DSA 144: Die Rose der Unsterblichkeit 2 - Schwarze Segel - André Wiesler - E-Book

DSA 144: Die Rose der Unsterblichkeit 2 - Schwarze Segel E-Book

André Wiesler

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Beschreibung

Nach Monaten voller Gefahren und schmerzlichen Verlusten auf See erreicht die Stolz des Raben mit ihrer bunt gemischten Mannschaft Uthuria. Doch schon bald nach der Landung an der Küste des unerforschten Landes müssen die Eroberer erkennen, dass die Eingeborenen sie nicht alle mit offenen Armen empfangen. Während die kleine neue Siedlung Porto Velvenya um ihr Überleben kämpft, entdeckt der Gladiator Alrik ein uraltes Erbe, das ihn und seine Kameraden auf eine Reise tief in den unbekannten Dschungel zieht. Der neue Kontinent wartet nicht nur mit schrecklichen Kreaturen, dämonischen Geistern, blutrünstigen Göttern und gefährlichen wilden Stämmen auf, sondern hält auch die Erkenntnis bereit, dass von vermeintlichen Freunden die größte Gefahr droht.

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Biografie

Der 1974 geborene André Wiesler lebt zusammen mit seiner Frau Janina und seinem Sohn Lorenz in Wuppertal. Schwarze Perle ist sein vierzehnter Roman, darunter Werke wie der Das Schwarze Auge-Roman König der Diebe, die Mystery-Trilogie Die Chroniken des Hagen von Stein und diverse Bücher der Shadowrun-Reihe.

Neben der Schriftstellerei arbeitet er als Übersetzer, Spieleentwickler, Redakteur und tritt als Lese-Komiker auf. Darüberhinaus organisiert er als ein Teil der Wuppertaler Wortpiraten Poetry-Slams und gibt Schreibkurse und leitet Schreibwerkstätten.

Weitere Informationen zu André Wiesler finden Sie auf seiner Internetseite:

www.andrewiesler.de

Titel

André Wiesler

Schwarze Segel

Die Rose der Unsterblichkeit II

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 11081EPUB

Titelbild: Melanie MaierKarte: Janina RobbenKarten der Umgebung: Melanie MaierLektorat: Eevie Demirtel, Werner FuchsBuchgestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-86889-212-3E-Book-ISBN 978-3-86889-857-6

Widmung

Für Björn Schmiedeberg, der mich gelehrt hat, dass ein Krieger mit dem Herzen und nicht mit den Fäusten gewinnt.

Danksagung

Mit großem Dank an Janina, die auch schon morgens um sechs Kaffee, Rat, Inspiration und viel, viel Geduld und Liebe für mich bereithält; an Eevie für das Kappen langer Leitungen und das rechte Wort zur rechten Zeit; an Alex und Marie für einen ganzen Kontinent; an Mario und Markus für großes Vertrauen; an Tobi, Julian, Dominik und Fabian für Ideen und Fleisch auf Stadtknochen; Bojana Kalanj für den feministischen Blickwinkel; Anne Wilming für einen gnadenlosen Fehlersuchblick, Johannes von Vacano für die unverminderte Gier nach Details, Jasmin Kischk für einen unverbrauchten Blick von Draußen; Judith C. Vogt für den Finger in der Wunde; Christian Vogt für Karas- und Alrik-Fanboytum.

Zusammenfassung

Die Rose der Unsterblichkeit 1: Schwarze Perle

Was bisher geschah

Anfang des Jahres 1027 bricht eine alanfanische Flotte von 11 Schiffen auf, um den sagenumwobenen Südkontinent Uthuria zu entdecken und für Al’Anfa als Kolonie in Besitz zu nehmen. Teil der Armada ist das von der Familie Kugres ausgesandte Schiff Stolz des Raben. An Bord dieses Schiffes befinden sich unter anderem:

Karas Kugres, ein Grandensohn und Lebemann

Alrik Blutsäufer, ein ehemaliger Gladiator

Efferia, eine Geweihte des Meeresgottes Efferd aus dem Mittelreich

Marfan, ein Gelehrter der Universität zu Al’Anfa

Borodine Randter, eine Priesterin des Todesgottes Boron

Treusorg Wasserträger, ein alter Diener

Wahelahe, eine mohische Sklavin

Nele, eine Grandentochter

Die Flotte versammelt sich aus Gründen der Geheimhaltung bei den Südmeerinseln. Während die Stolz des Raben auf den Rest der Flotte wartet, kommen sich Alrik und Anira, die Hauptfrau der Seesoldaten der Stolz näher. Marfan gerät bei den kannibalischen Mohas der Insel in Gefangenschaft, weil er bei einem »Forschungsausflug« ein Tabu verletzt, und muss gerettet werden.

Als die Flotte zum Aufbruch bereit ist, wird bei Feierlichkeiten zum Beginn der Expedition an Bord des Flaggschiffs Amir ­Honak ein feuerspeiendes Geschütz ausgelöst und setzt ein anderes Schiffe in Brand. Man vermutet Sabotage, kann aber keinen Schuldigen finden. Die Überlebenden des Brandes werden auf die anderen Schiffe verteilt. So finden auch die Magierin Alisande und ihre Zofe Simeria ihren Weg an Borde der Stolz. Tatsächlich handelt es sich bei Letzterer um eine horasische Spionin.

Kurz nachdem die Flotte Kurs nach Süden gesetzt hat, wird sie von Meeresungeheuern angegriffen. Es stellt sich heraus, dass die Kreaturen durch ein mit mohischen Zeichen besetztes Artefakt angelockt wurden – vermutlich stecken die Mohas von Porto Amira dahinter, die sich rächen wollten.

Auf der weiteren Fahrt nach Süden vertiefen sich die Beziehungen an Bord. Anira und Alrik kommen zusammen (sehr zur Verärgerung von Aniras früherem Gefährten, dem Seesoldaten Hegor), ebenso Simeria und Karas, und überraschenderweise findet die Magierin Alisande großen Gefallen an dem kauzigen Marfan.

Nele, die als Schiffsmädchen unter dem Schutz von Treusorg an Bord ist, verfällt langsam den Einflüsterungen einer dämonischen Stimme in ihrem Kopf.

Schließlich muss die Stolz bei einer abgelegenen Insel erneut Wasser aufnehmen. Dort möchte der Kapitän jagen gehen, wird dabei aber von einer blutrünstigen Wütechse getötet. Der Seesoldat Hegor überlebt nur knapp, ist aber für den Rest seines Lebens entstellt. Karas Kugres ernennt sich daraufhin selbst zum Kapitän, ist aber in seiner leichtfertigen und auf das eigene Wohl ausgelegten Art nur schlecht für diesen Posten geeignet. Dennoch gelingt es ihm, die durch den gewalttätigen ersten Maat Orlen hervorgerufene schlechte Stimmung mit einem Fest aufzubessern.

Kurz darauf gerät die Flotte jedoch in einen heftigen Sturm, und als sich das Unwetter legt, ist die Stolz allein auf weiter See, vom Rest der Flotte keine Spur.

Kapitel I: Die weite See

Südmeer, 8. Travia 1028 BF

Karas stützte sich mit einer Hand an der schwankenden Bordwand der Kapitänskajüte ab und blinzelte durch das Heckfenster in die warme Sonne. Das Meer, das noch vor Kurzem versucht hatte, sie in die Tiefe zu reißen, lag trügerisch ruhig da und funkelte munter, helle Blitze auf dunkelgrünem Grund. Vom Rest der Flotte noch immer keine Spur.

Er richtete sich auf, unterdrückte ein Seufzen und wandte sich um. Die Spannung im Raum war deutlich spürbar. Obwohl die Kajüte fast zu klein war, um alle Anwesenden aufzunehmen, hatten sie es geschafft, sich in kleine Grüppchen aufzuspalten. Die Krieger auf der einen Seite, der hünenhafte Alrik und die ebenso muskulöse Anira. Wie aus Stein gemeißelte Muskeln, Narben von unzähligen Kämpfen.

Auf der anderen Seite die Gottesdienerinnen, die wohlgerundete Borodine und die deutlich kleinere Efferia. Dem Gott des Todes und dem Gott des Meeres geweiht – eben jenen beiden Göttern, denen sie ihr Überleben in der letzten Nacht vermutlich verdankten. Auch wenn man es Rondra, der Göttin des Kampfes zuschrieb, wenn es stürmte und tobte.

Sein Blick zuckte kurz zu dem kleinen Efferdschrein an der Wand der Kapitänskajüte und glitt über den Bernsteindelfin darin. Ehre, wem Ehre gebührt.

In der Mitte fand er die Gelehrten, Marfan, der zu sehr in seinem eigenen Kopf lebte, um wirklich besorgt zu wirken, und die Magierin Alisande, die sich seit ihrem Sturz in der Nacht schwer auf ihren kunstvoll verzierten Stab lehnte.

Und dann ist da noch meine Gruppe, die Mannschaft, bemerkte er verwundert, als Orlen, der erste Maat, sich neben ihn stellte. Allesamt blickten sie ihn erwartungsvoll an.

»Ich habe euch zusammengebeten«, begann er mit ruhiger Stimme, »weil wir zu besprechen haben, was nun zu tun ist.«

Man warf sich verwunderte Blicke zu. Von einem Kapitän und Granden erwartete man, dass er Befehle erteilte. Aber obwohl Karas in den meisten Fällen sicher war, es besser zu wissen als alle anderen – oder zumindest in der Lage zu sein, die Dinge auf eine Weise zu erledigen, die mehr Spaß machte –, wollte er diesmal nicht einfach alleine entscheiden.

Sie waren fern der Heimat, allein und angeschlagen. Die Vorräte würden nicht ewig halten, und selbst, wenn sie die Küste Uthurias erreichen sollten, würden sie dort allein mit den Männern und Frauen an Bord kaum eine großalanfanische Kolonie gründen können.

»Efferia«, wandte er sich an die Efferdgeweihte. Die kleine Frau zuckte kaum merklich zusammen, straffte sich dann aber, wobei die Perlmuttstickereien auf ihrer Robe das goldene Licht zurückwarfen.

»Müssen wir davon ausgehen, dass der Rest der Flotte gesunken ist?«

Efferia leckte sich über die Lippen, aber ihre Stimme klang gefasst und bestimmt, als sie sagte: »Keinesfalls!«

Wie es scheint, wachsen wir beide an unseren Aufgaben. Natürlich nur geistig – du bist immer noch winzig. Karas musste sich ein Schmunzeln verkneifen.

»Der Sturm war ausgesprochen heftig, und möglicherweise konnten ihn nicht alle Schiffe auf den Wellen ausreiten, aber es werden auf keinen Fall alle gesunken sein.«

Karas nickte der jungen Frau zu. »Aber wo sind sie dann?«

Efferia wollte schon mit den Schultern zucken, nahm sich dann zusammen und sagte: »Der Sturm kann sie viele Seemeilen auseinandergetrieben haben.«

»Können wir sie denn wiederfinden?«, fragte der dürre Marfan. Er knickte dabei in der Hüfte ein, als wolle er der kleinen Geweihten entgegenkommen, und sein dünnes Haar umwehte das hagere Gesicht wie Spinnweben.

»Wir kennen in etwa unsere Position, und wir kennen den vorgesehenen Kurs. Wenn Efferd uns gnädig ist, können wir die Amir Honak einholen«, erklärte Efferia.

»Allerdings ist so ein Meer verdammt groß und selbst eine alanfanische Galeere im Vergleich verdammt klein«, gab Karas zu bedenken.

Efferia nickte widerstrebend.

»Leider beherrsche ich keinen Zauber, der in dieser Situation hilfreich wäre, aber gibt es nicht göttliche Wege, mit der Amir Honak zu sprechen?«, meldete sich Alisande zu Wort. Sie hatte ihre langen Haare zu einer bienenkorbartigen Frisur hochgesteckt, die mit der Sonne um goldgelben Glanz wetteiferte.

Auch sie war hochgewachsen und schlank, und ihre Robe schwang wellengleich um ihren Leib. Wie Karas sie da so nebeneinander sah, das starke Kriegerpaar und das dünne Denkerpaar, fiel ihm das alte Sprichwort seiner Mutter ein: Gleich und gleich gesellt sich gern. Nur dass sie es meist geringschätzig über ihn und seine Freunde geäußert hatte.

Borodine nickte nachdenklich. »So Boron uns gnädig ist, könnte es mir gelingen, seiner Gnaden Marborian einige Worte zukommen zu lassen. Wir sind durch den Raben verbunden. Vielleicht wird er sogar antworten.«

Karas nickte zufrieden. Selbst wenn sie sich zur Umkehr entschlossen, würden sie sich beim Admiral abmelden können. Vorausgesetzt, der Boronpriester lebt noch...

»Ohrlein«, wandte sich Karas an seinen ersten Maat. Der Mann mit nur einem Ohr hatte sich offenbar mit dem Spitznamen abgefunden. Schade, dann macht es gar keinen Spaß mehr, ihn aufzuziehen. »Wie steht es mit unseren Vorräten?«

Der stämmige Mann räusperte sich, warf seinen langen Zopf über die Schulter zurück und sagte: »Trinkwasser haben wir seit dem Regenguss letzte Nacht genug. Die frischen Sachen sind fast aufgebraucht oder so auf der Kippe, dass sie nur noch für die Sklaven taugen. Aber wir haben noch Dörrfleisch und Zwieback in rauen Mengen, und die Ziegen werden auch bald werfen.«

Karas verzog bei dem Gedanken an Zwieback den Mund, versuchte sich sein Grauen aber nicht zu sehr anmerken zu lassen. »Gut. Anira, wie ist die Moral der Truppe?«

Die Hauptfrau zögerte kurz, dann trat sie einen Schritt vor und sagte mit heiserer Stimme: »Wir hatten schmerzliche Verluste, aber wir sind Seesoldaten.«

Als sei damit alles gesagt, machte die große Kriegerin wieder einen Schritt zurück.

Karas wartete noch einen Augenblick, dann nickte er und wandte sich wieder an alle: »Ihr habt es gehört. Jetzt frage ich euch: Fahren wir weiter oder kehren wir um?«

Wieder wurden verwunderte Blicke getauscht. Überraschenderweise war es ausgerechnet der zauselige Marfan, der sich als Erster ein Herz fasste: »Kapitän Kugres, wenn es erlaubt ist ... wir kehren natürlich nicht um. Das ist, mit Verlaub, die dümmste Idee, seit Magister Konipher Ademus Higrofus dem Sixtemius Ignafantus eine eigene Gattung zuweisen wollte.« Marfans Wangen leuchteten rot, und blinzelnd wurde ihm bewusst, was er gerade gesagt hatte. »Mit Verlaub gesagt, Kapitän«, setzte er darum nach und heftete den Blick auf den Boden.

Karas schmunzelte und hob auffordernd die Hände. »Ist jemand anderer Meinung?«

»Meinst du in Bezug auf die Einschätzung deiner geistigen Kräfte oder die Überfahrt betreffend?«, zog ihn Borodine auf. Karas schnaubte nur, darum fuhr sie fort: »Wir haben das Schlimmste doch praktisch hinter uns. Ich sage, wir fahren weiter.«

Efferia räusperte sich. »Ich bin, nur damit kein Missverständnis entsteht, auch dafür, weiterzufahren. Aber das Schlimmste kommt wohl erst. Die Sargassosee liegt noch vor uns, und was uns dahinter erwartet ...«

Karas nickte. Dann wandte er sich wieder seinem Maat zu, der überrascht zu ihm herumfuhr, als er ihn ansprach: »Orlen, was sagst du?«

»Ich? Kapitän, ich ...« Es war offensichtlich, dass der Maat es nicht gewöhnt war, dass man ihn in versammelter Runde um seine Meinung bat, schon gar nicht in einer so wichtigen Angelegenheit. »Die Stolz ist ein gutes Schiff und die Mannschaft habe ich ...« Er blickte Karas kurz erschrocken an und fuhr eilig fort: »Haben wir jetzt auch im Griff. Also meine Meinung wäre: weiter!«

Karas wies mit offener Hand auf die beiden Krieger. Anira presste die Lippen zusammen, aber Alrik antwortete freimütig: »Man dreht nicht auf halbem Wege um, nur weil es ein paar Schwierigkeiten gibt. Das wäre Al’Anfas nicht würdig.«

Du bist gerissener, als du aussiehst, stellte Karas fest.

Alisande nickte stumm, als er sich ihr zuwandte.

»Gut, dann ist es entschieden. Wir alle sind dafür, Uthuria zu erreichen. Es liegt an uns, dass die Stolz des Raben heil ankommt. Ich erwarte von euch allen nur das Beste. Und wehe, irgendjemand kommt nachher zu mir und jammert. Dann lege ich euch vor versammelter Mannschaft und mit nacktem Arsch übers Knie.«

Efferia schnappte empört nach Luft, Alrik hob die Hand, um sein breites, metallzahniges Grinsen zu verbergen und Marfan fragte: »Verzeih, Karas, mit ist nicht ganz klar: Hast du dann den Allerwertesten nackt oder w...«

»Weggetreten«, bellte Karas.

Borodine entzündete eine letzte Kerze. Die kleine Kajüte war nicht ideal für ein Gebet an ihren Gott, aber es war das, was ihrer Heimat in den letzten Wochen am nächsten gekommen war. Hier vollzog sie Morgen- und Abendgebet, hier bat sie regelmäßig um den Segen für all jene, die dieser Reise schon zum Opfer gefallen waren. Wenn Boron ihrem Anliegen wohlgesonnen wäre, dann am ehesten hier.

»Brauchen Euer Gnaden noch etwas?«, fragte Silhenna leise. Ihre Zofe stand geduldig, mit vor dem Bauch verschränkten Händen da. Das weite, schwarze Gewand, das Borodine ihr statt der wenigen Stoffstreifen hatte anfertigen lassen, in denen sie für den verstorbenen Kapitän des Schiffes herumstolziert war, verbarg ihre schlanken Glieder. Ihre bronzefarbene Haut war makellos, aber unter einer Schicht Ruß versteckt, die sie noch immer aus Trauer trug. Borodine hatte schon lange Gespräche mit ihr geführt, aber Silhenna war nicht vom Glauben abzubringen, dass sie ein Jahr lang um den toten Kapitän trauern musste. Sie kann ihn nicht loslassen, dachte Borodine bedauernd. Auch die Kupferarmbänder, die für sie Symbol der geschenkten Freiheit und ihrer ehemaligen Sklaverei zugleich waren, legte sie niemals ab.

Borodine schüttelte den Kopf. »Danke, Silhenna, du darfst dich zur Ruhe legen.«

Sie wartete, bis die Zofe die Tür geschlossen hatte, und legte dann den Riegel vor. Erneut musterte sie die Aufstellung der Kerzen. Gut, befand sie dann. Man bat Boron, den Gott der Ewigen Stille, nicht leichtfertig darum, die eigenen Worte einem anderen Geweihten zuzutragen. Doch sie sah ein, dass es in diesem Fall notwendig war. Sie hoffte nur, dass Marborian das ähnlich sah und ihr antworten würde.

Sie schloss die Augen und sang mit voller Stimme den Choral des freudigen Vergessens und folgte mit einem Das Grab ist der Anfang aller Freuden . Dann sagte sie ernst: »Herr, erhöre meine Bitte. Marborian, auf der Amir Honak, erhöre meine Worte: Die Stolz des Raben folgt Euch, sucht Euch. Schickt Antwort und Position.«

Ihr war, als höre sie ihre eigenen Worte wieder und wieder nachhallen, erst in dem großen Mausoleum, in dem ihre Familie bestattet wurde, dann in der Höhle der Träume, die sie kurz nach ihrer Weihe aufgesucht hatte. Ihr war kalt, doch es war die erfrischende, erleichternde und lastlose Kälte des Todes, die sie umgab.

Als sich ihr Geist wieder klärte, saß sie noch immer auf dem Boden ihrer Kammer. Die Kerzen waren deutlich heruntergebrannt und sie wusste: Wenn Marborian am Leben war, dann hatte er ihre Nachricht erhalten. Doch ob er noch lebte, diese Frage wollte ihr der Gott des Todes nicht so einfach beantworten.

Südmeer, 8. Boron 1028 BF

Borodine tunkte den Zwieback in die Fischbrühe und biss ab. Das Knirschen und Knuspern mischte sich in das mausartige Knabbern der anderen am Tisch. Man sah Karas an, dass er über die kulinarische Entwicklung der Reise alles andere als glücklich war. Missmutig kaute er und spülte den würzigen Brei mit reichlich Wein hinunter. Etwas Trost schien er aus der Tatsache zu ziehen, dass Simeria, die Zofe der Magierin, neben ihm saß und gelegentlich seine Hand berührte. Auf der einen Seite schien die junge Frau Karas ein wenig an die Zügel genommen zu haben, was für die Moral auf dem Schiff sicher gut war, auf der anderen Seite gewann sie dadurch neben diversen anderen Körperteilen auch sein Ohr für sich. Und das konnte gefährlich werden. Borodine vermochte die junge Frau nicht so recht einzuschätzen, aber irgendetwas an ihr stimmte nicht.

Alisande hingegen, ihre Herrin, schien sich keine Gedanken um diese Affäre zu machen. Sie war zu sehr damit beschäftigt, den kauzigen Marfan anzuhimmeln. Jede wache Stunde hockten die beiden zusammen und brachten sich Dinge bei. Sie vermittelte ihm magietheoretische Grundlagen, er ihr Sachen über Viehzeug. Wenn Borodine den beiden zuhörte, kam sie sich wieder vor wie am ersten Tag ihres Noviziats. Sie verstand kein Wort, dabei war sie nun wirklich nicht dumm.

Aber wenn es die Magierin davon abhielt, sich bewusst zu machen, wie viel Einfluss sie auf dem Schiff gewinnen könnte, wenn sie ihre Karten richtig ausspielte, war es Borodine nur recht.

Die Tür flog auf, und der Koch der Stolz des Raben kam herein. Shabir Soundso war sein Name, und Borodine ließ angewidert den Löffel fallen, als ihr sein Auftritt wieder bewusst machte, durch wessen Hände jeder ihrer Bissen ging.

Seine lächerlichen roten Pluderhosen, seine dunkelbraune Haut und seine braunen Augen zeigten ebenso wie seine scharfen Gesichtszüge, dass er aus der Wüste kam. Und seinen verfluchten Götzen, diesen Rastullah, hatte er mitgebracht und rieb ihnen seinen widerlichen Ketzerglauben täglich unter die Nase, war sogar noch stolz darauf!

»O ihr hohen Herren, bitte verzeiht mir Sohn der Unhöflichkeit, dass ich euer Mahl störe, aber ich habe hier noch einen zweiten Gang, der eure erlesenen Gaumen möglicherweise etwas wohliger umschmeicheln wird, als es die einfache Suppe vermag.« Er stellte mit großer Geste einen breitmäuligen Fisch auf einem Bett aus essbaren Algen ab.

»Schon wieder Fisch?«, fragte Karas verärgert.

»Nun, oh Sohn des Schwelgens und Bruder der Gaumenfreude, wenn uns nicht überraschend ein Vogel aufs Deck plumpst oder du in deiner Weisheit die Gnade hast, eine der Ziegen schlachten zu lassen, wird es auf absehbare Zeit nur Fisch geben. Selbst ein Meister wie ich kann aus Meeresgetier keinen Rinderbraten zaubern.«

Borodine wusste nicht, worüber sie sich bei ihm am meisten ärgerte. Die plumpe Vertraulichkeit, die gestelzte Rede oder die unsägliche Überheblichkeit.

Während Karas noch schmollte, legte der Rest den Zwieback weg, schob die Suppe beiseite und bediente sich am festen, zarten Fleisch des Fischs. Oh, warum kann dieser verfluchte Hund nur so gut kochen?, fragte sich Borodine erzürnt, während sie einige Gräten aus dem köstlichen Fisch zog.

»Isst du das noch?«, fragte Efferia sie, und wies auf den Zwieback. Borodine reichte ihr das trockene Stück, und Efferia biss mit großem Appetit hinein.

»Nicht zuviel«, mahnte Borodine die Geweihte, die heute zum ersten Mal wieder etwas anderes zu sich nahm als Brühe und Wasser. Einen Monat des Fastens hatte sie ihrem Gott versprochen, wenn er das Schiff sicher durch den Sturm führen würde, und ein solches Versprechen war heilig.

Aber Borodine wusste aus eigener Erfahrung, dass man sich trotz des Hungers und der Freude, endlich wieder essen zu dürfen, in den ersten Tagen zurücknehmen musste. Der Körper war selten so stark wie der Geist und rächte sich sonst bitterlich.

Efferia nickte, präsentierte ein dankbares Lächeln, bei dem ihre Zahnlücke aufblitzte, knabberte aber trotzdem weiter an dem Zwieback.

»Bring mir noch einen Wein«, rief Karas dem Koch hinterher, der sich unter unzähligen Verneigungen zur Tür zurückzog. Jetzt erstarrte er, richtete sich auf und war bleich geworden.

»O lieblicher Strahl der morgendlichen Sonne, allweiser und gerechter Kapitän, geliebtes Kind von Schönheit und Gnade; o bezaubernder Vater der Güte und ...«

Karas erhob sich mit erschrockener Miene. »Du willst mir doch jetzt hoffentlich nicht sagen ...«

»Doch, o gutmütiger Bruder der Vergebung: Es gibt keinen Wein mehr.«

Karas sank auf seinen Stuhl, und sein linkes Augenlid zuckte einige Male. Dann sagte er mit grabessschwerer Stimme: »Nun gut, dann heben wir ein letztes Mal die Kelche: Auf die Stolz!«

»Auf die Stolz!«, klang es zurück, nur Marfan sagte: »Hoppla«, denn ihm entglitt sein Kelch, der kostbare Inhalt ergoss sich über den Fisch, und das goldene Gefäß landete wie eine Krone auf dem Kopf des Tiers.

»Ach Marfan«, lachte Karas.

Alrik schlürfte die letzten Reste der dünnen Fischsuppe aus seiner Holzschüssel. Er war so gerade eben satt, aber gegen eine Schüssel mehr hätte er nichts einzuwenden gehabt. Wenn sie tatsächlich demnächst eine kleine Haijagd einschieben würden, gäbe es auch wieder mehr, hoffte er. Hunger war ihm ein ebenso alter Freund wie der Schmerz, aber eigentlich hatte er gehofft, zumindest Ersteren hinter sich gelassen zu haben.

Neben ihm knirschte und schmatze es lautstark. Verwundert wandte er Anira den Blick zu. Ihre Wangenmuskeln zeichneten sich ab, während sie den Fischkopf bearbeitete, den sie in ihrer Schüssel gefunden hatte. Sie knackte die Knochen und saugte Augen und Hirn aus.

»Was?«, fragte sie, als sie seinen Blick bemerkte.

»Ich bin nur immer wieder beeindruckt davon, wie begeistert du saugst.« Alrik grinste und ließ seine Augenbrauen tanzen. Die umsitzenden Seesoldaten lachten, und er bezahlte den Spruch mit einem wuchtigen Schlag auf den Oberarm.

»Das hätte Geruda nicht besser sagen können«, mischte sich Treusorg ein, der wie immer unvermittelt auftauchte. Alrik vermochte nicht zu sagen, wie lange der kleine alte Mann schon in ihrer Runde stand. Er stützte eine Hand in die hagere Hüfte, um den großen Eimer besser halten zu können, aus dem dampfende Schwaden aufstiegen. Wortlos füllte der Alte die hingehaltenen Schüsseln noch einmal mit Suppe. Dann nickte er Alrik zu, der sagte: »Auf die Gefallenen!«

Vielstimmig antwortete es ihm, und sogar einige der Matrosen, die in der Nähe standen, stimmten mit ein.

Alrik warf Anira einen langen Blick zu, und als er die Trauer einen Augenblick in ihren Augen aufblitzen sah, dachte er: Ja, ich vermisse sie auch!

Wahelahe hob ihre halbleere Schale mit den Seesoldaten in die Luft. Sie wollte sich nicht zu ihnen setzen, denn ihr war nicht nach harten Worten, um die eigene Trauer und Angst zu überspielen. Aber sie wollte die ehren, die im Kampf für dieses Schiff und seine Besatzung gestorben waren.

Sie hatte sich in der Takelage einen bequemen Platz gesucht, von dem aus sie Hegor im Blick halten konnte. Wenn sie den Seesoldaten mit dem zerstörten Gesicht so dasitzen sah, hasserfüllt auf Alrik starrend und seine Suppe mühsam im verzogenen Mund haltend, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Bei dem Angriff der giftigen Riesenechse, im Sturm ... der Mann war eigentlich schon mehrmals gestorben, aber wieder und wieder rissen sie ihn zurück ins Reich der Lebenden. Wahelahe spürte deutlich, dass er eher dem Geisterreich als der lebenden Welt angehörte, und darum ließ sie ihn nicht in ihren Rücken. Und auch die anderen schienen es zu spüren. Nie setzte sich jemand zu ihm, nie lud ihn jemand mehr zum Würfelspiel ein und nie war jemand freiwillig mit ihm auf Wache.

Du riechst nach Tod, Krieger!, dachte sie, als er einen Batzen in der Suppe gelandete Fischinnereien erst nachdenklich betrachtete und sich dann in den Mund stopfte.

Nele verzog das Gesicht, als Treusorg gutgelaunt forderte: »Ein Lied!«

Eine der Matrosinnen stimmte »Hart am Wind, mit Mut im Herzen« an, und fast das ganze Schiff stimmte ein. Nele kannte den Text mittlerweile auch, aber sie weigerte sich mitzusingen. Wo man singt, da lass dich ruhig nieder ..., kam ihr der alte Sinnspruch ihrer Mutter in den Kopf. Sie hatte gerne gesungen und sehr, sehr schön.

Ein Lied hat noch niemanden zum Herrscher gemacht, widersprach sie sich sogleich und schrubbte das Deck weiter. Dabei stellte sie sich vor, wie sie statt Salzwasser das Blut ihrer Feinde auf dem Deck verteilte.

Ihr Kopf ruckte hoch. Etwas im Wind hatte sich verändert. Es lag eine feine, bittere Note darin. Faulig, aber nicht verwesend. Eher wie Kohl, der zu lange eingelegt war. Übelkeit erregend, aber gleichzeitig so vertraut, dass man die Nase nicht aus dem Wind nehmen wollte.

Sie ließ den Schrubber fallen und eilte zur Reling. Da, in der Strömung, weit vor ihnen, trieb etwas. Der Ausguck hatte es noch nicht bemerkt. Er hat eben nicht so gute Augen wie wir.

Nele wandte sich um und wollte ihren Fund ausrufen, aber dann zögerte sie. Nein, das sollte ihnen eine Lehre sein, sie von ihrem Posten im Krähennest abzurufen und hier niedere Arbeiten verrichten zu lassen. Genau, denn wir sind zu Höherem geboren. Außerdem ist das, was da naht, ein Geschenk unserer neuen Mutter.

Nele nahm den Schrubber wieder auf, begann erneut zu arbeiten und runzelte die Stirn. Welche neue Mutter?

Aber es fiel ihr nicht ein, was sie damit meinen könnte. Allerdings erinnerte sie sich auch schon lange nicht mehr an das Gesicht ihrer Mutter. Und an das ihres Vaters nur, wenn sie ihn in ihren Träumen tötete.

Marfan blickte verwundert vom Tractatus utilitas Invisibilitatis et Deceptio auf, den Alisande ihm zur Lektüre überlassen hatte. Um seine Augen zu schonen, hatte er sich mit dem kleinen Büchlein an Deck begeben. Jetzt gab es Aufruhr am Bug, und er beschloss, sich die Füße ein wenig zu vertreten und nachzusehen, was die Seeleute so in Aufregung versetzte.

Als er den Pulk erreichte, hatte man eben die Schifferhaken herbeigeholt und löste ein rötlich-braunes Geflecht vom Schiff. Die feuchte Masse wies teils breite, großflächige Blätter auf, die an großblättrigen Seetang erinnerten, teils dünne Ranken, die besser einer Schlingpflanze oder einem Baumparasiten angestanden hätten.

»Sargasso«, hörte er einen der Matrosen fluchen, während man mit einer Harpune einen Strang der sicherlich zehn Schritt durchmessenden, dahintreibenden Masse abschnitt und an Bord holte. Der faulig-süße Geruch, der bisher von der Brise weitgehend ferngehalten worden war, folgte dem faustgroßen Stück glitschigen Tangs.

Die Matrosin, auf deren Schifferhaken es steckte, trug es angewidert und weit von sich gestreckt zum ersten Maat hinüber.

Sehr interessant, dachte Marfan. Man sollte meinen, dass ein wenig Tang die Seefahrer nicht so aufwühlen würde. Da steckt also vermutlich mehr dahinter.

Karas stocherte angewidert in der stinkenden Algenmasse herum.

»Sargasso«, sagte Efferia und legte die Hand aufs Herz, um dort eine Welle nachzuahmen. Orlen wiederholte die Segensbitte an Efferd augenblicklich. Beide nickten sich düster zu.

Karas seufzte: »Bitte, nähret doch meinen ungeschulten Geist.«

Efferia blickte ihn fragend an.

»Wer oder was«, fragte Karas mühsam beherrscht und betonte jedes Wort, »ist Sargasso?«

»Das da«, sagte Orlen und wies anklagend auf den Batzen auf dem Öltuch.

Efferia sprang dem Maat bei und bewahrte ihn vor einem Monat Rumentzug: »Sargasso nennt man solche Algenfelder.«

»Und warum sind wir alle wegen ein paar Wasserpflanzen so besorgt?« Karas öffnete das Fenster, um den widerlichen Gestank zu vertreiben.

»Weil diese Wasserpflanzen sich zu gewaltigen Teppichen zusammenfinden, die ein Schiff packen und in ihr Inneres ziehen können. Weil in ihnen gewaltige Seeschlangen nisten, unheilige Untote und dämonisches Gezücht. Und weil dieses Stück ein Ausläufer eines solchen Teppichs sein kann und das bedeutet, dass wir möglicherweise genau darauf zuhalten. Die Sargassosee gibt ein Schiff nie mehr her.«

Karas schluckte schwer und betrachtete den Algenklumpen mit neuen Augen. »Aber ... aber das ist doch sicher nur Seemannsgarn.«

Maat und Geweihte schüttelten ernst den Kopf.

»Gut«, sagte Karas und ließ sich auf den Kapitänsstuhl sinken, stützte beide Arme auf dem Tisch ab, legte das Kinn auf die gefalteten Hände und starrte die Algen finster an. »Wie entgehen wir diesem ... Zeug?«

Efferia seufzte und trat an die Karte. »Da sich die Algenfelder übers Meer bewegen, kann man nie sicher sein, wo sie sich befinden. Auch unsere Karten und unser Kurs geben darüber keine Auskunft.«

»Da steht nichts dazu? Was ist das denn für eine schlechte Vorbereitung?«, fluchte Karas.

»Doch, da steht etwas«, räumte Efferia ein.

»Na bitte«, triumphierte Karas und sprang auf, um ihr über die Schulter zu sehen. In zackigen Lettern stand unweit der Stelle, an der Efferia ihre Position vermerkt hatte: »Hütet euch vor der Sargassosee!«

»Na großartig«, seufzte er. »Also, wie entgehen wir der Gefahr?«

Efferia runzelte nachdenklich die Stirn und sah dabei ganz bezaubernd aus. »Normalerweise setzt man Kurs nach Norden, wenn man Sargasso in der Nähe vermutet.«

»Fällt weg«, beschied Karas. Sie würden jetzt sicher nicht umdrehen. Nicht wegen ein paar Algen, nicht wegen Seeschlangen, ja, nicht einmal wegen Dämonen. Er fröstelte, stand auf und schloss das Fenster wieder.

Währenddessen fuhr Efferia mit nachdenklichem Blick auf die Karte fort: »Wir könnten versuchen, nach Osten oder Westen auszuweichen. Aber wohin?«

Karas trat an den Tisch, nahm die Gabel, mit der er in den Algen herumgestochert hatte und versetzte sie in Drehung.

»Wir können versuchen, die Strömungen zu erahnen und zu meiden, aber das ist schwierig.« Efferia fuhr mit dem Finger Linien auf dem Pergament nach. Das Besteck wurde langsamer.

»Außerdem heißt es, die unheiligen Mächte der Sargassosee könnten die Strömungen ändern.«

Die Gabel blieb liegen, ihre Forken wiesen nach rechts.

»Wir umfahren das Ding im Osten«, verkündete Karas.

Orlen und Efferia blickten ihn verwundert an. »Ihr wollt das Schicksal des Schiffes von einer Gabel abhängig machen?«, fragte die Geweihte entsetzt.

»Willst du etwa sagen, Phex sei ein schlechter Ratgeber? Es sei unbotmäßig, den Gott des Glücks durch ein Orakel zu befragen?« Karas grinste sie breit an. Wie so oft, wenn eine schwere Entscheidung getroffen war, schienen alle Sorgen von ihm abzufallen.

»Ich ... aber ...«, stammelte Efferia.

»Oder hast du eine bessere Idee?«, fragte Karas und wandte Orlen den Blick zu. »Oder du?«

Der Maat schüttelte trotzig den Kopf und fragte: »Also Kurs Ost-Süd-Ost?«

»Aye!«, rief Karas, sah dann aber sicherheitshalber doch noch mal zu Efferia, die zögerlich nickte. »Ost-Süd-Ost!«

Sargassosee, 12. Boron 1028 BF

»O Herr Boron, sei uns gnädig!«, murmelte Borodine. Der diesige Nebel vor dem Schiff schien ihre Worte schlucken zu wollen. Ihr Herzschlag hatte sich dem schnellen Takt der Trommeln angepasst, in dem die Sklaven die Stolz in Bewegung hielten. Immer wieder platschten die Ruder ins Wasser, doch genauso oft trafen sie mittlerweile dumpf auf Teile des Algenteppichs, der sich immer weiter um sie zusammenzuziehen schien. Der schwüle Nebel stieg von den braunen und schimmelgrauen Pflanzen auf. Sie konnte keine hundert Schritt vorausschauen, nicht ergründen, ob sie der neue Kurs aus den Ausläufern der Sargassosee heraus oder nur tiefer in die Gefahr brachte.

Sie wandte sich um, ließ den Blick über das gespenstisch stille Schiff wandern, auf dem nur die Trommeln unter Deck zu hören waren. Dann fand ihr Blick Karas. Der Kapitän stand aufrecht am Geländer des Heckaufbaus und versuchte Selbstsicherheit und Ruhe auszustrahlen. Mittlerweile spielte er seine Rolle recht passabel. Trotzdem wünschte sich Borodine Kapitän Beratas zurück. Der alte Seebär hätte sicher eine bessere Lösung parat gehabt, als wahllos nach einer Passage zu suchen.

»Wir empfehlen uns deiner Gnade, Herr! Wenn es dir gefällt, so leite uns durch diese unheilige Nacht.«

»So sei es!«, murmelte eine Stimme hinter ihr. Borodine wirbelte herum und sah den alten Treusorg dort stehen. Seine faltige Stirn war noch stärker gefurcht, und sein sonst so unzähmbarer Haarkranz lag feucht und matt auf seinem Schädel.

»Treusorg«, schalt ihn die Geweihte. »Du hast mich erschreckt.«

»War nicht meine Absicht, Euer Gnaden. Wollte nur Bescheid geben, dass es Abendessen gibt. Falls Ihr bei dem Gestank etwas hinunterbekommt.« Er zog die Nase kraus.

Erst jetzt fiel Borodine der faulige Geruch wieder auf, der seit Tagen in wechselnder Stärke in der Luft lag. In ihrer Zeit als Wundheilerin und Krankensorgerin hatte sie gelernt, unangenehme Gerüche einfach nicht wahrzunehmen, eine Fähigkeit, die ihr nach Wochen auf einem Schiff auch in Bezug auf die übrigen Passagiere und vor allem die Matrosen gute Dienste leistete.

»Der Körper will erhalten werden«, gab sie zurück. »Ich ...«

Borodine verstummte und wandte sich langsam um. In ihrem Bauch kribbelte es unangenehm, und ein Schauer lief ihr über den schweißnassen Nacken. Etwas naht, dachte sie erschrocken.

Im selben Moment schob sich ein dunkler Schemen aus dem Nebel. Da lag ein Schiff vor ihnen!

Karas sah es im selben Moment wie der Ausguck: »Schiff voraus!«

»Hart ... nach rechts!«, rief Karas zugleich.

Die Frau am Steuer blickte ihn kurz verwirrt an, wiederholte dann aber: »Hart Steuerbord, aye!« und riss das Steuer herum. Der Ruf wurde nach unten weitergegeben, und sofort wurden die Riemen auf der rechten Seite ins Wasser gepresst. Knallend barsten einige der Ruder unter dem plötzlichen Druck, und Schmerzensschreie verkündeten, welche Sklaven nicht stark genug gewesen waren, den Riemen zu halten. Fast auf der Stelle drehte die Stolz des Raben bei und glitt aus.

Rund vierzig Schritt trennten die Galeere noch von dem deutlich schlankeren Schiff. Und ein dicker Algenteppich, bemerkte Karas erschrocken. Keine fünf Schritt vor der Stolz ging das trübe Wasser in ein dichtes Geflecht aus rotbraunen Algen über.

»Schiff ahoi!«, riefen die Matrosen an Deck und winkten. Immer wieder zogen Nebelschwaden zwischen den Schiffen hindurch. Hatte da drüben auch jemand gewunken? Aber warum antworteten sie nicht?

Karas sprang die Stufen vom Aufbau hinab und eilte an die Reling. Dankbar nahm er von Orlen das Fernglas entgegen und richtete es auf das andere Schiff.

»Es ist die Blutwasser!«, verkündete er, als er sich sicher war. Er konnte nicht sagen, wie der schlanke Schiffstyp mit den zwei Masten genannt wurde, aber er erinnerte sich noch gut daran, wie die Blutwasser ihnen beim Bojenrennen eine der wertvollen Bojen weggeschnappt hatte.

Doch jetzt wirkte das Schiff gar nicht mehr schnittig. Mit leichter Schlagseite steckte es in dicken Algensträngen fest. Die Pflanzen hatten sogar schon angefangen, am Holz des Schiffes hochzuwachsen. Karas ließ den runden Ausschnitt des Fernglases über Deck wandern. Da waren die Matrosen! Er wollte eben erleichtert auflachen, da bemerkte er, dass sich die Männer nicht bewegten. Es waren nur die flüchtigen Nebelfäden gewesen, die den Eindruck erweckt hatten.

Sie wirkten wie mitten in der Bewegung erstarrt. Einige hatten die Hände noch um Seile gelegt, andere waren wie im Lauf eingefroren. Ihre Haut spannte sich wie bei Moorleichen über den Knochen und war fahlgrau. Mit totem Grinsen und ausgedörrten Augen starrten einige ihn direkt an. Mit zitternden Händen ließ Karas das Fernglas sinken.

»Kapitän?«, fragte Orlen besorgt und nahm das Sichtgerät entgegen, spähte selbst hindurch.

»Mögen die Götter ihren Seelen gnädig sein«, wisperte Karas tonlos, denn das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu.

»Möchte jemand mir erklären, warum wir nicht schon längst so schnell es irgendwie geht in die andere Richtung rudern?«, fragte Alisande in einer Stimmlage, die deutlich höher klang als sonst. Die Magierin stütze sich auf dem Tisch in der Kapitänskajüte ab.

Das war eine Frage, die sich auch Simeria bereits gestellt hatte. Aber statt sich einzumischen, goss sie ihrem Karas lieber noch einmal vom billigen Mannschaftsrum nach. Auch diesen Schluck kippte er sofort runter und wies dann matt auf Efferia.

Die kleine Geweihte schob das Kinn vor, was bei ihr gleichsam putzig wirkte. Na, du wirst doch nicht eifersüchtig werden?, mahnte sich Simeria im Stillen. Hat dir der Grande so den Kopf verdreht? Sie musterte Karas, dessen Züge vom Leben an Bord etwas kantiger geworden waren, und jetzt, mit düsterem Blick, wirkte er tiefgründig und unendlich männlich. O ja, dich hat es ganz schön erwischt.

»Ich habe vorgeschlagen überzusetzen, die nautischen Geräte zu bergen, vielleicht Vorräte zu sichern. Wir haben noch einen weiten Weg ...«

»Du willst auf ein verfluchtes Schiff übersetzen?«, rief Alisande entgeistert. »Weißt du nicht, dass solche Flüche objektgebunden sein können? Vielleicht saugt dir dieser böse Zauber das Leben aus dem Leib, kaum dass du Fuß auf die Planken setzt.«

»Wenn wir herausfinden, was dort drüben geschehen ist ...«

»Ha!«, unterbrach die Magierin die Geweihte und wies anklagend auf die Wand der Kajüte, in Richtung der Blutwasser. »Ich sage dir, was geschehen ist. Sie sind gestorben, das ist geschehen! Und wir werden auch alle sterben, wenn du deine irrsinnige ...«

»Ruhe!«, forderte Karas streng und knallte dabei den Kelch auf den Tisch. Dann erhob er sich, machte eine entschuldigende Geste in Richtung der Magierin und wandte sich an Efferia: »Gibt es an Bord der Blutwasser etwas, das wir auf jeden Fall brauchen?«

Efferia wiegte den Kopf. »Die Blutwasser hat einen der beiden Richtungsweiser an Bord, die stets auf die Amir Honak zeigen.«

Simeria blickte die Geweihte nachdenklich an. Wenn sie so einen in die Finger bekäme und an ihre Herren im Horasreich schickte ... Man könnte entweder den Kurs direkt nach Uthuria finden oder die Amir Honak auf ihrem Rückweg abfangen und aufbringen. Wenn das Flaggschiff nach Aventurien zurückkehrte, wäre es gewiss bis zum Rand mit uthurischen Reichtümern gefüllt ...

Borodine presste die Hände flach auf ihre Oberschenkel und musste sich zusammennehmen, um nicht laut vor sich hinzubeten. Der Anblick dieser verdorrten Männer und Frauen hatte sie bis ins Mark getroffen. Einen solchen Tod hatte kein aufrechter Mensch verdient, und ganz sicher waren ihre Seelen nicht vom gnädigen Raben abgeholt, sondern von irgendwelchen dämonischen Schatten in die Niederhöllen gerissen worden.

Konzentriere dich, ermahnte sie sich.

»Es gibt einen Richtungsweiser?«, fragte der Kugres verwundert. »Warum hast du das nicht schon früher erwähnt? Damit könnten wir ganz einfach wieder zur Flotte finden.«

Die Geweihte verschränkte die Arme vor der Brust und gab schnippisch zurück: »Weil wir keinen haben. Und weil Avrian mir dies im Vertrauen verriet.«

»Wer war noch gleich Avrian?«, fragte Karas.

»Der Avesgeweihte auf der Amir Honak«, erläuterte Simeria gedankenverloren. Borodine warf ihr einen prüfenden Blick zu. Warum wirkte diese Frau mit einem Mal so freudig?

»Tut nichts! Der Nutzen wiegt die Gefahr nicht auf, und wenn es an Bord der Blutwasser einen Teleportzauber gäbe, der die Stolz am Stück nach Uthuria versetzte.« Alisande pochte mit ihrem Zauberstab auf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

»Borodine«, wandte sich der Kapitän an sie. Sie blickte ihm abwartend entgegen, dankbar für die Vorwarnung.

»Wie schätzt du die Gefahr ein?«

Borodine wägte ihre Worte ab. Wie so oft in ihrem Leben galt es, Einsatz und Gewinn genau gegeneinander abzuwägen. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, welches unheilige Wirken der Blutwasser die Verdammnis brachte, aber ich glaube nicht, dass uns dasselbe Schicksal droht.«

Alisande fauchte auf. »Ihr seid allesamt Narren, und euer Leichtsinn wird der Tod vieler guter Menschen sein, merkt euch meine Worte!«

Damit wirbelte die Magierin herum und verließ die Kabine. Mit einem entschuldigenden Lächeln in die Runde eilte ihr Simeria hinterher.

Borodine hoffte inständig, dass sie Unrecht behalten würde.

»Gut, also ist es entschieden«, sagte Karas, klang aber gar nicht glücklich . »Borodine, würdest du bitte Orlen mitteilen, dass er einen Trupp zusammenstellen soll, der zur Blutwasser übersetzt? Da wir es mit einem unnatürlichen Tod zu tun haben, schöpfen die Männer und Frauen hoffentlich Mut daraus, wenn die Priesterin des Totengottes sie ausschickt. Und Efferia, du solltest das Boot und die Männer vorher segnen.«

Borodine erwog kurz, ob der Kugres sie vorschickte, damit er die Verantwortung auf sie abwälzen konnte, wenn etwas schiefging. Aber ein Blick in seine leidgeplagten Augen überzeugte sie, dass Karas nur das Beste für die Mannschaft wollte. Sieh an, da steckt doch noch ein Anführer in diesem jämmerlichen Tunichtgut.

Also nickt sie und erhob sich. Sie hatte die Tür erreicht, da sprach Karas sie noch einmal an. Seine Stimme klang schwer und matt: »Borodine?«

Sie wandte sich zu ihm um.

»Sag Orlen, er soll Leute aussuchen, auf die wir zur Not ... auf die wir verzichten können.«

Damit senkte er den Blick.

Borodine nickte grimmig. Du lernst schneller, als es für deinen Seelenfrieden gut sein kann, Karas Kugres.

Efferia musterte die ernsten Gesichter der beiden Matrosen und der Seesoldatin. Es entging ihr nicht, dass Orlen einen aus jeder der drei früheren Teilmannschaften ausgesucht hatte, aus denen sich die Besatzung der Stolz heute zusammensetze. Damit nachher keine der Gruppen den Ruhm für sich allein beanspruchen kann ... oder ihm Vorwürfe macht.

Die vier standen vor dem Beiboot, das bereits in den Seilen über der Reling hing, um abgefiert zu werden.

»Herr des Wassers, groß und klein, See, Fluss und Meer, erhöre unsere Bitte!«, begann sie mit dem Gebet und leitete dann in den Widergesang, den jeder Seemann kannte: »O Efferd, strenger Vater, Herr der Wellen ...«

»Bleibe uns gewogen!«, stimmte die gesamte Mannschaft ein, und Efferia kam es so vor, als schrecke der Nebel vor den heiligen Worten zurück.

»O Efferd, gnädiger Vater, vergib uns unser Fehl ...«

»Bleibe uns gewogen!“

Einige Male noch ging der Widergesang hin und her, und mit jeder Zeile schien der Nebel weniger bedrohlich, die Algen weniger widerwärtig und das Schiff voller Toter weniger schrecklich.

Sie trug das Gleichnis vom zaudernden Fischer vor, der jeden Fisch verschmähte, weil er zu faul war, für so mickrigen Fang sein Netz auszuwerfen, und schließlich von einem riesigen Hai selbst gefressen wurde.

Dann beteten sie erneut, ein jeder benetzte seine Lippen mit gesegnetem Salzwasser und gab eine Spende an den heiligen Herrn in Form einer Münze oder eines Schmuckstücks. Efferia sammelte die Opfer in ihrer Schale aus Treibholz.

Sie sangen die Hymne Blick stolz auf uns, gestrenger Herr und dann wandte sie sich dem Beiboot zu, um mit der Segnung zu beginnen: »O Gebieter der See, strenger Wächter der Tiefe, wir bitten dich um deinen Segen für dieses Boot. Trage es auf deinen Wogen, schenke ihm Wendigkeit und Schnelligkeit.«

Efferia ließ sich von Treusorg Hammer und Nägel reichen und schlug die Opfergaben der Mannschaft auf dem Kiel des Bootes fest. Nach jeder Münze und jedem Ohrring rief sie: »Siehe, Vater der See!«

Und die Mannschaft antwortete: »Wir opfern dir demütig!«

Schließlich schöpfte Efferia mit der Schale weiteres Salzwasser und segnete damit Bug, Heck und Riemen des Bootes. Einen letzten Rest Meerwasser beließ sie in der Schale und trank ihn aus. »Ich empfehle mich deiner Gnade!«

Das kühle Nass biss in die kleinen Wunden an ihren rauen Lippen, doch es schmeckte köstlich, und auf dem Weg ihre Kehle hinab war ihr, als nähme sie all die Kraft und die Bewegung der Wogen in sich auf.

Schließlich stellte sie die Schale ab und hob die Hände zum Segen über die Mannschaft, die gehorsam auf die Knie ging. Sogar der Koch schien sich nicht zu fein, einen zusätzlichen Segen mitzunehmen, erkannte Efferia verärgert, und sie erwog kurz, ihn von der Zeremonie auszuschließen, aber vielleicht erkannte er ja Efferds Segen und schwor seinem Irrglauben ab.

»Der Herr Efferd segne euch und behüte euch. Er regne auf euch alle Tage und schenke euch guten Wind und tiefe See. Er fülle eure Netze und behüte die Seelen derer, die auf See bleiben. Er sei euch gnädig und milde und vergebe euch eure Schuld. Ihr seid gesegnet im Zeichen des Regens, des Wassers und des Meeres. Erhebt euch!«

Nach und nach erhoben sich die Matrosen, und die drei Auserwählten wirkten nun eher entschlossen als ängstlich. Efferia spürte Stolz auf ihren Gott, fühlte sich wie in warme Wogen gehüllt und glaubte trotz der fast still daliegenden See, das Rauschen gigantischer Wellen zu vernehmen. Efferd hatte sie erhört, er hatte sie erneut berührt. Und da war Efferia klar, dass sie mit übersetzen musste.

Was für ein Beispiel gäbe sie, wenn sie dem Segen ihres eigenen Gottes nicht traute?

Sie reichte einem verwunderten Matrosen die Hand und ließ sich von ihm als Erste in das Boot helfen. Die anderen drei folgten ihr eilends, erleichtert, Efferds Schutz nun sogar in Gestalt seiner Geweihten auf ihrer Seite zu haben.

Efferia machte den Fehler, zu Karas aufzublicken, der sie entgeistert anstarrte und verhalten mit dem Kopf schüttelte. Auch Borodine, die jetzt einen Schritt aus der Menge auf sie zu machte, schien alles andere als erfreut über ihre Entscheidung. Aber Efferia hielt sie mit einer kleinen Geste auf, hob den perlmutternen Dreizack auf ihrer Robe zu ihrem Mund und küsste ihn.

Gottvertrauen, Schwester im zwölfgöttlichen Glauben, sandte sie ihr in Gedanken. Borodine blieb stehen und nickte. Sie hieß es sicher nicht gut, aber konnte nachvollziehen, dass man sich manchmal in die Hand seines Gottes geben musste.

»Lasst ab!«, rief Orlen, und die Matrosen an den Seilen folgten seinem Befehl. »Zugleich, zugleich!«, gab eine ältere Matrosin den Takt vor. Über quietschende Rollen glitt das Seil, und das Boot senkte sich dem trüben Wasser entgegen.

Alrik lehnte sich über die Reling, um ihm nachzuschauen. Efferia bewies großen Mut und großen Leichtsinn. Es gab wenig, wovor Alrik sich fürchtete, aber für einen Ausflug auf ein Schiff voller in der Bewegung verdorrter Toter, noch dazu in einem Feld aus verfluchtem Tang, hätte er sich ganz sicher nicht freiwillig gemeldet.

Die Besatzung des Bootes machte sich bereit, die Seile zu lösen. Der Kiel tauchte ein. Da erklang ein ohrenbetäubendes Kreischen, das Alrik zurücktaumeln ließ. Er presste die Hände auf die Ohren und biss die Zähne zusammen, denn seine Haut schien sich bei diesem Geräusch zusammenziehen zu wollen. Dieser Laut stammte nicht von einem Menschen oder einem Tier! Er stammte ganz sicher nicht einmal aus ihrer Sphäre.

Ein gewaltiger, pechschwarzer Schatten schoss auf das Beiboot zu. Eine riesige Finne durchschnitt den Algenteppich, verschwand unter Wasser und noch bevor Alrik recht begriff, was geschah, schoss der Schatten von unten auf das Boot zu.

Das Wasser wurde vor der spitzen Schnauze der Monstrosität hergetrieben und spritzte schritthoch um das Beiboot auf. Dann traf das riesige Maul auf das Holz. Das Boot wurde so weit aus dem Wasser gehoben, dass Alrik in die entsetzten Augen von Efferia blicken konnte. Er warf sich vor, aber seine Hand griff zu kurz. Wenige Fingerbreit fehlten, er bekam die Geweihte nicht zu fassen.

Einer der Matrosen wurde weit aus dem Boot geschleudert. Die anderen beiden wurden von mit Widerhaken besetzten Tentakeln im Boot gehalten, die wie eine unheilige Krone rund um den Kopf des Wesens entsprangen. Jetzt war der Schwung aufgebraucht, und die widerliche Kreatur sackte wieder nach unten, riss das Boot mit sich.

Das Holz barst zwischen unzähligen Reihen handgroßer Zähne. Alrik starrte dem Vieh entsetzt nach. Es wirkte wie ein schmierig schwarzer, riesiger Hai. Alrik konnte keine Augen und keine Kiemen entdecken, dafür weitere kopfgroße Mäuler, die sich überall auf dem Körper öffneten und schlossen und dabei das ohrenbetäubende Schreien ausstießen. Auch die Mäuler, die sich schon wieder unter Wasser befanden, kreischten weiter.

Eine Flammenlanze schoss knapp neben Alriks Hüfte vorbei und traf einige der Tentakel des Hais. Das Kreischen des Ungetüms veränderte sich nicht, aber die ölig-schwarzen Gliedmaßen peitschten umher und trafen Efferia, die sich an dem berstenden Holz des Bootes festklammerte. Sie wurde durch die Luft geschleudert, während der dämonische Hai das Boot und die Matrosen in die Tiefe riss.

Alrik schlang sich ein Seil um den Oberschenkel und sprang über die Reling. Er bekam den Arm der Geweihten zu fassen, als sie aus dem Flug nach unten sackte. Dann spannte sich das Seil. Das Gewicht der reglosen jungen Frau riss an seinem und ihrem Arm, und er hörte, wie sich ihre Schulter unter der Last aus dem Gelenk drehte.

Kopfüber knallte er gegen die Bordwand. Eilig ergriff er Efferia mit beiden Händen, zog ihren Leib an seine Brust. Im selben Moment begann er, am Seil hinabzurutschen. Verzweifelt drehte er den Fuß weiter in das Seil, konnte sie beide keine zwei Schritt über dem Wasser stoppen. Das dunkle Nass brodelte noch, Holzstücke und Blut wurden an die Oberfläche getragen. Das Kreischen war verstummt, aber Alrik traute dem Frieden nicht.

Etwas Großes, Dunkles, schoss von unten auf ihn zu. Er machte sich bereit, die Frau nach oben zu schleudern, doch in dem Moment wurden sie auch schon hochgezogen.

»Schneller!«, rief er, da durchbrach etwas die brodelnde Oberfläche. Es war der Bug des Beibootes, der wie ein Korken auf- und abtanzte.

Starke Arme und entsetzte Gesichter erwarteten sie an Deck. Vorsichtig legte Alrik die zierliche Geweihte auf dem Holz ab. An der Art, wie ihr Arm und ihre Beine zur Ruhe kamen, erkannte man deutlich mehrere Brüche. Atmet sie noch?

»Zur Seite!«, forderte die Magierin und glitt an ihm vorbei. »Warum kann nicht einmal jemand gleich auf mich hören?«

Alrik sprang erneut zur Reling und blickte hinab. Keine Spur mehr von den zwei Leuten auf dem Boot, und insgeheim hoffte Alrik, dass auch nichts mehr von ihnen auftauchte. Er suchte nach dem fortgeschleuderten Matrosen und fand ihn auf dem Algenteppich liegend, halb eingesunken. Sein Körper war dürr und trocken, und in diesem Moment brach einer seiner Arme ab, wie ein durchgebrannter Ast im Lagerfeuer.

Alrik berührte das Zeichen seines Gottes auf seiner Brust und empfahl die Toten seiner Gnade.

»Mehr«, stammelte die Magierin. »Mehr kann ich nicht für sie tun.« Sie taumelte beiseite, wurde mühsam von Marfan gestützt, der sie beide dabei fast noch über Bord riss.

Alrik musterte die Geweihte. Ihre Beine sahen besser aus, sie atmete gleichmäßig. Sie wird es überleben, der Magie sei Dank. Aber ihr Arm stand noch immer in einem unschönen Winkel ab.

Alrik sah zu Karas hinauf, der mit bleichem Gesicht vor dem Steuer stand, die Hände um das Geländer des Aufbaus gekrallt. »Bring uns hier weg, Orlen«, forderte der Grande heiser. »Bring uns sofort hier weg!«

Sargassosee, 18. Boron 1028 BF

Wie gut ist mir, wie wohlig schmiegt der Menschen Leid sich, ach, an meine Seele; man bringe abgeschlagene Köpfe und weinende Witwen, denn die Macht schmeckt mit Tränen benetzt aufs Doppelte.