Driving Miss Norma - Tim Bauerschmidt - E-Book

Driving Miss Norma E-Book

Tim Bauerschmidt

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Beschreibung

Als bei Miss Norma 2015 im Alter von 90 Jahren Gebärmutterkrebs diagnostiziert wurde, riet man ihr zu einer Operation, zu Bestrahlung und Chemotherapie. Doch Norma – nach sieben Ehejahrzehnten erst frisch verwitwet – dachte nicht daran, ihrem Ende in einem Krankenhausbett entgegen zu dämmern. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von eineinhalb Metern auf und sagte ihrem Arzt: »Ich bin neunzig Jahre alt, ich gehe auf Reisen!« Sie packte das Nötigste und begab sich zusammen mit drei Vollzeitnomaden – ihrem pensionierten Sohn Tim, seiner Frau Ramie und ihrem Pudel Ringo – in einem zehn Meter langen Wohnmobil auf eine unvergessliche Reise. Driving Miss Norma erzählt voller Charme und ansteckender Lebensfreude von ihren Erlebnissen.

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Seitenzahl: 344

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Das Buch

Als bei Miss Norma 2015 im Alter von neunzig Jahren Gebärmutterkrebs diagnostiziert wurde, riet man ihr zu einer Operation, zu Bestrahlung und Chemotherapie. Doch Norma – nach sieben Ehejahrzehnten erst frisch verwitwet – dachte nicht daran, ihrem Ende in einem Krankenhausbett entgegenzudämmern. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von eineinhalb Metern auf und sagte ihrem Arzt: »Ich bin neunzig Jahre alt, ich gehe auf Reisen!«

Sie packte das Nötigste und begab sich zusammen mit ihrem pensionierten Sohn Tim, seiner Frau Ramie und ihrem Pudel Ringo in einem zehn Meter langen Wohnmobil auf eine unvergessliche Reise.

Die früher so ängstliche Frau, die im Angesicht des Todes »Ja« zum Leben sagte, probierte zum ersten Mal regionale Spezialitäten, rutschte auf einem Seil in den Garten eines Wildfremden und griff in einem Heißluftballon nach den Wolken. Mit jeder Meile ging es Miss Norma besser. Auf ihrer Reise quer durch das Land lernte sie unzählige Menschen mit ihrem ganz persönlichen Schicksal kennen – aus Fremden werden Freunde, die sie mit Güte und offenen Herzen willkommen hießen. Als sie im September 2016 im Alter von einundneunzig Jahren friedlich im Kreis ihrer Familie verstarb, konnte sie auf ein reiches Leben zurückblicken.

Driving Miss Norma erzählt voller Charme und ansteckender Lebensfreude von ihren Erlebnissen – ein ergreifender Reisebericht über eine Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Denn es ist nie zu spät, Abenteuer zu erleben, Hoffnung zu schenken und unbekannte Wege zu gehen.

Die Autoren

Tim Bauerschmidt und Ramie Liddle entschlossen sich im Alter von 50 Jahren, ihre berufliche Laufbahn an den Nagel zu hängen und mit ihrem Pudel Ringo ein Leben als reisende Nomaden zu führen. Sie haben bis auf Alaska alle amerikanischen Staaten bereist und fühlen sich in Mexikos Baja Califonia am ehesten zu Hause.

Tim Bauerschmidt und Ramie Liddle

Driving Miss Norma

Sag Ja zum Leben

Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner und Iris Hansen

Wilhelm Heyne Verlag

München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel DRIVING MISS NORMA bei HarperCollins Publishers, New York, NY

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Copyright (c) 2017 by Tim Bauerschmidt and Ramie Liddle

Copyright (c) 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Umschlagillustration: Ramie Liddle and jorik | Shutterstock

Satz und E-Book-Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-21525-5V001

Für Mom, Dad und Pinky

Inhalt

Prolog: Daheim

Baja California, Mexiko

Kapitel 1: Prioritäten

Presque Isle, Michigan

Kapitel 2: Vorbereitungen

Nord-Michigan

Kapitel 3: Entdeckungen

Das »Heartland«

Kapitel 4: Vertrauen

Yellowstone National Park, Wyoming

Kapitel 5: Perspektiven

Boulder, Colorado

Kapitel 6: Träume

Jemez Pueblo, New Mexico

Kapitel 7: Heilung

Fort Myers Beach, Florida

Kapitel 8: Fliegen

Orlando, Florida

Kapitel 9: Einfluss

Saint Augustine Beach, Florida

Kapitel 10: Herzlichkeit

Hilton Head Island und Charleston, South Carolina

Kapitel 11: Feiern

Marietta und Atlanta, Georgia

Kapitel 12: Redlichkeit

Newport News, Virginia

Kapitel 13: Geschmack

Von Winthrop, Massachusetts, nach Bar Harbor, Maine

Kapitel 14: Ausgeglichenheit

Von Pittsburgh, Pennsylvania, zumYellowstone National Park, Wyoming

Kapitel 15: Veränderung

Friday Harbor, Washington

Kapitel 16: Ruhe

Baja California, Mexiko

Danksagung

Über die Autoren

Bildteil

Prolog

Daheim

Baja California, Mexiko Februar

[Tim]

Für Nomaden wie uns ist »daheim« ein relativer Begriff, und unser Zuhause liegt weit ab vom Schuss an einem Strandstück zwischen zerklüfteten vulkanischen Felsen und den azurblauen Wassern der Sea of Cortez in Baja California in Mexiko. An diesem einzigartigen Fleck unseres Planeten koppeln wir jeden Winter unseren sechs Meter langen Airstream-Wohnwagen ab und kommen für eine Weile zur Ruhe.

An einem besonders schönen Morgen gegen Ende Februar waren wir schon früh auf dem Wasser. Ringo, unser fast fünfunddreißig Kilo schwerer Standardpudel, hockte vorn auf dem Paddle Board meiner Frau Ramie. Um uns herum tummelten sich ein paar Delfine, die Ringo offenbar dazu bringen wollten, ins Wasser zu springen. Die Fontänen, die aus ihren Blaslöchern spritzten, schimmerten im Gegenlicht der aufgehenden Sonne und boten ein atemberaubendes Schauspiel. Ich schmeckte das Salzwasser ihres Sprühnebels auf den Lippen. Fischadler und Blaufußtölpel tauchten nach ihrem Frühstück, und unter unseren Boards filterte ein Walhai Plankton. Schließlich erhob sich die Sonne über den Bergen und tauchte die Bay of Conception in leuchtendes Gold.

Als wir später zusammen mit einigen Strandgenossen im Wasser dümpelten und eine Pause vom Stand Up Paddling machten, entspannten sich unsere Muskeln, und unsere Lebensgeister erwachten. Wir kamen auf Grundsätzliches zu sprechen. Es ging ums Älterwerden, speziell das Älterwerden unserer Eltern. Wir malten uns aus, was wir tun und wie wir uns verhalten würden, machten Pläne, stellten uns eine Zukunft vor, die in weiter, weiter Ferne lag.

Was würden Ramie und ich tun, wenn ihre Mutter Jan, die im Westen Pennsylvanias wohnte, oder meine Eltern Leo und Norma aus Michigan nicht mehr für sich selbst sorgen konnten? Wann wäre die Zeit gekommen, im Interesse unserer Eltern tätig zu werden? Und wie würde das aussehen? Welche Art von Pflegeeinrichtung wäre angemessen? Gab es Patientenverfügungen? Welche Hoffnungen, welche Ängste hatten unsere Eltern? Ramies Mutter, die sehr gesellig war und eine passionierte Bridgespielerin, wäre wahrscheinlich in einer betreuten Wohngemeinschaft gut aufgehoben. Aber meine Eltern – die praktisch unter freiem Himmel in ihrem Garten lebten und die sehr stark mit ihrem Heim verbunden waren – würden sich in einer solchen für sie neuen Umgebung womöglich quälen.

Ein Nomadendasein zu führen und Eltern zu haben, die langsam ins Alter kommen, verträgt sich nicht miteinander, und deswegen war ich immer davon ausgegangen, dass sich meine jüngere Schwester Stacy, wenn es soweit wäre, um Mom und Dad kümmern würde. Aber Stacy war vor acht Jahren an Krebs gestorben. »Wir müssen das noch nicht bis in alle Einzelheiten planen, zumindest nicht heute. Wir haben Zeit. Noch sind alle gesund. Genießen wir den Augenblick.« Ich schob meine Ängste und Fragen beiseite, um mich dem Genuss des Augenblicks hinzugeben, und vertraute darauf, dass ich tatsächlich die Zeit hatte. Hoffte, dass ich die Zeit hatte.

***

Wir waren nicht immer Nomaden gewesen, aber ich glaube, diese einfache und ungebundene Lebensweise hatte uns schon lange gereizt. Als Ramie und ich uns kennenlernten, stellten wir fest, dass wir zusammen genommen in vierzehn verschiedenen Staaten gewohnt hatten. Dass wir zur selben Zeit denselben Ort aufsuchten, dass wir einander begegneten, betrachteten wir als Fügung.

Ich hatte mir selbst das Bauhandwerk beigebracht und fuhr in meinem alten Ford Pickup durch die Lande, renovierte Häuser oder gestaltete sie um; Ramie war Beraterin im Non-Profit-Bereich und hatte zuvor auf Kreuzfahrtschiffen und in Ferienresorts gearbeitet, um ihrer Reiselust zu frönen. Wir hatten beide in jungen Jahren enge Verwandte verloren. Wir hatten unseren Anteil an Kummer und Schmerz gehabt und versuchten ganz bewusst, ein Leben zu führen, in dem es mehr um die Suche nach einem Sinn als um ein hohes Gehalt ging. Wir sehnten uns nach einem Leben jenseits der ausgetretenen Pfade, frei von materiellen Dingen, finanziellen Lasten und, ja, auch familiären Verpflichtungen.

An dem Tag, an dem Ramies Schwester Sandy aus Maryland anrief, um uns einen alten Airstream-Wohnwagen anzubieten, veränderte sich unser Leben für alle Zeiten. Wir befanden uns 3200 Kilometer entfernt in Colorado und besaßen kein Zugfahrzeug, waren aber sehr interessiert. Mit einem geliehenen Chevy Pick-up fuhren wir Richtung Osten, um das Angebot in Augenschein zu nehmen. Ich war 45 Jahre alt, und Ramie und ich hatten es beide allmählich satt, mit einem Zelt zu campen und auf dem Boden zu schlafen. Die Aussicht, unsere Häupter komfortabel in einem Raum auf Rädern betten zu können, erschien uns traumhaft.

Der Wohnwagen war alt, aber frisch gepolstert, hatte eine kleine Küche und eine funktionsfähige Toilette. Ich strich mit der Hand über seine wettergegerbte Aluminiumhülle, die von der Juli-Sonne aufgeheizt war und deren kultige Rundungen mich mit Vorfreude erfüllten. »Das wird toll«, sagte ich zu Ramie. Den Rückweg nach Colorado nutzten wir als Testfahrt. Die wichtigste Entscheidung des Tages betraf jeweils den Ort, an dem wir parken und übernachten wollten. Wir hatten das Gefühl, nach einer neuen Freiheit zu greifen und uns darin einrichten zu können.

Nach unserer Rückkehr tauschte Ramie ihr geliebtes Kabrio gegen einen rot glänzenden Pick-up mit Anhängerkupplung, und wir machten uns daran, eine neue Lebensart zu erkunden. Wir nutzten den Wohnwagen, wann immer wir konnten.

Wir brauchten nur einen schlimmen Winter, um zu der Überzeugung zu kommen, dass wir während der dunklen Monate mit ihren kurzen Tagen und extralangen Nächten lieber Zuflucht in wärmeren Klimazonen suchen sollten. Im Norden Michigans in der Nähe meines Elternhauses hatten wir eine alte Fischerhütte renoviert, die eigentlich nur für eine Nutzung im Sommer gedacht war. So sehr wir den rostigen alten Ofen auch mit Brennholz fütterten, Stunden später war alle Wärme aus der Hütte entwichen – weder Wände noch Decke waren gedämmt. Nachts zitterten wir zusammen mit unserem damaligen Vierbeiner, einem deutschen Schäferhund namens Jack, in unserem Gemeinschaftsbett. Ich träumte immer öfter von dem wundervollen sonnigen Strand, an dem ich ab Mitte der neunziger Jahre ein paarmal gezeltet hatte. Wir einigten uns auf die Baja California als Winterdomizil, die Halbinsel im Westen Mexikos.

Während unseres ersten Aufenthalts in Baja machten wir uns mit der Lebensart in einem Campingwagen (einem recreational vehicle, kurz RV) und außerhalb des üblichen Versorgungsnetzes vertraut. Unsere Batterien luden wir mithilfe eines kleinen Solarkollektors auf, und gleichzeitig bemühten wir uns, sparsam mit Energie umzugehen. Ampere und Watt sowie andere Fachbegriffe der Elektrik spielten plötzlich eine Rolle in unserem Leben, und diese Lektion lernten wir auf die harte Tour, als eines Abends unser Licht zu flackern begann und wir feststellen mussten, dass wir fast keinen Saft mehr hatten.

Auch der sparsame Umgang mit Wasser wurde wichtiger als je zuvor, denn Frischwasser musste aus einem kleinen Fischerdorf nördlich des Campingplatzes geholt werden, das eine halbe Stunde entfernt lag. Weil es keine Entsorgungsstation für unser Abwasser gab, mussten wir auf selbst ausgehobene und am Strand verteilte Latrinen ausweichen. Wir benutzten eine Solardusche und eine improvisierte Freiluftkabine, die wir mithilfe eines Hula-Hoop-Reifens und eines Duschvorhangs an der offenen Tür des Pick-ups gebaut hatten.

Trotz des Mangels an zivilisatorischen Annehmlichkeiten erwies sich Baja als Magnet für eine Vielzahl von Menschen aus aller Welt – Leute wie Jelle und Deb, Seeleute und Folksänger aus Kanada. Im Sommer wohnen sie auf einem Segelboot, das in der Maple Bay vor Vancouver Island ankert, die Winter verbringen sie an den Stränden von Baja California in einem knapp vier Meter langen Oldtimer-Wohnwagen ohne Toilette. Chris und Bessy, Computerprogrammierer im Ruhestand, die in Südafrika gelebt hatten, hielten sich jetzt abwechselnd in Upstate New York, San Francisco und Baja auf. Und es gab auch noch »Santa Wayne«, den beliebtesten Santa-Claus-Imitator in ganz British Columbia. Wie man unschwer erraten kann, tauchte er erst nach Weihnachten am Strand auf. Und nicht zu vergessen Pedro und Janet, der schillernde Zeremonienmeister internationaler Reit- und Springturniere, und seine in Holland geborene Ehefrau, ihres Zeichens Pferdetrainerin. Auch am Strand verzichtete Pedro nicht auf extravagante Auftritte. Diese Menschen, die Jahr für Jahr wiederkehrten, waren hauptsächlich Nordamerikaner, aber auch viele ausländische Touristen kamen auf dem Weg zum mexikanischen Festland hier vorbei, wenn sie die Fähre in La Paz weiter im Süden nahmen.

Jeden unserer Tage begannen wir mit einer frühmorgendlichen Kajaktour um die nächstgelegene Insel, die ungefähr eine Meile vor der Küste lag. Wir ließen uns treiben und warteten darauf, dass die Sonne über der bergigen Halbinsel aufging, die die Bucht bildete. Beseligt genossen wir die morgendliche Stille, bevor wir zur Küste zurückkehrten. Wir gönnten uns einheimische Erdbeeren auf Joghurt zum Frühstück, bevor wir uns einer Gruppe anschlossen, um eine knapp fünf Kilometer lange Wanderung bergauf zu machen. Zurück ging es über einen Wüstenpfad, der sich zur Bay schlängelte. Nachdem wir auf dem Weg zu unserem Wohnwagen den neuesten Strandklatsch gehört hatten, beratschlagten wir, wie wir den weiteren Tag verbringen wollten – mit Stehpaddeln, Schwimmen, einer längeren Wanderung oder vielleicht einem Besuch bei neuen und alten Freunden.

Jeder vermied Gespräche über Politik oder Religion und hielt sich von Nachrichten aus der Außenwelt fern, auch wenn es nur für die vier oder fünf jährlichen Wintermonate war. Schon bald fühlten wir uns den gleichgesinnten Strandbewohnern verbunden. In den Städten und Wohngebieten, in denen wir gelebt hatten, war es Ramie ebenso wie mir schwer gefallen, Freundschaften zu schließen, aber hier war es anders. Hier herrschte kein Verkehr, gab es keine Nachrichten, brauchte keine äußere Uhr beachtet zu werden. Hier konnten sich die Menschen ganz einfach ihres Seins erfreuen – ihres Verbundenseins mit der Erde, miteinander und mit sich selbst. Wir hatten das Gefühl, wahrhaft dazuzugehören.

Zwei der drei Winter, in denen wir die Hütte am See besaßen, verbrachten wir in Baja auf dem 800 Meter langen, sichelförmigen Strandstück. Nachdem wir die Hütte verkauft hatten, erstanden wir einen größeren Airstream und verbrachten den darauffolgenden Winter in Florida, wo Ramie einen Studienabschluss als Beratungslehrerin machte. Wegen ihres Berufspraktikums reisten wir nach Colorado und kampierten anschließend in Prescott, Arizona, wo wir in unserem Airstream wohnten, bis wir dort ein Haus zum Renovieren fanden.

In dem größeren Wohnwagen ließ es sich gut aushalten, aber wir wollten reisen, entdecken und der Natur näher sein. Wir stellten fest, dass wir immer mehr daheim blieben, weil es zu aufwendig war, den Koloss durch die Gegend zu ziehen. So beschlossen Ramie und ich, das Problem zu lösen, indem wir uns verkleinerten und auf einen 5,80 Meter langen Airstream-Bambi umstiegen. Damit kamen wir besser zurecht und reisten jeweils monatelang, meist in der Zwischensaison, wenn keine Schulferien waren und die Familien in der Regel zu Hause blieben. Nationalparks und sonstige Sehenswürdigkeiten waren zu diesen Zeiten nicht so überlaufen. Unsere Autoreisen – die wir inzwischen gemeinsam mit unserem Welpen Ringo machten – wurden immer ausgedehnter. Sie dauerten den ganzen Sommer, sechs Monate und sogar noch länger.

Wir waren so oft unterwegs, dass unser Haus in Arizona meistens leer stand. Wenn Ramie einen Job hatte, reisten wir während der Schulferien durch den Südwesten und erkundeten Orte wie den nördlichen Grand Canyon, das Death Valley, den Bryce Can­yon und die Zion National Parks. Im Sommer besuchten wir Freunde in Tennessee und North Carolina und schauten im Süden Marylands bei Sandy vorbei, die ja alles ins Rollen gebracht hatte. Auch in Michigan machten wir stets Halt, wenn wir in Richtung Osten reisten.

2011 nutzten wir ein Sabbatjahr, um das Land von Küste zu Küste und von Norden nach Süden zu durchqueren. Wir ließen Arizona hinter uns und fuhren nördlich durch das Great Basin in Nevada, weiter in die Sawtooth Mountains in Idaho und dann in den Glacier National Park in Montana. Von dort aus wandten wir uns nach Westen und folgten der Küste Oregons nach Süden. Wir fuhren auf Kaliforniens Highway 1 bis an die mexikanische Küste. Nachdem wir in Baja überwintert hatten, reisten wir im Frühling und Sommer gen Osten durch die Südstaaten und zum Schluss hinauf in den Norden nach Maine, bevor wir wieder Arizona ansteuerten.

Nur allzu gern nisteten wir uns mit dem kleinen Bambi zwischen den Felsen im Arches National Park in Utah ein und gingen morgens wandern, bevor Menschenmengen und Hitze das Regiment übernahmen. Oder wir parkten in einem abgelegenen Redwoodhain in Nordkalifornien und schliefen unter dem tausend Jahre alten Baumkronendach und den unendlich viel älteren Sternen.

An vertrauten Orten schlossen wir Freundschaften und zogen weiter zu anderen Baja-California-Freunden. In Avery in Kalifornien besuchten wir John und Lori auf ihrem Grundstück hoch oben in der Sierra Nevada, wo wir in dem Canyon, durch den der Love Creek fließt, auf einer flachen Stelle parkten. Einmal trafen wir dort während der Apfelernte ein, rollten unsere Hemdsärmel auf und halfen dabei, mehr als hundert Kilo Äpfel auf altmodische Weise – mit einem schweren gusseisernen Mahlwerk und einer hölzernen Lamellenpresse – zu verarbeiten, bevor der süße Saft gefiltert und dann in Flaschen abgefüllt wurde.

Ein andermal waren wir um die Osterzeit nach Arizona zurückgekehrt, hatten aber unser Haus in Prescott vermietet und parkten daher in Williamson Valley auf der sechzehn Hektar großen Pferderanch unserer Freundin Kasie. Eines Sonntagmorgens kam Kasie zu unserem Airstream spaziert und bat uns, ihr bei etwas zu helfen. Zu unserer Überraschung fiel der Aufenthalt dort mit der Decksaison ihres prachtvollen Hengstes Morgan zusammen. Ehe wir uns versahen, halfen wir Kasie, eine brandneue künstliche Stutenvagina zusammenzubauen, zur Anwendung zu bringen und ihre Temperatur zu regulieren.

Wir arbeiteten daran, flexibler zu werden, und gingen allmählich nachsichtiger mit uns selbst und den anderen Anhängern des nomadischen Lebensstils um. Eigentlich blieb uns auch kaum eine andere Wahl. Unsere Reisepläne mussten wir an der Verfügbarkeit kostenloser Entsorgungsstationen (die unser GPS das eine oder andere Mal nicht lokalisieren konnte) ausrichten. Auch Verzögerungen in Städten (sei es wegen eines Umzugs, eines Marathonlaufs oder Straßenarbeiten) erforderten eine gewisse Gelassenheit und Offenheit im Denken. Und weil es immer eine ganze Reihe von Dingen gab, die wir zu Hause vergessen hatten, mussten wir oft erfinderisch sein, um bestimmte Aufgaben zu meistern. Ganz zu schweigen von unseren Begegnungen mit Coyote-Welpen, Elchen, Bären, Wanderfaltern und einer Frau auf Stöckelschuhen, die mit ihrem Stubenschwein auf dem Campingplatz herumspazierte und dabei einen Pullover mit Monogramm trug, der zur Oberbekleidung des Schweines passte. Egal, wie erfahren man ist oder wie gut man vorausgeplant hat – auf Reisen lernt man, das Unerwartete zu erwarten und die Dinge zu nehmen, wie sie kommen.

Natürlich wurden wir es manchmal müde, unterwegs zu sein, aber das war es uns wert. Blödsinnige und oft auch zum Scheitern verurteilte Pläne zu schmieden bedeutete nur, sich Erfahrungen zu stellen, die einem ansonsten entgangen wären. In manchen Nächten weckten uns Lachse, die weniger als einen Meter von unserem Schlafzimmerfenster laichten; in anderen standen wir noch um Mitternacht auf unseren Paddle Boards, weil uns der Anblick des Vollmonds wachhielt. Durchkreuzte Reisepläne mochten zur Folge haben, dass wir einen Tag länger die Leichtigkeit unseres Seins unter dem weiten blauen Himmel des amerikanischen Westens spüren durften. Spontane Vorratskäufe konnten uns leichtfertig und kindisch werden lassen und Ramie dazu inspirieren, sich auf das Gestänge des bis zum Rand mit Lebensmitteln gefüllten Einkaufswagens zu stellen, damit ich sie mit voller Kraft voraus über den Parkplatz zu unserem Wohnwagen schob, ihr Lachen in den Ohren, Ausdruck ungebremster Heiterkeit.

Dem Leben unterwegs wohnte eine Einfachheit inne, eine Freiheit, die Ramie und ich als Gegenmittel zur Existenzangst des modernen Lebens empfanden. Je weniger wir besaßen und je weniger wir irgendwem schuldig waren, desto weniger Sorgen hatten wir. Sich beim Aufstehen und Schlafengehen nicht nach der Uhr zu richten, sondern nach der Sonne, und im Einklang mit dem eigenen Rhythmus wandern zu gehen, Spiele zu spielen, zu lesen und zu essen – das war und ist noch immer das Schöne an unserem Nomadenleben.

Wir waren wie Reet, das sich im Wind beugt, führten ein freies Leben und reisten mit leichtem Gepäck – Baja diente uns dabei als Leitstern. Die unerwartete Anschaffung des Airstream hatte uns das Leben gerettet – oder, genauer gesagt, uns ermöglicht, wirklich unser Leben zu leben: Augen und Herzen weit geöffnet für alles, was dieses Leben zu bieten hatte.

***

Ramie und ich hatten fünfzehn Mal die Gelegenheit gehabt, mit meinen Eltern über ihre Wünsche zu sprechen. Genauso oft hatte Ramie mich auf meinen jährlichen Pilgerreisen zu deren ländlichem Heim in Michigan begleitet. Als sie zum ersten Mal mitkam, waren Mom und Dad Mitte siebzig – vielleicht damals noch ein wenig zu jung, um ein solches Gespräch zu führen. Und ehrlich gesagt sahen wir auch keinen Anlass. Sie konnten nämlich immer noch für sich selbst sorgen und waren voller Lebensfreude. Doch als meine Eltern achtzig wurden, bemerkte ich nach und nach eine Veränderung in ihrem Leistungsvermögen. Sie bewegten sich langsamer. Weil Mom die Stufen ins Kellergeschoss nicht mehr bewältigen konnte, musste Dad die Wäsche machen. Das Kochen strengte Mom immer mehr an. Die Post aus dem Briefkasten auf der anderen Straßenseite zu holen wurde zu Dads Aufgabe. Aber die beiden machten tapfer weiter.

Ungefähr eine Woche waren wir bei ihnen zu Besuch, und wir halfen ihnen nach Kräften. Während Ramie den Garten in Schuss brachte, kümmerte ich mich um überfällige Instandsetzungsarbeiten im Haus. Ich entsorgte lose Vorleger und installierte Rauchmelder. Ich brachte Geländer und Haltegriffe an. Ich bereitete Mahlzeiten, die für ein Jahr reichen sollten, und fror sie im Eisschrank ein, den ich aus dem Keller heraufgebracht hatte. Ich tat alles, nur »das Gespräch« führte ich nicht.

***

Unsere Zeit in Baja lief ab und die Frühlingssaison der Abreisen stand kurz bevor. Einige hatten schon zusammengepackt und waren aufgebrochen. Diejenigen, die sich mit Abschiedsworten schwertaten, fuhren gewöhnlich einfach davon, schlichen sich still und leise weg; andere mochten vielleicht Pedros Signalhorn im Ohr haben und zogen dann fort wie im Parademarsch. Jede Abreise war so einzigartig wie die Menschen, die in unserer Gemeinschaft kampierten.

In wenigen Wochen würden auch Ramie und ich packen. Würden das Salzwasser von unseren Strandspielzeugen abspülen und sie zusammenbinden. Die Hängematte in unserer palapa, der Strandhütte, würde abgenommen werden, wir würden das Schutzzelt zusammenfalten und in seinem Sack verstauen. Wir würden den Sand, so gut es ging, aus dem Wohnwagen und dem Truck fegen, wohl wissend, dass es unmöglich war, alles zurückzulassen.

Und dann würden wir auf dem Mexico Highway 1 die bergige Halbinsel in Richtung Norden verlassen und durch die Weingegend von Baja bis an die US-Grenze in Tecate fahren. Von dort aus traten wir wie jedes Jahr unsere schleppende 8000-Kilometer-Reise an, die uns in östlicher Richtung durchs Land führte. Wir besuchten Freunde und Familienangehörige und kamen irgendwann ganz im Norden Michigans an, um meine Mom und meinen Dad wiederzusehen. Wir hatten ja keine Ahnung, welch böses Erwachen uns dort erwartete.

Kapitel 1

Prioritäten

Presque Isle, Michigan Juni

[Ramie]

Nichts im Leben ist sicher. Das sagen alle, aber meistens findet diese Einsicht nicht den Weg vom Verstand in unser Herz. Wir erachten die Gegenwart unserer Mitmenschen als selbstverständlich, ignorieren ihre Schmerzen und ihr Leid, sagen ihnen wider besseres Wissen nicht das, was wir sagen sollten, und schieben dringend nötige Unterhaltungen erst einmal auf. Auch Tim und ich mieden ständig das Gespräch mit seinen Eltern über deren Alter und besonders darüber, wie sie die letzte Phase ihres Lebens am liebsten verbringen würden. Warum fiel es uns so schwer, dieses Thema anzusprechen? Warum hatten wir immer wieder einen feigen Rückzieher gemacht, warum blieben uns die Fragen, die wir stellen wollten, im Hals stecken? Wie würden wir uns verhalten, wenn der Augenblick kam und uns keine Wahl blieb, als uns ihrer Sterblichkeit – und der eigenen – zu stellen? War es möglich, Ja zum Leben zu sagen, obwohl man dem Tod ins Antlitz sah?

Mit der festen Absicht, einige dieser Fragen anzusprechen, lenkten wir unser Gespann in die Auffahrt des Hauses meiner Schwiegereltern in Presque Isle, denen wir unseren Jahresbesuch abstatteten. Wir waren entschlossen, endlich den Mut aufzubringen, das Thema anzusprechen, aber wie es so oft geschieht, fanden wir uns in einer Notsituation wieder, bevor wir die Gelegenheit gehabt hatten, uns auszusprechen.

Tims Mom Norma begrüßte uns normalerweise mit der Information, welche Kekse sie diesmal für uns gebacken hatte. Tims Vater Leo half oft dabei, den Wohnwagen einzuparken. Doch diesmal trat, während wir mit dem Airstream rückwärts in die asphaltierte Einfahrt rollten, keiner der beiden vor das kleine Backsteinhaus, um uns zu begrüßen.

Es waren keine Worte nötig – wir befürchteten beide dasselbe.

Mit schnellen Schritten stiegen wir die paar Stufen hinauf, die zum Seiteneingang führten, öffneten die Tür, durchquerten den Eingangsbereich und betraten die Wohnküche. Es roch verbrannt.

Etwas stimmte nicht – stimmte ganz und gar nicht.

»Mom? Dad?«

Niemand antwortete.

Tim schaltete den Backofen aus, ohne nachzuschauen, was darin angebrannt war.

Eine von Leos vielen Uhren fing an zu schlagen. Sie stimmte nicht mit der richtigen Zeit überein. Dann folgte die nächste. Und die nächste. Die Großvateruhr, die Leo jeden Sonntag mit größter Sorgfalt aufzog, stand still. Aus dem Fernseher im Wohnzimmer röhrte ein NASCAR-Rennen, aber die Sessel, auf denen Leo und Norma für gewöhnlich saßen, waren leer. Wir gingen nach hinten.

Und da sahen wir sie auf dem Flur. Sie kamen aus dem Bad auf uns zu.

Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein. Aber dann fiel uns auf, dass Leo vornüber gebeugt ging, den Arm um Normas Schulter geschlungen, das Gesicht schmerzverzerrt. Meine winzige Schwiegermutter hielt ihn mit größter Mühe aufrecht und stützte sich selbst dabei auf einen Stock, den sie in der linken Hand hielt.

Sie kamen ganz langsam auf uns zu. Bei jedem Schritt schrie Leo auf. Er schien uns nicht wahrzunehmen.

Wir eilten ihnen entgegen. Tim legte den Arm um ihn. Ich tat dasselbe bei Norma.

»Mom, was ist denn passiert?«

»Dad, rede mit mir. Was ist los?«

»Wann ist das hier passiert?«

»Vorsicht mit dem Teppich! Heb deine Füße.«

»Halt dich an mir fest.«

»Dad, ich hab dich.«

»Alles wird wieder gut.«

»Setzen wir dich auf deinen Sessel.«

Leo wimmerte und zuckte immer wieder zusammen, als wir uns ins Wohnzimmer schleppten. Norma hatte ich schnell in ihren Sessel bugsiert, aber Leo hinzusetzen kostete erheblich mehr Zeit und Mühe. Noch eine Uhr schlug, obwohl sie es eigentlich nicht durfte. Der Fernseher hörte nicht auf zu dröhnen. Ich schnappte mir die Fernbedienung und fingerte daran herum, weil ich nicht mit ihr vertraut war. Wo war die Stummtaste? Schließlich schwieg der Kasten.

Leo, normalerweise lebensfroh und gut gelaunt, stöhnte und stieß von Zeit zu Zeit auch Klagelaute aus. Wir brachten ihm Kissen und halfen ihm, sich zu drehen und zu wenden, aber nichts schien seine qualvollen Schmerzen zu lindern. Tim und Norma zogen sich in die Küche zurück, wo sie sich leise unterhielten. Ich wich Leo nicht von der Seite, denn ich hoffte doch auf eine Möglichkeit, seine missliche Lage zu lindern.

Leo sah zu mir auf und sagte: »Irgendwas ist echt große Schei… .«

In all den Jahren, die ich ihn kannte, hatte er sich in meiner Gegenwart noch nie einer solchen Ausdrucksweise bedient. Daher sagten mir diese wenigen Worte alles, was ich wissen musste.

Tim kam aus der Küche und berichtete, er habe im Backofen nur ein kleines, ungewürztes Stück Hühnerfleisch und zwei geschrumpelte Kartoffeln in einer Aluschale gefunden. Mehr hatten sie nicht zu Abend essen wollen?

Es schnürte mir die Brust zusammen. Das hier war noch lange nicht überstanden. Es war erst der Anfang.

***

In den Monaten vor unserem Besuch hatten wir höchstens eine schwierige Entscheidung pro Tag treffen müssen: Paddeln wir auf unseren Brettern oder in den Kajaks, oder gehen wir schwimmen … oder alles drei? Immer hatte die Sonne unsere Haut erwärmt und gebräunt, und unsere warmherzigen Gefährten, die atemberaubende Szenerie, die frischen Meeresfrüchte und die Mariachi-Musik hatten zusammen dafür gesorgt, dass jeder Tag perfekt wurde.

Nachdem wir in jenem Frühling Mexiko verlassen hatten, fuhren wir wieder in die Staaten, durch Kalifornien und anschließend östlich nach Tennessee. Wir übernachteten oft auf den Parkplätzen der Restaurantkette »Cracker Barrel« und der Walmart Supercenter. Von unterwegs riefen wir gelegentlich Norma und Leo an, um uns zu erkundigen, wie es ihnen ging. Nie erwähnten sie, dass sie Unterstützung brauchen könnten; vermutlich hätten sie es ohnehin nicht zugegeben, wenn es so gewesen wäre. Und wir fragten nicht nach. Wie Tim zu sagen pflegte: »Keine Nachrichten sind gute Nachrichten.«

Schließlich landeten wir in North Carolina und blieben bei unseren Freunden Caroline und Roland auf ihrer wunderschönen Fünfzehn-Hektar-Farm mit den grandiosen Gärten, grasenden Pferden und mehreren Nebengebäuden. Ringo liebte es, mit den beiden Farmhunden übers Grundstück zu toben. Ich kämpfte seit mehreren Tagen mit meinem Fieber, fühlte mich elend und war auf der Suche nach etwas, egal was, das mich von meinem Zustand ablenkte. Während also alle anderen ihre Freude miteinander hatten, entschied ich mich, mit einem Buch ins Bett zu gehen.

Mehrere Nebengebäude waren mit Bibliotheken ausgestattet, und in allen reichten die Bücherregale vom Boden bis zur Decke. Dort boten sich Tausende von Auswahlmöglichkeiten. Ich war zu krank, um das Gästehaus zu verlassen, also stöberte ich in den Regalen, ohne etwas zu finden, das mich interessiert hätte. Doch dann stieß ich auf einen kleinen Bücherstapel auf einem antiken Tisch im Flur. Ein Titel fiel mir auf – Being Mortal: Medicine and What Matters in the End von Atul Gawande (Deutsche Übersetzung: Sterblich Sein, S. Fischer 2015), eine kritische Untersuchung über die Pflege alter Menschen und lebensverlängernde Maßnahmen. Da ich mich in diesem Augenblick besonders sterblich fühlte, zog ich das Buch aus der Mitte des Stapels und nahm es mit ins Bett.

Ein paar Tage später hatte ich es fast ausgelesen. Zwar fühlte ich mich körperlich noch nicht besser, doch ich wusste, dass sich mein Leben verändert hatte. Was ich eben gelesen hatte, war höchst bedeutungsvoll. Meine Sicht auf das Lebensende war erschüttert worden. Ich hatte stets den Kopf in den Sand gesteckt, wenn es darum ging, über die Bedürfnisse meiner Mutter oder jene von Tims Eltern zu sprechen. Aber jetzt wusste ich, dass es Zeit war, diese schwierigen Gespräche zu führen.

Nach den Tagen auf der Farm machten wir uns auf den Weg zu den Outer Banks in North Carolina. Wir warteten auf die Fähre von Ocracoke nach Cape Hatteras, als Tims Handy klingelte.

Leo war am Telefon und berichtete, dass Tims Onkel Ralph – Leos bester Freund und Normas letzter noch lebender Bruder – im Alter von einundneunzig gestorben war.

An jenem Tag klang Leos Stimme noch fest, aber nur ein paar Wochen später, am Vatertag, hatte sie sich bereits verändert.

»Wir müssen hinfahren«, sagte Tim nach dem Telefonat. »Mit meinem Dad stimmt was nicht.«

Was mich inzwischen am meisten erschüttert, wenn ich an die Monate vor diesem Anruf zurückdenke, ist die Dreistigkeit, mit der wir annahmen, alles unter Kontrolle zu haben. Alter und Krankheit nehmen keine Rücksicht auf unsere Pläne, sondern ihren eigenen Weg zu ihrer eigenen Zeit, ob wir bereit sind, uns diesen unausweichlichen Problemen zu stellen, oder nicht.

Uns blieb nicht einmal genug Zeit, den Airstream vom Truck abzukuppeln. Drei Tage, nachdem wir in der Auffahrt geparkt hatten, lag Leo in einem Krankenhausbett, in Embryonalstellung. Allmählich versagten seine Organe. Die Fentanylpflaster, mit denen er die unerträglichen Rückenschmerzen bekämpfte – Spätfolgen eines Kompressionsbruchs, wie wir später erfuhren –, ließen offenbar seine Körperchemie aus den Fugen geraten, und die Ärzte vermochten sie nicht wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Er wirkte so hilflos und allein. Im Ruhesessel des Krankenhauses an Leos Bettseite erschien uns Norma verloren und winziger als je zuvor. Sie war verstummt.

Tim kroch zu seinem Vater ins Bett und kuschelte sich in Löffelstellung an ihn. Ich reichte ihm ein feuchtes Tuch, und sanft wischte er damit Leos Stirn ab. Immer wieder sagte er ihm: »Es ist okay, ich werde mich um Mom kümmern. Ich liebe dich. Alles wird gut.«

Nach einer Weile machte Tim Pause und ich kroch zu Leo ins Bett. Wir taten das an jenem Morgen immer wieder, bis Norma mir zuflüsterte: »Würdest du mich nach unten bringen? Ich habe um eins einen Termin. Es sollen Kontrolluntersuchungen gemacht werden.«

Ich hatte keine Ahnung, worum es bei diesen Untersuchungen ging. Auf dem Weg nach unten im Fahrstuhl erwähnte sie, sie habe Blut im Urin gehabt. Mir kam der Verdacht, dass es um mehr ging als das, denn ich hatte die Monatsbinden in ihrer Handtasche gesehen. Zweifellos blutete sie, und da ihre Wechseljahre schon Jahrzehnte zurücklagen, durfte das nicht sein. Ich blieb im Wartezimmer, und als sie die Untersuchungen hinter sich hatte, begaben wir uns wieder in Leos Zimmer. Norma erwähnte keine Einzelheiten, und da Leo im Augenblick Priorität genoss, verzichteten Tim und ich darauf, sie zu behelligen.

Im Laufe der Woche erfuhren wir, dass bei Norma Folgeuntersuchungen einschließlich einer vaginalen Sonografie nötig wurden. Ihr Ehemann ruhte sterbend einige Etagen über ihr im Hospizflügel des Krankenhauses, und jetzt lag Norma auf dem mit Papier abgedeckten Untersuchungsstuhl, während eine technische Assistentin ihr den stabförmigen Schallkopf einführte. Ihr gesamter Körper schien innerlich zu verkrampfen. Sie war so klein, und es war demütigend. Ich stand in der Nähe der Assistentin, nahm wahr, dass sie mit einem Stift wieder und wieder etwas auf dem Monitor umkreiste, und sah auf Normas Uterus etwas, das mir vorkam wie ein großer Klumpen. »Unglaublich«, flüsterte ich bei mir. Leo lag im Sterben, und nach dem Bild, das ich gesehen hatte, musste ich annehmen, das Norma so etwas wie einen Tumor hatte. Aus ihrer Perspektive konnte sie nicht erkennen, was vor sich ging, und bemerkte nicht, was ich gerade gesehen hatte.

Ich atmete tief durch, bevor ich Tim erzählte, was sich an jenem Nachmittag auf dem Monitor abgezeichnet hatte.

Leo wurde schon bald ins Hospizzimmer eines örtlichen Pflegeheims verlegt. Nachdem wir zwei Tage später sechs Stunden lang an seinem Bett gesessen hatten, beharrte die erschöpfte Norma darauf, dass er durch seinen Glauben gut behütet sei. »Wir dürfen jetzt gehen.« Wir alle wussten, dass dieser warme Julitag der letzte in Leos Leben sein würde. Kaum waren wir zu Hause angekommen, rief jemand vom Hospiz an und benachrichtigte uns, dass Leo um 17:50 Uhr gestorben war. In exakt diesem Moment fing eine kaputte Schiffsuhr – ein Geschenk von Stacy – wieder zu ticken an.

Wir ließen Leos sterbliche Überreste einäschern und begruben die Urne im Familiengrab auf dem städtischen Friedhof neben der von Stacy, nur wenige Schritte entfernt von Onkel Ralph. Wir waren erschüttert und tief traurig.

Es war noch nicht offiziell diagnostiziert, aber Tim und ich ahnten, dass Norma Krebs hatte. Als wir im Airstream lagen, sprachen wir über die Möglichkeiten, die wir hatten. Wir wollten beide nicht, dass Normas Leben so zu Ende ging wie Leos. Seine letzten Tage in einem geschäftigen und lauten Krankenhaus dürften keineswegs angenehm gewesen sein. Nein, er musste sich gequält haben. Wir fürchteten uns davor, was geschehen würde, sollte Norma in ein Pflegeheim eingewiesen werden. Sie liebte das Leben unter freiem Himmel. Wie sollte sie es in einer Einrichtung aushalten, deren Eingangstür immer verschlossen und nur mit einem Code zu öffnen war, wenn man hinaus wollte. Wie sollte diese überaus schüchterne Frau das Zimmer mit einer fremden Person teilen können? Wir wussten, was für ein Essen in vielen dieser Häuser serviert wurde. Es war ganz und gar nicht sicher, dass ihr jene Qualität und Vielfalt des Lebens geboten würde, die sie gewohnt war, ganz zu schweigen von der vertrauten Unabhängigkeit und sonstigen für sie selbstverständlichen Dingen. Unser Gefühl sagte uns, dass Norma ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung und ihre Würde nicht nur brauchte, sondern auch verdient hatte, und unserer Meinung nach verkörperten zumindest die Pflegeheime, die wir gesehen hatten, das absolute Gegenteil dieser Werte.

Wenn Norma am Ende ihrer Tage bei einem Bier oder einem Glas Wein abschalten wollte, waren wir die ersten, die ihr diesen Luxus gönnten. Wenn sie die Einrichtung, aus welchem Grund auch immer, verlassen wollte, musste ihr das unserer Meinung nach gestattet sein. Wenn sie zum Abendbrot ihr Frühstück einnehmen oder unbedingt barfuß durchs Gras gehen wollte, sollte es so sein. Und sie sollte wieder Grund zum Lächeln haben.

Wir sahen einander an und sagten gleichzeitig: »Wir müssen herausfinden, ob sie mitkommen möchte.«

Wir hatten keine Ahnung, was wir tun sollten, falls sie »Ja« sagte.

***

Am Tag darauf saßen wir drei am Küchentisch und aßen zu Mittag.

»Norma, wir wissen nicht, was die Ärzte zu all den Untersuchungen sagen werden, die man bei dir gemacht hat«, sagte ich zwischen zwei Bissen. »Aber glaubst du, du kannst dich alleine versorgen, nachdem Leo von uns gegangen ist?«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, antwortete sie. Es klang von Wort zu Wort beklommener. »Aber ich kann hier nicht alleine wohnen bleiben, das weiß ich.«

Tim stimmte ihr zu. »Ramie und ich haben auch darüber gesprochen, und wir hätten kein gutes Gefühl dabei, dich hier allein zu lassen, selbst wenn du Hilfe von anderen Menschen hättest. Wir haben uns nach Heimen erkundigt, und wir können dich auf eine Warteliste setzen lassen – entweder hier oder auch in Pennsylvania, wo Ramies Mutter wohnt.«

»Wir haben aber auch gedacht«, fuhr er fort, »wenn du vielleicht mit uns durchs Land fahren möchtest, könnten wir ein größeres Wohnmobil besorgen.«

»Es mag dir jetzt wie eine verrückte Idee vorkommen«, mischte ich mich ein, »aber es ist nicht verrückter, als den Rest deiner Tage in einem Pflegeheim zu verbringen. Wenn du mitkommen möchtest, bringen wir dich, wohin du willst.«

Wir sagten ihr, dass sie sich nicht gleich entscheiden müsse. »Denk einfach darüber nach«, rieten wir.

Stumm aßen wir unsere Sandwiches mit Salat und Schinken.

Als erste sprach Norma. Sie sagte leise: »Ich glaube, ich würde gerne mitkommen.«

Am nächsten Morgen saßen wir zusammen mit einem Gynäkologen und einer Medizinstudentin, die hospitierte, dicht gedrängt in einem kleinen Untersuchungszimmer. Wir hatten die vergangenen beiden Tage seit Leos Tod damit verbracht, unzählige Arzttermine und Untersuchungen hinter uns zu bringen. Der Besuch bei diesem Frauenarzt war unser letzter Termin.

Der attraktive Mann in seinen Dreißigern eröffnete uns, was wir bereits wussten: Norma hatte ein Krebsgeschwür am Uterus. Der Arzt thronte auf dem Rand des Untersuchungstisches, blickte hinunter auf Norma, die in einem Krankenhausrollstuhl saß, und hob an zu seinem voraussichtlichen Schlusswort: »Wir werden also bei Ihnen eine Hysterektomie veranlassen, gefolgt von Radio- und Chemotherapie. Sie werden sich anschließend in einer Reha-Einrichtung erholen, und die Heilung wird wahrscheinlich einige Monate in Anspruch nehmen.«

Er stellte Norma zwar keine andere Möglichkeit in Aussicht, fragte sie aber nach ihren Wünschen. Sie sah ihm fest in die Augen und antwortete im Brustton der Überzeugung: »Ich bin neunzig Jahre. Ich gehe auf Reisen.«

Dass er verwirrt war, konnte man dem Arzt nicht verdenken. Tim erläuterte, dass wir mit einem Wohnwagen durchs Land fuhren und vorhatten, Norma mitzunehmen, solange sie daran interessiert und körperlich fit genug war.

Der Arzt schien wie ausgewechselt und strahlte. Die Medizinstudentin wirkte verblüfft – eine solche Reaktion hatte sie von der winzigen alten Dame wahrscheinlich nicht erwartet.

»Wäre das irgendwie unverantwortlich?«, fragte Tim. »Uns erscheint das einleuchtend und ganz normal, aber wir scheren uns auch nicht immer um Regeln. Was meinen Sie?«

»Nein«, sagte der Arzt. »Es ist nicht verantwortungslos. Es gibt keine Garantie, dass sie in ihrem Alter die Operation übersteht. Sollte sie es tun, würde sie auf die Intensivstation verlegt werden und hätte unter schlimmen Nebenwirkungen zu leiden. Als Ärzte sehen wir tagtäglich diese andere Seite. Wäre ich in ihrer Lage, würde ich auch lieber in einem Wohnmobil sitzen.«

»Also los«, forderten Tim und ich.

Es gab noch eine Menge zu tun, wenn wir unser Versprechen wahrmachen wollten, Norma auf ihr letztes großes Abenteuer mitzunehmen. Es begann schon damit, dass wir keine Ahnung hatten, wie lange dieses Abenteuer dauern oder wohin es uns führen würde. Aber wir wussten, dass es einen Versuch wert war.

Kapitel 2

Vorbereitungen

Nord-Michigan August

[Tim]

Die Tage nach Dads Tod galten dem Trauern und Pläneschmieden – ein seltsames Aufeinandertreffen von Abschied und Neubeginn. Wie beim Verlust eines geliebten Menschen so oft der Fall, gab der Tod meines Vaters den Tagesablauf vor, und weil man bei meiner Mutter eine unheilbare Krebserkrankung diagnostiziert hatte, war Zeit für uns sehr plötzlich zu einem knappen Gut geworden, von dem uns nicht mehr allzu viel blieb. Hatte ich meinem Dad, bevor er starb, alles gesagt, was ich hatte sagen wollen? Ich fürchte nicht. Hatte er die Liebe und Dankbarkeit gespürt, die ich ihm entgegenbrachte? Ich möchte glauben, dass es so war und er mich hören konnte, als ich ihm diese Worte im Krankenhausbett ins Ohr flüsterte. Mein Dad war gegangen, und meine Mom würde sterben. Nachdem unsere Beziehung so lange nur aus jährlichen Besuchen und unregelmäßigen Telefonaten bestanden hatte, würden Ramie und ich nun plötzlich mit ihr in einem Haus auf Rädern zusammenleben. Es würde die letzte Gelegenheit sein, Mom meine Gefühle zu offenbaren. Ich wollte mir ihretwegen nicht eines Tages dieselben Fragen stellen müssen wie bei Dad. Dieses Mal wollte ich alles richtig machen.

»Ich glaube, ich würde gerne mitkommen«, hatte Mom gesagt. So einfach war das. Und von einem Moment zum nächsten begannen wir, einen Roadtrip mit meiner gebrechlichen, trauernden Mutter zu planen, wissend, dass unser Leben sich von Grund auf verändern würde.

Ich war siebenundfünfzig Jahre alt. Während der vergangenen fünfzehn Jahre hatte ich oft fernab der üblichen Versorgungsnetze gelebt und eine glückselige – und manchmal absurd anmutende – Abgeschiedenheit genossen. Da hatte es nur mich gegeben, Ramie und seit Kurzem Ringo. Nun würde ich mich in einen Pfleger verwandeln und zur Leitung einer mobilen betreuten Wohneinrichtung gehören. Obwohl ich keine andere Möglichkeit sah, vernünftig für meine Mom zu sorgen, wusste ich nicht, ob ich der Aufgabe gewachsen war. Außerdem fragte ich mich, wie sehr dieses Arrangement meine Ehe belasten könnte.

Die Trauer umhüllte uns beide wie eine dicke, dunkle Wolke. Wann immer sie mich überwältigte, legte ich mich auf den Boden des Airstream, der noch in der Auffahrt meiner Eltern geparkt war, legte die Arme um Ringo, spürte seine weichen, dichten Locken und schluchzte, bis die körperliche Erschöpfung mir eine Atempause verschaffte und ich schlafen konnte. Ramie und ich tauschten uns weder über unsere Trauer noch unsere Ängste aus. Wir saßen nicht mit meiner Mom am Esstisch, um gemeinsam in Erinnerungen zu versinken. Stattdessen packten wir.