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Die almadanische Stadt Taladur ist eine Schlangengrube der Ränkespiele und Intrigen, ein Hexenkessel der Ehre und Leidenschaften. In einer solchen Heimat gibt nur die Familie Halt - doch die Xetarro sind im Begriff, auszusterben. Grund genug für den alten Dom Lumino, Hellsichtmagier und Familienoberhaupt, die Zukunft seines Geschlechts mit allen Mitteln zu sichern, seine Ziehsöhne Hesindio und Zahir gewinnbringend zu nutzen und dabei buchstäblich über Leichen zu gehen. Die Straßen Taladurs drohen sich mit Blut zu füllen, wenn die Tandori Rache für den Tod der Ratsmeisterin fordern, die verbotene Liebe ungleicher Paare ans Licht kommt und in der Welt der Träume Ereignisse angestoßen werden, die dunkle Schatten vorauswerfen.
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Seitenzahl: 383
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Biografie
Der 1974 geborene André Wiesler lebt zusammen mit seiner Frau Janina und seinem Sohn Lorenz in Wuppertal. MitDieLast der Türmemacht er das Teufelsdutzend an Romanveröffentlichungen voll, darunter Werke wie derDas Schwarze Auge-RomanKönig der Diebe, die Mystery-TrilogieDie Chroniken des Hagen von Steinund diverse Bücher derShadowrun-Reihe.
Neben der Schriftstellerei arbeitet er als Übersetzer, Spieleentwickler, Redakteur und tritt als Lese-Komiker auf. Darüberhinaus organisiert er als ein Teil der Wuppertaler Wortpiraten Poetry-Slams und gibt Schreibkurse und leitet Schreibwerkstätten.
Weitere Informationen zu André Wiesler finden Sie auf seiner Internetseite:
www.andrewiesler.de
Titel
André Wiesler
Die Last der Türme
Die Türme von Taladur 2
Ein Roman in der Welt vonDas Schwarze Auge©
Originalausgabe
Impressum
Ulisses Spiele Band 11074PDFTitelbild:Alan Lathwell Aventurienkarte: Ralph HlawatschKarten der Umgebung: Melanie MaierLektorat: Katharina Fuchs Buchgestaltung: Ralf Berszuck E-Book-Gestaltung: Michael MingersKonzeption der ReiheDie Türme von Taladur: Bernard Craw
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Danksagung
Für Björn W., Marcus D., Michael W., Daniel B. und Chris F. – Freunde, die stets zu mir stehen, wenn die aufgetürmte Last zu groß wird.
Junge Liebe, junges Leid
Streitturm der Xetarro, Taladur.
Zweiundzwanzigster Tag im Firunmond, 989 nach Bosparans Fall
Ein Windstoß fuhr wütend gegen den Streitturm an, als wolle er ihn einreißen, und brachte kalte Winterluft durch die offenen Flügeltüren herein. Lumino Xetarro erlaubte sich ein schmales Lächeln.Nur weiter so, ermunterte er den Sturm in Gedanken.Man muss sich hohe Ziele setzen.
Tatsächlich hätte der Wind wohl beim Turm der Familia Xetarro die besten Chancen ihn umzuwehen. Lumino fasste seinen Stab und trat auf den Absatz hinaus, der in die dunkle Nacht ragte.
Wir sind alt geworden, mein Freund, teilte er dem Streitturm mit und rief das magische Feuer hervor, das verborgen in seinem Stab schlummerte. Blau, und trotz des Windes ruhig, erhellte die Flamme die Überreste des einst prächtigen Balkons, der nur noch als schmaler Sims aus dem harschen Gestein des Streitturms ragte, und in einer scharf gezahnten Kante endete. Jenseits davon ging es abwärts, hinab in die Straßen Taladurs.
Alt geworden und wunderlich,setzte Lumino hinzu,dass wir jetzt schon mit den Elementen und Bauwerken sprechen.
Er trat an die Kante und ließ das Ende seines Stabes daran entlanggleiten. Wie oft hatte er hier gestanden und darüber nachgedacht, ob er den Balkon wieder instand setzen lassen sollte. Doch auch diesmal entschied er sich dagegen. Es war ein leises Knacken gewesen, das ihn vorgewarnt hatte, vor all den Jahren. Ein unauffälliges Geräusch, das einem weniger aufmerksamen Mann vielleicht entgangen wäre. Lumino war zurück in den Turm getreten, der Balkon war abgestürzt und hatte ein Fuhrwerk und seinen Fahrer erschlagen.
Er bleibt, wie er ist, beschied Lumino in Gedanken. Die Reste des Balkons sollten ihm für die wenige Zeit, die ihm noch in dieser Sphäre verblieb, als Mahnmal dienen. Selbst der schärfste Geist, der eifrigste Mensch und der weiseste Magier brauchten dann und wann einen Fingerzeig der Götter und stellte sich darum besser gut mit ihnen. Nicht, dass er die Vermessenheit besäße, sich eine dieser drei Ehren anzumaßen. Nur weil er seine Schwächen kannte, waren ihm beinahe acht Jahrzehnte auf Deres Oberfläche und ein erklecklicher Erfolg vergönnt gewesen. Auch wenn sein Beiname Mero, der Verdiente, vielleicht seinen Teil dazu beigetragen hatte. Nicht zuletzt seine magischen Studien hatten ihm gezeigt, wie wichtig Namen waren.
Etwas zischte keine Handbreit über seinen Kopf hinweg und gab dabei ein kaum wahrnehmbares Piepsen von sich. Lumino hob den Kopf und sah handgroße Fledermäuse seinen Turm umschwirren. Ob unter diesen Tieren auch jene drei waren, die durch eine Unachtsamkeit seines Dieners aus seinen Labors entkommen waren?Kaum, gab er sich selbst die Antwort. Sie mochten es zum Fenster hinaus geschafft haben, aber das Gift würde ihnen mittlerweile den Garaus gemacht haben.Ganz zu schweigen davon, dass sie mit gebrochenen Flügeln wohl kaum hier oben herumhuschen könnten.
Das laute Klirren der Waffen hinter ihm holte ihn ein. Lumino wandte sich um und trat zurück in den großen, kreisrunden Saal. Er schritt zwischen einem tobrischen Prunkharnisch und einer maraskanischen Holzrüstung hindurch, die nur zwei der unzähligen Stücke aus der Sammlung seines Vaters waren. Zusammen markierten die Rüstungen die Begrenzungen des Fechtbodens, der auch Ursprung für das Klirren der Degen war.
Lumino legte den Kopf schief und beobachtete das Schauspiel. Sein Ziehsohn Zahir stand, seinen blankgewetzten Lieblingsdegen halb erhoben, schwer atmend auf der einen Seite. Schweiß perlte über seinen nackten Oberkörper, an dem die Muskeln vorfreudig zuckten, wie bei einem Vollbluthengst, der nur widerwillig stillstand.Auf der anderen Seite keuchten die Brüder Orthego, zu ihrem eigenen Schutz in Kettenhemd und Platte gewandet. Lanvolo mit breitem, garethischem Schwert und der kleinere Terrano mit einem Florett, bedrängten Zahir so seit geraumer Zeit.
Ein Schnitt über Zahirs Bauch, kaum sichtbar, da er der Vertiefung der deutlich unterteilten Muskeln folgte, bedeutete für Lanvolo ein Preisgeld von einem Silbertaler. Es war jedoch offensichtlich, dass die beiden Turmwachen sich die zehn Dukaten verdienen wollten, die Lumino für denjenigen ausgesetzt hatte, der Zahir zur Aufgabe brachte oder des Bewusstseins beraubte.Nur an echten Gefahren lernen wir,wiederholte er in Gedanken den Leitsatz seines Vaters.
Zahirs fein geschnittenes Gesicht ließ die kantigen Züge echter Almadaner vermissen, war aber den Damen der Stadt ein angenehmer Anblick. Im Moment zeigte es sich ungewöhnlich gelöst. Wo seine dunklen Augen sonst sorgenvoll, aber aufmerksam die Welt betrachteten, schimmerten sie jetzt freudig.
Pferde und Kämpfe ... es braucht so wenig, um dich glücklich zu machen, mein Sohn, und doch bist du es so selten.
Lanvolo sprang mit einem Schrei vor, ließ das Schwert von oben auf Zahir herabsausen, der in einer fließenden Bewegung zur Seite auswich und an Lanvolo vorbeiglitt. Das Schwert klirrte auf den Boden, und die massige Wache wurde von ihrem Schwung weitergetragen. Zahir sprang, stieß sich mit einem Fuß vom breiten Rücken des Mannes ab, und während dieser von der Wucht gänzlich zu Boden gestreckt wurde, flog der junge Xetarro mit vorgestrecktem Degen auf Terrano zu. Das lange, offene Haar flatterte wie eine schwarze Schleppe. Der Mann wagte einen Ausfall, doch Zahir schlug den auf den Bauch gezielten Stich aus dem Weg, landete und zog den Degen zur anderen Seite, sodass der Korb der Wache ins Gesicht krachte. Sie taumelte zurück, Blut schoss bereits aus der Nase, und Zahir setze nach, wirbelte das Rapier aus der Hand des Mannes und legte ihm die Spitze der eigenen Klinge unters Kinn.
»Ich gebe mich geschlagen, Domnito Zahir«, beeilte sich Terrano zu erklären. Ihm war das Schicksal Rondrigos wohl noch gut im Gedächtnis, der sich geweigert hatte zu kapitulieren – es war schade um den unbestechlichen Wachmann.Aber ich habe dich nicht zur falschen Gnade erzogen, nicht wahr, mein Sohn?
Lanvolo hatte sich mittlerweile wieder aufgerappelt und stürmte erneut auf Zahir zu. Am Kampfesmut mangelte es ihm also nicht. Luminos unterdrückte den Ärger, der in ihm aufstieg, als ihn dieser Gedanke an den Verlust erinnerte, der ihn vor kurzem ereilt hatte. Ein ganzer Zug, drei vollbeladene Wagen feinster Stoffe auf dem Weg nach Punin, waren ihm gestohlen worden. Die Wachen hatten überlebt, was Lumino ihnen eigentlich als Versagen ausgelegt und schwer bestraft hätte, aber sie waren nicht die ersten, die überwältigt und bestohlen worden waren. Es wurde Zeit, dass der Rat Söldner anheuerte, die sich um dieses dreiste Räuberpack kümmerten.
Lanvolo verlegte sich darauf, das Schwert in Kreisen einmal an der rechten, dann an der linken Schulter vorbeiziehen zu lassen. Zahir tänzelte rückwärts, ließ sich immer schneller werdend treiben. Lanvolos grobschlächtiges Gesicht verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen, das Verwunderung wich, als Zahir sich kurz vor dem Kamin drehte, zwei Schritte an der Wand hinauflief und in einem gestreckten Überschlag über seinen Gegner hinwegsegelte. Am Scheitelpunkt zuckte der Degen vor und durchbohrte den Topfhelm der Wache. Er wurde dem Mann vom Kopf gerissen und prangte auf Zahirs Degenspitze wie ein Bratapfel auf einem Spieß. Zahir landete und wandte sich um, gerade rechtzeitig, um dem ebenfalls herumwirbelnden Lanvolo mit einer Bewegung aus dem Handgelenk den eigenen Helm ins Gesicht zu schleudern. Der Mann ging zu Boden und blieb reglos liegen. Blut sickerte aus einem Schnitt am Scheitel und einer Platzwunde an der Braue.
Zahir wandte sich um. Schlagartig verschwand jede Freude aus seinem Gesicht und seinen Augen. »Ich hoffe, du bist zufrieden, Vater?« Die sanfte Stimme trog über das Feuer in seinem Inneren hinweg, das Lumino all die Jahre geschürt hatte.
»Du wurdest verletzt«, tadelte Lumino und wies auf den dünnen Blutfaden, der über den Unterbauch bis zum Bund der einfachen Stoffhose rann.
»Ein Kratzer«, verteidigte sich Zahir beschämt.
»Und wenn die Klinge vergiftet wäre?«, hakte Lumino nach. Falsche Nachsicht wäre gerade jetzt gefährlich. Zahir musste aufmerksamer denn je und zu allem bereit sein, wenn Lumino sich weiterhin auf seinen Schutz verlassen wollte. Seit die Ratsmeisterin Giuliana Tandori ermordet worden war – Lumino weigerte sich zu glauben, dass sie eines natürlichen Todes gestorben war, auch wenn Garde-Capitan Erresto bisher noch keinen Täter vorzuweisen hatte –, war die Stadt in Aufruhr.Die Bienen summen aufgeregt. Böse Zungen nannten ihn eine Spinne, die fett im Netz lauerte. Aber zum einen achtete er sehr auf seine Linie, was man ihm wohl zurecht als Eitelkeit auslegen könnte, zum anderen aber hatte er sich schon immer eher als Imker gesehen, der die fleißigen Bienchen anleitete, ihm süßen Honig zu verschaffen.
Lumino hatte kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, sich selbst um den vakanten Posten des Ratsmeisters zu bemühen, aber er war zu alt. Er war Zunftmeister der Weber und Färber, Soberan der Xetarro, Mitglied des Erzenen Rates. Er hatte genug erreicht für ein einzelnes Menschenleben. Nun galt es, seinem Erben das Nest möglichst angenehm zu bereiten. Aber welchen seiner Ziehsöhne sollte er wählen? Zahir oder Hesindio? Den besonnenen Kämpfer oder den brillanten Denker? Wer von ihnen würde die Familia Xetarro zu neuer Größe führen? Nicht zu politischer Macht, nicht zu Reichtum, nicht zu Ansehen – das alles hinterließ ihnen Lumino zur Genüge. Nein, zu Größe, wie der Bauer es bei seinen Herden meinte. Die Familia brauchte neue Söhne und Töchter, neue Köpfe. Zwar war ihre Klientel zahlreich, aber Lumino war der letzte reinblütige Xetarro.
›Zahir oder Hesindio?‹, lautete also die schwerwiegende Frage. Lumino wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Einen Hellsichtzauber, der solche Entscheidungen vereinfachte, hatte man ihm in Punin vorenthalten. Darum hatte er sich selbst eine Frist gesetzt. Am vierten Tage des Phexmondes wollte er bei einer großen Festlichkeit verkünden, wer der neue Mundillo der Xetarro sein sollte.Also wird es Zeit, euch umso härter zu prüfen!
Doch zuerst wollte das Vieh belohnt werden.Ein Esel, den man nur schlägt, wird umso störrischer.Wieder eine Weisheit seines Vaters.
»Terrano, sei so gut und bringe deinen Bruder in eure Kammer, bevor er mir hier den Boden vollblutet.« Terrano nickte erleichtert. Er hatte wohl mit einer Schelte gerechnet, aber tatsächlich hatten sich die beiden wacker geschlagen. Selbst zu zweit hatten die meisten einfachen Wachen kaum Aussicht auf Erfolg gegen Zahir.Dafür habe ich in den vergangenen sechzehn Jahren gesorgt.»Sag Viento, er soll dir deinen Silbertaler geben. Und einen weiteren für euren Einsatz. Glaubst du, es wird ein Heiler benötigt?«
Lumino machte eine geringschätzige Geste zu Lanvolo hinüber.
»Das scheint mir nicht so, Dom Lumino. Mein Bruder hatte schon immer einen Dickschädel!«
Lumino schenkte ihm ein amüsiertes Lächeln. »Trefflich. Dann auf mit euch.« Er bedeutete der Wache, dass sie gehen könne.
Damit wandte er sich Zahir zu. Der Junge –nein, mit neunzehn Lenzen muss ich ihn wohl endgültig als Mann ansehen–, der Mann also wischte sich das schweißnasse, schwarze Haar aus dem Gesicht und blickte ihn abwartend an.
»Trotzdem gut gekämpft, mein Sohn«, sagte Lumino und tätschelte ihm die Wange. Zahir strahlte wie ein Kind, dem man Süßes geschenkt hatte.
Und doch lernt man nur dazu, wenn man gefordert wird,dachte Lumino und wandte sich an die Wache, die ihren Bruder eben über die Schwelle zur Treppe wuchtete: »Schick mir Viento und Yedua her!«
Terrano nickte und verschwand im Treppenhaus. Kaum hatte Zahir seinen Durst aus einem großen Wasserkrug gestillt, kam Yedua durch die Tür. Sie war wenige Jahre älter als Zahir und ein schlaues Ding, das wusste, wie man sich einen Vorteil sicherte. Vor allem aber hatte Lumino sie ausgewählt, weil sie volle Brüste, einen runden Po und das Gesicht einer edlen Dame hatte, mit eben genug Verlottertheit in den Augen, um aufreizend zu sein.
»Das Bad ...«, setzte Lumino an.
»Ist bereitet, Herr«, sagte sie und knickste, ohne jedoch die Augen niederzuschlagen.
»Gut«, beschied Lumino und winkte sie weg. »Geh schon vor, Zahir, du hast dir eine Belohnung verdient!«
Sein Ziehsohn blickte auf die Magd, nickte und ließ sich von ihr zur Treppe führen.
»Ihr seid ja verletzt«, hörte Lumino das Frauenzimmer mit gespieltem Entsetzen aufkeuchen, dann wandte er sich Viento zu, der ins Zimmer trat. Man sah dem Mann nicht an, dass er schon seit fast dreißig Jahren in Luminos Diensten stand. Das Haar des fünfzig Lenze zählenden Mannes war nach wie vor feuerrot, und obwohl sein Bauch mittlerweile stattlich zu nennen war, hatte sein Gesicht noch immer die hohlen Wangen einer kranken Ratte. Und wie eine Ratte hatte Viento kein Gewissen, dafür aber die Treue eines Hundes.
»Reite nach San Cardasso und richte Raulo Tandori aus, dass ich eine persönliche Fechtstunde für Zahir wünsche. Betone die Dringlichkeit, und wenn er sich ziert, weise höflich darauf hin, dass dein Herr ungeduldig sei und du befürchtest, er könne geneigt sein, der Familia Tandori weitere Schwierigkeiten zu machen.« Das war nicht einmal gelogen, denn Lumino würde jede Gelegenheit nutzen, diese vermaledeiten Tandori zu plagen.
Viento nickte und verschwand. Er war ein Mann, der seine Taten sprechen ließ, und der Wortschatz dieser Taten war nicht selten endgültig und blutig.
»Doch genug der ernsten Gedanken«, erklärte Lumino einer Fledermaus, die sich auf der Jagd nach Ungeziefer durch die noch immer offenstehende Balkontür hineinverirrt hatte.
Er schritt die Treppe herunter, bis er die Waschkammer erreichte. Ein großer Badezuber stand in der Mitte und dampfte den Duft zarter Blüten in den Raum. Zahir saß bereits im Wasser, das ihm bis zum Bauch reichte, und ließ sich von Yedua die Schultern massieren. Ihr Gesicht war von der Wärme gerötet, was sie jünger erscheinen ließ. Sie hatte die Verschnürung ihres einfachen Mieders bereits gelöst, sodass Lumino Blicke auf ihre vollen Brüste erhaschen konnte.
Er lehnte seinen Stab neben die Tür, nahm auf dem Lehnstuhl Platz, der für ihn bereitgestellt worden war, und nickte der Magd zu. Mit einem verschmitzten Lächeln beugte sie sich weiter vor, ließ ihre Hand über die drahtigen Brustmuskeln Zahirs gleiten, vermied kundig den Schnitt an seinem Bauch, um dann ins Wasser einzutauchen. Zahir keuchte wohlig auf, hielt die Augen aber weiterhin geschlossen.
Lumino spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch. Es war Jahre her, dass sich sein eigener Stab aufgerichtet hatte, aber seit Zahir alt genug war, um sich zu vergnügen, war ihm zumindest diese Freude beschieden.
Yedua richtete sich auf und löste das Kleid gänzlich, ließ es mit einem Schulterzucken zu Boden gleiten und trat heraus. Die Dampfschwaden offenbarten ihren Körper nur in kleinen Stücken, hier die schmale Taille, dort die Rundung ihrer Hüfte, die Wölbung einer Brust.
Aber dann ging sie um den Bottich herum, um langsam, den Blick über die Schulter auf Lumino gerichtet, hineinzusteigen und sich ihm in aller Pracht dabei zu offenbaren.
Nun öffnete Zahir die Augen und streckte ihr die Arme entgegen. Sie ließ sich langsam hineingleiten, küsste den jungen Mann leidenschaftlich, während seine Hände ihr pralles Gesäß umfassten und sie auf seinen Schoß zogen.
Lumino beugte sich vor, vergaß die Verantwortung, all die Schwierigkeiten, all die Intrigen, die in Taladur den Tag bestimmten, und genoss den Augenblick.
Zahir richtete sich weiter auf, wollte ihre Oberschenkel um seine Hüfte führen, aber Yedua entzog sich ihm und drehte sich um. Ihre Hand verschwand wieder unter Wasser, hielt etwas umfasst, während sie sich langsam rückwärts auf Zahirs Schoss sinken ließ. Der stöhnte und bäumte sich auf, eine Bewegung, die Yedua mit dem Becken aufnahm und fortführte. Mit langsamen, kreisenden Bewegungen ritt sie den jungen Mann, ohne ihren Blick von Lumino zu lösen.Ein wirklich bemerkenswertes Weib, dachte er und musterte ihre wogenden Brüste, den Ansatz ihres krausen Dreiecks, das immer wieder kurz aus dem Wasser auftauchte.
Schließlich übernahm Zahir die Führung. Er packte ihr Becken und zwang sie nach vorne. Wasser platschte auf den Boden, als ihr Leib hineintauchte. Yedua lächelte, als sie mit nassem Haar wieder auftauchte, sich kniend mit den Händen am Rand des Bottichs festhielt, während Zahir ihren Leib Stoß um Stoß nach vorne schnellen ließ. Ihre Brüste wühlten das Badewasser auf, und als Zahirs Bewegungen schneller, sein Atem heiserer wurden, streckte sie Lumino eine Hand hin. Der alte Mann ergriff sie, spürte die Wärme, erinnerte sich an lang vergangene Tage. Und erhob sich unmittelbar, nachdem Zahir mit einem Keuchen auf Yeduas Rücken sank.Nicht zu viel Vertraulichkeit, mahnte er sich. Bei aller Rahjaliebe, nicht zu viel!
***
Eine Meile vor der Alaunmine Premura.
Dreiundzwanzigster Tag im Firunmond, 989 nach Bosparans Fall
Boromeo fiel auf ein Knie, was in dem matschigen, stellenweise bereits mit verdecktem Schiefer durchsetzten Boden eine echte Qual war. Scharfkantige Steine schnitten ihm die Haut auf, Schlamm brannte in den Wunden. Aber immer noch besser, als mit dem Gesicht voran im Dreck zu landen. Es wäre nicht das erste Mal auf dieser Reise gewesen. Er machte Anstalten, sich wieder zu erheben, aber die untersetzte Wache der Ernathesa schnalzte missbilligend mit der Zunge und mit einem Zähneknirschen sank Boromeo wieder in den Matsch. Mehr als einmal hätte er schon Gelegenheit zur Flucht gehabt, auf diesem mühseligen Weg in sein eigenes Verderben. Er hätte den beiden Wachen, die er für sich Dickbauch und Kratergesicht genannt hatte, im Schlaf den Hals durchschneiden und sich aus dem Staub machen können. Aber er wagte es nicht, denn er wusste: Jazemina hätte dafür bezahlen müssen. Der junge Amazetti zweifelte keinen Augenblick, dass Edelhart von Binsböckel, dieser feige, darpatische Emporkömmling, seine Drohung wahrmachen und Jazemina leiden ließe, sie vielleicht sogar umbrächte, wenn er sich gegen die Verschleppung in die Alaunmine wehrte.
»Deine Zeit wird kommen, Edelhart!«, murmelte er hasserfüllt.
»Was hat er jetzt wieder?«, wollte Kratergesicht wissen. Was von seiner Visage nicht mit struppigem Bart bedeckt war, erinnerte an die Oberfläche einer Erdnuss. Überbleibsel von Pocken vielleicht, oder eine Hautkrankheit.
»Er flucht wieder auf Edelhart«, lachte Dickbauch und stieß Boromeo mit dem schmutzigen Stiefel an. »Damit solltest du aufhören, wenn du erst mal in der Mine bist. Wir wollen doch nicht, dass du Verdacht erweckst, hm, Amazetti? Schade genug, dass wir uns zurückhalten müssen, aber wir sind Ehrenmänner.«
Boromeo lachte verächtlich auf und rollte mit dem Tritt, der ihn in die Seite traf. Es war nun wirklich nicht mehr von Bedeutung, ob seine Kleidung noch schmutziger wurde. Man hatte ihn ohnehin in alte Lumpen gesteckt. Das Tuch, das Jazemina ihm geschenkt hatte, hatte man ihm jedoch gelassen – damit er jederzeit daran erinnert würde, was er verloren hatte.
»Wir sind Edelmänner«, wiederholte Dickbauch, »wir sind an den Eid unseres neuen Herrn gebunden, der dir das Leben versprach. Aber diese Peitschenschwinger in Premura, die würden nicht lange fackeln. Unfälle passieren!«
»Machen wir Rast, damit du dich reden hören kannst?«, fragte Boromeo trotzig.O Jazemina, ich hoffe, es geht dir gut! Ich könnte mir nie verzeihen, wenn er dir etwas antut.
Es war kalt, doch seine glühende Wut verhinderte, dass er fror. Sie waren bereits zwei Tage unterwegs, was zum einen am ständigen Regen, zum anderen aber daran lag, dass Edelhart ihm kein Pferd zugestanden hatte. Wie ein gemeiner Verbrecher hatte er in Fesseln hinter den beiden Wachen herstapfen müssen und mehr als einmal hatten sie den Pferden zu ihrer Unterhaltung die Sporen gegeben.
»Nein, wir machen Rast, um etwas zu erledigen«, blaffte Kratergesicht und zückte ein blitzendes, scharfes Messer. Boromeo spannte sich. »Ja, da vergeht dir das Spotten, was, Bürschchen?«
Dickbauch lachte gehässig. »Sieh nur, was er jetzt mit den Augen rollt, wie ein scheues Fohlen. Mach dir nicht gleich ins Hemd, du Held! Wir schneiden dir nur die Haare ab, damit dich keiner erkennt. Du weißt schon – zu deinem eigenen Schutz. Du kannst uns später danken!«
Boromeo ließ den Kopf hängen und wehrte sich nicht, als sie ihm grob die Haare vom Kopf schabten. Auch als sie ihm den Ruß einer alten, stinkenden Fackel ins Gesicht schmierten, regte er sich nicht. So ärgerlich er war, musste er doch die Notwendigkeit dieser Handlung einsehen. Und er würde sie Edelhart danken, oh ja. Wenn er erst einen Weg gefunden hätte, der Alaunmine zu entfliehen, ohne dadurch Jazemina zu gefährden, wenn erst seine Familia ihn gerettet hätte, würde er es Edelhart vergelten – mit fünf Spann besten almadanischen Stahls im Bauch des ungeschlachten Klotzes.
***
Jazeminas Kammer im Streitturm der Ernathesa, Taladur.
Dreiundzwanzigster Tag im Firunmond, 989 nach Bosparans Fall
Jazemina blinzelte die Tränen weg und wischte sich ärgerlich über die Wangen. »Sieh nur, Maldonado, was für ein kindisches Ding ich bin«, erklärte sie der mit weichen Tüchern ausgelegten Holzkiste, über deren Rand sich nun, wie um ihrer Aufforderung zu folgen, ein kleiner Kopf schob. Die Ohren waren grotesk groß, und die fahle Wintersonne brachte sie zu einem rötlichen Leuchten. Ansonsten sah der Körper der kleinen Kreatur tatsächlich aus wie der einer Maus mit etwa fünf oder sechs Finger breiten Flügeln. Die Fledermaus legte den kleinen Kopf müde auf dem Rand ab und gab ein mattes Klickern von sich. Dabei rümpfte sie so allerliebst die knollige Nase, dass Jazemina schmunzeln musste. Als sie das Tier auf der Straße hatte liegen sehen, hilflos und zerschlagen, hatte sie es einfach mitnehmen müssen.
Sie trat langsam an den Kasten heran und nahm etwas von dem grau-braunen Brei auf einen winzigen Hornlöffel, der aus ihrer Puppenstube stammte. »Es ist noch nicht lange her, so scheint mir, da habe ich selbst noch damit gespielt«, erklärte sie dem bemitleidenswerten Tier und fütterte es. Selbst das Fressen schien die kleine Kreatur anzustrengen. Sie wollte gar nicht erst wissen, was Nuerta in dieser Paste verarbeitet hatte, wollte sich keine Gedanken darüber machen, was Fledermäuse normalerweise fraßen, denn sie vermutete, dass sie das kleine Tier dann nicht mehr so niedlich fände.
Also beschränkte sie sich darauf, es am Leben zu halten, denn es lenkte sie ab. Davon, dass sie seit Tagen nichts mehr von Boromeo gehört hatte; dass ihn keiner von denen, die sie unauffällig befragt hatte, gesehen hatte. Natürlich konnte sie nicht zu den Amazetti marschieren, an die Tür klopfen und nach ihm fragen, immerhin waren ihre Familias Todfeinde. Aber sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Die unterschwellige Aufregung der Amazetti schien von ihnen auszudünsten wie Zwiebelgestank von einem Fellachen.
»Was ist da nur geschehen, Maldonado?«, fragte sie das kleine Tier, das jedoch keine Antwort wusste, den Kopf sinken ließ und schnell wieder einschlief.
Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Halb fürchtete sie, Boromeo könnte etwas zugestoßen sein, vielleicht bei einem dieser aufregenden Streiche, die er und seine Freunde von den Traumwanderern trieben. Aber viel größer war die Furcht davor, dass er lediglich sie nicht mehr sehen wollte. Ihr Herz schwor anderes, doch ihr Verstand war sich bewusst, dass almadanische Männer schnell für eine Frau entbrannten, aber Rahjas Berührung flüchtig war. Was, wenn sie nur ein Abenteuer für ihn gewesen war? Ein Spiel mit dem Feuer, eine Tändelei mit dem Feind?
»Nein, das darf nicht sein«, schluchzte sie und ließ sich aufs Bett fallen, um das Gesicht in die Kissen zu pressen. Eigentlich wollte sie durch die Straßen laufen und ihn suchen. Stattdessen hockte sie in ihrer Kammer, weit nach Mittag noch im Schlafgewand, und spielte allen außer ihrer geliebten Schwester Daroca vor, sie sei unpässlich.
Es klopfte zaghaft. Jazemina wollte antworten, aber sobald sie den Kopf vom Kissen hob, hallten kleine Schluchzer durchs Zimmer und sie konnte nichts dagegen tun. Also presste sie das Gesicht wieder in die Daunen, um die verräterischen Laute zu dämpfen.
»Jazemina? Ich bin es, Nuerta. Ich wollte nach unserem kleinen Freund sehen.«
Jazemina atmete tief durch. Einige Male noch rang das Leid ihr ein beinahe stummes Schluchzen ab, dann schaffte sie es, »Herein« zu krächzen.
Nuerta öffnete die Tür und trat ein. Gleich schien der ganze Raum von einem hellen Klingen erfüllt zu sein. Kleine Schellen am Saum ihres sonnengelben Rocks klimperten mit den Münzen an ihrem breiten mit Blumen bestickten Stoffgürtel um die Wette. So klingend und fröhlich war auch der Schritt der Zahori, bis sie in Jazeminas Gesicht blickte. Sofort blieb sie stehen, wirbelte herum, um die Tür zu schließen, und war mit schnellen Schritten bei ihr, um ihre Hand zu ergreifen.
»Mein Kind, was ist denn geschehen?«, fragte die Heilerin besorgt.
Jazemina musste gegen erneute Tränen ankämpfen. Die Angst wurde mit jedem Tag stärker. Bisher hatte sie es geschafft – wie es sich für eine ordentliche Domnita geziemte – eine Maske, wenn nicht der Heiterkeit, so doch der Gefasstheit zu tragen und damit wohl auch Nuerta zu täuschen. Diese Kraft fehlte ihr jetzt. Und doch konnte sie sich der mütterlichen Freundin nicht anvertrauen.Eine Freundin?, fragte sie sich.Kann denn in so kurzer Zeit eine Freundschaft wachsen?
Aber dann legte die Frau ihr dunkles Kopftuch ab, streichelte Jazeminas Hand und sagte: »Du siehst ja aus, als habe dir jemand das Liebste geraubt.«
Jazemina rang mit sich. Wie gern würde sie sich Rat einholen von einer Frau, die soviel lebenserfahrener war. Daroca war ihr eine Stütze, aber auch wenn sie schlauer war, als es ihrem Alter anstand, war sie doch nicht weise. Wie hätte sie es in ihren jungen Jahren sein können. Nuerta hingegen ... Jazemina blickte ihr in die dunklen Augen, in denen sich das Gold des Nasenringes spiegelte.Wie gern ...doch dann wandte sie den Kopf ab.
»Es ist die Fledermaus. Sie dauert mich«, wiegelte sie ab und entzog der Zahori die Hand. Diese musterte sie einige Augenblicke nachdenklich, dann nickte sie.
»So wollen wir sehen, wie es unserem kleinen Patienten heute geht.« Nuerta legte einen Tuchbeutel mit kleinen aufgestickten Silberspiegeln auf dem Bett ab und wandte sich der Kiste zu.
»Ich habe ihn Maldonado getauft«, erklärte Jazemina, froh darüber, dem aufmerksamen Blick der Frau entgangen zu sein.
»Der Leidbeladene.« Nuerta nickte. »Das scheint mir sehr passend. Wer erst vergiftetes Fleisch frisst und sich beim Sturz dann noch beide Flügel bricht, zu dem passt dieser Name.«
Mit äußerster Vorsicht betastete die Heilerin die zerschmetterten Flügel des Tieres, seinen einstmals steinharten Bauch. Nuerta sprach beruhigend auf die Fledermaus ein und das Tier ließ die Untersuchung ruhig über sich ergehen. Sie zog ein vom Kot des Tieres beschmutztes Tuch unter dem handgroßen Leib hervor und zerrieb etwas von der weißlichen Paste zwischen den Fingern. Schließlich nickte sie zufrieden.
»Das meiste Gift scheint aus dem Körper!«
Jazemina nickte erfreut. Endlich einmal eine gute Nachricht. »Dann wird er leben?«
Nuerta wiegte den Kopf. »Das zu sagen ist es noch zu früh. Leben und ein gutes Leben sind manchmal zwei unterschiedliche Dinge. Wenn wir seine Flügel wieder so gesetzt bekommen, dass er damit fliegen kann ...«
Jazemina wurde sich bewusst, dass sie hoffnungsvoll an Nuertas Lippen hing. Wenn Maldonado überlebte, wollte sie dies als Omen der Götter deuten, dass es auch Boromeo gut ging.
»Es ist ein langer Weg dorthin, aber ja, dann wird er leben.«
»So ein Glück!« Jazemina fiel ihr in die Arme, und die Frau wiegte sie stumm.
***
Flur zum Speisesaal im Streitturm der Ernathesa, Taladur.
Dreiundzwanzigster Tag im Firunmond, 989 nach Bosparans Fall
»Sie hockt dort in ihrer Kammer«, blaffte Edelhart und wies anklagend zur Tür, die ins Treppenhaus führte. »Seit zwei Tagen!«
Daroca schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln, das Edelhart jedoch nicht mehr täuschen konnte. Er hatte hinter die schöne Fassade mit dem goldenen Haar und den blauen Augen geblickt. Diese Tochter des Hauses mochte jung und zart sein, aber sie war durchtrieben wie sieben Hexen zum Sommerwendfest.
»Sie ist unpässlich«, erklärte sie in aller Seelenruhe.
»Unpässlich? Dass ich nicht lache! Sie«, erneut schoss sein Finger anklagend in Richtung Tür, »heult sich die Augen aus wegen dieses Bo...«
Darocas Fächer schnalzte zu und peitschte im selben Augenblick auf Edelharts Finger. Der Schmerz schoss durch die Hand bis in den Arm und ließ Edelhart verstummen.
»Hat sie mich gerade geschlagen?«, fragte er empört und baute sich vor ihr auf. Was fiel diesem kleinen Luder ein?
»Das habe ich. Und wage es ja nie wieder, mich anzusprechen wie eine Fellachin. Das ›sie‹ kannst du dir für die aufheben, die unter dir stehen!«
»Was fällt dir ein, du kleines ...«
Sie huschte näher zu ihm hin und zog den Fächer hoch. Beinahe wäre er zurückgezuckt, befürchtete er doch einen Hieb auf die Stirn mit dem harten Nussholzrahmen. Aber dann zischte sie nur leise: »Willst du den ganzen Turm wissen lassen, was geschehen ist? Du hast ihr den Liebsten gestohlen, und wir wollen es Phex danken, dass sie davon bisher noch nichts weiß. Wenn sie auch nur eine Unze vom Stolz der Ernathesa in sich trägt, wirft sie sich sonst eher von der Zinne, als sich mit dir einzulassen.«
»Als hätte sie da eine Wahl«, schnaubte Edelhart, achtete aber darauf, leiser zu sprechen. Jazemina war ihm als Gattin versprochen. »Sie wird sich dem heiligen Eid und damit ihrem Gemahl fügen.«
Daroca lachte glockenhell auf, was Edelhart sofort wieder in Rage brachte. Dieses unverfrorene Balg. »Jetzt bist du schon mehrere Wochen hier, und hast doch noch keinen Funken Ahnung, wie die almadanischen Frauen sind. Glaub mir, selbst eine Domnita vom sanften Gemüt meiner Schwester kann ihrem Mann das Leben mit einem Lächeln und einem süßen Wort im richtigen Ohr zur Niederhölle machen.«
»Ein von Binsböckel schreckt nicht vor einer Herausforderung zurück.«
»Sicher«, sagte Daroca mit einem Lächeln, das Edelhart nicht zu deuten wusste, das ihm aber irgendwie despektierlich anmutete. »Aber warum willst du deinen Weg so steil gestalten, bis du davorstehst wie ein Hornvieh vorm Berg, wenn du einen Spaziergang in angenehmer Gesellschaft daraus machen könntet?«
Edelhart schnaubte erneut. »Du mit deiner blumigen Sprache. Was willst du damit sagen?«
Daroca seufzte und sprach noch leiser: »Überlass es mir. Ich werde Jazemina ein für alle Mal von ihrer Schwärmerei für diesen Amazetti heilen und dabei vorsorgen, dass sie keinen Zweifel an deiner Aufrichtigkeit hegt.«
»Und wie willst du das schaffen?«, fragte Edelhart.
»Je weniger du weißt ...« Sie deutete einen Knicks an und eilte von dannen. Edelhart sah ihr nach und bebte, so sehr verärgerte ihn die Tatenlosigkeit, zu der er wieder einmal verdammt war. Er war drauf und dran, wütend gegen die Wand zu schlagen, fürchtete aber dann doch zu sehr, sich die Finger zu verletzen.
***
Waffenkammer der Burg San Cardasso.
Dreiundzwanzigster Tag im Firunmond, 989 nach Bosparans Fall
Raulo fröstelte, als ein weiterer kalter Windstoß durch den Gang fegte, und musste gegen den Drang ankämpfen, seinen Mantel um sich zu schlagen.Haltung, ermahnte er sich und trat um die Ecke. Doloresa kniete noch immer, wie angewiesen, auf dem kalten Steinboden und schärfte mit scheinbar stoischem Gleichmut eine Degenklinge an einem flachen Schleifstein, der vor ihr lag. Der Haufen alter, stumpfer Waffen auf der einen Seite war merklich kleiner geworden und die Waffen auf der anderen Seite blitzten im flackernden Licht der Fackel, so scharf waren sie.
Das Mädchen wandte ihm den Rücken zu, und Raulo war froh, sich vor dem erneuten Anblick des Untiers in ihrem Gesicht wappnen zu können. Er hatte auf Maraskan gräuliche Schrecken gesehen, aber der Gedanke, dass ein Schmarotzer dieser Größe unter der Haut des Gesichtes lebte ...
Haltung, gab er sich noch einmal vor,du bist ein Tandori!Er räusperte sich, und Doloresa wandte sich um. Der Anblick war grausiger als erwartet. Der Schmarotzer hatte einen seiner zahlreichen Arme unter ihre Oberlippe geschoben, was ihren Mund zu einem schiefen, verschwollenen Grinsen entstellte. Auch quer über der Stirn, halb verborgen vom stumpfen, hellbraunen Haar, ruhte einer der Tentakel und ein weiterer ragte fast bis ins Auge, was Doloresa zu einem stetigen Zwinkern nötigte.Wenigstens leuchtet er nicht wieder.
»Ihr seid ja immer noch nicht fertig«, tadelte er.
»Nein, Dom Raulo, das bin ich nicht«, antwortete sie mit der trügerischen Ruhe einer im Schatten liegenden Raubkatze.
»Und warum nicht?«, Raulo baute sich nah vor ihr auf, damit sie zu ihm aufschauen musste, die Hand auf dem Degengriff.
Ihr Körper war stets gespannt und ihre Muskeln waren in den letzten Wochen der Schinderei noch gewachsen, sodass sie mit den breiten Schultern und den starken Armen mittlerweile fast an einen jungen Burschen erinnert hätte, wäre nicht ihre Büste gewesen, die sich so vorwitzig wie alles an ihr reckten. Die enge, zweckmäßige Lederkleidung der Schüler betonte all dies noch.
Doloresa streckte den Rücken durch und verzog stumm das Gesicht – das stundenlange Hocken musste ihr erhebliche Schmerzen in allen Gliedmaßen verschafft haben, aber sie murrte nicht.Und das ist ja gerade das Schlimme!, dachte Raulo.Wie soll ich sie formen, wenn sie sich so versteift? Sie zwingt mich noch dazu, sie zu brechen.
»Ihr habt mich angewiesen, die Waffen ordentlich zu schärfen, Dom. Ich hatte den Eindruck, das sei der Sinn dieser ... Aufgabe.«
Raulo entging das kurze Zögern nicht und es machte ihn wütend, bewies es doch, dass Doloresa um die Unsinnigkeit der Strafe wusste. Es lagen mehr als genug scharfe und gute Waffen in der Rüstkammer. Die meisten dieser alten Dinger würden nach dem dritten Schlag brechen. Aber sie tat ihre Arbeit, obwohl sie so offensichtlich unnütz war, ohne zu klagen.
»Wollt Ihr Euch jetzt bei Nazir entschuldigen?«, fragte Raulo und war schon drauf und dran, als Zeichen der Versöhnung in die Hocke zu gehen, aber da schnaubte sie verächtlich.
»Pah, warum sollte ich?« Das Zwinkern wurde stärker, als das Vieh in ihrem Gesicht sich zu regen begann. Raulo zwang sich, dem trotzigen Mädchen nur in die Augen zu sehen. »Wer das Maul so weit aufreißt, muss sich nicht wundern, wenn man es ihm stopft.«
Raulo konnte einen verärgerten Laut nicht unterdrücken und schüttelte den Kopf. Es verging kaum ein Tag, an dem sich Doloresa nicht mit den anderen Schülern der Fechtschule anlegte, Prügeleien waren an der Tagesordnung, und auch wenn sie in der letzten Zeit niemanden mehr ernstlich verletzt hatte, war das doch nur eine Frage der Zeit, wenn er nicht zu ihr vordrang. Sie akzeptierte jede Strafe, so erniedrigend sie auch sein mochte, mit scheinbarem Gleichmut. Aber Raulo wusste, dass es in ihr brodelte.
So oft man sie auch niederschlägt, sie steht wieder auf und schlägt zurück.Und das Bemerkenswerte an ihr war: Auf dem Fechtboden lernte sie aus ihren Fehlern – in allen anderen Bereichen verweigerte sie dies schlichtheraus.
Raulo wusste nicht, wie lange er es noch riskieren konnte, sie hier zu behalten. Er hatte geschworen, sie vor Unbill zu bewahren, aber wie sich herausstellte, war sie am schwersten vor sich selbst zu schützen.
Schritte näherten sich, Raulo blickte über die Schulter und die Galle kam ihm hoch, als er den Rotschopf um die Ecke kommen sah.Der hat mir gerade noch gefehlt! Wollen die Götter meinen Langmut heute mit jedem unangenehmen Gesell prüfen?
»Dom Raulo, auf ein Wort?«, bat Viento, der Vasall Dom Luminos. Fast erwartete Raulo, dass der selbstgefällige Kerl ihn zu sich winkte, aber er wartete nur reglos am Rand des Fackelscheins.
»Macht weiter!«, blaffte Raulo das Mädchen an. Ihr Gesicht blieb reglos, bis auf das Zucken der wulstigen Arme unter ihrer Haut. Sie starrte ihm einige Herzschläge lang in die Augen und Raulo hoffte, sie würde um eine Pause bitten, aber dann zuckte sie die Schultern und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.Störrisches Ding!
Raulo ging schnurstracks auf Viento zu, sodass dieser ihm ausweichen und folgen musste. Als er sicher war, dass Doloresa sie nicht mehr hören konnte, blieb er stehen und blickte den Mann stumm an.Höflichkeit hast du von mir nicht zu erwarten.
Viento senkte den Kopf und sagte: »Mein Herr übermittelt Euch Grüße. Er bittet Euch, bei Gelegenheit ...«
Was bedeutet: unverzüglich.
»... Eure Aufwartung zu machen, wenn es Euch behagt ...«
Will sagen: Wage es nicht, mir zu widersprechen.
»... um ihn mit einem Besuch zu erfreuen, auf dass man etwas Bewegung finde.«
Sprich: Zahir braucht eine weitere Fechtstunde.
Raulo konnte den älteren Ziehsohn des Doms gut leiden – ganz im Gegensatz zum Soberan der Xetarro selbst. Das war einmal anders gewesen. Als Salvestro, Luminos Sohn, noch gelebt hatte, waren die Tandori und die Xetarro eng verbunden gewesen, doch bei Raulo war schon lange vor dem Tod des Mundillo der Xetarro keine Liebe mehr für den Soberan zu holen gewesen. Seit jener Nacht mit Emiglia Amazetti vor sieben Jahren, als er noch jung und ungestüm gewesen war. Hätte er geahnt, welche Domna da unter der Pfauenmaske gesteckt hatte, er hätte sich niemals darauf eingelassen. Aber nun war es zu spät. Lumino hatte dafür gesorgt, dass Raulos Bruder die beiden maskierten Liebenden ›zufällig‹ überrascht und enttarnt hatte. Was für Raulo nur ein Gerücht mehr auf den Straßen gewesen wäre, hätte für die angeblich so keusche, auf die Rückkehr ihres Mannes harrende Domna den Verlust jeder Glaubwürdigkeit zur Folge gehabt, was sowohl Lumino als auch Raulos Bruder Zelonso seit diesem Tage weidlich ausnutzten. Und da der Soberan seiner Familie dieses Druckmittel weiterhin zu nutzen gedachte, musste Raulo den alten Magier bei Laune halten, damit der es nicht durch eine Offenbarung verpuffen ließ.
»Wann darf ich Euer Eintreffen für dieLeccionankündigen?«, fragte Viento und riss Raulo aus seinen Gedanken.
Raulo löste mühsam die Faust vom Degen.Dein Sohn soll seine Lektion erhalten, dachte er grimmig und warf einen Blick auf Doloresa, die noch immer unermüdlich arbeitete. Und vielleicht kann ich ja zwei Pferde an einem Zügel führen.
»Richte dem Dom aus, dass ich morgen gegen Mittag da sein werde.«
Und diesmal werde ich dir eine Überraschung bereiten,versprach er dem Alten in Gedanken.
***
Minendorf Premura.
Dreiundzwanzigster Tag im Firunmond, 989 nach Bosparans Fall
Obwohl ihn der Rauch mit seiner beißenden Note bereits auf die nahende Ankunft vorbereitet hatte, blieb Boromeo doch erschrocken stehen, als sie den Rand der tiefen Schiefergrube erreichten.
Seit Generationen wühlten sich die Ernathesa, oder besser ihre Gefangenen und anderen Arbeiter, hier in die Tiefe, um Alaun zu gewinnen. Die schwarzen, glatten Wände der Senke ragten mehrere Schritt in die Höhe, und nur an einer Stelle hatte man eine Rampe geschnitten, auf der die Wagen hinabfahren konnten.Ein perfektes Gefängnis, dachte Boromeo betrübt, da wurde er auch schon weitergezerrt.
»Los, voran, Zonzo!«, rief Dickbauch und ruckte am Seil, damit er ihm zur Rampe folgte.
Zonzo, der Tölpelhafte, so nannten sie ihn jetzt. Und wahrhaft, er hatte sich wie ein Tölpel verhalten. Er hätte Edelhart durchbohren und mit Jazemina fliehen sollen.Bald, mein Herz,versprach er seiner Geliebten und versuchte aus der Erinnerung an ihr liebliches Gesicht, ihr wunderschönes fuchsfarbenes Haar und das Strahlen ihrer Augen Kraft zu schöpfen. Jetzt konnte er die ärmlichen Hütten sehen, die sich am östlichen Ende der Senke erhoben und die wohl das Minendorf darstellten; die Hügel aus grauen, ausgelaugten Schiefersplittern, denen man das wertvolle Alaun bereits abgetrotzt hatte und die sich wie die Asche hoffnungsvoller Träume vom dunklen Untergrund abhoben; die Röstbühnen, meilerartige Gebilde aus Holz und Schiefer, in denen es bedrohlich gloste.
Das Schlimmste aber waren die schmutzigen, mageren Männer und Frauen, die hier in einem Laufrad vor sich hinstolperten, um Wasser für das Herauslöschen des Alauns heraufzubefördern, dort neue Röstbühnen aufschichteten oder Schiefer in klapprigen Wägen von der Bruchkante herbeischafften.
O Rondra hilf, dass ich diese Tortur aufrecht ertrage,fuhr es Boromeo durch den Kopf und zum ersten Mal seit Tagen wich die Wut teilweise der Sorge, er könnte hier vergehen, ohne Jazemina noch einmal gesehen zu haben.
Als er hinter Dickbauchs Pferd herlaufend das Ende der Rampe erreichte, wandte sich die Wache der Ernathesa zu ihm um und lachte gehässig. »Jetzt wollen wir dich auf Premura-Art deinen neuen Freunden vorstellen!«
Er gab seinem Pferd die Sporen und Boromeo wurde von den Füßen gerissen. Er knallte hart auf den Boden und im nächsten Moment fühlte es sich an, als hätte man ihn in einen Haufen scharfer Messer geschleudert. Der gebrochene, scharfkantige Schiefer schnitt ihm in Arme und Beine und es war eher Phexens Segen als Bedacht, dass er sein Gesicht vom Boden weghalten konnte.
»Na, na, du machst ihn ja noch kaputt!«, rief eine dröhnende Stimme da, und Dickbauch ließ das Pferd austraben. Im nächsten Augenblick wurde Boromeo am Kragen gepackt und auf die Beine gehoben. Ein feistes Gesicht mit einem lächerlich ausladenden Kaiser-Alrik-Schnurrbart, dessen Enden zu scharfen, nach oben weisenden Zacken gewichst waren, schob sich in sein Blickfeld. Das breite Grinsen war lückenhaft und der Atem des Mannes stank nach billigem Wein.
»Praios zum Gruße, meine Herren«, sagte er, und Boromeo konnte kaum glauben, dass sich dieser Mann dem Herrn der Gerechtigkeit zugehörig fühlte.
»Wen haben wir denn hier?« Die tiefe Stimme dröhnte Boromeo in den Ohren.
»Den Göttern zum Gruße, Jacopo«, antwortete Kratergesicht und stieg ab. »Zonzo ist der Name, er war so dumm, eine Kuh stehlen zu wollen.« Er zog ein Messer und schnitt Boromeo los.
»Ah, ein Viehdieb ... und wie lange beehrt uns der feine Herr mit seiner Anwesenheit?« Jacopo hob einen von Boromeos Armen an, tat die Schnitte daran dann aber mit einem Schnalzen ab. Boromeo entging die aufgerollte Peitsche in der Hand des Mannes nicht.
Dickbauch lachte: »So lange, bis ihn der Soberan begnadigt.«
»Aber halt ihn uns am Leben ... das war dem Herrn sehr wichtig!«
Jacopo legte eine Hand auf das Wappen der gekreuzten Rapiere auf grünem Grund, das die Brust seines Überwurfs schmückte und nahm den überbrachten Befehl seines Herrn mit einem Nicken zur Kenntnis.
»Dann wollen wir uns besser anfreunden, was?«, sagte Jacopo und legte Boromeo den Arm um die Schultern. »Wir sind hier streng, aber gerecht. Du wirst für dein Verbrechen schuften müssen, aber du kriegst genug zu essen und darfst im Trockenen schlafen.« Er drehte Boromeo zu sich und fragte: »Du wirst mir doch keine Scherereien machen, oder?«
Boromeo blickte dem Mann in die Augen, dachte darüber nach, ihm einen Kopfstoß zu verpassen, Dickbauch seine Klinge zu entreißen und sich mit dem Pferd aus dem Staub zu machen. In dem Moment klatschte eine Peitsche und eine helle Frauenstimme schrie auf. Vor seinem inneren Auge sah er Jazeminas zarte, helle Haut aufreißen, eine von Edelhart geschwungene Peitsche auf ihren makellosen Rücken niedergehen.
Also schüttelte er stumm den Kopf und senkte den Blick.
»Bestens! Meine Herren, ich danke für die Lieferung, ein Krug Wein wird sich finden lassen. Und du, Zonzo ... du kannst dich gleich mit unserem Tagwerk vertraut machen und unserem guten Pelayo zur Hand gehen.« Er wies auf einen ausgemergelten, alten Mann, der sich damit abmühte, einen schwer beladenen Karren zu ziehen.
Boromeo starrte ihn an. »Na, hopp!«, rief Jacopo und versetzte ihm einen Stoß. »Oder muss meine liebe Zaya dir gleich am ersten Tag zeigen, wie gut sie auf deinem Rücken tanzen kann?«
Der gewaltige Mann hob seine aufgerollte Peitsche an und lachte. Boromeo dachte an Jazemina – und fügte sich.
***
Streitturm der Xetarro, Taladur.
Vierundzwanzigster Tag im Firunmond, 989 nach Bosparans Fall
Zahir nahm einen Apfel aus der Schale auf dem langen Holztisch, verzog das Gesicht und löste ein langes schwarzes Haar von der Oberfläche der Frucht. Er warf Hesindio einen mahnenden Blick zu, aber sein Bruder bemerkte ihn nicht. Der Knabe stand noch immer neben dem Tisch und fuhr beständig mit einer weichen Rosshaarbürste über sein Haar, das ihm im Stehen bis über die Hüfte reichte. Man konnte kaum glauben, dass es in nur zehn Jahren so lang geworden war. Als Hesindio damals als Knabe von zwei Jahren zu ihnen gekommen war, war es kurz geschoren gewesen. Das runde, weiche Gesicht war ausdruckslos, und seine Augen starrten gedankenverloren in der Ferne.
Es war der gleiche Ausdruck, wie ihn ihr Vater aufwies, wenn er wieder einmal in der Tür zu den Balkonresten stand und nachsann.
Man könnte es wohl das Gesicht der Denker nennen. Zahir war sich sehr sicher, dass seine Züge einen solchen Ausdruck noch nie gezeigt hatten. Auch wenn ihn sein Vater manches Mal einen Grübler genannt hatte, ein Denker war er sicher nicht.
Zahir nahm einen der zahlreichen Pergamentbögen in die Hand, die auf dem Tisch verteilt lagen. Es waren Einladungslisten und sie lasen sich wie ein Verzeichnis der wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt. Von Zalfor, Amazetti, von Taladur ... alle wurden geladen. Sogar die Starazza, die alle Welt als die Geringste der Familien mit einem Streitturm erachtete und die Tandori.Obwohl wir sie nicht mögen, dachte Zahir und musste darüber schmunzeln, dass diese Worte selbst in seinen Gedanken mit der Stimme seines Vaters erklangen. Nur die verstoßenen Cordellesa würden sich nicht an der Festtafel finden. Nachdem Amaria die Dreistigkeit besessen hatte, das Rennen um die Stadt zu Ehren der verstorbenen Giuliana zu gewinnen, waren sie noch weiter in den Graben gerutscht. Allen war klar, dass Dom Eclamor dieses Rennen hatte gewinnen wollen, und mit dem Dom legte man sich nicht an.
Zahir biss erneut vom süßen Winterapfel ab.Aber ihr Hengst ... was für eine Pracht. Mit so einem Tier konnte sie vermutlich nicht einmal absichtlich verlieren.