Ein Killer in
Ostfriesland
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 110
Taschenbuchseiten.
Eine Serie von Attentatsversuchen und Morden erschüttert
Norddeutschland. Aber die Opfer scheinen nichts gemeinsam zu haben.
Privatdetektiv Björn Kilian aus Emden übernimmt den Fall, aber
plötzlich will sein Auftraggeberin nicht mehr, dass er ihn auch
tatsächlich aufklärt ...
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und
BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
www.AlfredBekker.de
Personen
Björn Kilian - Privatdetektiv
Eltje Dirksen - seine Assistentin
Tammo Remmers - der Chef der Kripo Emden
Herr Cornelius - ein Ermittler
Undine Lübbert - will, dass der Mord an ihrem Vater
aufgeklärt wird
1
Als Ihno Lübbert sich an diesem Morgen von seinem Chauffeur
ins Büro fahren ließ, war seine Laune nicht gerade besonders
gut.
Es gab Ärger in seiner Firma und wie es schien, würde er mit
dem eisernen Besen fegen müssen, um da wieder aufzuräumen. Aber im
Augenblick schienen seine Gedanken ganz woanders zu sein. Er
blickte nachdenklich aus dem Fenster, während der Chauffeur die
schwarze Limousine durch den Emder Morgenverkehr lenkte.
Es gab einen Punkt, an dem man sich fragte: Wozu das
alles?
Und vielleicht war Ihno Lübbert an diesem Punkt. Zwischendurch
schaute er kurz auf die Uhr.
Er war spät dran. Wenn man hinaus in den Regen sah und auf die
baustellenbedingte Blechlawine schaute, die sich durch die Straßen
quälte, konnte man auf die Idee kommen, dass es damit zu tun hatte,
dass Ihno Lübbert heute zum ersten Mal seit Jahren nicht pünktlich
war.
Aber daran lag es nicht.
Lübbert hatte seinem Notar noch einen kurzen Besuch
abgestattet. Auch eine Sache, die ihm nicht angenehm gewesen war
und die er lange vor sich hergeschoben hatte. Was soll's!, dachte
er. Jetzt habe ich wenigstens das hinter mir!
Und die Firma lief ihm schließlich nicht davon.
Wenn es sich einer leisten konnte, spät dran zu sein, dann er,
denn er war der Boss.
Es dauerte nicht mehr lange und der Wagen hielt vor dem
mächtigen Gebäude, in dessen Mauern die Lübbert Holding ihre Büros
hatte.
Der Wagen hielt; der Chauffeur stieg als Erster aus, um seinem
Boss die Tür zu öffnen.
Die Tür ging Sekunden später auf.
"Vielleicht brauche ich Sie in einer halben Stunde wieder!",
meinte Lübbert zum Chauffeur. "Halten Sie sich also bereit."
"Jawohl, Herr Lübbert!"
Lübbert stieg mit umständlichen, etwas ungeschickt wirkenden
Bewegungen aus.
Er hatte mindestens ein Dutzend Kilo Übergewicht und das
machte ihn langsam. Er keuchte erbärmlich und sein Gesicht war
puterrot angelaufen, als er schließlich neben seinem Chauffeur
stand.
Dann geschah es.
Lübbert hörte quietschende Reifen und das Heranbrausen eines
anderen Wagens.
Er drehte sich unwillkürlich dorthin um. Es war ein
zweisitziger Sportwagen mit verdunkelten Scheiben, so viel sah er
noch.
Alles Weitere dauerte nur Sekunden!
Eine der Scheiben ging ein Stück hinunter, etwas Längliches
schob sich einige Zentimeter hindurch und dann blitzte es auf
einmal.
Es war ein Mündungsfeuer ohne Schussgeräusch. Nur ein Klacken
des Abzugs, das durch die Geräusche der Umgebung fast völlig
verschluckt wurde.
Und trotzdem war es ein Geräusch, das Ihno Lübbert das Blut in
den Adern gefrieren ließ, denn er kannte es nur zu gut ... Es war
ein verdammt hässliches Geräusch, auch wenn es kaum zu hören
war.
Ihno Lübbert sah eine Kugel am Lack der Limousine kratzen,
direkt vor seinen Augen, oben auf dem Dach.
Und noch ehe er wirklich begriffen hatte, was vor sich ging,
und dass der Fahrer des fremden Wagens es ganz offensichtlich auf
sein Leben abgesehen hatte, wurde ein zweiter Schuss abgefeuert.
Und ein Dritter und dann noch ein Vierter. Lübbert sah den
Chauffeur mit einem kleinen, runden Loch im Kopf auf dem Pflaster
liegen.
Die Augen starrten weit aufgerissen in den bewölkten Himmel.
Er war tot.
Lübbert war wie gelähmt.
Dann fühlte er einen höllischen Schmerz in der linken
Schulter. Die Wucht des ersten Treffers riss ihn herum. Die zweite
Kugel fuhr ihm seitlich in den Brustkorb.
Das Letzte, was er fühlte, war Schwindel.
Alles begann sich drehen.
Und dann kam die Schwäche.
Seine Beine knickten ihm unter dem Körper weg, und er sackte
zu Boden. Er hörte noch wie Leute zusammenliefen und aufgeregt
durcheinanderredeten.
Irgendjemand schrie hysterisch.
Und dann hörte Lübbert die quietschenden Reifen des
Sportwagens mit den verdunkelten Scheiben, der offensichtlich
davonraste.
Soon Schiet!
Das war sein letzter Gedanke.
Dann wurde es auf einmal stumm in seiner Umgebung und dunkel
vor seinen Augen.
Sehr, sehr dunkel ...
2
Die Tür flog auf und Björn Kilian kam schwungvoll herein. Er
hatte den Mantel bereits ausgezogen, knöpfte sich nun den obersten
Hemdknopf auf und lockerte dann seine Krawatte etwas.
"Guten Morgen, Eltje!", grüßte er gut gelaunt Eltje Dirksen,
seine Assistentin.
"Moin, Björn!"
"Moin, Moin. Ich weiß, ich bin etwas spät dran. Aber dieser
verdammte Verkehr!"
"Emden wird umgebaut."
"So kann man es auch ausdrücken."
Eltje erhob sich von ihrem Platz und trat zu Kilian heran, der
unterdessen seinen Mantel irgendwo abgelegt hatte.
"Du hast Glück, Björn!"
"Inwiefern?"
"Die Klientin, die seit fast einer Stunde in deinem Büro
wartet und der ich bereits die dritte Tasse Kaffee aufgebrüht habe,
sieht dermaßen verzweifelt aus, dass sie wahrscheinlich auch noch
ein paar weitere Stunden auf sich genommen hätte!" Björn zuckte mit
den Schultern.
"Leute, die ein sorgloses Leben führen und keinerlei Probleme
haben sind ja auch nicht gerade die typische Kundschaft eines
Privatdetektivs, oder?"
Als Björn Kilian einen Moment später sein Büro betrat, wusste
er, was Eltje gemeint hatte.
Da saß eine junge Frau vor ihm im Sessel, die wirklich alles
andere, als ein glückliches Gesicht machte. Sie hatte
ausdrucksstarke, grüngraue Augen, ein fein geschnittenes Gesicht
und das lange blonde Haar fiel ihr auf die Schultern herab.
Sie gefiel Björn.
Aber es war ihrem Gesicht anzusehen, dass sie große Sorgen
haben musste.
Björn grüßte höflich.
"Moin, Frau ..."
"Undine Lübbert", sagte sie.
Björn gab ihr die Hand und versuchte zu lächeln.
"Angenehm."
"Sie sind Björn Kilian, der Privatdetektiv?"
"Richtig."
"Eigentlich eine dumme Frage. Ich habe Ihr Bild nämlich vor
ein paar Tagen in der Zeitung gesehen ... Sie sollen der Beste
sein, Herr Kilian."
"Man tut was man kann", erwiderte Björn bescheiden und setzte
sich hinter seinen Schreibtisch. "Aber nennen Sie mich Björn! Und
dann sagen Sie mir bitte, was Sie auf dem Herzen haben."
"Waren Sie ein Hippie?"
"Wieso?"
"Weil Sie sich Björn nennen lassen. Eigentlich sind Sie nicht
ganz der richtige Jahrgang, um diese Zeiten noch erlebt zu haben.
Oder biedern Sie sich an diesen amerikanischen Business-Umgang an,
der auch die inflationäre Benutzung des Vornamens vorsieht."
Björn atmete tief durch.
"Wie gesagt, nennen Sie mich Björn, wenn Sie wollen", sagte er
dann. Eine komplizierte Frau, dachte er. Vielleicht auch ein
komplizierter Fall. Mal sehen.
Sie sagte: "Vielleicht haben Sie schon einmal den Namen meines
Vaters gehört - Ihno Lübbert."
Björn überlegte kurz, aber dann schüttelte er den Kopf.
"Nein, tut mir leid. Jedenfalls fällt es mir im Moment nicht
ein."
"Ihno Lübbert von der Ihno Lübbert Holding."
"Ich lese zwar nicht regelmäßig den Wirtschaftsteil in der
Zeitung, aber den Namen der Firma habe ich schon gehört. Was ist
mit Ihrem Vater?"
"Auf ihn wurde gestern ein Mordanschlag verübt. Es steht heute
in den Zeitungen."
Björn sah das zusammengefaltete Exemplar der Emder Nachrichten
auf seinem Tisch liegen.
"Ich bin heute noch nicht dazu gekommen, die Zeitung zu lesen
oder ins Internet zu sehen!", gab er zu. "Und abgesehen davon war
ich eine Woche in Holland. Zum Segeln. Darum bin ich vielleicht
nicht so ganz im Bilde, was sich hier in Emden so ereignet
hat."
"Das hiesige ‘Große Meer’ ist zu klein für einen Mann von Welt
- wie Sie?"
Björn Kilian hob die Augenbrauen.
"Manchmal ja."
"Wechseln Sie nur die Segelreviere oder sind Sie auch sonst
ein wechselhafter Charakter?"
"Jedenfalls kann sich jeder, der mir einen Ermittlungsauftrag
gibt, darauf verlassen, dass ich ihn auch so weit wie irgend
möglich zu Ende führe."
"Das freut mich zu hören."
"Das dachte ich mir."
"Nun …"
"Erzählen Sie mir, was passiert ist und ich werde Ihnen dann
sagen, ob ich etwas für Sie tun kann."
Sie nickte.
"In Ordnung."
Björn Kilian lehnte sich etwas zurück und schlug die Beine
übereinander.
"Ich höre."
"Ein Wagen kam vorbei. Mit verdunkelten Scheiben. Und dann
wurde geschossen. Der Chauffeur ist dabei ums Leben gekommen, aber
es sieht wohl ganz so aus, als hätte man es eigentlich auf Pa
abgesehen gehabt ... Mein Vater liegt jetzt noch immer auf der
Intensivstation. Er ist noch nicht über den Berg."
"Hat die Polizei schon ...?"
"Die können nicht viel machen."
"Aber ..."
"Es ist nicht der erste Versuch, Papa umzubringen, Herr Kilian
- ich meine: Björn!"
"Ach, nein?"
"Nein. Einmal hat jemand seinen Wagen in die Luft gesprengt.
Das ist drei Wochen her. Er hatte Glück, denn er ist noch mal
ausgestiegen, weil er etwas vergessen hatte. Da ist der Wagen in
die Luft gegangen."
"Stimmt - davon habe ich gelesen."
"Selbst das Fernsehen hat darüber berichtet. War leider nicht
zu verhindern."
"Das sieht nach der Arbeit von Profis aus", meinte Kilian.
Undine Lübbert nickte.
"Ja, das haben die Leute von der Polizei auch gesagt."
"Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?"
"Ja. Die Sache ist ziemlich eindeutig." Björn runzelte die
Stirn.
So etwas hatte man selten. Eindeutig, dachte der
Privatdetektiv, ist ein großes Wort und sie spricht es sehr
gelassen aus.
Björn fragte: "Und wer?"
"Darko Markovic. Ich denke, dass er hinter den Killern
steckt."
Björn pfiff durch die Zähne.
"Markovic?" Er atmete tief durch. "Wenn das der Markovic ist,
den ich im Auge habe, dann hat Ihr Pa aber keinen besonders guten
Umgang!"
"Ich weiß, Björn."
"Haben Sie Polizeischutz für Ihren Vater gefordert?"
"Nein."
"Warum nicht?"
"Er hat seine eigenen Bewacher und Sicherheitsleute!"
"Die kann Markovic mit seiner Portokasse kaufen!"
"Das könnte er auch bei einem Polizisten, oder etwa nicht?" Da
musste Björn ihr Recht geben.
"Stimmt. Aber er ist in Gefahr. Und Sie auch."
"Ich bin nicht ängstlich!"
"Das sollten Sie in diesem Fall aber. Markovic war mutmaßlich
schon eine große Nummer im organisierten Verbrechen
Norddeutschlands, als ich noch bei der Polizei war. Man konnte ihm
allerdings nie etwas nachweisen, obwohl jedem klar war, dass seine
Geschäfte faul waren. Waffen, Drogen, Geldwäsche,
Schutzgelderpressung - der hat seine Finger überall, wo es viel zu
verdienen gibt." Björn beugte sich etwas vor. "Was hatte Ihr Vater
mit Darko Markovic zu tun? Wie kommt es, dass Markovic ihn tot
sehen will? Vorausgesetzt es stimmt, was Sie mir da erzählt
haben."
Undine schwieg.
Björn lehnte sich zurück und legte etwas die Stirn in Falten.
Etwas war faul an der Sache. Etwas stimmte hier nicht, vielleicht
betraf das nicht die junge Frau, die vor ihm saß, aber bestimmt
ihren Vater.
"Dazu möchte ich nichts sagen", meinte sie. "Und ich denke,
Sie müssen das auch nicht wissen! Ich möchte einfach nur, dass Sie
dafür sorgen, dass mein Vater am Leben bleibt. Mehr nicht!"
"Warum können das nicht die Sicherheitsleute Ihrer
Firma?"
"Sie können das schon, aber ich traue ihnen nicht."
"Aber mir trauen Sie?"
Sie zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht. Irgendetwas muss man ja unternehmen!" Björn sah
sie einen Moment lang nachdenklich an. Dann sagte er: "Sie sollten
mir sagen, was zwischen Ihrem Vater und Markovic war und wodurch er
ihm auf die Füße getreten hat!"
Einen Moment lang schien sie unschlüssig zu sein. Dann
schüttelte sie mit Entschiedenheit den Kopf.
"Nein", sagte sie. "Das kommt nicht infrage!"
"Dann kann ich leider nichts für Sie tun!"
"Aber ..."
"Ich muss wissen, worum es geht, wenn ich Ihren Vater schützen
soll! Jedenfalls ungefähr! Ansonsten sollten Sie sich jemand
anderen suchen!"
Björn hatte sich erhoben.
"So war das nicht gemeint", beeilte sich Undine. "Kann ich
mich auf Ihre Diskretion verlassen?"
"So, als wenn Sie zur Beichte gehen würden."
Sie schluckte.
"In Ordnung."
"Gut."
"Dann hören Sie mir jetzt zu …"
3
Als Undine gegangen war und nachdem sie bei Eltje Dirksen ihre
Adresse sowie die Adresse des Krankenhauses, in dem sich ihr Vater
befand, hinterlassen hatte, wusste Björn Kilian, dass sie ihm nicht
alles gesagt hatte, was sie wusste.
Fest stand wohl, dass Ihno Lübbert nicht immer jener seriöse
Geschäftsmann gewesen war, als der er heute auftrat. Die Tatsache
allein, dass Lübbert mit einem Mann wie Darko Markovic in Beziehung
stand, belegte das noch nicht, denn Markovics Unternehmen teilten
sich in einen legalen und einen kriminellen Zweig - sowie alles was
dazwischen denkbar war. Undine hatte gesagt, es sei vor vielen
Jahren um ein illegales Geldwäschegeschäft gegangen, bei dem
Lübbert dann ausgestiegen sei.
Und das hätte Markovic ihm nicht verzeihen können. Aus seinem
Syndikat stieg man nicht so einfach aus. Lübbert - er hatte damals
diesen Namen noch nicht getragen - war untergetaucht und hatte
unter neuer Identität von vorne angefangen. Aber jetzt - nach all
den Jahren - schien Markovic auf ihn aufmerksam geworden zu sein
...
Der Instinkt sagte Kilian, dass da noch mehr war ... Er konnte
das nicht begründen, jedenfalls nicht logisch. Es war einfach so
ein Gedanke, der ihn angeflogen hatte und sich nun hartnäckig in
seinem Gehirn festsetzte.
Wie beiläufig griff Björn zum Telefon und wählte eine Nummer -
eine Nummer, die er im Schlaf kannte.
"Moin", kam es zwischen seinen Lippen hindurch, als auf der
anderen Seite jemand den Hörer abnahm.
"Wer spricht dort?"
Es war eine unfreundliche, gestresste Männerstimme, die er da
auf der anderen Seite hörte. Aber sie gehörte nicht dem Mann, den
er jetzt sprechen wollte.
"Hier ist Björn Kilian. Ist Hauptkommissar Remmers zu
sprechen?"
"Nein. Ist nicht da. Vielleicht kann ich Ihnen helfen!"
"Wann kommt Remmers zurück?"
"Keine Ahnung. Könnte länger dauern. Vielleicht am
Nachmittag."
Kilian verzog ärgerlich das Gesicht.
"Tschüss", brummte er und legte auf. Dann erhob er sich ging
hinaus zu Eltje.
"Du kannst etwas für mich tun", meinte er. Eltje lächelte von
einem Ohr zum anderen.
"Aber immer, Björn!"
"Bring alles in Erfahrung, was sich über Ihno Lübbert
herausbekommen lässt! Das dürfte nicht allzu schwierig sein,
schließlich ist er relativ bekannt!"
"Okay, Björn. Und wohin gehst du?"
"Kleiner Ausflug", meinte er nur und grinste. Und dabei hatte
er schon den Mantel gegriffen. Draußen regnete es Bindfäden.
4
Es war eine ziemlich heruntergekommene Bar. Dicke
Rauchschwaden hingen über den einfachen Tischen. An der Theke saßen
ein paar Damen des horizontalen Gewerbes herum und tranken mit
verkaterten Gesichtern Kaffee. Es war noch zu früh am Tag. Zu früh,
um zu arbeiten, zu früh für Kundschaft. Ein Stockwerk höher war
das, was sich offiziell ein Hotel nannte. Dort hatten die Frauen
ihre Zimmer.
Der dicke Barkeeper hinter dem Schanktisch, der
höchstwahrscheinlich auch sein eigener Rausschmeißer war, hatte
sein Lokal durchgehend geöffnet. Er konnte es sich nicht leisten,
auch nur einen Cent zu verschenken, den irgendein Zecher hier
vertrinken wollte.
Als Björn Kilian den Laden betrat, glitt sein Blick schnell
durch den Raum. Dann, als er zum Billardtisch sah, hatte er
gefunden, wen er suchte.
Ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann versuchte sich dort in
verschiedenen Kunststößen.
Er spielte allein.
Das war der Mann, den Kilian gesucht hatte!
"Tag, Bradenbach!", meinte der Privatdetektiv knapp, als er zu
ihm an den Billardtisch trat.
Bradenbach blickte auf und runzelte zunächst die Stirn. Dann
entspannte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig. Schließlich
grinste er von einem Ohr bis zum anderen.
"Tag, Kilian. Wie geht's?"
"Ich kann nicht klagen. Und Ihnen?"
"Die Zeiten sind hart für Leute wie mich!"
"Für Leute wie Sie gibt's doch immer ein paar Schleichwege
oder irre ich mich da etwa?"
Kilian hatte damit gerechnet, Bradenbach um diese Zeit hier
anzutreffen. Er war ein Hehler, der Geschäfte mit allem machte, was
sich zu Geld machen ließ.
Roy Bradenbach war fünf Nummern kleiner als Leute vom Schlage
eines Darko Markovic, aber mit diesen hatte er gemein, dass die
eine Hälfte seiner Geschäfte diesseits, die andere Hälfte jenseits
der Grenze lag, die das Gesetz zog.
Bradenbach handelte mit allem.
Auch mit Informationen und genau das war der Grund, weshalb
Björn Kilian ihn ab und zu aufsuchte.
Björn blickte sich nach den Mädchen an der Theke um, aber die
kümmerten sich nicht um ihn oder Bradenbach.
Und auch der Barkeeper machte sich - nach ein paar
anfänglichen misstrauischen Blicken - an seinen Gläsern zu
schaffen. Er spülte ab und schepperte dabei so laut herum, dass das
allein schon einen guten Schutz gegen unliebsame Zuhörer
bedeutete.
"Ich schätze, Sie sind nicht gekommen, um mir beim Billard
zuzusehen!", meinte Bradenbach.
"Nein, das ist richtig."
"Kommen Sie! Es ist langweilig, allein zu spielen!"
"Nein, danke. Ich habe es ziemlich eilig." Bradenbach ließ die
Kugeln über den Tisch sausen, dann richtete er sich auf und stützte
den Queue auf den Boden.
"Also ... Zur Sache, Kilian! Was wollen Sie wissen?" Anrede
mit Nachnamen und ohne ein höfliches ‘Herr’ davor - das war
ostfriesisch.
Sich dabei zu siezen, allerdings nicht. Das war hochdeutsch -
und wirkte in dieser speziellen Mischung dann auch immer etwas
angestrengt.
Der Privatdetektiv sah Roy Bradenbach gerade an.
"Darko Markovic ...", murmelte Björn.
Bradenbach pfiff durch die Zähne.
"Wie kommen Sie denn an den?"
"Meine Sache."
"Gut, aber Auskünfte über Markovic sind nicht billig,
Kilian!"
"Ich verstehe ..."
Björn Kilian griff in seine Manteltasche und holte ein paar
Scheine heraus, von denen er Bradenbach einige auf den Billardtisch
legte.
Bradenbach zählte nach und steckte das Geld weg. Aber sein
hungriger Blick blieb bei den Scheinen, die Björn noch in den
Händen hielt.
"Was wollen Sie über Markovic wissen?"
"Alles. Was macht er im Moment so?"
"Sie sind doch mal bei der Polizei gewesen, oder?"
"Ja ..."
"Hm …"
"Ist schon länger her …"
"Trotzdem …"
"Was trotzdem?"
"Dann dürfte Ihnen der Name Markovic doch geläufig sein, Herr
Kilian!"
"Ist er mir auch."
"Ach, nee!?"
"Ich möchte aber wissen, was er jetzt so treibt."
"Dasselbe wie eh und je."
"Hätte ich mir denken können."
"Aber er bemüht sich nun sehr darum, saubere Finger zu
behalten. An seinen Händen klebt kein Blut, nicht einmal Dreck. Da
achtet er sehr drauf. Wollen Sie genau wissen, in welchen
Geschäften er im Moment drinhängt?"
"Ja, das kann nicht schaden. Hören Sie sich in der Szene
um!"
"Gut, ich rufe Sie dann an, Kilian. War's das?"
"Nein. Da ist noch etwas Spezielles ..." Bradenbach zog die
Augenbrauen hoch.
"Raus damit, Kilian!"
"Irgendjemand hat es auf Ihno Lübbert von der Ihno Lübbert
Holding abgesehen. Gestern ist auf ihn geschossen worden, jetzt
liegt er in der Intensivstation ..."
"Und Sie denken, dass Markovic dahintersteckt."
"Ja."
"Das ist 'ne heikle Sache!"
"Ich weiß."
"Wenn Markovic tatsächlich dahintersteckt, macht er das so,
dass niemand die Sache mit ihm in Verbindung bringen kann. Profis,
Sie verstehen?"
"Natürlich. Versuchen Sie trotzdem, etwas
aufzuschnappen."
"Dafür reicht das aber nicht, was Sie mir gerade gegeben
haben!"
Björn Kilian lachte und legte Bradenbach die restlichen
Scheine hin, die er noch in der Hand hielt. Dann drehte Björn sich
um und ging.
5
Draußen war das Wetter immer noch hundsmiserabel. Aber
immerhin war der Platzregen von einem beständigen Nieseln abgelöst
worden.
Es roch nach Salz.
Salz und Meer.
Der Wind blies vom Dollart her.
Björn Kilian schlug sich den Mantelkragen hoch und beeilte
sich damit, hinter das Steuer seines Wagens zu kommen. Eine halbe
Stunde später war Björn Kilian auf der Intensivstation jener
Klinik, die Undine ihm angegeben hatte. Als er das rot geweinte
Gesicht der jungen Frau sah, wusste er, dass etwas geschehen war.
Es war nicht schwer zu erraten, was. Björn legte ihr den Arm um die
Schulter und gab ihr sein Taschentuch.
"Er ist tot", murmelte sie. "Pa ist tot! Er ist seinen
Verletzungen erlegen, hat der Arzt gesagt. Sie konnten nichts mehr
machen ..."
"Es tut mir leid für Sie, Undine!"
Sie blickte auf und Björn Kilian geradewegs in die
Augen.
"Jetzt ist ein Mordfall daraus geworden, nicht wahr?"
Björn nickte. "Ja."
"Ich möchte, dass Sie den finden, der meinen Vater umgebracht
hat. Geld spielt dabei keine Rolle!"
"Ich werde tun, was ich kann!"
"Tun Sie das!"
"Sind Sie mit dem Taxi gekommen, das da draußen wartet?"
"Ja."
"Soll ich Sie nach Hause bringen?"
Zwei Sekunden lang schien sie unschlüssig zu sein und zu
überlegen.
Aber dann nickte sie schließlich.
"Ja."
Es machte den Eindruck, als wären ihre Gedanken weit weg. Sehr
weit ...
6
Sie fuhren durch den dichten Stadtverkehr und den Regen. Beide
schienen innerhalb der letzten halben Stunde wieder zugenommen zu
haben.
Sie sprachen kaum mehr als das Nötigste.
Undine wohnte in der Villa ihres Vaters, draußen in
Suurhusen.
Und genau dorthin ging es jetzt.
Vielleicht würde es etwas bringen, sich dort etwas umzusehen,
irgendetwas - und wenn es nur eine Kleinigkeit war ... Wenn es
wirklich Markovic war, der hinter diesem Mord steckte, dann würde
die Schwierigkeit darin bestehen, es ihm zu beweisen. Zumindest,
dass er den Auftrag gegeben hatte. Den Mann, der den Abzug der
Schalldämpfer-Pistole betätigt hatte, würde man wahrscheinlich in
hundert Jahren nicht in die Hände bekommen.
Der hatte sich wahrscheinlich längst abgesetzt und war über
alle Berge. Und irgendwann würde er dann wieder aus dem Nichts
heraus auftauchen, um einen anderen Menschen umzubringen, für einen
anderen Auftraggeber ...
Aber vielleicht hatten sie Glück und es handelte sich um einen
Killer, der öfter für Markovic arbeitete, einen aus seinem eigenen
Stall.
In dem Fall gab es vielleicht eine Fährte, die nicht schon
völlig kalt war.
Und vielleicht war in Ihno Lübberts Haus, in seinen
Unterlagen, privaten Aufzeichnungen, irgendwo etwas zu finden, das
auf Markovic hindeutete.
Während der Wagen über die Straße glitt, blickte Björn kurz zu
Undine hinüber, die mit in sich gekehrtem Gesicht neben ihm auf dem
Beifahrersitz saß und hinaus aus dem Fenster blickte.
Direkt in den trostlosen Regen hinein.
Und genauso sah es auch wohl in ihrem Inneren aus. Björn hatte
Verständnis dafür. Aber vielleicht war es an der Zeit, sie ein
wenig abzulenken.
"Hat die Polizei Sie eigentlich schon vernommen?", fragte er
plötzlich und unterbrach damit das Schweigen.
"Ja, kurz. Gerade eben im Krankenhaus. Der Mann ist gegangen,
bevor Sie kamen ..."
"Und?"
"Der Ermittler hat mir, ehrlich gesagt, wenig Hoffnung auf
eine schnelle Aufklärung gemacht. Er hat mir alles Mögliche erzählt
..."
"Wie hieß der Mann?"
"Ich glaube Cornelius. Kennen Sie ihn, Björn?"
"Nein."
"Einen sehr aufgeweckten Eindruck machte der jedenfalls
nicht."
"So?"
"Und würde mich auch nicht wundern, wenn diese ostfriesischen
Dorfpolizisten nicht gerade einen übermäßigen Ermittlungseifer an
den Tag legen werden."
"Wieso?"
"Pa hatte Feinde. Mächtige Feinde. Auch in der Politik, im
Rathaus und bei den Behörden. Das ist doch alles ein einziger
Klüngel, wenn Sie verstehen, was ich meine."
"Nein, ich fürchte, ich weiß nicht genau, was Sie
meinen."
"Nicht?"
"Können Sie mir irgendetwas Konkretes sagen? Namen ...?"
Sie hob die Augenbrauen.
"Wenn ich die so genau wüsste, dann bräuchte ich Sie nicht zu
engagieren, oder?"
"Auch wieder wahr."
"Pa hat nicht viel über diese Dinge geredet. Geschäftliches
war kein Gesprächsthema. Und diese … unangenehmen Dinge … auch
nicht. Aber so manches Projekt der Lübbert Holding hatte mächtige
Gegner."
"Zum Beispiel?"
"Zum Beispiel weiß ich, dass sich die Lübbert Holding an einer
Supermarktkette beteiligt hat, die in Emden zwei Filialen aufmachen
will. Klar, dass Sie dann für den Einzelhandel der Todfeind sind
und auch entsprechend nett formulierte und natürlich anonyme
Drohbriefe bekommen."
"Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich in den Sachen Ihres Vaters
herumstöbern würde?"
"Nein. Was hoffen Sie denn zu finden?"
Er zuckte mit den Schultern. "Vorher weiß man das nie so
genau!"
7
Die Villa der Lübberts war gut gesichert, das fiel Björn
sofort auf. Es war das Haus eines Mannes, der in ständiger Angst
davor gelebt haben musste, dass er eines Tages unliebsamen Besuch
bekommen würde.
Jedenfalls machte es ganz den Anschein.
Eine hohe Mauer umgab das Anwesen und ein Wachmann öffnete für
Björn Kilians Wagen das Tor, nachdem Undine sich an einem
Sprechgerät zu erkennen gegeben hatte. Ein massives, gusseisernes
Tor ging zur Seite und Björn fuhr den Wagen bis vor das Haus, das
von einem weiträumigen Garten umgeben war.
Björn blickte sich kurz um und bemerkte die Video-Anlage, die
das Grundstück überwachte. Irgendwo bellte ein Hund. Es war ein
aggressives Geräusch und klang ganz und gar nicht nach einem
Schoßhund.
Vielleicht ein Dobermann, überlegte Björn. Irgend so etwas in
der Art musste es sein!
"Kommen Sie, Björn!", meinte Undine und öffnete die Tür. Sie
stiegen beide aus, die Türen klappten zu.
Ein paar Stufen führten zu einem großen Portal und wenig
später waren sie dann drinnen.
Ein Hausmädchen empfing sie bei der Tür.
Als sie dann in das große Wohnzimmer kamen, erstarrte Undine
plötzlich.
Auf dem Sofa lag ein Mann.
Er lag ausgestreckt da, hatte die Schuhe ausgezogen und über
den Teppich verstreut. Auf dem Tisch standen ein paar Flaschen,
alles Spirituosen und ein Tropfen edler als der andere.
"Hinnerk!", entfuhr es Undine Lübbert völlig überrascht. Björn
Kilian hob die Augenbrauen und wartete ab. Undine ging auf Hinnerk
zu, der sich - offenbar mit einiger Mühe - aufsetzte. In der
Rechten hatte er ein Glas. Er rülpste ungeniert. Anscheinend hatte
er ein paar Gläser zu viel zu sich genommen.
"Moin, Undine", murmelte er. "Wie geht's dir?" Sie schien
alles andere, als erfreut zu sein.
"Seit wann bist du hier, Hinnerk?", erkundigte sie sich dann
in einem ziemlich reservierten Tonfall.
"Ein paar Stunden schon ..."
"Was willst du hier? Geld?"
"Ich habe das mit Pa gehört und da ..."
"Im Krankenhaus bist du jedenfalls noch nicht gewesen!" Ihr
Gesicht war eisig geworden und ihr Gegenüber musste ihre letzten
Worte wie ein Schlag ins Gesicht empfinden. Aber Hinnerk zuckte nur
mit den Achseln, als wäre es nichts.
"Na, und? Ich dachte mir, ich komme erst einmal
hierher!"
"Vater ist inzwischen gestorben!"
Zunächst verursachte diese Nachricht bei Hinnerk keine
sichtbare Reaktion.
Dann zuckte er erneut mit den Schultern.
Undine wandte sich zu Björn herum.
"Das ist Hinnerk Lübbert - mein ehrenwerter Herr Bruder!"
Björn nickte ihm zu und Hinnerk hob sein Glas.
"Angenehm!", rief er und stand dann auf. Er war sichtlich
unsicher auf seinen Füßen. "Vielleicht sagst du mir mal, wen du da
mitgebracht hast, Schwesterherz! Ein Geliebter vielleicht?"
"Du bist geschmacklos, Hinnerk!"
"War ja nur eine Frage!"
"Das ist Björn Kilian. Er ist Privatdetektiv und soll
herausfinden, wer Vater umgebracht hat!"
Hinnerk Lübbert verzog das Gesicht.
Dann brummte er: "Das liegt doch auf der Hand! Markovic hat
ihn endlich erwischt! War ja letztlich auch nur eine Frage der
Zeit!" Er rülpste erneut.
"Das ist eine Vermutung", erklärte Björn Kilian. "Mehr
nicht."
"Klar, ich verstehe!", meinte Hinnerk. "Sie wollen auch Ihr
Geld verdienen. Habe ich Verständnis für! Bestimmt! Und unser alter
Herr war ja auch kein armer Mann! Da können Sie gesalzene Honorare
einfordern!" Er wandte sich an Undine. "Du musst wissen, was du
tust, Schwester!"
"Ich weiß sehr genau, was ich tue!", versetzte Undine bissig.
Hinnerk wandte sich ab, nahm eine der Flaschen vom Tisch und
verließ den Raum. Irgendwo hörte man ihn eine Treppe
hochschlurfen.
"Ihren Bruder haben Sie mir bisher verschwiegen!", meinte
Björn.
"Sie haben mich bisher auch nicht danach gefragt!"
"Eins zu null für Sie! Ihr Verhältnis scheint nicht das Beste
zu sein, habe ich recht?"
Sie atmete tief durch.
"Hinnerk hat ein paar Probleme." Sie deutete auf die Flaschen
und Björn verstand, was sie meinte.
"Das ist nicht zu übersehen", meinte er.
"Er trinkt unmäßig, ist über dreißig und hat bisher immer nur
von dem gelebt, was Pa ihm geschickt hat."
"Er lebt nicht in Emden, nicht wahr?"
"Nein, in Berlin. Dort hat er studiert - oder besser gesagt:
Er hat dort das getrieben, was er so zu nennen pflegt! Es wundert
mich, dass er offensichtlich genug Geld zur Hand gehabt haben muss,
um sich eine Bahnkarte leisten zu können."
"Wir sollten uns jetzt beeilen!", meinte Björn.
"Beeilen?"
"Ja, mit der Durchsicht der Sachen Ihres Vaters. Wenn die
Polizei erst einmal alles in Unordnung gebracht hat ..."
"Sie meinen, dass die noch kommen?"
"Es ist ein Wunder, dass sie noch nicht da waren!
Wahrscheinlich sehen die sich erst einmal die Büroräume der Ihno
Lübbert Holding an!"
8
Die Durchsicht der Privatsachen von Ihno Lübbert brachte kaum
neue Erkenntnisse.
Sie wollten es schon aufgeben, da tauchte ein merkwürdiger
Brief auf. Undine fand ihn in einem der Jacketts ihres Vaters. Die
Buchstaben waren aus Zeitungen und Magazinen herausgeschnitten und
auf ein weißes Blatt Papier geklebt worden: DU RATTE! DEIN LEBEN
IST ZU ENDE!
Undine gab Björn das Papier und dieser las mit nachdenklichem
Gesicht die zwei Zeilen.
"Könnte Markovic sein, nicht wahr?", meinte Undine.
Björn Kilian nickte. "Ja, es passt alles zusammen ..."
Als Björn und Undine wieder ins Wohnzimmer zurückkehrten,
klingelte es an der Tür.
Wenig später brachte das Hausmädchen zwei Männer ins
Wohnzimmer.
Einer von ihnen trug eine Polizeiuniform, der andere war in
Zivil.
Aber in was für einem Zivil!
Björn Kilian musste unwillkürlich etwas Schmunzeln. Der Mann
trug einen riesigen Stetson auf dem Kopf und eine kurze braune
Jacke, dazu Blue Jeans und Cowboystiefel. Er sah aus, als wäre er
einem Wildwest-Film entstiegen. Lediglich die Rolex an seinem Arm
störte diesen Eindruck ein wenig.
Er zog seine Marke hervor und hielt sie Björn und Undine
entgegen.
"Cornelius, Kriminalpolizei. Wir kennen uns ja schon", raunte
er. Er hatte einen typisch ostfriesischen Akzent und sprach sehr
langsam und überdeutlich. Wie ein Ostfriese, der hochdeutsch zu
sprechen versucht und dabei sehr genau darauf achtet, auch ja jede
grammatische Endung richtig zu bilden.
Dabei hätte er das gar nicht nötig gehabt. Schließlich gab ihm
der Cowboy-Hut eigentlich doch schon genug weltmännische
Aura.
Cornelius holte ein Papier aus der Tasche und hielt es Undine
unter die Nase.
Björn brauchte gar nicht erst hinzusehen. Er wusste auch so,
worum es sich handelte. Solche Blätter hatte er oft genug
gesehen!
Björn lächelte dünn, während Cornelius eine überaus wichtige
Miene aufsetzte und sich breitbeinig aufbaute. Er wandte sich an
Undine.
"Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, Frau Lübbert. Ich denke,
Sie machen uns keine Schwierigkeiten!" Sein Tonfall war ziemlich
scharf und Undine Lübbert machte einen teils überrumpelten, teils
verwirrten Eindruck.
"Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich?", meinte sie und hob
dabei die Augenbrauen.
Cornelius zuckte mit den Schultern.
"Hätte ja sein können." Dann wandte er sich an Björn. "Darf
ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?" Die
burschikose Art seines Gegenübers sagte Björn nicht allzu sehr zu.
Aber er sagte sich, dass dahinter vermutlich eine große
Unsicherheit verborgen lag.
Björn hoffte nur, dass sich mit diesem Cowboy zusammenarbeiten
ließ, denn schließlich waren sie beide hinter demjenigen her, der
Ihno Lübbert auf dem Gewissen hatte. Björn stellte sich vor.
"Mein Name ist Björn Kilian", sagte er. "Ich bin
Privatdetektiv."
"Zeigen Sie mal Ihren Ausweis!"
Björn holte ihn hervor und hielt ihn Cornelius hin. Dieser
nahm ihn mit einer nachlässigen Geste an sich. Cornelius warf einen
Blick auf das Dokument, nickte dann und gab es seinem Besitzer
zurück.
"Okay. Und was tun Sie hier?"
"Frau Lübbert hat mich engagiert, um den Mörder ihres Vaters
zur Rechenschaft zu ziehen!"
Cornelius schob sich den riesigen Stetson in den Nacken und
verzog das Gesicht.
Die Anwesenheit des Privatdetektivs schien ihm nicht so recht
zu schmecken.
"Sie vertrauen der Arbeit der Polizei nicht?", brummte er.
"Ist ja reizend ..."
"Nehmen Sie es nicht persönlich", meinte Björn und lächelte
dünn.
Cornelius machte eine großspurige Geste.
"Wie käme ich dazu", meinte er sarkastisch. Er nahm es sehr
wohl persönlich, das war ihm deutlich anzusehen.
"Dann ist ja alles in Ordnung", murmelte Björn und dabei
dachte er: Der Mann hat etwas von einem bissigen Terrier, der um
jeden Preis sein Revier verteidigt!
"Ich glaube, Hauptkommissar Remmers hat Ihren Namen mal
erwähnt, Herr Kilian ..."
"Grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie ihn sehen!"
"Täglich!" Er atmete tief durch. "Ich schätze, Sie haben hier
schon alles durchgewühlt."
"So ist das nun einmal, wenn man zu spät dran ist, Herr
Cornelius!"
"Wir waren in den Büroräumen."
"Habe ich mir gedacht."
"Haben Sie irgendetwas gefunden, dass für den Fall von
Interesse sein könnte? Sie wissen, dass das Zurückhalten von
Beweismaterial strafbar ist, nicht wahr?"
"Herr Cornelius, ich schlage vor, dass wir
zusammenarbeiten!"
Cornelius lachte rau.
"Wie stellen Sie sich das konkret vor?"
"Ein Deal, Herr Cornelius! Sie sagen mir, was in den
Büroräumen gefunden wurde, und ich sehe dann, was ich für Sie tun
kann!"
"Oh, nein, Herr Kilian! So nicht!"
"Bitte, wie Sie wollen! Aber Sie könnten vielleicht eine Menge
Zeit sparen!"
Cornelius schien unsicher.
Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Dann nickte
er.
"Gut. Erst Sie, Herr Kilian!"
"Nein, umgekehrt!"
"Sie sind eine harte Nuss, Herr Kilian!"
"Wollen Sie weiter lamentieren oder Ihre Pflicht tun und etwas
unternehmen, damit ein Mörder gefasst wird?"
Cornelius bleckte die Zähne. Dann seufzte er hörbar.
"Sie haben gewonnen, Herr Kilian! Aber wehe, wenn Sie dann am
Ende nichts vorzuweisen haben!"
"Schießen Sie los!"
"Wir haben die Leute in der Firma vernommen und die Büroräume
durchsucht. Die Lübbert Holding hat nicht mehr als zwei Dutzend
Angestellte, obwohl sie einen Umsatz von mehreren hundert Millionen
im Jahr hat. Diese Firma besitzt ihrerseits wiederum erhebliche
Beteiligungen an verschiedenen Firmen und bestimmt zum Teil auch
deren Firmenpolitik."
"Was für Firmen?"
"Quer durch den Garten. Von der Seifenfabrik bis zur
Elektronik. Offensichtlich gab es Ärger in der Firma. Ihno Lübbert
war mit einigen Angestellten nicht zufrieden und hat offenbar daran
gedacht, sie zu feuern. Und dann hat es den Anschein, dass einer
der Angestellten in die eigene Tasche gewirtschaftet hat ... Ein
gewisser Arthur Petersen."
"Ja", meinte Undine plötzlich. "Das stimmt! Pa hat
herausbekommen, dass er mit Firmengeldern spekuliert hat."
"Und warum hat Ihr Vater diesen Petersen nicht
entlassen?"
"Um einen Skandal zu vermeiden. Die Lübbert-Aktien wären
sofort in den Keller gegangen, wenn etwas durchgesickert wäre. Pa
wollte mit ihm ein Arrangement treffen ..." Cornelius machte eine
unbestimmte Geste mit der Hand.
"So, Herr Kilian! Jetzt sind Sie dran!"
"Ein bisschen dünn, was Sie da geboten haben, finden Sie nicht
auch?" Er holte den zusammengeklebten Brief aus der Tasche und
reichte ihn dem Kriminalbeamten. "Hier!"
"Was ist das?"
"Sehen Sie es sich erst einmal genau an, bevor Sie fragen.
Frau Lübbert hat es in einem Jackett ihres Vaters gefunden!" Björn
wandte sich an Undine. "Sie sollten dem Herrn jetzt sagen, was Sie
wissen, Undine. Auch von ihrem Verdacht gegen Markovic ..."
"Aber ..."
"Ihr Pa ist tot und selbst wenn er sich in einem früheren
Leben die Hände schmutzig gemacht hat - es kann ihm nun nicht mehr
schaden, wenn es irgendjemand erfährt."
Cornelius runzelte die Stirn.
"Habe ich da eben 'Markovic' gehört?"
"Haben Sie", nickte Björn.
"Ich bin nach meinem Austauschjahr beim New York Police
Department und einem Zwischenspiel beim BKA in Berlin noch nicht
lange hier in Emden, aber selbst in der kurzen Zeit ist mir dieser
verdammte Name schon ein paarmal zu Ohren gekommen!"
Angeber!, dachte der Privatdetektiv. Eine ganze Karriere in
einem Nebensatz untergebracht! So was lernt man eigentlich nur bei
einem Coach für Bewerbungsgespräche ...
Björn zuckte mit den Schultern.
"Das wäre kein Wunder!", meinte er.
Und dann machte Undine ihre Aussage und Cornelius anschließend
ein langes Gesicht.
"Üble Sache!", meinte er. Er hob den Brief in die Höhe und
fuhr dann fort: "Scheint wirklich alles darauf hinzudeuten, dass
Markovic dahintersteckt ... Welchen Namen trug Ihr Vater, bevor er
seine Identität wechselte?"
Sie errötete und musste schlucken. Aber sie behielt die
Fassung.
"Paul Thorrell", sagte sie dann.
"Wie alt waren Sie damals?", fragte Björn.
"Ich war in der Grundschule. Mein Bruder auch. Da sind wir von
Hamburg hierher nach Ostfriesland gezogen und er hat seine Firma
gegründet, die dann kometenhaft aufgestiegen ist. Wir hießen jetzt
Lübbert und durften den alten Namen nicht mehr erwähnen. Ich dachte
immer, dass hing mit unserer Mutter zusammen."
"Wieso?"
"Weil sie versucht hat, meinen Bruder, mich und sich selbst
umzubringen, indem sie uns etwas ins Essen mischte. Sie kam nicht
ins Gefängnis, weil sie angeblich psychisch krank war. Aber wir
hatten ständig Angst, dass sie eines Tages aus der Psychiatrie
entlassen werden würde … Zuerst dachte ich, dass wir deswegen neue
Namen bekommen haben und umgezogen sind … Ihno Lübbert - klingt ja
auch sehr passend."
"Und wann haben Sie erfahren, dass es nicht so war?"
Sie blickte auf, sah von Cornelius kurz zu Björn Kilian und
fuhr dann fort: "Pa hat es mir gesagt, als ich älter war und die
Widersprüche zu offensichtlich wurden."
9
Wenig später brachte Undine Björn Kilian zur Tür.
"Was werden Sie jetzt unternehmen, Björn?" Aber Björn gab ihr
keine Antwort, sondern stellte seinerseits eine Frage.
"Wo wohnt Herr Petersen?"
Undine hob die Augenbrauen.
"Wollen Sie seine Adresse?"
"Ja, ganz richtig ..."
"Er hat eine Wohnung hier in Emden. Aber im Moment dürften sie
ihn in seinem Büro antreffen. Sie wissen ja, wo das ist ..."
"Ja."
"Was wollen Sie von Herrn Petersen?"
"Mit ihm reden!", gab Björn lakonisch zurück.
"Markovic ist der Mann, den Sie sich vorknöpfen müssen!", gab
sie ihrer Überzeugung Ausdruck. "Ich glaube nicht, dass Petersen
etwas mit Pas Tod zu tun hat!"
"Er hatte aber ein Motiv!"
"Sie meinen die Veruntreuung? Ich sagte doch, dass Pa ein
Übereinkommen mit ihm treffen wollte. Sein Tod konnte ihm höchstens
Nachteile bringen!"
"Ich möchte mich trotzdem mit ihm unterhalten. Wer weiß, was
dabei herauskommt ..."
"Und ich sage Ihnen, Sie irren sich!"
Björn lächelte.
"Versuchen Sie nicht, mir vorzuschreiben, wie ich meine Arbeit
zu machen habe!"
"Die Sache ist doch klar! Kümmern Sie sich um Markovic!"
"Soll ich vielleicht in Markovics Büro spazieren -
vorausgesetzt ich komme so weit - und ihn fragen, ob er zufällig
der Mörder Ihres Vaters ist? Nein, so einfach geht das nicht! Das
fängt man anders an ..."
"Und wie?"
"Jedenfalls nicht, indem man vorzeitig sämtliche Pferde scheu
macht!"
Sie atmete tief durch. Dann begegneten sich ihre Blicke. Sie
sah ihn einen Augenblick lang ruhig an und meinte dann: "Vielleicht
haben Sie recht! Vielleicht sollte ich Ihnen mehr vertrauen!"
Das war auch Björns Meinung und so nickte er.
"Ja, das sollten Sie! Ich verstehe meinen Job!"
"So war das nicht gemeint!"
"Das weiß ich!"
"Sie sind ein toller Kerl, Björn!"
Und dann schlang sie plötzlich ihre schlanken Arme um seinen
Hals und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Alles ging viel zu
schnell.
Bevor Björn so recht gemerkt hatte, was hier gespielt wurde
und den Zungenschlag erwidern konnte, war es auch schon
vorbei.
Sie hatte sich von ihm gelöst und war etwas
zurückgetreten.
"Machen Sie Ihre Sache gut, Björn!"
"Das verspreche ich Ihnen hiermit", murmelte Björn der noch
immer ein wenig verwirrt war.
10
Björn Kilian traf Arthur Petersen nicht in seinem Büro an,
sondern in einem Restaurant in der Umgebung.
Ein kleiner, dicker Mann saß vor einem riesigen Steak und
Björn dachte sich, dass dieser Mann Arthur Petersen sein
musste.
"Herr Petersen?"
Der Mann blickte auf, kaute seinen Bissen zu Ende und murmelte
dann: "Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht!" Björn setzte sich zu
ihm an den Tisch.
"Ich Sie auch nicht, aber die Beschreibung Ihrer Sekretärin
passt auf Sie ..."
Petersen verzog das Gesicht.
"So?"
"Mein Name ist Björn Kilian. Ich bin Privatdetektiv. Frau
Undine Lübbert hat mich engagiert wegen der Sache mit ihrem Vater."
Petersen blickte auf und nahm einen Schluck aus dem Glas Rotwein,
das neben seinem Teller stand. Dann wischte er sich mit der Hand
den Mund ab und schob den halb leeren Teller ein Stück von sich
weg.
Aus irgendeinem Grund schien ihm der Appetit mit einem Mal
vergangen zu sein.
"Was wollen Sie von mir, Herr Kilian? Ich bin ein
vielbeschäftigter Mann, und wenn Sie mir schon meine Mittagspause
stehlen, dann haben Sie dafür hoffentlich einen guten Grund!"
"Ich habe ein paar Fragen", erklärte Björn sachlich. "Und
diese Fragen halte ich für einen guten Grund!" Petersen machte ein
zweifelndes Gesicht.
"Ich habe eigentlich keine Lust, mich mit Ihnen zu
unterhalten!"
"Sie haben Gelder der Ihno Lübbert Holding veruntreut, nicht
wahr?"
Der Angesprochene runzelte die Stirn, dann löste er den
obersten Hemdknopf, so dass sein Doppelkinn etwas mehr Platz bekam.
Petersen schien sich sichtlich unwohl in seiner Haut zu fühlen und
Björn konnte das durchaus nachvollziehen.
"Sie können es ruhig zugeben, Herr Petersen. Ich weiß es, die
Polizei weiß es."
"Es hat mich niemand angeklagt."
"Weil niemand einen Skandal wollte."
"Sehr richtig. Herr Lübbert und ich waren uns einig, dass
..."
"Was, wenn Lübbert und Sie sich doch nicht so einig gewesen
sind, wie Sie es allgemein glauben machen wollen und er Sie auf
irgendeine Art und Weise ans Messer liefern wollte?"
"Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Herr Kilian. Ich habe
aber nicht die Absicht, dieses Spiel mitzumachen!"
"Es ist kein Spiel, Herr Petersen!"
Der dicke Mann zuckte mit den Schultern.
"Wie dem auch sei." Dann verengte er die Augen und fixierte
Björn Kilian mit einem ärgerlichen Blick. "Sie wollen doch nicht
behaupten, dass ich in dem Wagen gesessen habe, von dem aus auf
Herrn Lübbert geschossen wurde!"
"Sie hätten vielleicht ein Motiv!"
"Aber ich habe ein handfestes Alibi! Ich war auf einer
Konferenz, als es passierte! Dafür gibt es ein halbes Dutzend
Zeugen!"
"Sie könnten die Tat in Auftrag gegeben haben, Herr
Petersen!"
Er wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. Dann bleckte
er wütend die Zähne.
"Guten Tag, Herr Kilian! Ich habe Ihnen nichts mehr zu
sagen!"
Kilian erhob sich.
"Ich schätze, dass ich nicht der Einzige bleiben werde, der
Ihnen diese Fragen stellt!"
Petersens Gelassenheit machte auf Kilian einen gespielten
Eindruck.
"Abwarten, Herr Kilian!"
"Auf Wiedersehen, Herr Petersen. Es würde mich nicht wundern,
wenn wir uns in nächster Zeit noch öfter über den Weg
laufen!"
Während Kilian schon in Richtung Tür unterwegs war, knurrte
Arthur Petersen noch etwas Unverständliches vor sich hin. Aber es
hörte sich alles andere als freundlich an.
11
Tammo Remmers war nicht gerade gut gelaunt, als Björn ihn auf
dem Flur abpasste.
"Ah, Björn! Du hast mir heute noch gefehlt!" Er keuchte und
wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Du solltest langsam mal ans Abnehmen denken, Tammo, dachte
Björn bei sich, aber er hütete sich davor, es auch laut
auszusprechen.
"Moin, Tammo! Was soll denn das heißen? Ich dachte, wir sind
Freunde!"
"Klar, sind wir auch! Aber wenn du hier auftauchst, dann gibt
das garantiert Arbeit für mich! Und ich stecke schon bis über beide
Ohren drin! Bis über beide Ohren, hörst du, Björn?" Remmers stemmte
die Arme in die Hüften und baute sich breitbeinig auf.
Björn wollte nicht wissen, auf welche Werte der Blutdruck des
Polizei-Hauptkommissars in den letzten zwanzig Sekunden gestiegen
war.
Remmers atmete tief durch und quetschte dann zwischen den
Lippen hindurch: "Also schieß los! Worum geht's?"
"Es geht um den Mordfall Lübbert."
"Ihno Lübbert?"
"Ja, welcher Lübbert wohl sonst!"
"Ein Mann aus meiner Dienststelle bearbeitet den Fall. Er
heißt Cornelius. Sieht ein bisschen merkwürdig aus, aber er soll
ein ganz toller Hecht sein. So viele Belobigungen in einer
Personalakte habe ich selten gesehen ..."
"War in Amerika und beim BKA in Berlin."
"Woher weißt du das denn?"
"Ich kann neuerdings hellsehen, Tammo."
"Ah, ja …"
"Ich habe mit Cornelius bereits gesprochen. Die Sache ist die:
Hinter dem Mord steckt wahrscheinlich Darko Markovic. Und ich
möchte wissen, was der im Augenblick so treibt."
Remmers pustete wie ein Walross.
"Komm mit!", meinte er. "Wozu habe ich schließlich so ein
gastliches Büro?"
Wenig später saßen sie sich dann in Remmers' Büro
gegenüber.
Der Hauptkommissar lehnte sich zurück und kratzte sich im
Genick.
"Der Name Markovic dürfte dir doch noch von früher her
geläufig sein, Björn", meinte er.
Kilian nickte.
"Ist er auch. Aber das ist schließlich schon eine ganze Weile
her!"
"Aber einer wie Markovic ändert sich nicht. Der steigt
entweder auf oder endet vorher als Wasserleiche im Knockster Tief -
mit einem schönen, runden Loch in der Stirn!"
Björn Kilian zog die Augenbrauen in die Höhe.
"Nach allem, was man hört, ist Markovic aufgestiegen!"
"Kann man wohl sagen! Früher haben wir ja immer vermutet, dass
er illegal Elektronik in den Iran exportiert hat. Aber das ist
lange her. Heute vermutet man ihn hinter Waffenschieber- und
Drogenringen. Aber wir konnten dem verflixten Hund bisher nichts
nachweisen. Er ist einfach zu geschickt! Strohmänner machen die
Drecksarbeit für ihn und die schweigen eisern, denn jeder von ihnen
weiß, dass er ein toter Mann ist, sobald er singt. Sein Arm reicht
bis in die Gefängnisse hinein - vielleicht sogar bis in die Polizei
und die Staatsanwaltschaft."
"Dann gibt es also im Grunde genommen nichts Neues!"
"Nein. Was Markovic angeht, nicht. Es ist alles nur ein paar
Nummern größer geworden."
"Nichts Konkretes?"
"Björn, wenn ich etwas Konkretes hätte, würde er nicht mehr
frei herumlaufen und seine unsauberen Geschäfte machen!"
"Verstehe ..."
"Dann ist da allerdings noch etwas, das dich interessieren
könnte."
In Björns Augen blitzte es.
"Heraus damit, Tammo!"
"In den letzten Wochen gibt es eine Art Mord-Serie. Alle
begangen in der Art von professionellen Killern - so, wie es auch
bei Ihno Lübbert der Fall zu sein scheint. Alle Opfer hatten etwas
gemeinsam: Sie machten Geschäfte mit Darko Markovic!"
"Eine Säuberungsaktion?"
"Ja, so etwas in der Art muss es wohl sein."
"Ich möchte eine Liste der Opfer."
"Kannst du haben!"
Tammo Remmers stand auf, holte eine Akte aus dem Schrank und
knallte sie vor Kilian auf den Tisch. "Schreib dir die Namen
heraus, wenn es dir Spaß macht!"
"Danke!"
Björn Kilian nahm sein Handy und fotografierte den Ausdruck
ab.
"Du hättest mir auch eine Mail schicken können", sagte der
Privatdetektiv.
"Nein, das hätte ich nicht, Björn."
"Wieso nicht?"
"Dann wäre es offiziell, dass ich dir etwas weitergegeben
habe."
"Und jetzt?"
"Hat es klick gemacht, als ich dir gerade einen Kaffee von
nebenan geholt habe."
"Habt ihr Kaffee?"
"Ist alle, wir müssen sparen." Tammo Remmers deutete auf den
Ausdruck. "Was willst du damit, Björn?"
Kilian zuckte mit den Schultern.
"Mal sehen. Ich weiß es noch nicht."
12
Es war bereits ziemlich dunkel und es regnete wieder, als Roy
Bradenbach ins Freie trat und sich nach rechts und links umdrehte.
Er schlug sich den Mantelkragen hoch und schlang sich den Schal vor
den Mund.
Es war hundekalt und dennoch stand Bradenbach der Schweiß auf
der Stirn, als er die Straße überquerte. Es war kalter Angstschweiß
und sein Gesicht war von nackter Furcht gezeichnet.
"Oh, mein Gott", flüsterte er kaum hörbar in seinen Schal
hinein, obwohl er eine Kirche zum letzten Mal von innen gesehen
hatte, als seine Mutter ihn zur Taufe getragen hatte.
Er schluckte.
Ich hätte mich nie auf diese Dinge einlassen sollen, durchfuhr
es ihn.
Aber nun war es zu spät.
Einfach zu spät.
Bis zum Hals steckte er im Sumpf und er sah nicht die
geringste Chance, sich selbst wieder herauszuziehen.
Bradenbach fühlte seinen Puls bis zum Hals schlagen.
Überall konnte er auf ihn lauern.
Er musste auf der Hut sein und aufpassen.
Er musste hinüber zur Telefonzelle auf der anderen
Straßenseite.
Er wollte auf jeden Fall ungestört sein, wenn er den Hörer
abnahm.
Bradenbach atmete schwer.
Er war derart nervös, dass ihn beinahe ein Auto erwischte, das
dann hupend weiterfuhr.
Oh, verdammt!, schoss es ihm durch den Kopf. Ich beginne
bereits die Nerven zu verlieren!
Jetzt hieß es, kühlen Kopf zu bewahren. Nur dann hatte er noch
eine Chance. Kühlen Kopf und stahlharte Nerven. Aber wie es schien,
hatte er weder das eine noch das andere. Schließlich hatte er die
andere Straßenseite erreicht. Noch einmal blickte er sich nach
allen Seiten um. Er sah einen Stadtstreicher mit speckigem Parka,
vor Dreck starrenden Jeans und einer schmuddeligen Wollmütze, die
er tief ins Gesicht gezogen hatte.
Der Mann hob eine Zeitung vom Boden auf, die irgendjemand
achtlos weggeworfen hatte und blätterte darin.
Keine Gefahr, dachte Bradenbach bei diesem Anblick oder
besser: Er versuchte, es sich einzureden. Immer wieder: Keine
Gefahr!
Außer dem Stadtstreicher sah er niemanden in der Nähe. Er
öffnete die Tür des Telefonhäuschens, ließ sie dann hinter sich
zuschlagen und fingerte mit zitternden Händen ein paar Münzen aus
der Manteltasche heraus. Es war einer der letzten Münzfernsprecher
in ganz Ostfriesland. Wahrscheinlich in ganz Deutschland. Das
Relikt einer vergangenen Zeit. Und eine Möglichkeit, mit jemandem
zu kommunizieren, ohne dass man es später zurückverfolgen
konnte.
Roy Bradenbach schluckte.
Dann begann er eine Nummer zu wählen.
Mach schon!, rief es in ihm. Verdammt noch mal, nun nimm doch
endlich ab!
Sein Stoßgebet wurde im nächsten Moment erhört. Eine weibliche
Stimme meldete sich.
"Ist da das Büro von Björn Kilian?"
"Ja. Wer spricht dort, bitte?"
"Hier ist Roy Bradenbach. Ich habe Herrn Kilian etwas
Wichtiges mitzuteilen. Ich ..."
"Kann ich Herrn Kilian etwas ausrichten, Herr Bradenbach?
Hallo ... Sind sie noch dran?"
Bradenbach war noch dran, aber ihm waren die Worte vor
Entsetzen buchstäblich im Halse stecken geblieben, als er sich
umgewandt und in das Gesicht des Stadtstreichers geblickt hatte,
der urplötzlich vor der Telefonzelle aufgetaucht war. Alles, was
dann geschah, dauerte kaum länger als eine Sekunde.
Plötzlich war Bradenbach klar, dass dieser Mann gar kein
Stadtstreicher war, sondern sich nur so aufgemacht hatte. Der Kerl
hatte hier auf ihn gewartet, ihn wahrscheinlich schon längere Zeit
beobachtet und nun war seine Chance gekommen!
Der Mann hatte ein kalt glitzerndes Augenpaar, das ihn
geschäftsmäßig musterte.
Eine hässliche Narbe, die vermutlich von einer Messerstecherei
herrührte, zog sich von der Stirn über das Auge und fast die
gesamte rechte Wange.
Der Mann verzog das Gesicht und bleckte die Zähne. Bradenbach
sah die Zeitung seines Gegenübers, jene Zeitung, die dieser vom
Boden aufgesammelt hatte.
Die Zeitung glitt zur Seite und die Mündung einer Pistole mit
Schalldämpfer wurde für den Bruchteil eines Augenblicks
sichtbar.
Bradenbachs Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.
"Nein", flüsterte er fast tonlos, aber da hatte sein Gegenüber
bereits abgedrückt.
Am Ausgang des Schalldämpfers blitzte ein Mündungsfeuer. Es
gab ein hässliches, dumpfes Geräusch.
Das Projektil durchschlug die Scheibe der Telefonzelle, ließ
das Glas splittern und fuhr Bradenbach dann direkt in die linke
Brust. Bradenbach wurde durch die Wucht des Geschosses nach hinten
gerissen, ließ den Hörer fallen und ächzte noch einmal
unterdrückt.
Der Killer wollte sichergehen.
Ein zweiter Schuss traf Bradenbach mitten in der Stirn, bevor
er dann mit starren, weit aufgerissenen Augen zu Boden rutschte.
Der Killer steckte die Waffe in die weite Seitentasche seiner
Parka, beugte sich nieder, hob den Hörer auf und hängte ihn die
Gabel.
13
Das Handy klingelte und Björn nahm das Gespräch über die
Freisprechanlage entgegen.
Es war Eltje.
"Was gibt es?", fragte Björn.
"Ein Mann namens Roy Bradenbach hat angerufen. Er ist ein
Informant, nicht wahr?"
"Ja, was hat er gesagt?"
"Er ist nicht mehr dazu gekommen, etwas auszupacken. Es sei
sehr wichtig hat er gesagt, und dann gab es ein merkwürdiges
Geräusch - wie aus einer Schalldämpferpistole. Ich fürchte, er lebt
nicht mehr, Björn."
Björn atmete tief durch.
"Das fürchte ich auch, Eltje."
"Er hat aus einer Zelle angerufen."
"So was gibt es noch?"
"Selten."
"Offenbar wollte er sichergehen, nicht abgehört oder
zurückverfolgt zu werden."
"So sehe ich das auch."
"Du hast den Anruf getracked?"
"Ja. GPS-Koordinaten habe ich dir geschickt."
"Ich kann mir denken, wo das ist", flüsterte Björn, mehr zu
sich selbst als zu seiner Gesprächspartnerin. "Hast du die Polizei
schon benachrichtigt?"
"Nein. Ich dachte mir, ich sage erst dir Bescheid."
"Okay, dann werde ich das von hier aus erledigen ..." Zwei
Sekunden später hatte Björn Kilian aufgelegt. Er suchte eine
Seitenstraße, in der er seinen Wagen drehen konnte.
Bradenbach war umgelegt worden und es gab sicher ein paar
Dutzend Leute, die dafür infrage kamen. Aber einer von ihnen war
Darko Markovic!
Björn Kilian dachte an die Liste, die Hauptkommissar Remmers
ihm gegeben hatte. Bradenbach passte vorzüglich in diese Liste von
Leuten hinein, die zwei Dinge gemeinsam hatten: Sie hatten mit
Markovic zu tun und sie waren mausetot.
So viele Zufälle kann es nicht geben, dachte Kilian.
Bradenbach hatte ihm etwas Wichtiges zu sagen gehabt, was nur
heißen konnte, dass er etwas über Markovic herausgefunden haben
musste. Eine andere Möglichkeit gab es kaum.
Endlich hatte Björn eine Möglichkeit zum Drehen gefunden. Es
dauerte ein bisschen, bis er sich wieder in den Verkehr - diesmal
in entgegengesetzte Richtung - einfädeln konnte. Dann wählte er
über die Spracheingabe seines Handys die Nummer der Polizei.
14
Es war ganz so, wie Björn Kilian gedacht hatte. Bradenbach war
in der Telefonzelle ermordet worden, die der Kaschemme gegenüber
lag, in der man ihn sonst immer antreffen konnte.
Wahrscheinlich hat er ungestört mit mir sprechen wollen, kam
es Björn in den Sinn, als er seinen Wagen an der Seite abstellte,
die Tür öffnete und die zerschossene Zelle sah.
Bradenbach lag mit seltsam verrenkten Armen und Beinen in der
Zelle. Seine Augen blickten Björn starr an, während sich mitten auf
seiner Stirn ein kleines, rotes Loch befand. Björn schluckte.
Er kannte Bradenbach schon einige Jahre und der kleine Hehler
hatte ihn immer mit wertvollen Informationen versorgt.
Er war einer, der buchstäblich das Gras wachsen hörte.
Gras - und auch andere Dinge.
Nicht alles, was Bradenbach getan hatte, war legal, aber im
Grunde war er nur ein ganz kleiner Fisch. Und ein solches Ende
hatte er in keinem Fall verdient.
Niemand hatte das.
Björn Kilian ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und
fühlte Grimm in sich hochsteigen.
Wer immer hier dahintersteckte und die Fäden zog: Es musste
sich um jemanden handeln, der buchstäblich über Leichen ging. Björn
blickte sich dann etwas nach Spuren um.
Aber da war auf den ersten Blick nichts zu sehen, dass
irgendeinen Hinweis geben konnte. Mit was für einer Waffe
Bradenbach erschossen worden war, dass würde später die Polizei
feststellen. Doch viel würde dabei vermutlich auch nicht
herauskommen. Nichts, was einem den Täter auf dem Silbertablett
servierte, denn es war nicht anzunehmen, dass der Killer so dumm
gewesen war, eine Waffe zu benutzen, die bereits polizeibekannt
war.
Jedenfalls nicht, wenn es sich um einen Profi handelte.
Und davon ging Björn mittlerweile stillschweigend aus.
Man konnte Bradenbachs Augen noch ansehen, wie überrascht er
gewesen sein musste.
Björn beugte sich nieder und drückte ihm die Lider zu. Mehr
konnte er nicht mehr für ihn tun - außer vielleicht denjenigen zu
finden, der dafür verantwortlich war.
Ganz korrekt war das natürlich kriminaltechnisch gesehen
nicht. Die Erkennungsdienstler der Polizei mochten es natürlich
nicht, wenn man die Leiche eines Mordopfers noch anfasste - ganz
egal wo. Und in diesem Fall würden sie sich vermutlich über die
geschlossenen Augen wundern. Ich werde es ihnen sagen, nahm sich
Björn Kilian vor. Zumindest, wenn ich sie noch antreffe …
Die Polizei würde sicher bald eintreffen.
Aber der Erkennungsdienst? Das konnte etwas dauern.
Schließlich kamen die vermutlich aus Oldenburg, wenn es um
anspruchsvollere Aufgaben ging, die der Kripo-Normalbeamte aus
Emden nicht allein hinbekommen konnte.
Eine Weile verharrte Björn Kilian so bei dem Toten, dann nahm
er mit den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung in der Nähe
war.
Blitzartig war seine Rechte unter den offenen Mantel und das
Jackett gefahren und hatte mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit die
Pistole aus dem Schulterholster gerissen und in Anschlag
gebracht.
"Nicht schießen!"
Der Mann, der da zitternd vor Björn Kilian stand, wirkte wie
eine Jammergestalt. Er hatte die Hände gehoben, in der Rechten
hielt er eine Bierflasche.
Björn blickte in ein stoppelbärtiges Gesicht mit einer roten
Trinkernase.
"Bitte, nicht schießen!", wiederholte er noch einmal. Ihm
schlotterten vor Angst schier die Knie und Björn ließ die Waffe
sinken.
"Keine Angst!", meinte er. "Ich schieße nicht." Der Mann
drehte sich und wollte sich wohl davonmachen. Aber Björn hatte noch
ein paar Fragen an ihn.
"Hey, stehen bleiben!"
Der Kerl zuckte zusammen und drehte sich vorsichtig herum.
Erleichtert stellte er fest, dass Björn seine Waffe inzwischen
wieder eingesteckt hatte.
"Erstmal Moin", sagte Björn Kilian.
"Moin", sagte der Mann.
"Ich tue Ihnen nichts", versicherte Björn noch einmal, denn er
sah deutliches Misstrauen in den Augen seines Gegenübers. Björn kam
ein paar Schritte heran.
"Was ist noch? Was wollen Sie?"
"Nur ein paar Fragen!"
"Wer sind Sie?"
Björn kam noch näher heran und hielt ihm seinen Ausweis unter
die Nase. "Privatdetektiv", fügte er noch als Erklärung
hinzu.
Der Mann atmete auf. "Gott sei Dank. Ich dachte schon, Sie
gehörten zu ihm."
Björn runzelte die Stirn. "Zu wem soll ich gehören?"
"Schließlich tragen Sie auch eine Waffe ..."
"Von wem, zum Teufel, haben Sie gerade gesprochen?"
Der Mann mit der Bierflasche in der Hand, deutete auf die
Telefonzelle. "Sie haben doch gesehen, was hier passiert
ist."
"Allerdings!"
"Ich spreche von dem Mann, der das getan hat!"
"Sie haben ihn gesehen?", fragte Björn.
"Ich habe alles beobachtet!"
"Raus mit der Sprache!"
Björn hatte selbst gemerkt, dass in seiner Stimme ein
Quäntchen zu viel Ungeduld mitgeschwungen hatte. Und das hatte sein
Gegenüber genauestens registriert.
Der Mann zögerte mit seiner Antwort, rieb sich mit der Linken
die rote Nase und trank dann seine Bierdose leer. Die Büchse warf
er auf den Bürgersteig und meinte: "Ich habe nichts zu trinken
mehr, Herr ..."
Björn begriff, worauf er hinauswollte.
Er gab ihm einen Geldschein.
Und noch einen.
"So!", meinte der Privatdetektiv. "Jetzt will ich aber auch
eine überzeugende Story hören! Sonst hole ich mir die Mäuse
zurück!"
"Ich habe alles gesehen!"
"Das sagten Sie bereits!"
"Der Kerl ist seinem Opfer bis zur Telefonzelle gefolgt und
hat geschossen."
"Haben Sie den Schuss gehört?"
"Nein. Man konnte nichts hören. Aber ich habe die Waffe
gesehen und ich sah es in der Dunkelheit aufblitzen ..."
"Wie sah der Mann aus?"
"Er hatte eine Narbe quer über das Gesicht ..." Und dabei zog
er mit dem Finger eine Linie von der Stirn über das Auge und die
rechte Wange.
Björn runzelte die Stirn.
"Von wo aus haben Sie das alles beobachtet?"
"Von der anderen Straßenseite aus. Als es dann passiert war,
bin ich schließlich hergekommen, um ..."