmer.

Zum Schluss fiel mein Name.

Spinnt die Alte. Ich hatte mein FDJ-Hemd entsorgt, als ich mein Abschlusszeugnis in der Hand hatte.

Meisner grinste mich diabolisch an: „Realität ist eine Illusion, die durch Mangel an Bier hervorgerufen wird.“

„Scheiße“, murmelte ich und wusste, dass die Knaller mich auf dem Marktplatz vermissen würden.

Aktion Ochsenkopf. Die Frage war, wer hier der Ochse war?

Ich brauchte dringend eine Ausrede. Öffentliches Verweigern erschien mir nicht ratsam.

Lehrer war zwar nicht gerade mein Traumberuf, aber irgendwie musste ich schließlich meine Brötchen verdienen.

Brötchen!

Die Idee!

Mathe für Eltern.

Ich rief die rothaarige Bäckersfrau und Vorsitzende des Elternaktivs an. Sie hatte schließlich den Vorschlag gemacht.

„Morgen? Sehr knapp, Herr Hohndorf. Ich versuch`s mit dem Elternaktiv.“

„17 Uhr in der Schule?“

Es klappte. Rudi Heinze, Brigadier in der Chemiebude, Werner Heumann, Apotheker, Anton Seifert, Autoschlosser und Josefine Walters, die Bäckersfrau, gaben mir die Ehre, beziehungsweise das Alibi, das ich brauchte.

Ich hatte große Schwierigkeiten, meine Augen unter Kontrolle zu halten. Beim Rechnen an der Tafel fiel der Bäckerin mehrfach die Kreide aus der Hand.

„O Täler weit, o Höhen“ summte es in meinem Kopf. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Wald grün sein sollte.

Gegen neunzehn Uhr meinte Silberblick Rudi Heinze, dass er jetzt wisse, warum Mathe so eine verdammt trockene Sache wäre.

Ich sah ihn leicht pikiert an. Hatte mir die größte Mühe gegeben, die Aufgaben so lebensnah wie möglich zu machen und dann so eine blöde Bemerkung.

Silberblick grinste mich hinterhältig an.

„Liegt am Kreidestaub, Herr Hohndorf, und gegen eine Kreidestaublunge hilft nur ein gut gekühltes Bier.“

Der Ratskeller war wie immer um diese Zeit ziemlich voll. War eine der wenigen Kneipen, die Radeberger im Ausschank hatten.

Nach dem dritten Bier schlug Silberblick vor, dass wir zum Du übergehen sollten.

„Rudi.“

„Werner.“

„Anton.“

„Josefine, aber Jo genügt.“

„Felix.“

Gegen zehn Uhr spürte ich das Knie der Bäckersfrau an meinem Oberschenkel. Ich hielt still. War vielleicht nicht so gemeint, wie ich es mir wünschte. Es gab Berührungen, die rein freundschaftlicher Natur waren.

Halb elf streifte ihre Brust meinen Oberarm.

Um elf brachen wir auf.

Rudi, Werner und Anton waren plötzlich weg und Jo hing sich bei mir ein. Wir hatten den gleichen Weg. Vor der Schule blieb ich stehen.

„Bring mich noch ein Stück.“ Jo drückte meinen Arm. Die Bäckerei lag fast am Ende der Hauptstraße. Wir blieben im Schatten des Hauseingangs stehen.

„Mathe kann ganz interessant sein“, sagte Jo.

Deine Pfannkuchen sind viel interessanter, dachte ich und sagte: “Das lass mal meine Schüler hören.“

„Ich hab jedenfalls `ne Menge begriffen.“

Ich blickte in ihren Ausschnitt.

Sie sah es und grinste.

Verdammt, Felix, leg wenigstens mal die Hand drauf.

Ich hatte lange nichts Weibliches mehr berührt.

Ich tat es.

„Und du meinst, um zu begreifen musst du sie begreifen,“ lachte Jo, schob meine Hand aber nicht weg.

„Benutze redlich deine Zeit! Willst du begreifen, such`s nicht weit“, zitierte ich Goethe und meine Fingerspitzen sendeten Impulse über mein Gehirn in den Unterleib. Oder war das umgekehrt?

Egal, Hauptsache, es wurde wieder gesendet.

„Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah“, grinste Jo mich an.

„Am schönsten sind immer die Dinge, die andere besitzen.“ Ich schob meine Hand weiter zwischen Stoff und Haut.