Dreivierteltot - Christina Stein - E-Book

Dreivierteltot E-Book

Christina Stein

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf dem schottischen West Highland Way begegnet Kim dem irritierend attraktiven, aber mysteriösen Sky, von dem sie sich angezogen fühlt – obwohl sie mit ihrem festen Freund Jon unterwegs ist. Je weiter Kim wandert, desto unheimlicher werden die Begegnungen mit Sky. Verstärkt wird die düstere Reise von rätselhaften WhatsApp-Nachrichten, die Kim von ihrer besten Freundin Emma bekommt. Sind es Warnungen? Hilferufe? Emma ist nicht zu erreichen. Und dann findet Kim eine Leiche in einem allzu vertrauten Kleid.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 319

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christina Stein

Dreivierteltot

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Triggerwarnung: Diese Geschichte ist [...]Playlist1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.39.40.41.42.43.44.45.46.47.48.4950.51.52.53.54.55.EpilogWem ich danke sagen möchte

Für meinen Vater

Triggerwarnung: Diese Geschichte ist ein Spannungsroman. Sie ist für Leser*innen ab 14 Jahren geeignet. Der Roman enthält Szenen, in denen aufgrund einer Verkettung von Ereignissen Tiere und Menschen verletzt werden. Einige Leser*innen könnten das beunruhigend finden. Bitte entscheidet selbst, ob euch die Geschichte triggern könnte.

Playlist

#Dreivierteltot

 

Kyson, You

Ludovico Einaudi, Fly

Tom Odell, Another Love

Anna Leone, My soul I

Mark Forster, Kogong

Phoria, Mass (Re-Imagined)

Jordy Maxwell, Mountains (feat. Keeley Connolly)

1.

Ich weiß noch, wo ich ihn zum ersten Mal sah. Am Bahnhof von Milngavie. Wie er dastand: ruhig, mit riesigem Backpack.

Er gehört zu der Sorte Menschen, die unfassbar gut aussehen. Einfach so, ohne große Anstrengung. Fast schon einschüchternd. Dunkelblondes Haar, stechend helle Augen. Die Farbe war vorerst undefinierbar, weil ich nicht lange hinschauen konnte. Obwohl oder gerade weil er mich so anstarrte. Mit dieser bedingungslosen Aura aus Selbstsicherheit, die nur Typen umgibt, die sich ihrer Attraktivität absolut sicher sein können.

Sein Hund war mindestens genauso perfekt. Bei Germany’s next Hundemodel hätte ich ihn sofort eine Runde weiter geschickt. Ein Mischling mit lustig fleckigem Fell. Mit Hunderassen kenne ich mich nicht so gut aus, aber er sah aus wie Struppi von Tim und Struppi, weswegen ich ihn in Gedanken gleich so nannte: Struppi. Ich wollte instinktiv die Hand ausstrecken und ihn streicheln, aber Jon verdrehte die Augen. Ich wusste sofort, was er dachte: Was ist das denn für ein Freak? Läuft den West Highland Way mit seinem Hund? Und irgendwie hatte er recht. Die Mischung aus Backpack, Zelt und Hund hatte etwas total Pennermäßiges. Deswegen beachtete ich ihn auch nicht weiter, sondern folgte Jon auf den Parkplatz vor dem Bahnhof und dann weiter in die Fußgängerzone von Milngavie, in der man schnell auf die Pforte des West Highland Way trifft. Hundertsechzig Kilometer Fußmarsch über acht Etappen lagen vor uns, durch Moorebenen, Wälder und die schottischen Highlands.

Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Gestern, auf der ersten Etappe, muss er hinter uns gewesen sein und anderswo übernachtet haben. Und heute Morgen muss er früher gestartet sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass er jetzt vor mir steht, mitten auf dem Weg. Seine Gestalt, hochgewachsen, in festen wattierten Nebel getaucht. Daneben wieder Struppi. Beide sehen aus, als würden sie auf mich warten. Als wären sie alte Freunde. Dabei kenne ich ihn gar nicht.

»Alles okay bei dir?«

»Ja, warum nicht?«

»Du murmelst vor dich hin.«

»Tu ich nicht.«

»Doch.«

Er grinst und entblößt eine Reihe strahlend weißer Zähne. Wunderbar. Mit Sicherheit hat der irgendwo eine Sedcard. Ich spüre ein Ziehen im Bauch, was unglaublich peinlich ist, immerhin bin ich keine vierzehn mehr. Und außerdem reise ich mit meinem Freund zusammen. Jon. Ein Typ, der sich ebenso wenig verstecken muss. Ich halte sogleich Ausschau nach ihm, kann seinen schwarzen Lockenkopf aber nirgendwo entdecken. Kein Wunder. Erstens haben wir seit gestern unseren ersten heftigen Streit, zweitens läuft er prinzipiell schneller als ich. Und drittens hat ihn der verdammte Nebel verschluckt.

»Selbstgespräche sollen gesund sein«, lenke ich ein, weil der Modelmann immer noch nichts anderes tut, als reglos dazustehen, mich anzustarren und zu grinsen. Wahrscheinlich hat er einfach einen IQ von 80. Struppi ist mir trotzdem sympathisch. Drückt seine nasse Schnauze an meine Hand und wedelt mit dem Schwanz.

»Das ist Oskar«, meint Mr Attractive.

Ist es nicht, würde ich am liebsten antworten. Sein Name ist Struppi.

»Läufst du die ganze Strecke vom West Highland Way?«

»Ich bin schon froh, wenn ich es diesen Berg hochschaffe.«

»Das ist kein Berg. Also nicht im schottischen Sinn«, korrigiert er mich. Ich verdrehe die Augen, muss dabei aber lächeln. Klugscheißer. Aber immerhin weiß er, wovon er spricht. Die Schotten haben einen speziellen Namen für »Berg« – nämlich »Munro«. Erhebungen, die über neunhundert Meter hoch sind, verdienen diese Bezeichnung.

Der Conic Hill, den wir gerade besteigen, ist nur 360 Meter hoch. Aber dieser Anstieg reicht mir dicke. Obwohl ich, anders als der Modelmann, nicht mit riesigem Backpack inklusive Zelt reise.

Inzwischen stehe ich relativ dicht vor ihm. Seine Augen sind blau, wie meine. Oder auch nicht. Ich glaube, sie schließen ein paar grüne Kristallflecken ein. Sicher ist nur, dass sie sagenhaft leuchten, wie Scheinwerfer. Irritiert wende ich den Blick ab. Wenn er nicht bald weitergeht oder mich durchlässt, weiß ich nicht, wie ich den schmalen Pfad an ihm vorbeikommen soll.

»Ich bin Sky.«

Jetzt starre ich. Zum einen, weil der Name absurd ist. Auch wenn mir gleich Sky Dumont einfällt. Aber trotzdem. Sky. Das ist doch kein Name. Das ist ein Model-Pseudonym.

Zum anderen quält mich sofort die Frage, wie Pia und mir dieser Vorname entgangen sein konnte, immerhin deklinieren wir seit einer gefühlten Ewigkeit Namen mit drei Buchstaben hoch und runter.

Pia, meine Schwester, und ich, Kim. Beides Mädchen mit nur drei Buchstaben. Da kann man abergläubisch werden und nach Kerlen Ausschau halten, die ebenfalls nur drei Zeichen umfassen.

Ben. Tom. Sam. Ole. Pit. Jon.

Aber Sky? Wie konnten wir nur versäumen, uns Listen mit englischen Vornamen anzuschauen?

»Und wie heißt du?«

Endlich reißt er mich aus meiner Starre raus. Dabei denkt er wahrscheinlich das Gleiche wie ich vorhin: Die hat nicht mehr als einen IQ von 80.

»Kim«, grunze ich zurück, wobei es mir tatsächlich gelingt, mich an diesen drei Buchstaben zu verschlucken. »Ich bin Kim.«

2.

Wir laufen eine Weile zusammen. Wobei man mein Vorwärtskommen als Kriechen bezeichnen sollte. Wieder frage ich mich, wie es all die Hiker mit ihren Backpacks hier hoch schaffen. Wie sie mich, obwohl ich nur einen leichten Tagesrucksack trage, dabei auch noch überholen können. Ich schwitze, trotz des Nebels, der sich in Form unzählig winziger Tröpfchen auf meine Haut legt. Alle scheinen eine bessere Kondition zu haben, selbst Jim, der Texaner, den Jon und ich gestern Abend im Pub kennengelernt haben.

»Hi love«, grüßt er und lüftet seinen Cowboyhut. Dabei quetscht er sich, dicht gefolgt von seiner Frau Jeanne, auf dem schmalen Pfad an uns vorbei. Sein Grinsen ist genauso breit wie seine Falten und sein Akzent.

»Ich verstehe nicht, wie der mich überholen kann«, nuschele ich. »Der ist mindestens dreißig Jahre älter!«

»Wanderst du denn? Also in Deutschland?«

»Nein. Eigentlich gar nicht.«

»Und dann gleich den West Highland Way?«

Ich zucke mit den Schultern. Er braucht nicht zu wissen, dass ich es Jon zuliebe tue. Jon, dem Läufer. Der dieses Jahr schon am Mainzer Halbmarathon teilgenommen hat. Total irre. Ich jogge gerade mal fünf Kilometer, und das unter entsetzlichen Qualen. Nächstes Jahr will er sogar versuchen, einen kompletten Marathon zu laufen. Kein Wunder, dass er außer Sichtweite ist. Wahrscheinlich hat er diesen Hügel bereits zweimal bestiegen, einmal von jeder Seite. Nur um in Form zu bleiben.

»Ich wollte mal was anderes ausprobieren.«

»Und gefällt es dir?«

»Ja, schon. Irgendwie. Der Nebel müsste nicht sein.«

Und der Regen ebenso wenig, füge ich in Gedanken hinzu. Von einer Frisur kann man bei meinen Haaren jedenfalls nicht mehr reden. Dauerwelle soll ja mal modern gewesen sein, irgendwann in den 80ern. Wirklich schade, dass diese Zeiten vorbei sind, ansonsten würde ich mit meinen Locken jetzt voll im Trend liegen.

Unwillkürlich frage ich mich, wie man bei dem nassen Wetter freiwillig zelten kann. Noch dazu mit Hund. Und natürlich muss es so sein – die Frage ist aus meinem Mund geplumpst, bevor ich sie zu Ende gedacht habe.

»Oskar ist ein Freund«, entgegnet Sky mit einer Ernsthaftigkeit, die mich zum Lachen bringt. »Natürlich stinkt er. Im Zelt ist es mit ihm kaum auszuhalten. Aber meine menschlichen Kumpels würden genauso müffeln. Kann ich dir aus eigener Erfahrung versichern!«

Eigene Erfahrung, aha. Stattdessen lieber alleine wandern? Stelle ich mir einsam vor. Und langweilig. Klar wird man ab und zu mit anderen Wanderern sprechen. Aber trotzdem. Ich beiße mir auf die Lippen, um meine Gedanken nicht wieder laut auszusprechen.

»Woher kommst du?«, wechselt er das Thema.

»Mainz.«

Er hält kurz inne und schaut auf mich runter. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen.

»Die Welt ist klein«, sagt er.

»Wieso? Woher kommst du denn?«

»Wiesbaden. Aber ich studiere in Mainz.«

»Und was?«

»Psychologie.«

Ich betrachte ihn. Er trägt Wanderstiefel und eine dünne Trekkinghose – wie fast alle Hiker, die mir bislang in Schottland begegnet sind (vielleicht mal von Jim abgesehen – der läuft trotz schottischen Wetters in Turnschuhen, Jogginghose und T-Shirt rum).

Eigentlich findet sich an diesem Sky gar nichts Pennerhaftes. Ich hatte ihn falsch eingeschätzt. Mag sein, dass seine Ausrüstung schon etwas abgetragen ist, sowohl Rucksack als auch Schuhe. Vielleicht liegt es auch an seinem Holzfällerhemd. Oder an seinen Haaren, die er als lässigen Bun trägt.

»In welchen Semester bist du?«

»Fünftes. Studierst du auch?«

»Noch nicht. Hab gerade erst Abi gemacht.«

Wieder wendet er sich mir leicht lächelnd zu.

»Ein Ersti also.«

Ich bin versucht, ihm die Zunge rauszustrecken.

»Weißt du schon, was du machen willst?«

»Medizin«, antworte ich.

»In Mainz?«

Ich nicke.

»Hast du keine Wartesemester?«

Widerstrebend schüttele ich den Kopf.

»Wow.«

»Hattest du denn welche? Wartesemester?«, lenke ich ab, weil ich nicht will, dass er auf dieser Tatsache rumreitet.

»Ja, zwei. Ich kenne kaum jemanden, der keine hatte.«

Und wenn, handelt es sich um Streber, führe ich seine Aussage in Gedanken zu Ende. Nerds. Spießer. Langweiler. Es gibt in diesem Zusammenhang keine Bezeichnung, die ich nicht schon kenne. Die mir nicht schon einer an den Kopf geworfen hätte. Oder schlimmer noch: hinter meinem Rücken getuschelt. Aber er sagt nichts dergleichen, sondern geht weiter voraus, dicht gefolgt von Struppi. An seinem Rucksack baumeln ein kleines Handtuch und Socken – Sachen, die er zum Trocknen dort aufgehängt hat. Ich frage mich zwar, wie das Zeug bei diesem Wetter jemals trocknen soll, aber gut, anderes Thema. Immerhin machen ihn seine nassen Socken normaler, verletzlicher. Er könnte doch ein gewöhnlicher Mensch und kein Supermodel sein.

»Wie gefällt es dir an der Mainzer Uni?«, kurbele ich das Gespräch wieder an.

»Ist okay. Alles nah zusammen. Auf dem Campus, mein’ ich. Und die Stadt ist überschaubar. Großstädte sind nicht so mein Ding.«

Zum ersten Mal fällt mir der Klang seiner Stimme auf: weich, dunkel. Wahrscheinlich habe ich zuvor nicht darauf geachtet, weil ich von seinem Gesicht abgelenkt war. Jetzt, wo er mir beim Sprechen den Rücken zukehrt, stelle ich fest, dass selbst dieser Teil von ihm etwas Anschmiegsames hat.

»Willst du noch mal wechseln? Die Uni, meine ich?«

Er wirft mir einen kurzen skeptischen Blick zu.

»Nein, wieso? Sollte ich?«

Ich zucke rasch mit den Schultern. »Ich mein ja nur. Viele wollen mal einen Vergleich haben, eine andere Erfahrung machen.«

So wie Jon. Mein Freund. Der mir gestern eröffnet hat, dass er doch nicht in Mainz studieren will. Anders als geplant. Anders als besprochen. Jon, der sich bereits nach etwas Neuem sehnt, ohne das Alte überhaupt ausprobiert zu haben.

Der Gedanke lässt sich noch immer schlecht fassen, steckt als fetter Kloß im Hals fest. Sooft ich auch versuche ihn runterzuschlucken, er bleibt einfach dort hängen.

»Ich bleib erst mal in Mainz«, antwortet Sky, ohne sich umzudrehen. »Hab Familie in Wiesbaden.«

»Sind deine Eltern Engländer? Wegen deinem Namen, meine ich?«

»Mein Vater war Amerikaner. War bei der Army. Bevor er in Afghanistan verkohlt und in Stücke zerfetzt wurde.«

Etwas in mir zuckt zusammen. In seiner Stimme liegt eine unerwartete Schärfe, ein Unterton, der mich beengt. Was zuvor in meinem Hals feststeckte, ist kein Kloß mehr. Ein Kloß ist weich und nachgiebig. Das, was sich jetzt dort befindet, ist ein schwerer, klobiger Stein. Instinktiv lasse ich mich ein Stück zurückfallen. Meine Hände zittern.

Verkohlt und in Stücke zerfetzt.

Wie kann man so was nur sagen? Zu einer Fremden? Das ist doch nicht normal. Man würde sagen: Er ist in Afghanistan gestorben. Bei einem Einsatz. So was in der Art. Aber verkohlt und in Stücke zerfetzt? Das ist doch gestört, total psychopathisch! Trotzdem gelingt es mir, ein »Tut mir leid« zu murmeln und gleichzeitig zu hoffen, dass er sich nicht zu mir umdreht. Ich will diese Härte nicht auch noch auf seinem Gesicht wiederfinden.

Aber es kommt, wie es kommen muss: Er wendet sich um. Umso erstaunter bin ich, dass sein Ausdruck ganz weich ist.

»Schon okay«, entgegnet er und lässt seine Kristallaugen schimmern.

»Ist schon lange her.«

Und dann, mit gespieltem Enthusiasmus, bemerkt er: »Schau mal, es klart auf!«

Und tatsächlich. Wir treten aus der wabbeligen Nebelwolke hinaus in einen klaren Tag, der plötzlich abwegig blau ist. Im selben Moment begreife ich, dass wir den Gipfel erreicht haben. Und dass wir von lauter Menschen umgeben sind – Leuten, die eifrig Fotos schießen oder gemütlich picknicken. Der Stein in meinem Hals weicht auf und nimmt wieder seine vorherige Konsistenz an. Ich habe den grausigen Nebel mitsamt Model-Psychopathen hinter mir gelassen.

Sogleich beschließe ich, Jon zu suchen. Ich wende mich nur noch kurz Struppi zu, lasse die Hand durch sein zerzaustes Fell gleiten.

»Macht’s gut«, meine ich, und mir gelingt ein schiefes Lächeln. »Wir sehen uns auf dem Weg bestimmt noch mal!«

Für einen kurzen Moment sagt Sky nichts, sondern schaut mich nur an. Fast so, als wäre er erstaunt, dass ich alleine weitergehen will. Vielleicht sogar beleidigt. Dann ein schwaches Nicken und ein noch schwächeres Lächeln.

»Pass auf dich auf, Kim.«

Schnell dreht er sich um und stampft davon. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Hände noch immer zittern.

3.

Jon sitzt auf einem Stein, mit Blick auf die Weite des Sees. Des Loch Lomond.

»Den müssen wir noch komplett langlaufen«, sagt er, als ich mich langsam nähere. Es irritiert mich, dass er sich bei seinen Worten nicht umdreht. Als spürte er meine Anwesenheit auf mysteriöse Art und Weise.

Erschöpft sinke ich neben ihn. Seine kurzen Locken wirbeln im Wind umher – genau wie meine langen roten, die nie zu bändigen sind. Sein Profil hat etwas Weiches, gleichzeitig klar Geschnitztes.

Eigentlich will ich die Hand ausstrecken und seine Wange berühren, lasse es aber bleiben.

»Bist du noch sauer, Lotti?«

Ich verkneife mir ein Lächeln, fürchte aber, dass meine Grübchen mich verraten. Lotti Karotti. So hat er mich von Anfang an genannt. Genau wie dieses Kinderbrettspiel, bei dem der erste Hase am Ziel gewinnt. Und zwar eine große Karotte, leuchtend rot wie meine Haare.

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht sauer bin. Nur überrascht.«

Und verletzt, füge ich in Gedanken hinzu.

Er verdreht wieder die Augen. Das macht er in letzter Zeit ständig. Als hätte er mit dem Abitur seine Mimik erweitert. Seine Iris verschwindet dabei fast ganz in den Höhlen, für ein paar Momente sieht man bloß noch das Weiß der Augäpfel. Totally scary. Und jedes Mal maule ich ihn deswegen an. Ich meine – er ist doch kein Zombie, oder?

»Nicht sauer, also? Schon klar …«

Unvermittelt steht er auf, will weiterlaufen. Löst man auf diese Weise seinen ersten Streit?

»Jetzt warte doch mal, Jon! Ich bin gerade erst angekommen! Ich will was essen!«

»Kim, ich warte schon seit fast einer Dreiviertelstunde! Wie lahm bist du denn?«

»Das wusstest du aber doch vorher, oder? Ich gehe nun mal langsam. Ich bin keine Läuferin.«

»Okay, dann iss jetzt halt. Aber beeil dich! Es liegen noch zwölf Kilometer vor uns!«

»Was, noch zwölf?«

»Wenn du nicht im Wald schlafen willst, dann ja.«

Widerstrebend setzt er sich wieder neben mich.

»Hast du keinen Hunger?«

»Nein. Habe schon alles aufgefuttert, als ich auf dich gewartet habe.«

»Alles? Obwohl noch zwölf Kilometer vor uns liegen?«

Er zuckt mit den Schultern, aber dieses Mal verraten seine Grübchen ihn.

»Ich habe übrigens diesen Typen getroffen, den wir am Bahnhof gesehen haben«, wechsele ich das Thema. »Der mit dem Hund.«

»Der Penner?«

»Na ja, so schlimm ist er auch wieder nicht. Jedenfalls ist es kein Penner.«

Jetzt legt er endlich eine Hand um meine Taille und kneift sacht hinein. Und plötzlich bin ich doch wieder vierzehn. Jedenfalls kichere ich für einen Moment genauso albern. Dann ist der Augenblick schon wieder vorbei, und ich stelle enttäuscht fest, dass der Kloß im Hals nicht wirklich kleiner geworden ist.

»Was ist denn mit dem?«, will Jon wissen.

Ich zucke mit den Schultern, bin unschlüssig, ob ich es erzählen soll. Verkohlt und in Stücke zerfetzt. Allein bei dem Gedanken wird mir so kalt, dass ich meinen Schal aus dem Rucksack krame.

Schließlich entscheide ich, nicht weiter darauf einzugehen. Jon braucht nicht alles zu wissen. Und wenn er so affektiert die Augen rollt, schon gar nicht.

Noch während ich mir meinen Lieblingsschal umwickele, brummt mein Handy. Guten Empfang zu haben, ist auf diesem Trail eher eine Seltenheit, deswegen schaue ich gleich auf das Display. Es ist Emma, die mir schreibt. Meine liebe und zugleich ziemlich verrückte Freundin.

 

Em: Hey Kimmi. Nicht böse sein jetzt. Ich bin in Edinburgh. Wir sollten diesen Trip zusammen machen, findest du nicht? Ist doch besser so. Ich bin auch froh, wenn ich nicht alleine sein muss. Mir geht’s echt mies. Wo können wir uns treffen?

 

Okay …

Das wird Jon nicht wollen. Garantiert nicht. Ich meine, was denkt sie sich? Sie weiß genau, dass ich gemeinsam mit ihm reise. Dass wir einen Pärchenurlaub machen.

»Wer war das?«, will er prompt wissen.

»Äh – Emma.«

»Und? Neuen Kerl aufgegabelt?«

Sofort bin ich genervt. Muss er immer so abschätzig über sie sprechen? Als würde sie ständig irgendwelche Kerle aufgabeln. Sie probiert gerne was aus, stimmt schon, hat keinen festen Freund, will auch keinen haben. Zumindest nicht auf Dauer. Und so langsam frage ich mich, ob sie damit richtig liegen könnte.

»Sie ist in Edinburgh«, informiere ich ihn nüchtern. »Sie will mit uns laufen.«

Einen Moment betrachtet er mich ruhig. Sein Gesicht, eingerahmt von diesen unglaublichen Locken, seine Augen zwei braune warme Murmeln.

»Im Ernst?«

Ich nicke und halte ihm die Nachricht direkt unter die Nase. Dabei ärgere ich mich über mich selbst. Ich hätte mir erst im Stillen klarwerden sollen, wie ich auf die Message reagieren möchte.

Will ich überhaupt, dass Emma uns begleitet? Oder will ich diesen Trip mit meinem Freund lieber alleine machen?

Jon ist inzwischen aufgesprungen und hat seinen Rucksack an sich gerissen. Seine Bewegungen sind so fahrig, dass ich die Wut aus ihnen herauslesen kann.

»Mann, Kim! Ich hab nichts gegen Emma. Ehrlich. Aber ich muss mit deiner Häkelfreundin nicht unbedingt Urlaub machen!«

»Häkelfreundin? Echt jetzt?«

Wieder rollt er auf diese entsetzliche Art mit den Augen. Und wieder bekomme ich einen Schreck. Bis vor kurzem wusste ich gar nicht, dass so was überhaupt möglich ist. Anatomisch betrachtet. Für ein paar Wimpernschläge lang sieht er dabei tatsächlich wie ein Zombie aus.

»Jon, hör damit auf!«, brülle ich, und in diesem Moment ist es mir völlig egal, dass ich erstens viel zu laut bin und uns zweitens alle hören können. Diese Mimik ist einfach nur abartig. »Ich will das nicht mehr sehen!«

»Was denn?«

»Was denn? Was denn?«, äffe ich ihn nach. »Das mit deinen Augen! Es macht mir Angst!«

»Es macht dir Angst, wenn ich mit den Augen rolle? Really?«

Jetzt springe ich auf und fange an, hektisch meine Sachen zusammenzuraffen.

»Ich habe es dir schon oft erklärt! Deine Iris ist fast nicht mehr zu sehen, das sieht ekelhaft aus!«

Jetzt grinst er auch noch. Großartig.

»Hat Alex mir beigebracht. Nicht schlecht, oder?«

Meine Nase beginnt zu prickeln. Das tut sie immer, bevor die ersten Tränen fallen.

»Lass es einfach«, zische ich, weil es mir inzwischen doch peinlich ist, dass Jim und Jeanne besorgte Blicke in unsere Richtung werfen. Und sie sind nicht die Einzigen, die uns anstarren.

»Ich will einfach nicht, dass sie uns begleitet, das ist unser Urlaub. Ich find’s total aufdringlich! Rufe sie an und sag ab!«, kommt er wieder zum Thema zurück.

»Nein«, entscheide ich. »Sie ist meine Freundin, und anscheinend geht es ihr nicht besonders. Natürlich kann sie uns begleiten.«

»Meinst du das ernst? Kimmi, sie ist immer wegen irgendwas fertig! Wegen ’nem Kerl, ihrer Mum, ’nem Job, was weiß ich!«

»Ja und? Freunde sind dazu da, zuzuhören.«

»Ja, aber das ist unser Urlaub!«

»Dachte ich auch. Aber jetzt ist es eben so. Ich kann sie nicht wegschicken, Jon. Ich verstehe ja, dass es dich nervt. Aber was soll ich machen? Ihr schreiben, dass sie zurück nach Deutschland fliegen soll?«

»Ja.«

»Du bist echt egoistisch. So kenne ich dich gar nicht!«

»Demnächst ziehe ich um. Nach München. Bis dahin will ich die Zeit mit dir alleine verbringen!«

Für einen Moment lasse ich den Blick hinunter auf den See gleiten. Habe ich den Ausblick überhaupt schon bewusst wahrgenommen?

Der Himmel strahlt – in jenem tiefen und grenzenlosen Blau, das nur der Sommer zusammenmischen kann. Nur wenige Wolken treiben träge darin. Loch Lomond erscheint wie eine Spiegelung des Horizonts, nur dass statt der Watteklekse kleine Inseln im See feststecken. Dann verschwimmt alles zu einem Himmelsblaubrei, und es fallen tatsächlich die ersten Tränen.

»Dass du jetzt weinst, ist nicht fair, Lotti«, bemerkt Jon, setzt sich aber endlich wieder neben mich.

»Es ist nur, ich hatte nicht damit gerechnet, dass du weg willst. Wir hatten ja sogar schon mal überlegt, zusammenzuziehen!«

Schon zieht er seinen Arm wieder fort.

»Und genau das ist es! Mir geht das einfach zu schnell. Wir sind erst neunzehn, Kimmi. Wir sollten nicht so glucken!«

»Müssen wir ja auch nicht. Und tun wir doch gar nicht!«

Obwohl es mir ernst ist, setzt er seine Tirade, mit der er bereits gestern begonnen hat, weiter fort. Seine Aussagen haben etwas von einem Manifest. Er hat sich seine Argumente logisch zurechtgelegt:

1. Er will zurück nach München. Dort ist er aufgewachsen, dort wohnen seine besten Freunde. Dass seine Eltern und sein jüngerer Bruder inzwischen in Mainz leben, ist einerlei. Ihn zieht es zurück in seine Heimatstadt.

2. Er liebt mich. Vom ersten Moment an, in dem er mich sah. (»Ich war so geflasht, dass ich nur glotzen konnte. Dass ich kaum atmen konnte. Nie zuvor hatte ich ein Mädchen mit so vielen Sommersprossen gesehen.«) ABER: Er will das, was wir haben, nicht verbrauchen. Er will es irgendwie aufsparen. Indem er uns auf Abstand hält.

Mag sein, dass seine Argumente logisch sind, irgendwie. Aus seiner Sicht. Ich sehe das aber ganz anders. Wir freuen uns seit Monaten auf den gemeinsamen Studienstart. Wir haben uns bereits den Campus angeschaut, sind in die Mensa essen gegangen (wo wir mutmaßten, dass wir uns von dem Fraß ein Magengeschwür einfangen würden, obwohl das Essen alles andere als schlecht war). Wir haben einen Blick auf die Profs geworfen und überlegt, welche Fachgebiete uns besonders interessieren. Natürlich sind wir Streber. Jon genauso wie ich. Aber wir streben meistens gemeinsam nach irgendwas. Und das mit dem Zusammenziehen stand nie wirklich auf der Agenda. Wir haben es nur einmal angesprochen, beiläufig und im Alkoholdunst des Abiballs. Eine gemeinsame Wohnung ist etwas, was ich gar nicht unbedingt will. Jedenfalls noch nicht. Viel lieber würde ich eine Zeitlang alleine wohnen. Oder in eine trubelige WG ziehen.

Umso verletzter bin ich, dass er mir jetzt den Rücken zukehrt. Noch dazu grundlos. Und dass er mir gleichzeitig vorschreibt, wann ich meine Freunde zu sehen habe.

»Ich schreibe Emma, dass wir uns morgen Abend treffen können. Bei der Beinglas Campsite«, schlage ich, plötzlich müde geworden, einen Kompromiss vor. »Dann haben wir noch zwei Tage für uns. Okay?«

Missmutig hebt er die Schultern, sein Ausdruck ist starr.

Eigentlich lacht er viel. Mit seinem sagenhaft schönen Mund. Der so groß ist, dass er die kleinen Dickmanns, wenn man sie ihm zuwirft, damit aus der Luft wegschnappen kann. Wie ein Krokodil. Unseren Mathe-Lehrer hat das jedes Mal wahnsinnig gemacht.

»Geht das schon wieder los, Leute? Ehrlich?«, grummelte der, als mal ein Dickmann danebenging und auf seinen Wildlederslippern landete. »Krokodilfütterung, ja?«

»Kommen Sie, Dr. Strange«, lachte Jon. »Wir wissen, dass Sie die Teile genauso lieben!« Er war schon im Begriff, Strange einen Dickmann zuzuwerfen, aber als Jon den Gesichtsausdruck unseres Lehrers sah, ließ er es bleiben. Stattdessen bediente sich Strange (der eigentlich Dr. Strauchel heißt und der beste Lehrer der Welt ist) selbst.

Ich will noch einmal ansetzen und Jon beschwichtigen, aber er ist bereits ein Stück vorausgegangen, den steilen Berg runter. Stattdessen stehen plötzlich Jeanne und Jim vor mir, mit sorgenvollen Gesichtern.

»Are you okay, dear?«

»Yeah. I have just a sudden headache.« Kopfschmerzen. Was nicht mal gelogen ist. Hinter meinen Schläfen beginnt es bereits heftig zu pochen. Die ersten sicheren Anzeichen einer Migräne.

Jim bringt unter seinem Hut ein vages Lächeln hervor, während Jeanne mir mitfühlend eine Hand auf den Arm legt. Ihr Gesicht ist sonnengegerbt und von sympathischen, ehrlichen Falten durchzogen. Aber es wirkt gleichzeitig ernst. O Mann. Haben sich die beiden etwa noch nie gestritten? Oder haben Jon und ich uns tatsächlich so laut angemotzt, dass sich rundum schon alle Sorgen, oder schlimmer noch, sich über uns lustig machen?

Ein Mädel mit zwei blonden kunstvoll geflochtenen Zöpfen, das in etwa in meinem Alter ist, wirft mir im Vorbeigehen jedenfalls einen seltsamen Blick zu. Vom Typ her erinnert sie mich an Frederike. Nur etwas molliger.

Freddy, die Schönheit der Schule. Auf den ersten Blick. In Wahrheit verfolgte sie einen wie Freddy Krüger. Dieses Monster aus dem alten Horrorstreifen, das einen, mit einer Messerhand bestückt, im Schlaf aufsucht und zersäbelt. Ich weiß noch, wie Pia und ich diesen Film einmal aus Langeweile an Halloween angeschaut und uns dabei halb totgelacht haben. Das Problem bei Frederike alias Freddy Krüger war jedoch, dass sie mich nicht nur in meinen Träumen heimsuchte. Sondern jeden verdammten Tag.

»You should take a rest«, meint Jeanne jetzt. »Where are you staying tonight?«

»At the Youth Hostel. At that place I can’t pronounce.«

»Rowardennan.«

»Yeah. That’s the spot! Where are you staying?«

»In a lodge close to the hostel«, antwortet sie und lächelt. Ihre Zähne sind strahlend weiß, ihre Augen blau und klar. Hätte ich nicht eine ebenso warmherzige Mutter, würde ich mich von ihr sofort adoptieren lassen.

»We can hike together if you like«, quetscht Jim in seinem Slang heraus und spricht dabei so kaugummiartig, dass ich eigentlich nur »we« und »together« verstehe. Aber natürlich willige ich ein und lenke Jim, dessen Gesicht ebenso braungebrannt wie das seiner Frau ist, mit der Frage ab, ob er ein Cousin vom Marlboro Man wäre. Ich meine, er hat doch tatsächlich diesen riesigen, klischeehaften Schnauzbart.

»You on the other hand look stunningly Scottish«, kaut er zurück. »Never thought you’d be German!« (Wieder verstehe ich bloß jedes vierte Wort, den Rest reime ich mir zusammen.)

»Did you … freckles … skin?«

Jetzt lächle ich ihn einfach nur einfältig an. Ich habe keine Chance, diesen Satz richtig zu verstehen. Macht aber nichts. Er spricht meine Sommersprossen an, meine Freckles. War ja auch klar. Jeder erwähnt sie früher oder später. Ich kenne Bemerkungen aller Art zur Genüge.

Ob ich Masern hätte?

Ob noch welche dazuwachsen würden?

Ob das nicht ungesund wäre?

Ob ich Sommersprossenmodel wäre?

Der Modelmann. Kaum kommt er mir in den Sinn, sichte ich ihn. Irgendwo weiter vorne. Mit Struppi. Aber zum Glück geht er schneller als ich (wie alle), und ich habe nicht vor, ihn einzuholen. Gazellenartig springt er die gefühlten tausend Stufen runter, die vom Conic Hill auf der anderen Seite hinab in den blauen Tag führen. Ich selbst gehe lieber langsam, konzentriere mich auf meine Schritte. Wenn man hier ausrutscht und auf die Nase knallt, kann es übel enden. Die Schotten, die hier unterwegs sind, sind viel robuster – meistens erkennt man sie daran, dass sie trotz Wind im T-Shirt den Aufstieg wagen. Mit Kind und Kegel.

Jim und Jeanne fragen mich, ob ich den ganzen West Highland Way wandere (Yes, I do) und ob ich zum ersten Mal in Schottland wäre (ebenfalls yes). Dann erzählen sie mir, dass sie zwei Töchter in meinem Alter hätten, Trump verachten (nicht jeder in Texas scheint Republikaner zu sein – Thank God) und dass Jims Vorfahren aus Schottland stammen (irgendwo aus der Nähe von Loch Ness, daher die Reise hierher). Ich witzele, dass seine Vorfahren vielleicht die Monster von Loch Ness wären, was Jim aber nicht so richtig zu verstehen scheint, jedenfalls wirft er mir einen skeptischen Seitenblick zu. (Es gibt eben doch kulturelle Unterschiede zwischen Amerikanern und Europäern, und in diesem Zusammenhang frage ich mich, ob Bemerkungen ironischer Art dazugehören könnten.)

Von Jon ist nach wie vor nichts zu sehen. Was seltsam ist, eigentlich unmöglich. Als hätte er sich vor meinen Augen in Luft aufgelöst.

4.

Bergab geht es viel schneller als hoch. Bald erreichen wir einen Wald mit hohen Tannen, den wir durch eines jener Gatter betreten, denen man auf dem West Highland Way ständig begegnet: Sie dienen zum Schutz von Rehen und quietschen meistens, sobald man sie öffnet und hinter sich schließt.

Die beiden Texaner fragen nicht nach Jon, was ich befremdlich finde, immerhin hat er gestern Abend im Pub neben ihnen gesessen. Andererseits haben sie gesehen, dass wir eine Auseinandersetzung hatten, und wollen diesen wunden Punkt wahrscheinlich nicht offen ansprechen.

Warum geht er mir dermaßen aus dem Weg? Okay, wir haben uns gestritten. Wegen seinem ungeplanten Umzug und der Sache mit Emma. Aber ist das wirklich ein Grund, mich derart links liegenzulassen? Ich wandere schweigend, während sich diese Gedanken fest um mich legen. Jon hat früher viel mehr gelacht. Eigentlich immer. Er war unbeschwerter, obwohl wir im letzten Schuljahr ständig gestresst waren. Warum also vollzieht er gerade im Urlaub diese Hundertachtzig-Grad-Kehrtwende?

Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche und schicke eine Nachricht an Emma.

 

Bist du wirklich in Edinburgh? Du spinnst ja ;-) Warum bist du traurig? Ich streite mich mit Jon und bin es auch. Wir können uns morgen Abend an der Beinglas Campsite treffen. Schau mal, ob da ein Bus hinfährt. Kuss, Kimmi

 

Jim und Jeanne sind in der Zwischenzeit ein gutes Stück vorausgegangen und winken mir zum Abschied zu. Ich winke zurück. Bestimmt werde ich ihnen auf dem Trail wieder begegnen, denn letztlich gibt es auf der Strecke nicht allzu viele Übernachtungs- oder Essgelegenheiten.

Die nächste Ortschaft liegt inzwischen vor mir: Balmaha, ein kleines Dörfchen am See, das ich über einen großen Parkplatz erreiche. Irgendwo hier werde ich Jon finden. Hoffe ich. Sollte er jedenfalls nicht auf mich warten, brauchen wir den Trail eigentlich gar nicht mehr gemeinsam weiterzulaufen. Was sich seltsam anfühlt. Wie ein tauber, abgestorbener Gedanke.

Aber mein Ärger ist unnötig, denn ich finde ihn relativ schnell im St Mocha Café, wo er draußen in der Sonne sitzt, am Tisch neben Mr Attractive und Struppi. Großartig. Wunderbare Kombination.

Sky richtet seine Scheinwerfer auf mein Gesicht, als ich langsam näher komme. Jon hingegen wirft mir nur einen kurzen, missmutigen Blick zu und steckt seine Nase danach wieder in den Wanderführer (als ob er dieses Ding nicht schon mindestens zehnmal gelesen hätte!).

»Drinnen gibt’s guten Kaffee«, bemerkt Sky, während Jon einfach weiter schweigt und der Kloß in meinem Hals wieder zu diesem entsetzlichen Brocken anschwillt. Inzwischen gibt es auch einen zweiten davon, in meinem Magen.

Was soll das Ganze nur? Wenn Jon tatsächlich nach München ziehen will, werde ich ihn nicht daran hindern. Aber ich werde enttäuscht sein dürfen, oder? Und für die Sache mit Emma kann ich nichts. Immerhin ist es mir gelungen, sie uns diesen Abend noch vom Leib zu halten – vielleicht haben wir dann zumindest die Chance, unseren Streit zu klären.

Als ob sie ahnte, dass ich genau jetzt an sie denke, vibriert mein Handy, und noch bevor ich meine Bestellung aufgebe, lese ich ihre Nachricht:

 

Em: O Kimmi. Du streitest dich mit Jon? Dann geht’s dir ja echt schlecht!! Ich komme zu diesem Beinglas, ist gut. Man kommt mit dem Bus gut hin. Ich fahre jetzt schon los, will raus aus der Stadt. Zu viele Menschen. Zu viele Autos. Du weißt schon. Bis morgen! Ich schätze, du kommst erst abends an?

 

Ich tippe ein knappes »Ja« und ein paar Kuss-Smileys hinterher, bevor ich endlich Kaffee bestelle. Beziehungsweise Cappuccino. Und noch ein Stück Kuchen dazu. Beides sieht phantastisch aus. Überhaupt ist es in diesem kleinen Café so schön und gemütlich, dass ich mich trotz des schönen Wetters am liebsten auf das Sofa neben den Kamin setzen würde. Ohne Jon. Nur um zu verschnaufen. Um meine Gedanken zu sortieren. Verkohlt und in Stücke gefetzt. Brauche ich heute definitiv nicht mehr.

Aber natürlich gehe ich doch wieder zu Jon. Ich will unseren Streit nicht noch weiter anstacheln. Und vielleicht werden die Sonnenstrahlen meine Klöße endlich aufweichen.

Beide Kerle sitzen noch da. Genauso wie vorher: der eine liest, der andere reckt das Gesicht zur Sonne. Ich beginne mich zu ordnen: lege meinen Rucksack ab, ziehe die Jacke aus und löse meinen Zopf, um ihn neu zu binden. Irgendwie muss es mir gelingen, diese verrückten Locken zu bändigen. Meine Haare fallen dabei lang über meinen Rücken. Jon liebt diesen Anblick und streckt normalerweise gleich die Hand aus. Nur dieses Mal nicht. Sein Blick bleibt auf dem Buch kleben, total stumpfsinnig. Stattdessen bemerke ich, dass Kristallauge mir einen verstohlenen Blick zuwirft. Genau wie sein Hund. Der kommt jetzt sogar angetrottet und legt seinen Kopf auf mein Knie.

»Ich habe gelesen, dass man bei der nächsten Etappe ein bisschen klettern muss«, sage ich zu Sky. »Wie willst du das mit Struppi denn machen?«

»Struppi?«

Er lächelt mich an. Dabei sieht er so unverschämt gut aus, dass ich ihm meinen Cappuccino am liebsten ins Gesicht schütten würde.

»Oskar«, korrigiere ich mich.

»Struppi passt auch, du hast recht.«

»Du kannst ihn immer noch umbenennen.«

Wieder lächelt er. Nur Jon sagt gar nichts. Gott, wie peinlich ist das? Sky sieht doch, dass wir zusammen reisen! Er wird sofort schnallen, dass zwischen uns was nicht stimmt. Aber immerhin beginnt er Struppi ebenfalls zu streicheln.

»Ich werde ihn tragen, sollte er mal nicht vorwärts kommen«, beantwortet Sky meine Frage.

»Hast du eigentlich auch Hundefutter dabei? In Dosen?«

»Nein, Trockenfutter. Willst du ihm was geben?«

Schon wühlt er in seinem Backpack herum, während ich mich noch immer frage, wie er sowohl dieses monströse Gepäckstück als auch den Hund schleppen will. Vielleicht werde ich ihn morgen tatsächlich überholen.

Noch während ich Struppi füttere, schreitet die Blonde mit den eleganten Zöpfen auf das Café zu. Sie ist in Begleitung einer Freundin, die braunhaarig und unscheinbarer ist als sie selbst – eine Tatsache, die ich wieder mit Freddy verknüpfe: Stets stehen ihre Freundinnen optisch in ihrem Schatten. Über mich sieht sie stirnrunzelnd hinweg. Auf Sky hingegen verharrt ihr Blick einen Moment länger. Bilde ich es mir ein oder lächelt sie ihn sogar an? Bitte.

Auch Jon schenkt sie für meinen Geschmack einen Tick zu viel Aufmerksamkeit.

»Wo übernachtest du heute Abend?«, will Sky wissen, als die Mädels im Café verschwunden sind.

»Im Hostel. In diesem Ort, den ich wahrscheinlich nie werde aussprechen können.«

»Rowardennan«, hilft Jon mir auf die Sprünge und beteiligt sich auf diese Weise wenigstens kurz an unserem Gespräch.

»Genau. Rowardennan. Und ihr?«

Sky zuckt mit den Schultern. »Mal schauen. Es gibt immer wieder Spots, wo man campen darf.«

»Wollen wir weiter, Kim?«, fragt Jon unvermittelt, und inzwischen ist es mir mega peinlich, dass er Sky quasi ignoriert. Gut – Kristallauge hat einen Hund und scheint etwas unkonventionell zu sein. Aber das ist kein Grund, ihn zu dissen, oder? Wortlos weise ich auf meinen Kaffee und den Kuchen. Himmel, er sieht doch, dass ich gerade erst angekommen bin, oder? Was ist nur los mit ihm? Wo ist der Kerl geblieben, in den ich mich Hals über Kopf verliebt habe? Der immer warmherzig und grundsätzlich so guter Laune ist, dass es einem schon mal auf den Keks gehen kann?

Verstört lasse ich den Kuchen sinken. Mir ist der Appetit vergangen.

»Willst du noch was davon?«, frage ich, weil ich den Rest ansonsten stehen lassen würde. Jon schüttelt den Kopf. Dafür langt Sky sofort zu. »Her damit!«, meint er und lacht. »Nein, Oskar, du nicht!«

Inzwischen haben sich die zwei Mädels einen Kaffee geholt und setzen sich in die Sonne, in unmittelbare Nähe. Es ist absehbar, dass sie ein Gespräch anfangen wollen.

Und tatsächlich: Freddy 2.0 fängt gleich ein Gespräch an: »Boooaaaah, ist der süüüüüüüß! Wie heißt der denn?«

»Oskar.«

»Da steckt ein Jack Russel Terrier drin, oder?«

»Ja«, antwortet Sky. »Und wahrscheinlich ein Labrador. Ich weiß es nicht so genau, hab ihn aus dem Tierheim.«

»Aus dem Tierheim, echt? Wer gibt denn so was Niedliches weg?«

Sky zuckt mit den Schultern und verschlingt den Rest meines Schokokuchens.

»Die Leute lassen ihre Tiere ständig im Stich. Wenn sie in Urlaub fahren. Oder merken, dass ein Hund doch ziemlich viel Arbeit macht. Die Tierheime sind voll.«

»Arbeitest du da? In einem Tierheim?«

Wieder sein Schulterzucken. »Schon, ja. Ehrenamtlich.«

Die Blonde lächelt so versonnen auf Struppi hinab, dass ich mich frage, ob Sky den Hund aus taktischen Gründen mit nach Schottland genommen hat. Eine gute Masche, um sofort mit Mädels ins Gespräch zu kommen. Nicht, dass er es nötig hätte.

»Ich bin Sarah«, meint die Blonde schließlich und wirft Sky ein atemberaubendes Lächeln zu. In ihrem Gesicht klimpern blaue Augen, ihre Lippen sind kussrund. Ihre ganze Erscheinung hat etwas Knuffiges.

»Und das ist Lina«, fährt sie fort und deutet auf das Mauerblümchen neben sich. Hinter ihrer großen, braunen Brille lächelt Lina so zurückhaltend, dass sie mir fast leidtut. Verstohlen nippt sie an ihrem Kaffee. Ihr Gesicht ist blass und von einem braunen Pagenkopf eingerahmt.

Dies ist der Moment, in dem Jon aufsteht. »Ich geh schon mal runter zum See und warte da auf dich«, brummt er mir zu.

»Okay«, nuschele ich und nicke matt. Ganz offensichtlich ist es Jon egal, dass alle die schlechte Stimmung zwischen uns mitkriegen.

Ich geh schon mal vor – wie oft werde ich diesen Satz eigentlich noch hören?