Dry - Neal Shusterman - E-Book
SONDERANGEBOT

Dry E-Book

Neal Shusterman

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kein Wasser. Nicht heute. Nicht morgen. Vielleicht nie mehr. Niemand glaubte, dass es soweit kommen würde. Doch als Alyssa an einem heißen Junitag den Wasserhahn aufdreht, passiert nichts. Es kommt nicht ein Tropfen. Auch nicht bei den Nachbarn. In den Nachrichten heißt es nur, die Bewohner Kaliforniens sollen sich gedulden. Aber als das Problem nicht nur mehrere Stunden, sondern Tage bestehen bleibt, geduldet sich niemand mehr. Die Supermärkte und Tankstellen sind auf der Jagd nach Wasser längst leer gekauft, selbst die letzten Eisvorräte sind aufgebraucht. Jetzt geht es ums Überleben. Neal und Jarrod Shusterman zeigen auf beängstigende Weise, wie schnell jegliche Form von Zivilisation auf der Strecke bleibt, wenn Menschen wie du und ich von heute auf morgen gezwungen werden, um den nächsten Schluck Wasser zu kämpfen. Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, USA, studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Alle seine Romane sind internationale Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet. In Deutschland liegen bisher seine Serien »Vollendet« und »Scythe« vor. Die »Vollendet-Serie« umfasst folgende Bände: Vollendet – Die Flucht Vollendet – Der Aufstand Vollendet – Die Rache Vollendet – Die Wahrheit Die »Scythe«-Serie umfasst folgende Bände: Scythe – Die Hüter des Todes Scythe – Die Rache der Gerechten Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 498

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jarrod Shusterman | Neal Shusterman

Dry

Aus dem Amerikanischen von Kristian Lutze und Pauline Kurbasik

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoTeil eins Tap-OutTag Eins Samstag, 4. Juni1|AlyssaTag Zwei Sonntag, 5. Juni2|Kelton3|AlyssaTag Drei Montag, 6. Juni4|Kelton5|Alyssa6|KeltonTeil zwei In drei Tagen7|KeltonTag Vier Dienstag, 7. Juni8|Alyssa9|Alyssa10|Kelton11|Alyssa12|Jacqui13|Alyssa14|Kelton15|Alyssa16|Kelton17|JacquiTeil drei Die KluftTag Fünf Mittwoch, 8. Juni18|Henry19|Alyssa20|Jacqui21|Henry22|Henry23|Alyssa24|Henry25|Alyssa26|Kelton27|Alyssa28|Henry29|AlyssaTeil vier FluchtbunkerTag Sechs Donnerstag, 9. Juni30|Kelton31|Jacqui32|Alyssa33|Henry34|Kelton35|Alyssa36|KeltonTeil fünf Komme, was wolle37|Jacqui38|Henry39|Kelton40|Garrett41|Alyssa42|Kelton43|Henry44|Alyssa45|Jacqui46|Alyssa47|Kelton48|Alyssa49|Jacqui50|Alyssa51|Kelton52|Alyssa53|Jacqui54|Alyssa55|AlyssaTeil sechs Ein neuer Normalzustand56|Alyssa

Dieses Buch ist all jenen gewidmet,

die sich anstrengen,

die katastrophalen Folgen des Klimawandels

rückgängig zu machen

Teil einsTap-Out

Tag EinsSamstag, 4. Juni

1|Alyssa

Der Wasserhahn in der Küche gibt sehr bizarre Geräusche von sich.

Er keucht und hustet, als hätte er einen Asthmaanfall. Er gurgelt wie ein Ertrinkender, spuckt einmal und verstummt dann ganz. Unser Hund Kingston stellt die Ohren auf, hält jedoch weiter Abstand zum Spülbecken, als ob der Hahn unerwartet wieder zum Leben erwachen könnte, aber so viel Glück haben wir nicht.

Mom hält mit fragendem Blick die Wasserschale unter den Hahn. Dann dreht sie ihn wieder zu und sagt: »Alyssa, hol deinen Vater.«

Seit mein Vater eigenhändig unsere komplette Küche renoviert hat, bildet er sich ein, er wäre ein Meisterinstallateur. Und ein Meisterelektriker. Warum Wucherpreise für Handwerker bezahlen, wenn man es auch selbst machen kann?, sagt er immer. Dann lässt er seinen Worten Taten folgen. Seither haben wir Dauerprobleme mit den Wasser- und Stromleitungen.

Dad ist in der Garage mit Onkel Basil, der hin und wieder bei uns lebt, seit seine Mandelfarm in Modesto pleitegegangen ist. Eigentlich heißt er Onkel Herb, aber irgendwann haben mein Bruder und ich angefangen, ihn nach den verschiedenen Kräutern in unserem Garten zu benennen. Onkel Dill, Onkel Thymian, Onkel Schnittlauch, und eine Zeitlang – von der unsere Eltern sich wünschen, wir würden sie vergessen – Onkel Cannabis. Am Ende blieb Basil hängen, Basilikum war zu lang.

»Dad«, rufe ich in die Garage. »Küchenprobleme.«

Die Beine meines Vaters ragen unter seinem Camry hervor wie die der Bösen Hexe des Ostens. Onkel Basil ist eingehüllt in eine Gewitterwolke aus E-Zigaretten-Qualm.

»Kann das nicht warten?«, fragt mein Vater.

Doch ich ahne schon, dass es nicht warten kann, und antworte: »Ich glaube, es ist was Größeres.«

Er rutscht unter dem Wagen hervor und macht sich schwer seufzend auf den Weg in die Küche.

Mom ist nicht mehr da. Sie steht in der Tür zwischen Küche und Wohnzimmer, Kingstons leere Wasserschale noch in der linken Hand. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, ohne dass ich weiß warum.

»Was ist so wichtig, dass du mich aus der …«

»Psst!«, zischt Mom. Sie ermahnt Dad nur ganz selten, den Mund zu halten, mich und Garrett dafür den ganzen Tag. Aber untereinander schneiden meine Eltern sich praktisch nie das Wort ab. Eine unausgesprochene Regel.

Sie blickt zum Fernseher, wo ein Nachrichtensprecher über die »Nachflusskrise« redet. So nennen die Medien die Dürre, seit die Leute den Begriff »Dürre« nicht mehr hören können. So wie die »globale Erwärmung« zum »Klimawandel« wurde und ein »Krieg« zum »Konflikt«. Jetzt haben sie ein neues Schlagwort für die nächste Eskalationsstufe der Wasserkrise. Sie nennen es »Tap-Out«.

Onkel Basil taucht lange genug aus seiner Dampfwolke auf, um zu fragen: »Was ist los?«

»Arizona und Nevada sind gerade aus dem Stausee-Hilfsprogramm ausgestiegen«, erklärt Mom. »Sie haben die Schleusentore aller Dämme geschlossen. Sie brauchen das Wasser selbst, sagen sie.«

Das bedeutet, der Colorado River kommt nicht mehr in Kalifornien an.

Onkel Basil versucht, das Gehörte zu begreifen. »Den ganzen Fluss abdrehen wie einen Wasserhahn? Können die das?«

Mein Vater zieht eine Braue hoch. »Sie haben es gerade getan.«

Im Fernsehen wird live zu einer Pressekonferenz des Gouverneurs von Kalifornien umgeschaltet, der vor einer Menge von zappligen Reportern spricht.

»Das ist bedauerlich, kommt jedoch nicht vollkommen unerwartet«, sagt der Gouverneur. »Unsere Leute arbeiten rund um die Uhr daran, einen neuen Deal mit diversen Behörden auszuhandeln.«

»Was soll das denn heißen?«, fragt Onkel Basil.

»Psst«, zischen Mom und ich gleichzeitig.

»Als Vorsichtsmaßnahme werden die Ressourcen aller städtischen und gemeindlichen Wasserdistrikte vorübergehend an Einrichtungen der kritischen Infrastruktur umgeleitet. Außerdem kann ich nicht nachdrücklich genug betonen, dass es notwendig ist, Ruhe zu bewahren. Ich möchte Ihnen allen persönlich versichern, dass es sich um eine vorübergehende Maßnahme handelt und kein Grund zur Sorge besteht.«

Die Medienvertreter bombardieren ihn mit Fragen, doch der Gouverneur verschwindet, ohne eine einzige zu beantworten.

»Sieht so aus, als wäre Kingstons Wassernapf nicht der einzige, der leer bleibt«, sagt Onkel Basil. »Ich nehme an, dass wir demnächst auch das Wasser aus der Toilettenschüssel trinken müssen.«

Mein jüngerer Bruder Garrett, der die ganze Zeit auf der Couch gesessen und darauf gewartet hat, dass das normale Fernsehprogramm weitergeht, zieht ein entsprechendes Gesicht, worüber Onkel Basil lachen muss.

»Immerhin«, sagt Dad halbherzig zu Mom, »sind diesmal nicht meine Klempnerarbeiten schuld.«

Ich gehe in die Küche und drehe den Wasserhahn auf – als hätte ich magische Hände. Nichts. Nicht einmal ein Tröpfeln. Unser Wasserhahn hat einen Herzstillstand erlitten, und keine Wiederbelebungsmaßnahme wird ihn zurückholen. Im Kopf verzeichne ich Datum und Uhrzeit wie die Leute in der Notaufnahme: 4. Juni, 13:42 Uhr.

Alle werden sich daran erinnern, wo sie waren, als die Wasserhähne versiegten, denke ich. Wie bei der Ermordung eines Präsidenten.

Hinter mir öffnet Garrett den Kühlschrank und nimmt eine Flasche Gatorade heraus. Er trinkt gierig, doch nach dem dritten Schluck bremse ich ihn.

»Stell es zurück«, sage ich. »Spar etwas für später auf.«

»Aber ich habe jetzt Durst«, jammert er. Er ist zehn – sechs Jahre jünger als ich. Und Zehnjährige haben Probleme mit verzögertem Belohnungsaufschub.

Die Flasche ist ohnehin fast leer, also lasse ich sie ihm. Ich sehe nach, was noch im Kühlschrank ist. Ein paar Bier, drei weitere Flaschen Gatorade, ein Vier-Liter-Kanister Milch, in dem nur noch ein Schluck übrig ist, und andere Reste.

Kennt ihr das, dass man manchmal gar nicht weiß, wie durstig man ist, bis man den ersten Schluck trinkt? Nun, dieses Gefühl kriege ich jetzt plötzlich allein vom Blick in den Kühlschrank.

Noch nie war ich einer Vorahnung so nahe.

Mit einem Mal höre ich die Nachbarn auf der Straße. Wir kennen unsere Nachbarn – begegnen ihnen manchmal. Die einzigen Anlässe, bei denen sie scharenweise gleichzeitig auf die Straße strömen, sind der 4. Juli und Erdbeben.

Auch meine Eltern, Garrett und mich zieht es nach draußen, wo wir alle verlegen herumstehen, als erwarteten wir, dass irgendjemand uns sagt, was wir nun am besten tun sollen, oder zumindest bestätigt, dass all das wirklich passiert. Jeanette und Stu Leeson von gegenüber, die Maleckis mit ihrem Neugeborenen und Mr Burnside, der schon immer siebzig ist, so lange ich mich erinnern kann. Nur die McCrackens sind nirgends zu sehen, was zu erwarten war, so zurückgezogen wie die leben. Wahrscheinlich haben sie sich in ihrer Vorstadt festung verbarrikadiert, nachdem sie die Nachricht gehört haben.

Mit den Händen in den Taschen stehen wir da und vermeiden jeden Blickkontakt wie meine Klassenkameraden beim Schulball.

»Okay«, sagt mein Dad schließlich, »wer von euch hat Arizona und Nevada verärgert?«

Alle kichern. Nicht weil es besonders lustig ist, aber es löst die Spannung ein wenig.

Mr Burnside zieht eine Augenbraue hoch. »Ich sag’s ja nur ungern, aber hab ich nicht prophezeit, dass sie das, was vom Colorado River noch übrig ist, irgendwann horten werden? Wir haben zugelassen, dass wir ausschließlich von diesem Fluss abhängig sind. Jetzt sind wir geliefert.«

Früher wusste niemand so genau, woher unser Wasser kam, und es kümmerte auch keinen. Es war einfach immer da. Aber als dann das Central Valley langsam austrocknete und die Preise für Lebensmittel in die Höhe schossen, wurden die Menschen aufmerksamer. Oder zumindest aufmerksam genug, um Gesetze und Wählervorschläge zu verabschieden. Die meisten waren nutzlos, vermittelten den Leuten jedoch das Gefühl, dass etwas getan wurde. Wie die Gesetzesinitiative gegen leichtfertige Verschwendung, durch die unter anderem das Werfen von Wasserbomben verboten wurde.

»Las Vegas hat noch Wasser«, bemerkt jemand.

Unser Nachbar Stu schüttelt den Kopf. »Stimmt … aber ich habe gerade versucht, ein Hotelzimmer in Vegas zu buchen. Eine Million Zimmer, und kein einziges ist verfügbar.«

Mr Burnside lacht kläglich, als würde ihn Stus Unglück irgendwie freuen. »Eigentlich sind es nur hundertvierundzwanzigtausend Hotelzimmer. Offenbar hatten eine Menge Leute die gleiche Idee.«

»Ha! Könnt ihr euch den Verkehr auf dem Interstate Highway vorstellen?«, fragt meine Mom wie der Fuchs, dem die hoch hängenden Trauben zu sauer sind. »Da möchte ich jetzt nicht im Stau stehen!«

Und dann gebe ich meinen Senf dazu. »Wenn das verbliebene Wasser an ›lebenswichtige Einrichtungen‹ umgeleitet wird, muss noch etwas übrig sein. Irgendjemand sollte die Verantwortlichen verklagen, damit sie uns einen Bruchteil davon abgeben. So wie bei den vorübergehenden Stromabschaltungen. Jedes Stadtviertel kriegt jeden Tag ein bisschen Wasser.«

Meine Eltern sind beeindruckt von meinem Vorschlag. Die anderen sehen mich mit einem »Ist sie nicht entzückend?«-Blick an, der mich nervt. Meine Eltern sind überzeugt, dass ich eines Tages Anwältin werde. Das kann sein, aber wenn es so kommt, wäre es wahrscheinlich bloß ein Mittel zum Zweck – dabei weiß ich noch nicht mal, zu welchem Zweck eigentlich.

Aber das hilft uns jetzt auch nicht weiter, und obwohl ich meine Idee gut finde, verfolgen die Mächtigen vermutlich sowieso ihre eigenen Interessen, so dass mein Vorschlag verpuffen würde. Und wer weiß, vielleicht ist auch gar nicht genug Wasser übrig, um es zu teilen.

Ein Handy meldet den Eingang einer SMS. Jeanette blickt auf das Display. »Super! Jetzt haben meine Verwandten in Ohio es auch mitgekriegt. Als ob ich zu meinem Stress auch noch ihren bräuchte.«

»Schreib zurück: ›Schickt Wasser‹«, witzelt mein Vater.

»Wir schaffen das«, sagt meine Mutter beruhigend. Sie ist klinische Psychologin. Beruhigen ist ihre zweite Natur.

Garrett, der die ganze Zeit still neben uns stand, führt seine Gatorade-Flasche zum Mund … und einen winzigen Moment lang hören alle auf zu reden. Unwillkürlich. Fast wie ein mentaler Schluckauf. Jeder schaut zu, wie mein Bruder die durststillende blaue Flüssigkeit trinkt.

Schließlich bricht Mr Burnside das Schweigen. »Wir reden später weiter«, sagt er und wendet sich zum Gehen. Das war schon immer seine Art, ein Gespräch zu beenden, was in diesem Fall zur Auflösung der lockeren kleinen Runde führt. Alle verabschieden sich und machen sich auf den Weg zu ihren Häusern … aber vorher wirft mehr als ein Augenpaar noch einen kurzen Blick auf Garretts leere Gatorade-Flasche.

 

»Einkaufstour zu Costco!«, verkündet Onkel Basil später an diesem Nachmittag, etwa gegen fünf. »Wer kommt mit?«

»Kann ich ein Hotdog haben?«, fragt Garrett, der weiß, dass er sowieso eins bekommt, selbst wenn Onkel Basil jetzt Nein sagt. Onkel Basil ist sehr leicht rumzukriegen.

»Hotdogs sind gerade unser kleinstes Problem«, erkläre ich Garrett. Er widerspricht nicht. Er weiß, warum wir fahren – er ist nicht dumm. Aber er weiß auch, dass er sein Hotdog bekommen wird.

Wir steigen in Onkel Basils Allrad-Pick-up, der höher ist, als es für einen Mann seines Alters erlaubt sein sollte.

»Mom hat gesagt, wir haben noch ein paar Flaschen Wasser in der Garage«, erklärt Garrett.

»Wir werden mehr als nur ein paar brauchen«, bemerke ich. Ich versuche, es im Kopf auszurechnen. Ich habe diese Flaschen auch gesehen. Viereinhalb Liter. Für fünf Personen. Das reicht nicht mal für einen Tag.

Als wir aus unserem Viertel auf die Hauptstraße abbiegen, sagt Onkel Basil: »Vermutlich dauert es nicht länger als einen Tag, bis der Bezirk das Wasser wieder laufen lässt. Wir brauchen höchstens ein paar Kästen.«

»Und Gatorade!«, sagt Garrett. »Vergesst die Gatorades nicht! Die enthalten zahlreiche Elektrolyte!« Das erklären sie einem immer in der Werbung, dabei weiß Garrett gar nicht, was Elektrolyte sind.

»Seht es mal positiv«, sagt Onkel Basil. »Wahrscheinlich müsst ihr ein paar Tage nicht zur Schule.« Die kalifornische Version von schneefrei.

Ich habe die Tage bis zum Ende meines vorletzten Schuljahres runtergezählt. Nur noch zwei Wochen. Aber wie ich meine Highschool kenne, wird man einen Weg finden, die verlorenen Tage am Ende dranzuhängen und damit den Beginn der Sommerferien hinauszuzögern.

 

Als wir auf den Kundenparkplatz von Costco abbiegen, sehen wir eine Menschenmenge. Offenbar hatten alle aus unserer Gegend die gleiche Idee. Uns bleibt nichts anderes übrig, als auf der Suche nach einem freien Platz im Kreis zu fahren. Schließlich zieht Onkel Basil seine Costco-Karte aus der Tasche und gibt sie mir.

»Geht ihr zwei schon rein. Wir treffen uns drinnen, wenn ich einen Parkplatz gefunden habe.«

Ich frage mich, wie er ohne Karte reinkommen will, andererseits findet Onkel Basil immer einen Weg. Garrett und ich hüpfen aus dem Wagen und schließen uns den Menschenhorden an, die zum Eingang strömen. Drinnen geht es zu wie an einem Black Friday, wenn das Gedränge am schlimmsten ist, aber heute haben es die Menschen nicht auf Fernseher und Videospiele abgesehen. Die Einkaufswagen in den Schlangen vor den Kassen sind vollgepackt mit Konserven, Hygieneartikeln und vor allem mit Wasser. Das Lebensnotwendige.

Irgendwas fühlt sich komisch an. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber es hängt in der Luft wie ein Geruch. Es ist die Ungeduld der Menschen vor den Kassen. Fast wie mit einem Rammbock bahnen sich die Leute mit ihren Einkaufswagen einen Weg durch die Schlangen. Es herrscht eine Art primitive Ur-Feindlichkeit, nur verdeckt von einer dünnen Schicht aus vorstädtischer Höflichkeit, die langsam fadenscheinig wird.

»Der Einkaufswagen ist kacke«, sagt Garrett.

Er hat recht. Ein Rad ist verbogen und blockiert, so dass der Wagen sich nur schieben lässt, wenn er auf den drei anderen Rädern rollt. Ich drehe mich zum Eingang um. Als ich den Wagen ergattert habe, waren nur noch ein paar übrig, und die werden inzwischen auch weg sein.

»Wird schon gehen«, erkläre ich Garrett.

Wir schieben uns durch die Menge bis in die hintere linke Ecke des Ladens, wo die Paletten mit Wasser stehen. Dabei schnappen wir Gesprächsfetzen auf.

»Die nationale Katastrophenhilfe ist schon mit dem Hurrikan Noah überfordert«, erzählt eine Mutter einer anderen. »Wie sollen die auch noch uns helfen?«

»Es ist nicht unsere Schuld! Achtzig Prozent des Wassers verbraucht die Landwirtschaft!«

»Wenn der Staat mehr Zeit darauf verwendet hätte, neue Wasserquellen zu erschließen, anstatt uns mit Strafen zu belegen, wenn wir unsere Swimmingpools füllen«, sagt eine Frau, »dann wären wir jetzt nicht in dieser Lage.«

Garrett wendet sich zu mir. »Mein Freund Jason hat ein Riesenaquarium im Wohnzimmer. Er musste keine Strafe zahlen.«

»Das ist was anderes«, erkläre ich ihm. »Fische gelten als Haustiere.«

»Aber es ist trotzdem Wasser.«

»Dann geh und trink es«, sage ich und bringe ihn damit zum Schweigen. Ich habe keine Zeit, über die Probleme anderer Menschen nachzudenken. Wir haben unsere eigenen Sorgen. Aber wie es aussieht, bin ich die Einzige, die das kümmert, weil Garrett schon losgerannt ist, um kostenlose Proben abzustauben.

Der Wagen schert beim Schieben immer wieder nach links aus, so dass ich mich schwer auf die rechte Seite stützen muss, damit das blockierte Rad nicht wie ein Schiffsruder gegensteuert.

Im hinteren Teil des großen Ladens ist es am vollsten, und als ich den letzten Gang mit den Wasserpaletten erreiche, erkenne ich, dass ich zu spät bin. Die Paletten sind leer.

Rückblickend hätten wir in dem Moment herkommen sollen, als die Hähne abgedreht wurden. Aber wenn etwas Drastisches passiert, entsteht eine gewisse Verzögerung. Es ist kein Leugnen oder Schock im engeren Sinne, es ist eher wie ein mentaler freier Fall. Man braucht Zeit, um das Problem wirklich zu begreifen, und erkennt dabei nicht, was man eigentlich tun müsste, solange noch die Möglichkeit besteht. Ich denke an all die Menschen in Savannah, die miterleben mussten, wie Hurrikan Noah eine unerwartete Kehrtwende machte und direkt auf sie zuraste, anstatt zurück aufs Meer hinauszuziehen, wie es vorhergesagt war. Wie lange haben sie mit starrem Blick die Nachrichten im Fernsehen verfolgt, bevor sie ihre Sachen gepackt und die Stadt verlassen haben? Ich kann euch sagen wie lange. Dreieinhalb Stunden.

Die Leute hinter mir sehen nicht, dass die Wasserpaletten leer sind, und schieben sich weiter vorwärts. Irgendwann wird hoffentlich jemand so klug sein, ein Schild vor dem Supermarkt aufzustellen, auf dem »KEINWASSER« steht, aber bis dahin strömen die Kunden weiter in den Laden und drängen in den hinteren Bereich, wo es erstickend eng geworden ist wie in einem Moshpit vor der Bühne bei einem Rockkonzert.

Instinktiv steuere ich den Seitengang mit den Regalen für Softdrinks in Dosen an, deren Vorrat ebenfalls rapide schwindet. Aber ich bin nicht hier, um Softdrinks zu kaufen. Hinter den Stapeln von Getränken entdecke ich einen einzelnen Wasserkasten, den jemand stehen lassen hat, vielleicht gestern, als Wasser noch keine derart kostbare Ware war. Ich will danach greifen, doch der Kasten wird mir im letzten Moment von einer dünnen Frau mit Hakennase weggerissen. Sie hebt ihn wie eine Krone auf die Konserven in ihrem Einkaufswagen.

»Tut mir leid, aber wir waren zuerst hier«, sagt sie. Und dann tritt ihre Tochter vor – ein Mädchen, das ich vom Fußball kenne – Hali Herding. Sie ist ärgerlicherweise sehr beliebt und hält sich für eine viel bessere Fußballspielerin, als sie tatsächlich ist. Die Hälfte aller Mädchen in der Schule will so sein wie sie, die anderen hassen sie, weil sie wissen, dass dieses Ziel für sie unerreichbar ist. Ich ertrage sie einfach. Sie ist es nicht wert, mehr als Gleichgültigkeit aufzubringen und damit unnötig Energie zu verschwenden.

Obwohl sie ihr Selbstvertrauen sonst durch sämtliche Poren verströmt, kann sie mir jetzt nicht mal in die Augen sehen – weil sie – genau wie ihre Mutter – weiß, dass ich das Wasser zuerst hatte. Während ihre Mutter den Wagen wegschiebt, beugt sie sich vor. »Tut mir leid, Morrow«, sagt sie aufrichtig. Sie redet mich mit meinem Nachnamen an wie beim Fußball.

»Hab ich beim letzten Training nicht mein Wasser mit dir geteilt?«, erinnere ich sie. »Vielleicht könntest du den Gefallen erwidern und mir ein paar Flaschen abgeben.«

Sie dreht sich zu ihrer Mutter um, die bereits den Gang hinunter verschwindet. Mit einem Achselzucken schaut sie wieder zu mir. »Tut mir leid, die verkaufen keine Einzelflaschen, nur kastenweise.« Sie errötet ein wenig und wendet sich schnell zum Gehen, bevor ihr Gesicht knallrot anläuft.

Ich blicke mich um. Das Gedränge wird immer dichter, und die Waren verschwinden in alarmierender Geschwindigkeit aus den Regalen. Mittlerweile sind auch keine Softdrinks mehr da. Wie dumm! Ich hätte ein paar mitnehmen sollen. Ich laufe zu meinem leeren Einkaufswagen zurück, bevor jemand auch den kapert. Nirgends eine Spur von Onkel Basil. Und Garrett stopft wahrscheinlich gerade irgendetwas Fettiges in sich rein. Die Gatorades, die er haben wollte, sind auch ausverkauft.

Schließlich entdecke ich ihn. Er steht in einem der Gänge mit den Tiefkühlwaren, das Gesicht mit Pizzasoße verschmiert. Er wischt sich den Mund mit seinem Hemd ab, wohlwissend, dass ich eine Bemerkung dazu machen werde. Doch ich spare mir die Mühe, denn ich habe etwas entdeckt. Direkt neben dem Tiefkühlgemüse und der Eiscreme ist eine Truhe mit Eis. Riesige Beutel voller Eiswürfel. Ich fasse es nicht, wie beschränkt die Leute sind. Niemand scheint auf diese Idee gekommen zu sein! Oder vielleicht doch, aber keiner wollte wahrhaben, dass so etwas je nötig sein könnte. Ich öffne den Deckel und greife nach einem Beutel.

»Was machst du da? Wir brauchen Wasser, kein Eis.«

»Eis ist Wasser, Einstein«, erkläre ich Garrett. Als ich einen Beutel nehmen will, merke ich, dass er viel schwerer ist, als ich erwartet habe.

»Hilf mir!« Gemeinsam hieven Garrett und ich einen Beutel nach dem anderen in den Einkaufswagen, bis er voll beladen ist. Inzwischen haben andere Kunden begriffen, was ich tue, und drängeln sich vor, um die Eistruhe leerzuräumen.

Unser Einkaufswagen ist jetzt absurd schwer und lässt sich fast gar nicht mehr schieben. Das blockierte Rad schrammt laut über den Betonboden. Während wir uns abmühen, taucht hinter uns ein Mann im Anzug auf. Er lächelt.

»Das ist aber eine ordentliche Ladung«, sagt er. »Sieht aus, als könntet ihr Hilfe brauchen.«

Ohne unsere Antwort abzuwarten, packt er den Griff des Einkaufswagens und bugsiert ihn sehr viel effektiver vorwärts als wir zuvor.

»Es ist der Wahnsinn hier heute«, sagt er freundlich. »Wahrscheinlich überall.«

»Danke, dass Sie uns helfen«, erwidere ich.

»Kein Problem. Wir müssen uns alle gegenseitig helfen.«

Er lächelt noch einmal, und ich lächele zurück. Gut zu wissen, dass schwierige Zeiten auch das Gute im Menschen hervorbringen können.

Ruckartig, aber stetig manövrieren wir den Wagen bis in den vorderen Teil des Supermarkts und in eine der endlosen Schlangen vor den Kassen.

»Damit hab ich mein Fitnesstraining für heute wohl schon erledigt«, sagt der Mann lachend.

Ich blicke in den Einkaufswagen und beschließe, dass eine gute Tat eine andere gute Tat verdient. »Warum nehmen Sie sich nicht einen Sack?«, schlage ich vor.

Sein Lächeln verblasst nicht. »Ich habe sogar eine noch bessere Idee«, sagt er. »Warum nehmt ihr euch nicht einen Sack, und ich behalte den Rest.«

Kurz glaube ich, er macht einen Witz, aber dann wird mir klar, dass er es todernst meint. »Wie bitte?«

Er ringt sich einen schweren Seufzer ab. »Du hast recht, das wäre euch gegenüber wirklich nicht fair. Ich mach euch einen Vorschlag. Warum teilen wir nicht halbe-halbe? Ich nehme die eine, ihr die andere Hälfte.«

Er sagt es, als wäre das unglaublich großzügig. Als hätte er das Recht, das Eis zu verteilen. Er lächelt immer noch, aber seine Augen machen mir Angst.

»Ich denke, das ist ein mehr als faires Angebot«, bekräftigt er, und ich frage mich langsam, in welchem Business er ist und ob es ihm nur darum geht, Leute zu betrügen, während er ihnen das Gefühl gibt, nicht betrogen zu werden. Aber damit kommt er bei mir nicht durch – blöd nur, dass er den Griff unseres Einkaufswagens mit beiden Händen fest gepackt hält und es keinen Beweis gibt, dass es unser und nicht sein Wagen ist.

»Gibt es ein Problem?« Gerade rechtzeitig taucht Onkel Basil auf. Er starrt den Mann im Anzug einen Augenblick lang kühl an, bis dieser die Hände vom Griff nimmt.

»Überhaupt nicht.«

»Gut«, erwidert Onkel Basil. »Ich möchte lieber erst gar nicht auf die Idee kommen, dass Sie meine Nichte und meinen Neffen belästigt haben. Wegen so was kann man verhaftet werden.«

Der Mann sieht meinem Onkel kurz in die Augen und gibt dann auf. Mit verbitterter Miene blickt er auf das Eis in dem Wagen und nimmt sich nur einen einzigen Beutel, bevor er geht.

Onkel Basils Pick-up ist ordnungswidrig halb auf einer Verkehrsinsel geparkt, wo er eine Reihe Feigenbäume zerstört hat.

»Musste die Karre auf Allradantrieb umstellen«, erklärt er stolz – wahrscheinlich das erste Mal, dass er diese Funktion verwendet hat. Plötzlich ist Onkel Basils Midlife-Crisis-Truck ein Segen und keine Peinlichkeit mehr.

Wir packen die Eisbeutel auf die Ladefläche. »Was ist jetzt mit deinem Hotdog?«, versucht Onkel Basil uns aufzuhei tern.

»Ich bin satt«, antwortet Garrett, doch ich weiß, dass das bei ihm fast unmöglich ist. Er will nur nicht wieder in den Supermarkt gehen. Das wollen wir alle nicht. Inzwischen hat sich eine kleine Menschenschar gebildet, die uns beim Beladen beobachtet. Ich versuche, sie zu ignorieren, doch ich spüre ein Dutzend Augenpaare auf uns.

»Ich könnte hinten auf dem Pick-up beim Eis mitfahren«, schlage ich vor.

»Nein, ist schon in Ordnung«, antwortet Onkel Basil ruhig. »Setz dich vorne rein. Auf dem Rückweg gibt es ein paar fiese Schlaglöcher. Ich will nicht, dass du da hinten rumgeschleudert wirst.«

»Okay«, stimme ich zu und steige ein. Und obwohl es niemand ausspricht, weiß ich, dass meinem Onkel nicht die Schlaglöcher Sorgen bereiten.

 

Wir biegen in unsere Straße ein, aber irgendwie fühlt es sich nicht an wie das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin. Etwas ist seltsam, als wären wir versehentlich eine Straße zu früh abgebogen und – weil alle Häuser gleich aussehen – in einem Paralleluniversum gelandet. Ich versuche, das Gefühl abzuschütteln, während ich die vorbeiziehenden Gebäude durch die Seitenscheibe betrachte.

Die Kiblers, unsere Nachbarn von gegenüber, lümmeln für gewöhnlich in ihren Gartenstühlen und »überwachen« ihre Kinder beim Spielen, was eigentlich bedeutet, dass sie bei einigen Gläsern Chardonnay tratschen und aufpassen, dass ihre Kinder nicht überfahren werden. Aber heute spielen die kleinen Kiblers ohne Aufsicht auf der Straße Fangen. Und trotz des Kindergelächters liegt eine bedrohliche Stille in der Luft, die jedes Geräusch lauter klingen lässt. Andererseits war die Stille vielleicht schon immer da, und mir fällt sie bloß jetzt erst auf.

Onkel Basil fährt den Pick-up rückwärts in die Einfahrt. Obwohl die Sonne schon tief am Himmel steht, haben wir immer noch zweiunddreißig Grad, und das Eis schmilzt bereits. Wenn wir die ganzen Beutel rechtzeitig ins Haus bringen wollen, müssen wir uns beeilen.

»Warum räumst du nicht die Gefriertruhe leer, damit wir so viel wie möglich reinkriegen?«, fragt Onkel Basil, während er sich die erste Tüte vom Pick-up schnappt. »Den Rest können wir schmelzen lassen und heute trinken.«

»Oder noch besser: Warum machst du nicht die Badewanne im Erdgeschoss sauber«, sage ich zu Garrett. »Dann können wir das Eis dort schmelzen lassen.«

»Gute Idee«, sagt Onkel Basil, obwohl Garrett natürlich keine Lust zum Putzen hat.

Dad kommt mit einem Schraubenschlüssel in der Hand aus der Garage. Er versucht offenbar, Wasser aus den Rohren zu quetschen. »Aha, Eis also?«

»Es gab sonst nichts mehr«, erkläre ich ihm.

Dad kratzt sich am Kopf. »Ich hätte zu Sam’s Club gehen sollen«, sagt er. »Die haben mehr Waren im Lager.« Dad lächelt, aber ich merke, dass er beunruhigter ist, als er zugeben möchte. Ich denke, er weiß, dass auch bei Sam’s Club sämtliche Getränke wahrscheinlich ausverkauft sind, genau wie in jedem anderen Laden.

Onkel Basil wechselt rasch das Thema. »Ich dachte, du wolltest heute ins Büro gehen«, sagt er.

Dad zuckt die Schultern und schnappt sich einen Eisbeutel. »Das Beste an der Selbständigkeit ist, dass man samstags nicht arbeiten muss, wenn man nicht will.«

Nur, dass Dad sehr wohl an Samstagen arbeitet. Manchmal auch an Sonntagen. Viele Menschen machen in letzter Zeit Überstunden, weil die Preise für Lebensmittel stark gestiegen sind, aber auch unabhängig davon hat Dad uns immer gepredigt, dass man rund um die Uhr anpacken muss, wenn man ein eigenes Unternehmen aufbauen will. Trotzdem schleppt er heute lieber Eis ins Haus, anstatt Versicherungen zu verkaufen.

Ich nehme einen Eisbeutel von der Ladefläche, doch angetaut sind die Teile noch schwerer zu fassen.

»Brauchst du Hilfe?«, fragt eine Stimme hinter mir. Noch bevor ich mich umdrehe, weiß ich, wer es ist. Kelton McCracken. Der etwas spezielle rothaarige Geek von nebenan. Die meisten Kids auf seinem Seltsamkeitslevel sind zufrieden, wenn sie mit einem Xbox-Controller Zombies abmetzeln, doch Kelton ist anders. Er verbringt seine Zeit lieber mit drohnengesteuerter Luftaufklärung, schießt irgendwelche Viecher mit seinem Paintball-Gewehr ab oder versteckt sich mit seinem Nachtsichtgerät im Baumhaus und spielt Jason Bourne. Er scheint auf dem Niveau eines Sechstklässlers stehen geblieben zu sein, dem seine Eltern immer größere Spielzeuge kaufen. Aber heute fällt mir auf, dass irgendetwas an ihm anders ist. Natürlich ist er im vergangenen Jahr gewachsen und sieht sehr viel reifer aus, doch es ist mehr als das. Es ist seine Haltung. Er hat ein Federn im Gang, als würde ihn diese ganze Wasserkrise auf eine kranke Art erregen. Mit einem Lächeln demonstriert Kelton, dass seine Spange verschwunden ist und seine Zähne jetzt künstlich gerade stehen.

»Sicher, Kelton, wir könnten Hilfe gebrauchen«, sagt Dad. »Warum gehst du nicht Alyssa zur Hand?«

Ich reiche ihm das Eis, doch als er es nehmen will, überkommt mich irgendwas, und ich kann den Beutel nicht loslassen.

Dad bemerkt mein Zögern verwirrt. »Gib ihm das Eis, Alyssa«, sagt er.

Ich schaue auf den Beutel in meinen Händen und wieder zurück zu Kelton. Ich habe immer noch Bedenken, »Hilfe« von anderen Menschen anzunehmen.

»Gibt es ein Problem?«, fragt Dad in einem aufdringlich väterlichen Ton, der eine Antwort verlangt – die ich ihm aber nicht gebe.

Ich zwinge mich, Kelton das Eis zu überlassen. »Erwarte bloß nicht, dass du fürs Helfen einen Beutel bekommst«, sage ich, woraufhin mein Vater mich streng anblickt und sich wahrscheinlich wundert, was in mich gefahren ist. Vielleicht werde ich ihm später von diesem Typen bei Costco erzählen. Oder ich versuche, diese Sache einfach zu vergessen.

Eigentlich hätte ich von Kelton eine schnodderige Antwort erwartet, doch er steht einfach da, offenbar ehrlich erschüttert über meinen Kommentar. Ich fasse mich wieder, überwinde mich zu einem Lächeln und hoffe, dass es nicht gezwungen wirkt.

»Entschuldige«, sage ich. »Danke fürs Helfen.«

Wir gehen ins Haus, um das Eis in die Badewanne zu schütten, aber Kelton packt mich an der Schulter und hält mich zurück.

»Hast du den Abfluss versiegelt?«, fragt er. »Es ist keine gute Idee, das Eis in die Wanne zu kippen, wenn der Abfluss nicht versiegelt ist. Schon die kleinste undichte Stelle reicht, und alles ist in ein paar Stunden weg.«

»Ich dachte, das hätte mein Onkel schon erledigt«, erwidere ich, obwohl niemand von uns daran gedacht hat. So schwer es mir fällt, das zuzugeben: Es ist vermutlich das Schlauste, was ich heute gehört habe.

»Ich hole Dichtungsmasse«, sagt er und eilt davon, um das Zeug aus seiner Garage zu besorgen, ganz offensichtlich glücklich, sein Pfadfinderwissen anwenden zu können.

Kelton und seine Einsiedlerfamilie scheinen für jeden erdenklichen Katastrophenfall einen Plan zu haben. Dad witzelt manchmal, dass Mr McCracken ein Doppelleben führe: Tagsüber arbeitet er als Zahnarzt, und nachts bereitet er sich auf den Weltuntergang vor. Aber in letzter Zeit wird der Witz mehr und mehr Wirklichkeit. Inzwischen verbringt Mr McCracken offenbar den Großteil seiner Zeit damit, bis spät in die Nacht an gusseisernen Vorrichtungen zu schweißen, als würde er im klaffenden Monstermaul seiner Garage in einem hohlen Zahn bohren.

In den vergangenen Monaten hat Keltons Familie nach und nach ein völlig übertriebenes Überwachungssystem installiert, ein kleines Gewächshaus auf dem Hof errichtet und das ganze Dach mit irgendwelchen nicht registrierten, netzunabhängigen Solarpaneelen zugepflastert. Zuletzt hat Kelton – der dieses Jahr viel zu viele Kurse mit mir gemeinsam hat – immer damit angegeben, dass sein Vater einseitig schusssichere Fenster eingebaut hat. Man kann von innen nach außen schießen, aber von außen dringt kein Schuss ins Haus. Der Rest unserer Klasse hält Kelton für einen Spinner, aber ich glaube, dass es stimmen könnte. Ich traue seinem Vater so etwas zu.

Abgesehen von unseren Beschwerden über das Schweißen mitten in der Nacht kommen unsere Familien im Grunde ganz gut miteinander aus, obwohl immer eine höfliche Spannung in der Luft liegt, wenn meine Eltern mit den McCrackens zu tun haben. Früher haben wir uns einen Grasstreifen zwischen unseren Häusern geteilt, bis Mr McCracken einen Lattenzaun direkt durch die preisgekrönten Ziergräser meiner Mutter gezogen hat. Der Zaun war auf anstößige Weise höher als der typische weißgestrichene Vorstadtzaun, aber noch niedrig genug, um nicht gegen die Vorschriften der Hauseigentümervereinigung zu verstoßen – mit der die McCrackens ständig im Clinch liegen. Einmal haben sie ernsthaft versucht, Anspruch auf den Bordstein vor ihrem Haus als Privatparkplatz zu erheben. Sie behaupteten, dass ihre Grundstücksgrenze einige Zentimeter in die Straße ragen würde, aber diesen Kampf hat die Eigentümervereinigung gewonnen. Seitdem parkt Onkel Basil seinen Pick-up wenn möglich immer absichtlich vor ihrem Haus, nur um sie zu ärgern.

Ein paar Minuten später kommt Kelton mit dem Dichtungsmittel zurück und versiegelt den Abfluss mit der Präzision eines Juweliers.

»Das braucht wahrscheinlich einige Stunden zum Aushärten, deswegen solltest du vorsichtig sein, wenn du das Eis hineinlegst«, sagt er mit sehr viel mehr Begeisterung, als jemand wegen Silikondichtstoff entwickeln sollte. Es folgt eine unangenehme Stille, in der mir bewusst wird, dass ich noch nie Zeit allein mit Kelton verbracht habe.

Dann fällt mir etwas ein, das nicht nur das peinliche Schweigen beendet, sondern sogar wichtig ist: »Warte mal, habt ihr nicht einen großen Wassertank hinter eurem Haus?«

»Fünfunddreißig Gallonen«, prahlt Kelton. »Aber der befindet sich im Haus. Der Tank draußen ist für Ausscheidungen und deshalb voller quartärer Ammoniumverbindungen. Wie die stinkende blaue Brühe in einem Dixi-Klo, weißt du?«

»Ja, verstehe, Kelton«, sage ich angemessen angewidert. »Man kann jedenfalls nicht sagen, dass ihr euch nicht vorbereitet hättet.« Die Untertreibung des Jahrhunderts.

»Na ja, wie mein Vater immer sagt: ›Es geht nichts über eine gute Vorbereitung.‹ Ich wette, wenn dein Dad ebenfalls vorausgedacht hätte, wärt ihr jetzt besser dran.«

Kelton weiß ganz offensichtlich nicht, wie beleidigend er manchmal klingt. Ich frage mich, ob er je ein Abzeichen als nervigster Mensch der Welt bekommen hat.

Ich danke ihm für seine Bemühungen, und er geht wieder nach Hause, um seine Kartoffelkanone abzufeuern, Insekten zu präparieren oder was auch immer er gerade in seiner Freizeit macht.

In der Küche scheuert meine Mom alle Oberflächen mit Reinigungsmittel. Stressputzen. Wenn etwas außerhalb der eigenen Kontrolle liegt, kümmert man sich um die Dinge, auf die man Einfluss nehmen kann. Das verstehe ich. Bisher gehörte Mom allerdings nicht zu den Leuten, die den Fernseher im Hintergrund laufen lassen – aber jetzt dröhnt er im Wohnzimmer. Ich weiß nicht, wo mein Dad und mein Onkel sind. Vielleicht arbeiten sie wieder an Dads Auto. Eigenartig, dass ich das Gefühl habe, ich müsste das wissen.

Im Fernsehen berichtet CNN ausschließlich über die anhaltende Krise, die Hurrikan Noah ausgelöst hat. Ich missgönne den armen Menschen die Aufmerksamkeit nicht, aber ich wünschte, dass ein Teil davon auch uns gelten würde.

»Gibt es Neuigkeiten über den Tap-Out?«, frage ich.

»Einer der Lokalsender bringt regelmäßig Updates«, erklärt mir Mom, »aber mit diesem hirnlosen Moderator, den ich nicht ausstehen kann. Außerdem gibt es sowieso nichts Neues.«

Dennoch schalte ich zu diesem hirnlosen Nachrichtensprecher um, der meinem Dad zufolge seine Karriere in der Pornobranche begonnen hat, wobei ich meinen Dad nicht fragen will, woher er das weiß.

Meine Mom hat recht: Sie wiederholen nur die Stellungnahme des Gouverneurs von heute morgen und versuchen erfolglos, die Story weiterzuspinnen.

Ich schalte wieder auf die nationalen Nachrichtensender: CNN, MSNBC, dann Fox News und wieder zurück zu CNN. Alle staatlichen Sender berichten über Noah und nur über Noah. Langsam verstehe ich, warum.

Für eine Wasserkrise gibt es keine Radarbilder.

Keine Sturmfluten, keine Trümmerfelder. Der Tap-Out ist so lautlos wie Krebs. Es gibt nichts zu sehen, und deshalb wird das Thema von den Medien nur wie eine Randnotiz behandelt.

Das erkläre ich meiner Mom. Sie hört kurz mit dem Putzen auf und schaut auf die Meldungen, die am unteren Bildschirmrand eingeblendet werden. Schließlich lese ich: Kalifornische Wasserkrise verschlimmert sich. Bewohner werden aufgefordert, Wasser zu sparen.

Und das war’s. Mehr sagen die staatlichen Sender nicht.

»Sparen? Soll das ein Witz sein?«

Mom atmet tief ein und besprüht den Küchentisch mit Reinigungsmittel. »Solange die nationale Katastrophenhilfe ihre Arbeit erledigt, ist es doch egal, was in den Nachrichten gesagt wird.«

»Mir ist es nicht egal«, erwidere ich. Denn eins weiß ich über die Nachrichten: Sie bestimmen für die meisten Menschen – darunter auch die US-Bundesregierung –, was wichtig ist und was nicht. Und die großen Nachrichtensender werden dem Tap-Out nicht die nötige Sendezeit einräumen, solange es keine Bilder gibt, die so dramatisch sind wie vom Sturm abgedeckte Hausdächer.

Aber wenn es so lange dauert, bis der Tap-Out ernst genommen wird, ist es zu spät.

Snapshot: John Wayne

Dalton liebt den Abflug vom John Wayne Airport. Es ist ein echter Trip. Das sogenannte »modifizierte lärmmindernde Startverfahren« wurde extra eingeführt, damit die Millionäre von Newport Beach sich nicht über Fluglärm ärgern müssen. Im Prinzip werden die Triebwerke des Flugzeugs bei angezogenen Bremsen hochgefahren, bevor die Maschine mit voller Kraft beschleunigt, lächerlich steil abhebt und sich zehn Sekunden später durch eine plötzliche Drosselung der Schubkraft in der Waagerechten stabilisiert. Für Uneingeweihte hört es sich an wie ein Triebwerksversagen, so dass jedes Mal mindestens einem Passagier der Atem stockt, wenn er nicht gleich panisch aufkreischt. Das Flugzeug gleitet dann im Leerlauf über die Ausläufer der Bucht, Balboa Island und die Halbinsel von Newport, bevor der Pilot die Triebwerke wieder hochfährt und den Anstieg fortsetzt.

»Man sollte den Flughafen nicht John Wayne, sondern John Glenn nennen«, hat Dalton einmal gesagt, weil es nirgendwo einen Abflug gibt, der näher an einen Start in den Weltraum herankommt.

Dalton und seine kleine Schwester sind Vielflieger. Mehrmals im Jahr besuchen sie ihren Dad, der in Portland lebt – Weihnachten, Ostern, für den Großteil der Sommerferien und jedes zweite Thanksgiving. Heute werden die Geschwister jedoch von ihrer Mutter begleitet.

»Wenn euer Dad mich nicht aufnimmt, übernachte ich gern in einem Hotel«, sagt sie.

»Dazu wird er dich nicht zwingen«, sagt Dalton, doch seine Mutter scheint sich da nicht so sicher zu sein.

Vor ein paar Jahren hatte sie Daltons Dad für einen Loser mit schicken Brustmuskeln und Unterlippenbärtchen verlassen, den sie ein Jahr später wieder vor die Tür setzte. Leben heißt lernen. Aber nachdem die Ehe den Bach runtergegangen war, hatte es Daltons Dad in den Norden gezogen.

»Ihr wisst, dass es nicht darum geht, dass euer Vater und ich wieder zusammenkommen«, erklärt sie Dalton und seiner Schwester, aber für Scheidungskinder stirbt die Hoffnung nie.

Zehn Minuten nach Verkündung des Tap-Out war Daltons Mutter online gegangen und hatte drei überteuerte Tickets für einen Flug mit Alaska Air gekauft – eine der wenigen Airlines, die nonstop nach Portland fliegen, ohne dass man aussteigen und den Flugzeugen beim Anschieben helfen muss.

»Die letzten drei Tickets«, verkündete sie triumphierend. »Ihr habt eine Stunde zum Packen. Nur Handgepäck.«

Auf den Straßen zum Flughafen staute sich der Verkehr. Normalerweise dauert die Fahrt fünfzehn Minuten, aber heute brauchten sie fast eine Stunde.

Die Parksituation am John Wayne Airport ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass noch mehr Turbulenzen bevorstehen. Bis auf eine Ausnahme leuchten vor allen Parkhäusern BESETZT-Schilder. Daltons Mom ergattert schließlich einen der letzten Plätze im hintersten Teil des am weitesten entfernt liegenden Parkhauses. Auf dem Weg zum Terminal bemerkt Dalton die zahllosen Autos, die wie in einer motorisierten Version von »Reise nach Jerusalem« im Kreis fahren, nur dass kein Stuhl mehr frei ist.

An der Sicherheitsschleuse geht es zu wie in einem Irrenhaus, was hier sonst nie passiert.

»Es machen aber viele Leute Urlaub«, sagt Daltons siebenjährige Schwester Sarah.

»Ja, Schätzchen«, antwortet ihre Mutter abwesend.

»Was glaubst du, wohin sie fahren?«

Ihre Mutter seufzt. Sie ist zu gestresst, um weiter geduldig auf Sarah einzugehen, also springt Dalton ein. »Cabo San Lucas«, liest er von der Anzeigetafel ab. »Denver, Dallas, Chicago …«

»Meine Freundin Gigi ist aus Chicago.«

Der Typ von der Security betrachtet Daltons Pass eingehender, weil die braunen Haare auf dem Foto mittlerweile blond gefärbt sind.

»Bist du sicher, dass du das bist?«

»Als ich das letzte Mal nachgesehen hab, schon«, antwortet Dalton.

Der humorlose Sicherheitsbeamte winkt sie zu der sich langsam vorwärtsbewegenden Schlange vor dem Metalldetektor weiter, der Anstoß an Daltons Gesichtsringen nimmt. Fünf Minuten vor dem Boarding haben sie die Sicherheitskontrolle endlich passiert. Mom ist erleichtert.

»Okay«, sagt sie. »Wir sind hier. Wir haben niemanden verloren. Keine fehlenden Finger oder Zehen.«

»Ich hab Durst«, sagt Sarah, doch Dalton hat bereits bemerkt, dass alle Verkaufsstände, an denen sie vorbeigekommen sind, Schilder mit der Aufschrift KEIN WASSER aufgestellt haben.

»Im Flugzeug gibt es bestimmt was zu trinken«, sagt ihre Mutter.

Dalton denkt, dass das vielleicht sogar stimmen könnte. Schließlich sind die ganzen Flugzeuge irgendwo hergekommen. Denn allmählich wird auch er ein wenig durstig.

Als das Boarding beginnen soll, tritt die Mitarbeiterin der Fluggesellschaft am Gate ans Mikro. »Leider ist dieser Flug überbucht«, erklärt sie. »Deshalb bitten wir Passagiere, die zeitlich flexibel und bereit sind, einen späteren Flug zu nehmen, sich freiwillig zu melden.«

Sarah zupft am Arm ihrer Mutter. »Mommy, melde dich freiwillig!«

»Diesmal nicht, Schätzchen.«

Dalton grinst. Dad erklärt ihnen immer, dass sie sich freiwillig melden sollen, weil man dafür einen Reisegutschein im Wert von hundert Dollar bekommt, wofür sich die Unbequemlichkeiten auf jeden Fall lohnen. Aber heute nicht. Heute geht es nur darum, rauszukommen. Der Wert der Reisegutscheine steigt von zweihundert auf dreihundert und schließlich auf fünfhundert Dollar, trotzdem ist niemand bereit, sein Ticket aufzugeben.

Schließlich tritt die Airline-Mitarbeiterin wieder an ihr Mikrophon und verliest die Namen der drei Personen, die als Letzte ein Ticket erworben haben. Dalton, Sarah und ihre Mutter. Dalton spürt, wie ihm flau im Magen wird.

»Es tut mir leid«, sagt die Frau von der Airline, obwohl sie nicht so klingt, »aber da Sie als Letzte die Tickets gekauft haben, muss ich Sie auf einen späteren Flug umbuchen.«

Daltons Mom flippt aus, was er gut verstehen kann. Dieses eine Mal müssen sie sich gegen die da oben wehren.

»Nein«, sagt seine Mom. »Es ist mir egal, was Sie sagen! Meine Kinder und ich steigen in dieses Flugzeug!«

»Sie erhalten jeder einen Fünfhundert-Dollar-Reisegutschein – das sind eintausendfünfhundert Dollar«, sagt die Frau von der Fluggesellschaft in dem Versuch, sie zu beruhigen. Aber Daltons Mom lässt sich nicht kaufen.

»Meine Kinder haben gerichtlich festgelegte Besuchszeiten bei ihrem Vater«, brüllt sie. »Wenn Sie sie von diesem Flug ausschließen, verstoßen Sie gegen das Gesetz, und ich werde Sie verklagen!« Natürlich steht der festgesetzte Besuch bei ihrem Vater noch gar nicht an, doch das kann die Frau von der Fluggesellschaft nicht wissen.

Trotzdem entschuldigt sie sich lediglich ein weiteres Mal und sucht nach späteren Flügen. »Heute Abend um halb sechs geht eine weitere Maschine … Oh, warten Sie, die ist auch ausgebucht … Mal schauen.« Sie tippt neue Anfragen in ihren Computer. »Zwanzig Uhr zwanzig … nein …«

Dalton wendet sich seiner Schwester zu und flüstert: »Probier’s mit dem Blick.«

Ihre Mutter hat Dalton und Sarah immer erklärt, dass sie mit ihren großen blauen Augen jedes Herz erweichen könnten. Dalton nicht mehr so sehr. Bei einem linkischen Siebzehnjährigen mit Gesichtspiercings, einem Biohazard-Halstattoo und einer Frisur wie wucherndes Unkraut, wie sein Vater sagen würde, schmilzt die allgemeine Öffentlichkeit nicht mehr so schnell dahin. Nur siebzehnjährige Mädchen. Aber Sarah hat nach wie vor den magischen Schmelzeffekt, selbst auf abgehärtete Erwachsene. Also hebt er sie hoch, damit die Frau von der Fluggesellschaft sie gut sehen kann.

»Ah, du bist wirklich ein süßer Spatz«, sagt sie und reißt drei neue Tickets aus dem Drucker. »Hier … morgen früh um halb sieben. Mehr kann ich beim besten Willen nicht für Sie tun.«

Also warten sie. Sie verlassen den Flughafen nicht, weil die Menschenmenge immer weiterwächst und ihnen bewusst ist, dass sie nicht noch einmal durch die Sicherheitsschleuse kommen würden. Sie schlafen auf unbequemen Flughafenstühlen und bekommen hin und wieder einen Schluck Wasser von Menschen, die bereit sind, mit ihnen zu teilen. Viele sind es nicht.

Am nächsten Morgen gibt es auf dem Flug um halb sieben dann trotz der bestätigten Tickets keinen Platz für sie. Genauso wenig wie auf dem nächsten Flug. Und auch nicht auf dem danach.

Tickets zu anderen Zielen sind ebenfalls nicht zu bekommen.

Irgendwann ist der Flughafen so überfüllt, dass zusätzliche Polizeikräfte hinzugezogen werden, um für Ordnung zu sorgen.

Und weil der Verkehr sich überall staut, kommen die Tanklaster mit dem Kerosin gar nicht mehr bis zum Flughafen durch.

Dalton, seine Mutter und seine Schwester müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass sie nirgendwohin fliegen werden.

Tag ZweiSonntag, 5. Juni

2|Kelton

Mein Dad hat mir immer erklärt, dass es auf diesem Planeten drei Typen von Menschen gibt. Die ersten sind die Schafe, die Mittelmäßigen, die in einem Zustand der Lethargie leben – gefüttert von den Morgennachrichten, durchgekaut von einem weiteren monotonen Arbeitstag und wieder ausgespuckt auf die Straßen der Welt wie gammeliger Hackbraten. Im Prinzip sind die Schafe die wehrlose Mehrheit, die in keiner Weise bereit ist, die Unvermeidlichkeit realer Gefahr anzuerkennen, und die darauf vertraut, dass das System sich schon um sie kümmern wird.

Als Nächstes gibt es die Wölfe. Die Bösen, die sich an keinerlei gesellschaftliche Gesetze und Regeln gebunden fühlen, sich aber gut verstellen können, wenn es ihnen nutzt. Das sind die Diebe, Mörder, Vergewaltiger und Politiker, die sich von den Schafen nähren, bis sie ins Gefängnis geworfen werden oder – noch besser – mit dem Bauch nach oben auf einer Müllkippe landen, zwischen Omas selbstgestrickten, kratzigen Weihnachtssocken, die man jedes Jahr feierlich mit Feuerwerkskörpern abfackelt.

Und als Letztes gibt es Menschen wie uns. Die McCrackens. Die Hüter der Welt. Wir mögen auf den ersten Blick aussehen wie Wölfe – große Reißzähne, scharfe Krallen und die grundsätzliche Fähigkeit, Gewalt auszuüben –, aber was uns von den anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass wir das Gleichgewicht zwischen beiden Typen verkörpern. Wir können uns frei in der Herde bewegen und andere beschützen oder verstoßen. Mein Dad sagt, dass wir die wenigen Auserwählten sind, die die Macht haben, sich zu entscheiden. Wenn eine echte Gefahr eintritt, werden wir diejenigen sein, die überleben – nicht nur, weil wir eine 357er Magnum, drei Glocks G19 und eine Mossberg-Pumpgun besitzen, sondern weil wir uns, solange ich mich erinnern kann, auf jede erdenkliche Weise auf den unvermeidlichen Zusammenbruch der Gesellschaft, wie wir sie kennen, vorbereitet haben.

Es ist Sonntagmittag, der zweite Tag des Tap-Out, und kochend heiß. Ich fühle mich wie in einer Limodose, die man zur Sommersonnenwende draußen hat stehen lassen. Ich mache mich auf den Weg zu meiner persönlichen Fluchtplattform, genauer gesagt zu der erhöhten taktischen Anlage, die ich in der Eiche in unserem Garten gebaut habe. Manche würden es vielleicht ein Baumhaus nennen, aber das wäre eine Beleidigung für den funktionalen Festungscharakter. Von einem läppischen Baumhaus aus unternimmt man keine Infrarot-Ausspähungen, dort legt man auch kein ziviles Arsenal an. Natürlich ist meine Anlage nicht annähernd so cool wie unser echter Fluchtbunker – ein verstecktes, gesichertes Haus, das wir für den Fall eines atomaren Angriffs, elektromagnetischer Strahlung oder irgendeines anderen Weltuntergangsszenarios tief im Wald errichtet haben. Wir haben es als Familie gemeinsam gebaut, ein paar Jahre bevor mein älterer Bruder Brady unser Elternhaus verlassen hat. Sollte es richtig schlimm werden, ziehen wir uns dorthin zurück, aber bis dahin begnüge ich mich mit meiner Baumplattform.

Ich habe meinen eigenen kleinen Vorrat angelegt, unabhängig von den Sachen, die Dad in unserem Panikraum aufbewahrt. Waffentechnisch verfüge ich über einen Paintball-Markierer, eine Profi-Jagdschleuder und ein Wildcat-Whisper-Luftgewehr. Was die Vorräte betrifft, habe ich genug Mountain-Dew-Limonade, um mich im Notfall wochenlang wach zu halten, ganz zu schweigen von den Instant-Asianudeln mit Hühnchengeschmack, meinem Lieblingstrostessen, denn es ist tröstlich, zu wissen, dass diese Nudeln im Fall einer nuklearen Katastrophe genug Mononatriumglutamat und Konservierungsstoffe enthalten, um die gesamte Menschheit zu überleben.

Ich blicke aus dem Fenster meines Forts und registriere eine Person, die sich unserem Haus nähert. Ich nehme das Fernglas, um sie zu identifizieren. Der beigefarbene Anzug und die Bolo-Krawatte verraten mir sofort, dass es unser Nachbar Mr Burnside ist, ein Manager im Ruhestand, der sich nie wirklich mit dem Ende seiner Karriere abgefunden hat. Weil er nichts Besseres zu tun hatte, hat er vor ein paar Jahren in einem stillen Putsch den Vorsitz der Hauseigentümervereinigung übernommen und regiert seitdem mit eiserner Faust. Wir sind ziemlich sicher, dass er ein Faschist ist. Wahrscheinlich ist er gekommen, um uns darauf hinzuweisen, dass unsere Fenster zu schusssicher sind, das Garagentor aus unzulässigem Titanstahl besteht oder der Heliport für Flugdrohnen auf dem Dach unseres Hauses zu furchteinflößend wirkt. Aber bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass er nicht den üblichen Aktenordner mit Unterschriftensammlungen und Unterlassungsaufforderungen dabeihat. Stattdessen trägt er ein Geschenk, hübsch verpackt mit Schleife und allem. Das macht mich misstrauisch, deshalb verlasse ich meinen Posten, drücke mich an der Hauswand entlang und kauere mich hinter eine Hecke, von wo ich die Haustür im Blick habe.

Burnside tätschelt die über seine Glatze gekämmten Resthaare und klopft vier und dann noch ein fünftes Mal, einfach weil er so ein Widerling ist.

Mein Dad öffnet die Tür nur halb. »Guten Tag, Bill. Was verschafft mir heute das Vergnügen Ihres Besuches?«, fragt er, obwohl er eigentlich meint: Was zum Teufel wollen Sie hier?

Burnside lässt lächelnd seine Zähne aufblitzen, die so weiß sind, dass sie nur künstlich sein können. »Ich schaue nur bei allen Familien in unserem Viertel vorbei.« Er blickt sich mit gespieltem Interesse um. »Ich muss schon sagen, allmählich kann ich einige Ihrer einzigartigen baulichen Veränderungen nachvollziehen.«

»Wie unser Gewächshaus zum Beispiel, gegen das die Hauseigentümervereinigung immer noch vorgeht?«, fragt mein Vater scharf.

»Seitdem ist eine Menge Wasser den Bach hinuntergeflossen«, sagt Burnside und wedelt schlaff mit der Hand, so dass die goldene Uhr, die er zum Renteneintritt bekommen hat, und sein medizinisches Notfallarmband klimpern. Ich weiß nicht, unter welcher Krankheit er leidet, aber er hat garantiert keinen Vorrat der von ihm benötigten Medikamente angelegt.

»Haben Sie es nicht mitgekriegt?«, fragt mein Dad. »Hier fließt gar kein Wasser mehr.«

Burnside lacht, um die Spannung zu lösen, was jedoch komplett nach hinten losgeht. Also überreicht er meinem Dad das Geschenk. »Von mir und meiner Frau«, sagt er. »Nur eine kleine Geste als Zeichen dafür, dass wir die Vergangenheit ruhen lassen sollten.«

»Das ist furchtbar nett von Ihnen, Bill. Ich nehme an, das heißt auch, dass Sie und der Vorstand nichts dagegen haben, wenn ich meine Sicherheitszäune aufrüste. Ich dachte an drei Meter dreißig.«

Burnside sträubt sich erkennbar, sagt jedoch: »Ich werde mit dem Vorstand darüber sprechen. Das dürfte kein Problem sein.«

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragt mein Dad, der seine Machtposition sichtlich genießt.

»Nun, ich drehe wie gesagt eine Runde, um überall bekanntzumachen, dass die Hauseigentümervereinigung alles unternimmt, um die Ressourcen der Nachbarschaft zu bündeln. Gegenseitige Hilfe in Zeiten der Not, verstehen Sie …«

Anstatt zu antworten, lässt mein Dad ihn zappeln und wartet, dass er fortfährt.

»… ich bin sicher, Ihnen und Ihrer Familie fehlt es an nichts …«, eiert Burnside weiter herum und präsentiert erneut seine Porzellanzähne. »Aber es gibt natürlich auch Anwohner, die von dieser Wasserkrise unvorbereitet getroffen wurden.«

»Was genau wollen Sie von mir, Bill?«, fragt mein Vater nicht mehr ganz so wohlwollend.

»Wir bitten jeden, eine Inventur seiner Vorräte vorzunehmen«, sagt er und fügt hinzu: »Ich bin sicher, es gibt Dinge, die Sie brauchen, über die andere Leute möglicherweise verfügen, und umgekehrt.«

»Also nicht mehr jeder nach seinen Fähigkeiten, sondern jeder nach seinen Bedürfnissen. Ist das nicht das Grundprinzip des Sozialismus, Bill?«, fragt mein Dad. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das je aus dem Mund eines so eingefleischten Kapitalisten wie Ihnen hören würde!«

Mein Dad hat wirklich seinen Spaß. Burnsides Lächeln erinnert immer mehr an ein Zähnefletschen. »Sie müssen nicht beleidigend werden, Richard. Wir sitzen alle im selben Boot. Wir sollten uns bemühen, das Beste daraus zu machen.«

»Wenn jeder eine Inventur vornehmen soll, warum bekommen wir dann ein Geschenk?«, fragt mein Dad.

Burnside atmet tief ein und langsam wieder aus. »Ich weiß, dass wir in der Vergangenheit nicht immer einer Meinung waren … aber mit ein wenig gutem Willen auf beiden Seiten kommen wir bestimmt weiter.«

Er wendet sich zum Gehen. Noch bevor er unser Grundstück verlassen hat, packt mein Dad das Geschenk aus. Es ist eine Flasche Scotch. Die teure Sorte.

»Nochmals vielen Dank, Bill«, ruft mein Dad Burnside mit einem durchtriebenen Grinsen hinterher. »Ich wette, damit kann man einen perfekten Molotowcocktail machen!«

»Auf Eis ist er am besten«, ruft Burnside zurück, der den Witz überhaupt nicht kapiert hat. »Wir reden später.«

3|Alyssa

Am Sonntag wache ich spät auf. Ich war die halbe Nacht wach und habe mir mit meinen Freundinnen und Freunden SMS geschrieben, in denen wir uns von unserem Tag berichtet haben. Mora hat mit ihrer Familie und ein paar anderen vor dem Rathaus demonstriert. Faraz hat mit seinem Vater versucht, mit Hilfe einer Umkehrosmose-Wasseraufbereitungsanlage Urin in Trinkwasser zu verwandeln. Spoiler-Alarm: Es hat nicht funktioniert. Und Kelly hat den Tag in ihrem Tempel verbracht und Wasserflaschen für Senioren abgefüllt. »Es ist eine Mitzwa«, hat sie mir erklärt. »Und unser Rabbi ist echt süß.«

Ich schlafe noch halb, als ich ins Bad gehe und aus Gewohnheit die Dusche aufdrehe, bevor ich merke, dass ich mein Handtuch vergessen habe. Ich hole mir eins und kehre ins Bad zurück, wo mir auffällt, dass die Dusche nicht läuft. Oh, stimmt ja. Jetzt komme ich mir vor wie eine Idiotin. Ich habe sogar an den Tap-Out gedacht, als ich den Hahn aufgedreht habe, aber mein glorifiziertes Schimpansenhirn hat es nicht hingekriegt, einen Duschkopf mit einem Wasserhahn in Verbindung zu bringen. Natürlich wusste ich, dass er nicht funktionieren würde. Aber morgens laufe ich noch auf Autopilot, und Routine und Muskelgedächtnis kennen keine Vernunft. Ich greife nach dem Hahn und weiß plötzlich nicht mehr, in welche Richtung man ihn zu- oder aufdreht. Bis das Wasser wieder fließt, spielt das sowieso keine Rolle.

Keine Dusche. Das wird ein Spaß. Ich trage mehr Deo auf als sonst und gehe nach unten.

»Guten Morgen, Schätzchen«, begrüßt mich meine Mom und erklärt mir, dass es zum Frühstück eine viertel Wassermelone gibt, die schon seit einer Woche in unserem Kühlschrank lagert. Garretts abgenagte Schale liegt auf einem Teller wie ein breites grünes Grinsen. Eine seltsame Wahl zum Frühstück, aber meine Mutter weist auf den hohen Flüssigkeitsgehalt von Wassermelonen hin, weshalb man mit ihrem Verzehr zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könne. Außerdem sei es ohnehin fast Mittagessenszeit.

Bevor das Wasser abgestellt wurde, hatte ich geplant, an diesem Sonntag meinen Aufsatz über Herr der Fliegen zu schreiben. Meine These ist, dass die Geschichte völlig anders ausgegangen wäre, wenn eine Gruppe Mädchen statt Jungs auf der Insel gestrandet wäre. Als ich das meinem Lehrer erklärt habe, stimmten mir die Jungs in meiner Klasse zu – sie waren überzeugt, dass alle sehr viel früher gestorben wären. Meine These geht natürlich vom Gegenteil aus. Ich habe den Aufsatz die ganze Woche vor mir hergeschoben und muss ihn am Montag abgeben. Aber das scheint nun plötzlich nicht mehr so wichtig. Es wurde bereits bekanntgegeben, dass sämtliche Schulen in unserem Bezirk morgen geschlossen bleiben. Außerdem könnte ich mich beim besten Willen nicht darauf konzentrieren, wer das Muschelhorn hat und wer Piggy quält – oder Miss Piggy in meiner theoretischen Version.

Trotzdem ist es wahrscheinlich besser, wenn ich mich irgendwie beschäftige und den Tag möglichst normal verbringe, statt zu grübeln. Also beschließe ich, mich mit meiner Freundin Sofia Rodriguez zu treffen, die meine SMS gestern Abend nicht beantwortet hat. Nach ein paar weiteren unbeantworteten Nachrichten bleibt mir nichts anderes übrig, als einfach bei ihr vorbeizuschauen so wie früher, als wir noch kleiner waren.

Auf dem Weg zu ihrem Haus in der Parallelstraße mache ich mir ein Bild vom Zustand unseres Viertels. Fast alle Windschutzscheiben sind mit Fliegen gesprenkelt oder mit Staub bedeckt. Die meisten Vorgärten sind verwahrlost oder mit Kakteen bepflanzt. Manche Leute haben den ausgetrockneten Boden sogar grün angesprüht, ein bisschen so wie Beerdigungsinstitute, die Tote schminken. Die Gesetzesinitiative gegen leichtfertige Verschwendung hat nicht nur Wasserbomben verbannt. Auch das Auffüllen privater Swimmingpools wurde verboten, was damals eine durchaus vernünftige Idee zu sein schien. Schließlich war ein Swimmingpool in Zeiten der Trockenheit die pure Verschwendung. Seither haben die meisten Poolbesitzer das verbliebene Wasser benutzt, um ihre Autos zu waschen oder den Rasen zu sprengen und dergleichen. Deswegen und wegen der Verdunstung sind die meisten Pools – früher eine Art lokaler Ministauseen – jetzt ebenso leer wie unsere Waschbecken.

Als ich bei Sofia ankomme, schnallt ihr Vater gerade Koffer auf dem Dach seines Hyundai fest. Erst rede ich mir ein, dass er vielleicht eine Geschäftsreise antritt, aber als ich auch Sofias pinke Lieblingsreisetasche auf dem Dach entdecke, kann ich die Wahrheit nicht mehr leugnen. Sofias Familie packt für den Aufbruch.

»Sofia ist drin«, informiert mich ihr Vater, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

Ich betrete das Haus durch die Garagentür. Alles sieht normal aus. Dieselben Flure, dieselben blassblauen Wände, dasselbe geblümte Sofa. Aber aus irgendeinem Grund fühlt es sich anders an, als ob es nicht mehr dasselbe Haus wäre, in dem ich so oft gespielt habe und praktisch aufgewachsen bin … Und dann fällt mir auch auf, warum. Der Fernseher läuft nicht, und es riecht nicht nach Mrs Rodriguez’ Kochkünsten. Alle Familienfotos wurden abgehängt und haben helle Rechtecke auf den von der Sonne verblichenen Wänden hinterlassen – wie Schatten der Erinnerungen, die sie einmal geschmückt haben. Es ist, als hätte man alle Details entfernt, die aus dem Haus ein Zuhause gemacht haben.

Und dann denke ich an unser Zuhause. Daran, wie wir all unsere albernen Familienfotos unten aufgehängt haben, damit jeder sie sehen kann – und obwohl ich entweder meine Frisur, mein Lächeln oder meine Kleidung furchtbar finde, könnte ich mir nicht vorstellen, die Bilder abzuhängen.

Sofia kommt aus ihrem Zimmer, sieht mich, nimmt mich in den Arm und drückt mich ein wenig länger als üblich, bevor sie mich wieder loslässt und matt lächelt. »Ich wollte noch bei euch vorbeischauen, bevor wir fahren …«

»Wohin fahrt ihr denn?«

»Nach Süden«, antwortet sie. Die kurze Antwort kommt mir seltsam vor, weil Sofia an jedem anderen Tag den Mund nicht mal halten könnte, wenn ich sie dafür bezahlen würde. Ich erinnere mich, dass sie Großeltern irgendwo auf Baja hat – der westlichen Halbinsel von Mexiko –, und alles ergibt ein wenig mehr Sinn, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass es in Mexiko zurzeit besser ist als in Südkalifornien. Das meiste Land ist ebenfalls Wüste.

»Hast du die Nachrichten gesehen?«, fragt Sofia. »Angeblich soll sogar das Los Angeles Aquädukt ausgetrocknet sein. Schon seit Wochen, aber man hat es geheim gehalten. Alle möglichen Leute treten zurück oder werden gefeuert. Der Leiter der Behörde für Wasserversorgung von Los Angeles soll vielleicht angeklagt werden.«

»Warum tun die nicht endlich etwas Sinnvolles, anstatt die Zeit damit zu verschwenden, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben?«

»Ich weiß. Mein Vater glaubt jedenfalls, dass es erst noch schlimmer wird, bevor sich etwas tut.« Sie kichert nervös. »Aber du kennst ihn ja, er reagiert immer ein bisschen extrem.«

Ich lache, aber eher aus Pflichtgefühl als von Herzen. Mrs Rodriguez kommt herein, auf einem Arm Sofias fünfjährigen Bruder, unter dem anderen einen Stapel von Sofias Bildern. »Welche von deinen Werken willst du mitnehmen?«

»Alle«, antwortet Sofia, ohne zu zögern.

Ihre Mutter legt die Bilder auf einen Haufen weiterer Gemälde auf dem Esstisch. »Such deine drei Lieblingsbilder aus.« Sie küsst ihre Tochter auf den Kopf und lächelt uns warmherzig an. Sofias Mutter war schon immer eine dieser Frauen, die so hübsch sind, dass die Leute sie für die Schwester ihrer Tochter halten. Sie ist in jeder Beziehung schön, und das mag ich so an ihr. Aber heute sieht sie einfach nur müde aus.

Sofia geht die Leinwände durch. »Das ist deins«, sagt sie und wendet sich mir zu. »Du hast es im Kunstunterricht in der siebten Klasse für mich gemalt, weißt du noch?«

»Ja«, sage ich. »Es war ein Geburtstagsgeschenk.«

»Ich finde, du solltest es zurückhaben«, erklärt sie.

»Nun, sagen wir, ich leihe es mir zurück. Für ein oder zwei Wochen«, verbessere ich sie.

»Ja.« Sofia lächelt herzlich, doch ihre Augen erzählen eine andere Geschichte. Sie war immer der Typ, für den das Glas halb voll statt halb leer ist, aber so wie sie mich jetzt ansieht, weiß ich, dass ihr Optimismus genauso ausgetrocknet ist wie ihr Pool.

 

Mein Dad ist ein Mann, der Arztbesuche um jeden Preis vermeidet. Es ist nicht so, dass er nie krank wird oder wahnsinnige Angst vor Nadeln hat, aber ich glaube, er denkt insgeheim, dass Aufmerksamkeit ein Problem nur verschlimmert. Dass etwas Ausgedachtes dadurch vielleicht real wird. Und da die meisten Krankheiten schließlich von allein verschwinden, funktioniert das bei ihm auch meistens. So geht er mit allen Problemen um – von Streitigkeiten mit meiner Mom bis hin zu einem schlechten Geschäftsquartal in seiner Firma. Und genau deshalb ruft er heute Abend zum Familienessen, seinem liebsten Allheilmittel. Sicher, wenn man ein Problem mit Lasagne behandelt, ist das nicht immer die Lösung, aber ich glaube fest daran, dass sich ein Tag zum Besseren wenden kann, wenn Mom und Dad gemeinsam kochen. Deswegen achte ich darauf, genau um halb acht zu Hause zu sein.

Sobald ich durch die Tür komme, fordert Mom mich wie erwartet zum Helfen auf. Sie reicht mir einen leeren Krug. »Holst du bitte etwas Wasser?«

Eine einfache Anweisung, die sich plötzlich wie eine heilige Pflicht anfühlt.