Duck dich! - Heinz-Theo Frings - E-Book

Duck dich! E-Book

Heinz-Theo Frings

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Beschreibung

Das Geschehen des Romans DUCK DICH! entwickelt im Rahmen authentischer Fakten die Geschichte des Rittergeschlechts Von Helrode (Brabant und Hehlrath), indem erratisch erzählt wird, wie deren Leben und Wirken aus der Erzählperspektive des Gerardus de Helrode (1219) wie eine lebendige Aventüre im ausgehenden Mittelalter von den Faktoren der Zeit, des Menschseins und der Liebe bestimmt gewesen sein könnte. Der im Historischen fußende Roman hat politische, erotische und religiöse Züge, manchmal übergleitend zu einer verhalten auktorialen Erzählhaltung, und verbindet alte und moderne soziale Probleme. Im Sinne der für den Autor typischen CROSS OVER-Erzählweise gibt es gewollte und lebensechte Stilgegensätze. Verzweiflung wechselt mit Lebensfreude, Verantwortung mit Selbstverwirklichung, skurrile Ereignisse mit Alltäglichem. Ein Roman wie eine Wundertüte, die man aber erst schließt, wenn sie ganz leer ist.

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Die Ortschaft Hehlrath geht auf die Ritter von Helrode zurück, der Helroder Stammvater der Ritterschaft war Gerardus de Helrode *ca. 1175/1180 OO Margaretha *ca. 1175/1180, Schöffe, erstmals genannt in einer Urkunde vom 22. November 1219, gestorben an einem 11.02. nach 1234 („11. Februar obiit Gerardus de Helrode, qui dedit ecclesie annuatim denaios de prato, quod dicitur Tilendris iuxta Haren“). Dieser Sterbeeintrag im „Totenbuch“ des Aachener Marienstifts gibt das Datum vom 11. Februar an, aber nicht das Sterbejahr, da es sich hier um „Anniversarien-Stiftungen“ handelte, wofür die betroffenen Familien in der Regel mit einer Landschenkung oder in barer Münze zahlten. Ein Sohn wird auch als Schöffe zu Aachen genannt, Conradus de Helrode *ca.1200/1205 OO Claricia *ca. 1205, Schöffe, gen. 1234 – 1252 (+ 14.04. vor 1252: „obiit Conradus de Helrode“), Claricia uxor [Claricia, seine Frau] ( + 13.11.1252). Auch ein Enkel des Gerardus bekleidete das Schöffenamt, Rutcherius de Helrode *ca.1225/30, Schöffe 1279/1280 (+ 2. April 1280: „obiit Rutcherius scabinus, pro quo habemus 12 denarios de quadam domo in Coloniensi platea“). Rutcherius schenkt der Kommende Siersdorf am 4. Dezember 1279 die Güter in Freialdenhoven und Kintzwilre mit allem Zubehör. Ihre Vorgänger stammten aus Boortmeerbeek in Flandrisch Brabant, lebten dort auf einer alten Burg, gen. Hof ter H(G)oye. Zwei Ridders van Helrode, Deyso und Ioannis, sind als Gäste und Zeugen der Hochzeit des Herzogs Florent (1214) genannt. Ihr Geschlecht hatte in der Mitte des 12. Jahrhunderts ruhmvoll am blutigen „Oorlog de Grimbergen“ – am Krieg zu Grimbergen – teilgenommen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Lärm in der Nacht

Kapitel 2: Leben lernen

Kapitel 3: Erinnerungen des Gerardus

Kapitel 4: Unruhe der Fastrada

Kapitel 5: Ursprung des Rittergeschlechtes

Kapitel 6: Obstgartenfest der Liebenden

Kapitel 7: Die Arbeiter im Steinbruch

Kapitel 8: Ein Heiliger in Helrode

Kapitel 9: Der Kampf der Generationen

Kapitel 10: Frauen und Frieden

Kapitel 11: Ritters Ehre

Kapitel 12: Das Ende der Ritterschaft von Helrode

1 Lärm in der Nacht

Da wachte er auf, heftig atmend und aus tiefem Schlaf wie aus hundert Nächten Gefangenschaft. Geräusche hatte er im Traum gehört als Steinschläge und Donner; nun, nervlich zerrüttet aus dem Tiefschlaf gerissen, verstand er zuerst einmal nichts. Woher kamen diese wuchtigen Hammerschläge, wo befand er sich überhaupt, und vor allem wusste er im Moment nicht mehr genau, wer er denn war. Ich bin, ich denke, ich leide. Aber wie, was und warum blieb ihm zuerst einmal unklar. Jetzt hörte er Genaueres heraus, er vernahm ein irres Kuhgebrüll, lautes Pferdewiehern und hektische Männerrufe, dazwischen diese unregelmäßigen Hammerschläge und zwischendurch ein schwaches menschliches Wimmern. Nicht das einer Frau oder eines Kindes, sondern das hohe Jammern eines verzweifelten Mannes, der mit Sprachfetzen etwas daher stotterte, was Gerardus aus dieser Entfernung nicht verstehen konnte. Er sprang nun aus dem Bett und fand Halt am Türrahmen, dann wusste er, wo er war und woher dieser gewaltvolle Wirrwarr kam. Er näherte sich seiner Fassung und der Tür, die er durchschritt, um zum Kuhstall zu gehen. Dazu musste man allerdings auf dieser Burg seines Verbündeten Konrad von Köttingen das Haupthaus verlassen und über den Hof zu den Stallungen wechseln. Er hatte sich am Abend, als er auf Burg Angeltorp angekommen war, nicht ganz ausgezogen, sodass er jetzt im Hemdrock und in langer Hose, auf Holzschuhen, den Kuhstall betrat. Dort fand er eine Szene wie von Gauklern gespielt vor. Zuschauer waren Frauen und Kinder, so Amanda, die Frau seines Verbündeten Konrad von Köttingen, an die sich alle drei Kinder drückten, Tassilo, Gisela und die kleine Kunigunde; die Wirtschafterinnen und Köchinnen und die Mägde bildeten ein bewegtes Knäuel, und sie staunten, hielten erschreckt in verschiedener Weise die Hände vor ihr Gesicht, aber zwischen diesem unterdrückten Furcht- und Schreckensstöhnen hörte man tatsächlich auch ein gehemmtes Glucksen und Kichern. Die Mägde hingen mit den Zöpfen aneinander, hielten sich an den Ober- und Unterarmen und kamen aus diesem Verhalten groben Zerrens und Drückens nicht mehr heraus. Gerhard von Helrode nahm eine der Mägde, eine wildgesichtige Brünette, fest beim Oberarm und zog sie aus dem Knäuel heraus und verlangte Antwort. Die Antwort war knapp und unvollständig, aber dennoch klar: „Der Randulf hätt enn Koh – “ So klang es aus ihrem dörflichen Mund und ihre wasserblauen Augen blitzten dabei schelmisch und unverschämt, und plötzlich drehte sie sich mit dem Oberkörper zur hölzernen Wand und bebte am Oberkörper heftig bewegt durch verhohlenes Lachen.

Davon hatte Gerhard schon gehört, davon hatte Konrad ihm erzählt. Mit welchem Wort denn könnte man das bezeichnen, was da geschehen war? Und was genau war denn überhaupt geschehen? Da wohnte in der Nähe der Burg dieser verwirrte Junggeselle, der sich in unregelmäßigen Abständen nachts über Vieh hermachte, und der Medicus hatte Konrad erklärt, dass die Griechen Menschen mit solchen Veranlagungen Sodomisten nannten. Heute Nacht war es wieder soweit gewesen und er hatte die Kühe aufgemischt, die brüllten, als wenn sie gestohlen würden, und machten dadurch die Pferde verrückt, was die Stallknechte aus den Betten trieb, die bewaffnet mit Mistgabeln und Schmiedehämmern in den Stall eingedrungen waren, weil sie dachten, Vieh werde geraubt. Im Grunde genommen war auch etwas entwendet worden, nämlich neben der friedlichen Nachtruhe auch die Sicherheit der Menschen, das Zutrauen der Kinder und die Friedlichkeit des Burgherrn. Denn der war natürlich auch rasch schon eingetroffen und fluchte laut und unverständlich vor sich hin. Sie hatten Randulf in einen Schweinestall gesperrt und nagelten einen Bretterverschlag als Käfig davor. Den Met, den er in einem Krug beigehabt hatte, spritzten sie ihm ins Gesicht und sie beschimpften ihn mit rüden Worten ohne Rücksicht auf die Ohren und Herzen der Kinder. Einer der Knechte fragte ihn, ob er denn der Kuh etwas abgegeben hätte vom Met. Knechte schüttelten sich vor Lachen. Hein hatte man zum Büttel geschickt, der am anderen Ende von Angeltorp neben dem Abdecker wohnte, was aber nur ein paar Minuten entfernt war. Hier kannte jeder jeden, und jeder wusste alles über jeden, und alles, was man über jeden wusste, teilte man mit jedem beliebig, so, wie es sich halt ergab. Alles wartete also auf den Büttel. Randulfs Jammern in seinem Käfig wurde ruhiger und regelmäßiger. Manch einer fragte sich, wieso in ihrem so schönen Burgflecken mit dem latinisierten himmlischen Namen so etwas überhaupt möglich war. Aber sie wussten, dass es anderswo, in Kintzwilre oder Helrode, wo ihre Verwandten wohnten, auch nicht anders sein würde. So sinnierte jedenfalls Gerhard von Helrode im Jahre 1219, als er diese Szene erlebt hatte. Hatte es auch damit zu tun, dass unter dem Schutz von Rittern, die es in diesen Orten nicht sehr häufig gab, die Bevölkerung sich noch sicher fühlen konnte und deswegen nun begann, sich Freiheiten zu nehmen, die ihnen weder unter weltlichem noch moralischem Gesetz zustanden? So konnte man es auch sehen. Ritter seines Geschlechts, das ja aus Brabant stammte, waren im Aachener Gericht als Schöffen tätig und er wusste aus vielen Prozessen nur zu gut, dass diese Sicherheit trügerisch war, dass der Einfluss der Ritter abnahm und dass einige der Edlen sich auf Abwege zu begeben im Begriff waren. Einen nannte man schon „Raubtasche“ mit Zunamen. Sie mussten sich wegen Land und Besitz, dessen sie sich durch Lehens- und Pfändungsverträge nicht mehr sicher sein konnten, in zunehmendem Maße auseinandersetzen – und sollten dann auch noch die Bevölkerung schützen? Religiös kamen wirre Gedanken auf, die Spanier und Engländer kämpften außerhalb ihrer Territorien und zeigten unverblümt, dass sie Macht bis tief ins Frankenreich hinein verlangten, und die erhabene Ritterschaft vergnügte sich auf Turnieren und Festen wie die Granden. Das konnte nicht mehr lange gutgehen, das sah er genau.

Und gerade darüber hatte er am Abend vorher nach seiner Ankunft auf Burg Angeltorp mit seinem Verbündeten Konrad gesprochen. Sie wollten neue Verträge mit Ezzo, dem Ritter von Kintzwilre, und dem ländlichen Adel an der Inde schließen; die Burg Berge op der Inde gehörte der Familie Konrads eh schon zu einem Teil wegen verbriefter Rechte, aber sein Sohn Emond würde sie vielleicht verpfänden müssen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung so weiter fortschreiten würde. Bovenberg und Palandt sollten angesprochen werden. Vor allem dieser Palandt aus dem Linnicher Breidenbend war so vermögend und einflussreich, dass er eine Burg nach der anderen durch Erbe, Heirat, Kauf oder Pfandschaft an sich zog. Den musste man für sich gewinnen mit der Gefahr, sich durch ihn breitschlagen zu lassen wie ein heißes Stück Eisen vom kräftigen Schmied, um für ihn zu kämpfen. Konrad hatte ihm wie beiläufig erzählt, dass Gottfried von Palandt sich für die Berger Burg interessiert hat und dass seine Frau Anna, die wie die Palandts auch aus Brabant stammt, von Breidenbend angereist sei, um sie zu besichtigen. Sie, die Burg, diese herrliche Donjon-Burg in den Maßen des goldenen Schnitts gebaut und nach französischem Muster mit vier Treppentürmen versehen, zeigt aber nun nach über hundert Jahren schon einige Renovierungsbedürftigkeiten. Die Baracken der Burgenbauhütte sind zehn Jahre zuvor aber endgültig von Berge op der Inde und von Bovenberg verschwunden, wo sie auch eine der neuartigen Burgen gebaut haben. In 40 Jahren waren drei Burgen im selben Stil mit vier Türmen entstanden: Bovenberg mitten im Wald zuerst, dann Berge op der Inde auf einem vorher schon mit einer Mottenfluchtburg besetzten Hügel und zuletzt die Schwarzenburg in Dorff, wo sie auf die Türme keine Dächer errichteten, sondern Mauerkränze wie bei Wachtürmen setzten. Weithin und von weither konnte man diese Türme sehen, von der Inde schaute man gleich auf zwei Burgen, die eine weiter entfernt aber auf höherem Berg, und man staunte ob dieser Bollwerke trutzender Macht. Einzig und alleine geblieben war die Kalkbrennerei mit den gemauerten Öfen am Kalkbergwerk genau in der Mitte zwischen diesen drei Burgen, von wo aus man den gebrannten Kalk in Quaderform zu den Burgen hingebracht hatte. Kalk brauchte man für den Mörtel, und weit und breit entstanden nun kleinere Burghäuser und Meierhöfe aus Bruchstein, den man vom riesigen Steinbruch nahe Gression herholte, wo einst ein Römerlager bis Kintzwilre hin reichte. Von Generation zu Generation hatte man sich dies erzählt. Da die Kalkgrubenarbeiter immer weiß wie von Mehl bepudert waren, nannte man sie von alters her Killewittchen, in der alten Sprache der hiesigen Volksgruppen hieß das wohl kleine Höhlenweißlinge, und da sie meist zugunsten ihrer manchmal auch unterirdischen Arbeit kleinwüchsig waren, sah man in ihnen ein Zwergengeschlecht. Der Ort, der aufgrund des Kalkabbaus entstanden war, hieß Hetzenich, weil dies die Devise war, um die Schwerstarbeit einige Jahre zu überstehen. Dass man bei der Arbeit sich nicht abhetzen sollte, änderte nichts an der Tatsache, dass diese weißen Grubenarbeiter aufgrund eines starken Dauerhustens nicht sehr alt wurden. Und da der Rat wohlgemeinter Entschleunigung an der Dorfbevölkerung vorbei ging, nannte man den Ort schon bald, nachdem er durch Rodung erweitert worden war, Hastenrode. Man hastete von Tätigkeit zu Tätigkeit, ohne genügend zur Ruhe zu kommen. Wobei aber offen blieb, ob der Wortbestandteil „rode“ nicht doch, wie bei manchen Orten am Niederrhein, wo es nie einen Wald gegeben hatte, eher vom altsächsischen Wort „road“ stammte, wovon das Worte „route“ sich ableitete und welches später durch das niederdeutsche Wort „straat“ verdrängt wurde. Dann gäbe es noch einen größeren Sinn: Hastenrath als das Dorf, in dem man sich wegen der Kalkgewinnung eilend eine Straße hinauf und hinunter bewegt. In der Tat ist Hastenrath ein Straßendorf.

Der Enkel des Burgenbaumeisters, der Bovenberg begonnen hatte und Nothberg entworfen hat, zog zehn Jahre zuvor mit 45 Männern ab. Sie hatten in Nothberg gewohnt und gelebt, da es dort ein Gasthaus und gute Verpflegung gab. Die Baracken der Bauhütte waren zwischen der Burg und dem nahegelegenen Fluss, De Indt, gelegen; dieser kleine Fluss, der bei Hochwasser zu einem reißenden Strom werden konnte, führte stets genügend viel Wasser, das sie zum Bauen und zum Anrühren ihres Spezialmörtels nehmen konnten und durften. Der braune Bruchstein musste aus diesem nicht weit entfernt liegenden Gression angeliefert werden. Dort war ein uralter Steinbruch, von dem schon die Römer, wie sein Opa erzählt hatte, ihren Stein bekamen, als sie in weiterer Entfernung das Lager Aduatuca auf dem Hohen Stein bei Ascvilare und dem Hohen Berg bei Helrode ausbauten. Zur Zeit Karls des Großen entstand auch ein kleiner Königsgutshof in Ascvilare auf den Fundamenten eines Dorflagers der Eburonen. Zusammen mit den Steinfuhren wurde auch immer gemahlener Trass mitgeliefert. Dieses aus Schiefergestein gemahlene Trassmehl wurde dem Mörtel beigemischt. Baumeister Prickartus schwor darauf, und er kannte ein weiteres Geheimrezept, das sogar auf die Römer zurückging, die in ihren Beton nicht nur Löschkalk, sondern zu ca. zwanzig Prozent Brandkalk einmischten, der eine aktive Verbindung mit den anderen Substanzen einging, sodass er haltbarer wurde und auch noch nach Jahren Schäden durch witterungsbedingte Risse im Mörtel ausgleichen konnte, indem er mit eindringendem Wasser so reagierte, dass er auskristallisierte und so Ritzen verschloss. Auf einen Liter gab er 150 Gramm Trass, wozu er sich von einem Böttcher einen Maßkrug aus Holz hatte bauen lassen, dann erst wurde der Kiessand eingerührt. Den Stein für Bovenberg und Dorff musste man allerdings etwas später aus einem weiter entfernten Steinbruch bei Schwarzenbroich holen. Dem Namen entsprechend dunkler war dieser braune Stein, dunkel wie die weitere Geschichte Bovenbergs sein sollte.

Ihm selbst, dem Gerardus von Helrode, 170 cm groß, braune Haare mit dem Scheitel links, blaue Augen und nunmehr 35 Jahre alt, hatte sein Knappe aus Helrode auf dem letzten Kreuzzug in einem blutigen Kampf das Leben gerettet, und bei der Adligen Margarethe von Horres, die in einer großen Hofgärtnerei der Belger lebte, durfte er von seinen Nöten genesen. Es war eine unvergessliche Begegnung, die seiner Gesundung diente. Wenn er daran dachte, kamen all diese Gedanken hoch, deren Schwere er erst auf den Kreuzzügen hatte kennen gelernt, obwohl er ja schon vorher, vor der Schwertleite davon gehört hatte, was es nicht alles an Verfehlungen gab. Wozu ließen sich vor allem Männer hinreißen! Die Schwertleite war eine aufwändige Zeremonie, die alle Ritter erlebt hatten als eine umfassende Verpflichtung zur Redlichkeit. Aber auch unter Rittern hatte es Skandale gegeben. Aber seine Zeit bei Magga, so nannten ihre Freunde sie, war Balsam auf seiner Seele, der ihn noch lange erfrischte.

Die Reaktionen auf Sodomie, wie man in dieser Zeit auch den Geschlechtsverkehr unter Männern nannte, waren auf den Kreuzzügen sehr heftig gewesen, denn die für verirrt gehaltenen Männer, die es mit anderen Männern getrieben hatten, wurden entblößt und in gebückter Haltung mit den Köpfen und Hälsen zueinander gewendet aneinandergebunden und mit Haselgerten windelweich geprügelt, dass sie sich vierzehn Tage lang nicht mehr setzen konnten. Wer erwischt wurde wie an diesem Tag, wie er es mit einem Tier getrieben hatte, wurde in einem Käfig oder Stall als Tier gehalten, mit Heu gefüttert und später vor einen Ochsenkarren gespannt. Er selbst wollte dies ja auf der Engelsburg verhindert haben, aber der Ritter Kunibert, der die Gerichtsamkeit ausübte, kannte kein Pardon, obwohl Randulf doch kein Ritter, ja überhaupt kein Adliger war, und er initiierte ein Fanal. Weil er mit der noch jungen Tochter vom Herrn der Burg zusammen sein wollte und ihr deswegen permanent nachstellte, ja weil er dem Burgherrn imponieren wollte, ließ er den armen Hilfsknecht, den sie morgens im Stall aufgegriffen hatten, vor einen solchen Karren spannen, der mit Heu beladen war, und trieb ihn durch das Dorf. Höhnisch bespuckten diesen einige Männer, die des Weges kamen; die Frauen verkrochen sich aber vorsorglich, als sie den nahenden Lärm hörten, schnell im Haus, weil sie dies alles ziemlich entsetzlich fanden, sowohl die Tat selbst als auch deren Ahndung, ja dieses ganze grässliche Männergehabe.

Manchmal wurden solche armen Delinquenten Wochen lang heftig unter Druck gesetzt; ständig drohte man ihnen mit den Nachstellungen des Satans, der sie mitnehmen wolle; manchmal werden dem Übeltäter vom Schmied Pferdehufeisen mit Draht an die Füße gequetscht, bedroht wurde er nicht nur vom Henkersknecht mit Kastration und Mord, und vom Büttel und seinen Gehilfen wurden solche armen Tröpfe oft auf nimmer Wiedersehen verjagt. Gerhard konnte solche krassen Strafen in diesem Fall verhindern, indem er zusammen mit seinem Verbündeten Konrad vor den Kunibert getreten war und ausgerufen hatte: „Randulf ist nicht Herr seiner Sinne und von schwachem Verstand!“ So beantragte man zur Ritterzeit mildernde Umstände. Gerhard und Konrad waren unverbrüchliche Freunde im Sinne der Gerechtigkeit, wenn sie auch äußerlich sehr unterschiedlich aussahen, denn Konrad von Köttingen und Angeltorp hatte braune Augen, rotblondes Haar und er war 180 cm groß.

Am Brunnen von Angeltorp kam es mittags zu einem Gespräch unter drei Frauen des Ortes, das dieses Ereignis zum Gegenstand hatte.

Helene: „Dem Kerl ist wieder einmal der Samen zu Kopf gestiegen. Ob man solchen Männern keine andere Gelegenheit bieten kann, sich auszuleben? Freudenhäuser gibt es doch hier genug in der Gegend.“

Doris: „Die bräuchten doch nur nach Limburg rüber! Ich kenne eine, die lebt besser als wir drei zusammen. Die lebt ja die meiste Zeit auch im Bordeel, wo sie es da in den kleinen Bretterbuden bei Sittard täglich treiben. Da reiten viele aus unserer Gegend hin.“

Silvia: „Kenge nee, der ärme Deuvel, der hat ke Peod und der lebt nur vom Beddele. Jeden Taach trinkt der morjens schon Schnaps. Ich glöuv, der kann normaler Wies övvohaup net.“

Helene: „Die hohen Herren von Randerath oder hier von Angeltorp, die sollten sich mal um solche Männer kümmern. Die prahlen mit ihrem Ritterschlag und unternehmen nichts. Hauptsache ist, der Geldbeutel ist prall gefüllt!“

Doris: „Der Wilhelm von Aldenhoven, der schickt seine Töchter ins Kloster Burtscheid und stiftet eine Jahresrente von 18 Malter Roggen aus seinem Hof in Bourheim. In seinem Siegel finden sich drei Seeblätter von Seerosen. Die stehen für seine drei Töchter, die er auf diesem Weg versorgt hat und vor allem vor den Männern weggeschlossen hat. Er muss sie nun nicht mehr ausstatten und mit hoher Mitgift verheiraten. Das Gut vom Alten Hof ist jetzt für seinen Sohn allein.“

Silvia: „Vüo do weitere Nachwuchs sörsch deo at selevs! Die nenne sich Ministeriale, Edelfreie oder Jetreue on Rittere, dann senn et och Schöffe en Oche on se senn all glisch: Se suffe sich dürch de Borje on Schlössjere! On wat die et naats donn, ess jo suwiesu kloar! Ob dat der Arnold van Gymnich, der Hermann Vogt von Jülich, der Winand von Gürzenich oder der Winemar Frambach von Birgel ess. Och die Heere Walter von Irmrode, Peter von Walde, Heinrich Buff – alle Frauen lachten auf – oder Reiner von Rotheim komme emme, wenn et jet zo fiere jitt. On dann blieve die drei Daach!“

Helene: „Und neuerdings nennen sie sich nach den neuen Ämtern, die Graf Wilhelm III. eingeführt hat. Das sind so eitle Titel wie Dietrich Schinmann von Aldenhoven als Truchsess oder „dapifer“, Nyt von Birgel als Marschall, Heinrich von Froitzheim als Schenk oder „pincerna“, und dann noch der Gerhard von dem Bongart als Kämmerer.“ Doris: „Die Herren Werner von Weisweiler, Winrich von Kintzwilre, Everhard von Disternich, Wilhelm von Frenz, Amilius und sein Sohn Johannes von Aue und Gottfried Ulenbusch sind stinksauer, dass sie keines dieser Ämter übertragen bekommen haben.“

Silvia: „Der ieschte Marschall in Jülich woa Jottfried. Demm kenn isch joot! Deo stammdene van Kelz bei Vettwieß. Deo woa Schiedsrichter zesamme met Christian Schenk van Nideggen on Reinhard van Drove. On als minge Mann füe drei Johr fönef Moont opp Handelsreeß woa, do woar deo fass jede Naach bei misch. On frooch net, wat hasste wat kannste!“

Helene: „Guckt mal, was für ein Zufall, da kommt unser gelehrter Herr Andermahr aus Bergheim. Den guten Heinz fragen wir jetzt mal!“

Doris: „Meister Andermahr, warum nennen sich die Ministerialen denn jetzt Ritter?“

Heinz Andermahr war Adelsfachmann in Jülich und er beschrieb es so: „Die Ministerialen waren ursprünglich unfreie Leute in Diensten des Adels und der kirchlichen Korporationen. Sie unterstanden einer Sondergerichtsbarkeit: dem Dienst- oder Ministerialrecht. In unserer Region haben sich das Dienstrecht der Grafen von Are von 1154 und das ältere Kölner Dienstrecht aus der Mitte des 13. Jahrhunderts erhalten. Mit dem Aufstieg der Ministerialen in den Ritterstand“ – jetzt guckte er die drei Frauen in der Mittagssonne mit ihrem schwarzglänzenden, rotprangenden und blondleuchtenden Haar genau an, und erklärte ihnen, dass jetzt nur noch die einzelnen Landgerichte zuständig seien für Streitereien und Auseinandersetzungen und dass die Ritter sich nun um Freiheitsrechte wie die alten Freien bemühen würden. Dabei komme es zu großen Schwierigkeiten, da die Ritter meinten, die Lehen könnten sie nun vererben und müssten nicht mehr alles vom Zehnten nach Jülich abführen. Sie würden jetzt auch ohne Kenntnis des Grafen mit anderen Rittern verhandeln und Verträge abschließen und sie fühlten sich jetzt auch nicht mehr in ihrer Heiratsfähigkeit beschränkt und würden deswegen sich jetzt auch mit Ehepartnern aus edelfreien Adelshäusern vermählen. Wie die Altfreien würden sie sich deswegen auch jetzt Ritter oder „milites“ nennen.“

Silvia: „Deo Reinhard von Drove on deo Jottfried von Kelz nenne sich neuerdings hochnäsisch „vrunt und raet“ vom Markgrafen. Vrüngde iss kloar, Freunde send die doch all ongenee, evve „Vrüngde enn do Nuut jonn mäh hondert opp e Luut!“ Hoffentlich wesse die dat och! Evve wiesu nenne die sich jetz „Räte“?“

Heinz Andermahr erklärt ihnen, dass die beiden in der Urkunde: „duos de consiliaris comitis“ heißen, also „zwei aus dem Ritterrat“. Der Markgraf habe den Rat gegründet, weil er nicht mehr alleine entscheiden könne, wie sich die Rechte entwickeln sollten. Dazu habe er die Ritter Heinrich von Virneburg, Hermann genannt Müllenark von der Thoneberg, Gerlacus und seinen Vater Gerhard de Dollendorp, Wilhelm Schendehof, Adolf de Bleidenstein und Godescalcus de Selincheim in den Rat berufen. Später seien noch dazugekommen euer Gerhard von Angeltorp, Adam von Ederen, Winand von Heimbach und von der Harfer Mühle. Allerdings spricht der Margraf nun auch vom engeren und vom weiteren Rat. Darüber habe sich Raboiden van Kijntwijllre sehr echofiert, weil der Landesherr ihn und einige andere damit abgeschoben habe. Nur der engere Rat durfte bzw. musste sich immer in der Nähe des Herrschers aufhalten. Der weitere Rat wurde nur zu bestimmten Anlässen zusammengerufen.

Helene: „Unsere Angeltorper sind ja immer dabei. Ich bin mal gespannt, was aus dem jüngsten, dem Edmund wird. Das ist doch jetzt schon ein Baum von einem Kerl und manchmal ein richtiger Raufuß! Neben dem Frambach von Birgel, den Palandts und derer von dem Bongart werden die Angeltorper eines der wichtigsten Adelgeschlechter werden.“

Doris: „Die anderen Kinder und Enkel sind auch nicht ohne! Günter, Rether, Gottfried, Reinhard und Gerhard wissen schon, was sie wollen!“

Silvia: „Die wolle op jeden Vall dat eene, on dat senn drei Denge: Völl ze esse, joot zo drenke on schönn Vraue! Wenn die dann och noch risch senn, dann wör et besongisch joot!“

Die Frage, über die die Historiker damals arbeiteten, wurde durchaus kontrovers beantwortet. Heinz Andermahr sah deutlich, dass die Begriffe Edelfreier – Ministerialer – Ritter – Freiherr – Adliger sich ablösten, Heinrich Theodor Severinus hegte eher die Ansicht, dass die Begriffe zwar nacheinander entstanden waren, dass sie aber in der Hochzeit des Rittertums durchaus gleichzeitig gebraucht wurden – auch, um sich permanent gegenseitig zu übertrumpfen. Man musste doch nur ein Erz- davorsetzen, dann war der Truchsess plötzlich der Erztruchsess des Erzbischofs. Es war wie in einem Spiel. Der Erzritter ist darin eine weiterentwickelte berittene gepanzerte Kampfklasse. Mit einer Einschränkung: In der grauenvollen blutigen Realität eines Kreuzzuges kämpfen alle, wenn sie denn in diesem Schlamassel drinstecken, im Sekundentakt um ihr Leben. Allen schwinden die Kräfte gleich schnell, allen bleibt gleich plötzlich der Atem weg, und wenn sie dann auf dem Schlachtfeld liegen wie Überreste nach einem Ursturm, dann sind alle gleicher Maßen erbärmlich anzusehen. Allerdings – so dachte Gerardus mit seinem unversiegbaren Helroder Humor nach einer diesbezüglichen Debatte mit Heinz Andermahr – sind einige davon wohl Erztote.

2 Leben lernen

Während er so daher ging, kam Gerhard zum Kotzbach, der in einiger Entfernung an Angeltorp vorbeifloss. Dieses wilde Bächlein kotzte vor sich hin, das heißt, er floss wild und unregelmäßig mit großem Gefälle durch sein Bett. Dort sah er sie wieder sitzen, genau wie neulich, als er sie nur von Weitem beobachtet, sich aber nicht zu ihr hin getraut hatte. Aber diesmal war sie nicht alleine und er wagte sich näher. Nachdem sie die Bleichwäsche gewalkt und auf dem Gras ausgebreitet hatte, hatte sie sich wieder ausgezogen und wie immer dann ihr Sommerkleid und ihre Untertücher gewaschen, die nun in einem Baum zum Trocknen hingen. Gänzlich nackt saß sie auf dem breiten flachen Stein im Wasser, sodass ihre Scham wasserumspielt halb verdeckt war. Ihre fülligen Brüste hingen wie pralle Reben im Sonnenlicht. Das Gesicht hielt sie in die Wärme der Luft. Diese kleinwüchsige Magd mit den Sommersprossen auf der Nase stand hinter ihr und löste ihr die Haare, und er erkannte, dass die Nackte die brünette Magd war, die ihn vorher so treffend knapp über Randulfs Eskapade informiert hatte. Wer auch sonst würde sich trauen, sich so frank und frei an und in den Bach zu setzen, selbst dann, wenn sie wie neulich alleine war. Als er niesen musste, wurde er bemerkt, und die Kleine nahm ein getrocknetes Laken und legte es um den Körper der Brünetten. Nun musste er zu ihnen hin, denn es wäre eines Mannes nicht ganz würdig gewesen, wie ein beschämter Junge abzudrehen. Er wollte auch wissen, wie dieses mutige Weib hieß.

Als er zu ihnen kam, entfernte sich die Kleine in Richtung Wäsche und begann zu prüfen, was schon trocken war. Ihr rotes Haar glänzte abendlich in der Sonne. Mit schief angelegtem Kopf lächelte die brünette Frau vorsichtig berechnend, denn es war ein Ritter, der da vor ihr stand und sie fragte, wie sie denn heiße. Fastrada war ihr Name. Ihr offenes Haar war schlangenwirr – wie seine ungeordneten Gedanken – bizarr verschlungen. Als die Kleinwüchsige rief, dass die Wäsche trocken sei, wendete er sich eilend von ihr ab und verließ sie mit den Worten „Bis später!“ – und er wusste selbst nicht, was das diesbezüglich bedeutete.

Auf dem Weg zum Abendessen besann er sich. Warum war er eigentlich zum Verbündeten gekommen? Konrad von Köttingen zu Angeltorp war mächtig und ein Vetter von Harald von Haaren. Der wiederum besaß und pflegte einen Wald, der an seinen eigenen bei Helrode grenzte. Die natürliche Grenze war der für alle da oben auf dem Hohen Berg so wichtige Merzbach, aus dem, wie man immer noch erzählte, die Römer sich schon bedient hatten, bevor sie Aduatuca verloren und nachdem sie es wieder erobert hatten. Zuhause auf seiner Burg in Helrode gab es einen Kellergang, der einen Ausweg hatte zum Hohen Berg hin, damit die Steingrubenarbeiter, als sie von den Steinen der ehemaligen Römerfestung ihre „Hähle Boresch“, wie es zuhause hieß, bauten, in dem Fall fliehen konnten, dass sie wieder angegriffen wurden. Denn von Merzbrück her kamen immer wieder schon einmal Aachener Ritter, so zum Beispiel diese „Raubtasche“ mit seinem wilden Haufen unwürdiger Halbritter, um sie zu überfallen. In diesem Gang gab es eine Seitenkammer und darin stand eine alte Truhe aus der Zeit Karls des Großen. Darin lagen Schriften und schlummerte ein Kodex, die von der Vergangenheit des Hohen Berges erzählten. Der Kodex, das wusste er von seinem Opa, war in dem neuen Schrifttyp der Karolingischen Minuskel verfasst und erzählte eine Geschichte, die Johannes Diaconus, der Musiker und Priester, der aus Helrode stammte und alte Menschen dort befragt hatte, einst zusammentrug. Da dieser Geistliche der Sohn des Schinders war, der am Süd-Ost-Rand des Ortes wohnte, wo der älteste Teil von Helrode lag, den man die Velau nannte, hatte er alles aufgeschrieben, was die Menschen dort sich Jahrhunderte lang erzählt hatten, damit sein Vater, Cornelius der Weber, der auch als Totengräber seinen Dienst versah, diese unglaublichen Erzählungen nicht mit ins Grab nahm. Es war die Geschichte von Ambiorix und den Eburonen, die bitter dafür bezahlen mussten, dass sie ein einziges Mal in ihrem Dasein schlauer, besser gesagt hinterhältiger, und stärker, besser gesagt wendiger gewesen waren als die überhaupt nicht kampfbereiten Römer mit dem ganzen sperrigen Tross bei ihrem improvisierten Abzug aus dem schlecht hergerichteten Winterlager. Aus dem kleinen Eburonenlager mit Wachturm, das diese vermutlich keltische Gruppe auf dem Hohen Berg einst erbaute, hatten die Römer nach der Eroberung dieser Stätte sehr flüchtig ein großes Lager entwickelt, dessen Südwesttor einen Turm zeigte, von dem aus man über Helrode, wie Johannes Diaconus es schrieb, nach Juliacum schauen konnte, und ein natürlicher Hügelabhang schützte das Lager, auf dem rasch und ohne große Sorgfalt eine Murus gallicus aus Holzelementen, aufgefüllt mit Steinen, errichtet worden war. Weiter nach Ascvilare hin, das sich direkt am Fluss de Indt befand, wo das Hauptlager auf dem „Hohen Stein“ lag, schützten ein hohes Steinmassiv als Schildmauer diese breite Flanke. Dort hatten sich die Fußtruppen befunden. Der Diakon beschrieb das so genau, als hätte er – des Lateinischen mächtig, das er im Kölner Domstift bei den Dominikanern gelernt hatte – eine alte lateinische Quelle gelesen, ja als hätte Cäsar selbst erzählt, wie er dann zurück kam und das Lager wiedererobern musste und beschlossen hatte, die Eburonen mit Stumpf und Stiel auszurotten, was ihm aber nicht gelungen war, denn einige flohen in die Ardennen und gründeten den Vorläufer des Ortes Monschau, das Dorf eines verschlossen-verschwiegenen Völkchens, und andere flohen in die Sümpfe Richtung Korschenbroich, wo sie sich in den Weilern versteckten. Vor allem Ambiorix selbst schaffte es, der Rache des Cäsar zu entkommen. Eine kleine Gruppe kluger verwandter Eburonen war gleich unterhalb des Hohen Berges in Helrode untergetaucht. Der Vater von Johannes Diaconus war ein Nachkomme einer späten Gruppe dieser eigenwilligen Eburonen und sprach noch deren Dialekt. Johannes Diaconus schrieb zum Namen Ascvilare, er finde es bemerkenswert, dass der gleiche Klang des römischen Wortes Villa und des Keltische Wort Vilar für ein Einzelhaus an einem Gewässer davon ausgehen lassen könnte, dass der Namen Ascvilare Ansiedlung im Eschenwald bedeute, dabei wusste er durch die Aufzeichnungen der Erzählungen seines Vaters, dass das zugrundeliegende keltische Wort asc für Sumpf und feuchte Wiese stand und vilar für ein einzelnes großes Gehöft, das an einem fließenden Wasser liegt. In diesem Buch, das Johannes Diaconus mit groß verzierten Lettern HELRODICA überschrieben hatte, stand auch eine ähnliche andere Deutung zu Helrode. Der Name habe gar nichts mit gerodeten Flächen in einem Wald zu tun, wie die Germanen, die Ubier meinten, die vom Rhein gekommen waren und sich dort sesshaft gemacht hatten, als die Römer wegziehen mussten, um andere Lager bei den Trevern und den Tongariern zu verteidigen. Die Ubier waren wohl ein reines Schmarotzervolk gewesen, das keine eigenen Ideen hatte und viel Met vertrug. Die Helroder Ritter stammten ja letztlich aus Brabant. Der Name sei viel älter als die Kapelle, die die Helroder Ritter im Moment zu einer kleinen Kirche ausbauten, die auch eigene Glocken bekommen sollte. Der Name sei schon vor Cäsar dagewesen und gehe auch nicht auf die nordische Göttin Hel zurück, wie manche meinten, was Gerardus nicht schlecht gefiel. Helrode wie Heliant, der Heilvolle, der Heilende, für den seine Vorfahren am Lech gekämpfte hatten. Manchmal nannte er sich zuhause Gerhard von Heilraede, aber das meinte er eigentlich nicht ganz ernst, obwohl es ihm schmeichelte. Nein, dieser Name gehe, so hatte Cornelius der Abdecker, der Schinder, der Totengräber aus eburonischem Geschlecht ihm, dem Neumenfachmann Karls des Großen und persönlichen Freund des Schreibers Einhard, Johannes Diaconus, einst erzählt, zurück auf das keltische Wort hel, was sumpfige Wiese bedeutete, und razd, was so viel heiße wie umzäunte feuchte Viehwiese. Der Name, der aus Brabant stammte, passte ja auch bestens zu der neuen Ortslage bei Aachen, die ihnen als Schöffenpfründe überschrieben worden war. Im Gegensatz zu dem Örtchen unmittelbar am Hohen Berg, das die Helroder dort vorfanden und das wie in ihrer Heimat auch eine solche umzäunte Weide war, zeigte sich die Velau als fruchtbare Auenlandschaft. Und feucht war Helrode ja heute noch, wenn Starkregen ins Unterdorf strömte und die beiden Bäche, den Bach vom Helroder Quellchen und den Loll anschwellen ließen, wenn der Merzbach in Kintzwilre sogar zum kleinen Flüsschen wurde und sich bis zum Sandberg ausdehnte, der hinter Helrode lag. Helrode konnte zum See werden. Johannes Diaconus schreibt auch, dass schon die Römer dieses Wasserproblem hatten, weil aus der Aachener Gegend das Grundwasser sich genau dort aus dem Boden herausdrücke. Eine Pferderennbahn, die sie dort angelegt hatten, wo heute die Burg Kambach steht, mussten sie deswegen auf kurz oder lang aufgeben. Um aber ihr Lager zu schützen und ebenso die Reiterei in diesem Teil der Festung sowie auch die Schreiner und Schmiede und die ganze Hauswirtschaft, haben sie von Merzbrück aus und in Richtung Hoher Stein zwei lange Tonröhrendrainagen gebaut aus diesen römischen Halbröhren, mit denen sie auch Aquädukte ausgestalteten, und mit konisch geformten tönernen Steckröhren, aber ein Ingenius war auf die Idee gekommen, die Halbröhren umgekehrt wie ein Gewölbekeller auf Tonerde zu setzen, sodass das Wasser schnell abfloss und keine Pflanzen hineinwachsen konnten sowie keine Erde die ineinander geschobenen Rohre verdrecken konnte. Bis heute zu funktionierte das, sonst könnten sie ihre Felder um seine Steinkuhlen herum heute noch nicht bewirtschaften. Sein Wappen, das sein Geschlecht aus Boortmeerbeek mitgebracht hatte, zeigte zufällig drei Steinhämmer. Die Dreiheit des Symbols für Straßenbau liegt ja daran, dass ein Geschlecht mit Nachfahren jeweils drei Embleme abbilden muss, da ja meistens drei Generationen aktiv sind. Nun passte das aber auch gut auf Helrode: für jede Kuhle ein Steinhammer. Zuerst ließen sie deswegen das Wagenrad im Wappen weg, aber später, als sie ein Transportunternehmen für Bruchsteine eingerichtet hatten, bezogen sie es wieder in ihr Wappen ein.

Was war es ein Glück, so dachte Gerhard nun, dass mein Onkel Franziskus sechsundneunzig Jahre alt geworden ist und mir das Singen, Lesen und ein wenig auch Schreiben beigebracht hat, was er alles in Metz in der Karolingischen Chorschule gelernt hatte. Sonst hätte ich an den einsamen Herbsttagen, an denen man es dort unten bei der Kiste noch ganz gut aushalten konnte, nicht im Kerzenlicht lesen können, was Johannes Diaconus geschrieben hatte und sein Vater Cornelius der Weber ihm erzählt hatte. Dort hatte er auch das „Vater unser“ gelesen, wie Carolus Magnus es durch Alkuin kannte, der es über dessen Brüder aus dem Kloster St. Gallen zugesandt bekommen hatte. Was ein Glück! Dieses germanische Wort für Versuchung ging ihm jedes Mal durch Mark und Bein, wenn er es laut aussprach: „khorunka!“ Es wäre alles verloren gegangen. Nicht ganz verstehen konnte er den Hinweis in dieser Schrift, warum die Franken sich zunächst weigerten, in ihr Glaubensbekenntnis bei der Bemerkung zu Gott und dem Heiligen Geist die Worte filioque oder et filio zu übernehmen. Das wurde auch nicht näher erklärt. Aber da waren sie eisern geblieben, als wenn davon ihr Seelenheil abhängig gewesen wäre. Erst Carolus Magnus hat dann, wie erzählt wird, beim Konzil von Aachen diese Formel eingeführt, und das schien ihm logisch. Denn unter Vater, Sohn und Heiligem Geist verstand er drei Kräfte des dreieinigen Gottes, die Leben gebende, die mit Segen beschützende und die Weisheit lehrende. Dass der Heilige Geist dann auch aus Christus hervorgehe, liegt am Wesen der Dreifaltigkeit: Christus ist gleichursprünglich mit Gott Vater und der Heilige Geist gleichursprünglich mit beiden. Er sah es wie eine Gegebenheit der Natur an, wo sich ja auch oft der Kreis erst schließt, wenn drei Kräfte zusammenwirken. Das Fohlen wird geboren, dann wird es gesäugt und getränkt und erst unter dieser Voraussetzung galoppiert es in die Welt. Da es jeden Tag fressen und trinken muss und sich dann gerne bewegt, geschieht also die Geburt sinnbildlich jeden Tag aufs Neue und erst mit der dadurch ausgelösten Begabung lässt sich die Kraftanstrengung, die in der Welt nötig ist, erbringen. Kein Mensch kann ohne die drei Kräfte leben und wirken: Die Erde und der Körper sind der Boden der Entstehung, was jeden Tag eine Rolle spielt, das Herz ist die Fähigkeit zur Gemeinschaft mit anderen Menschen und der Geist die Möglichkeit, dem Leben Sinn zu geben. Dass dies täglich unwillkürlich nötig ist, damit es Leben gibt, zeigt die Natur myriadenfach. Dass der Mensch lerne, mit anderen Menschen zusammenzuleben und seinen Teil für sie zu opfern, ist eine täglich neue nötige Entscheidung, und dass er dies alles und die schwierige Welt durchdringe, ist eine Gabe Gottes und des Lebens, die leider manchen auf immer verwehrt bleibt, sodass sie jeder Bewegung, jedem Heilsprediger und Kraftprotz, ja jeder Irrlehre nachlaufen, die sie mit materiellen Versprechungen oder utopischen Werten dazu verleiten. Diese werden nie Menschen im vollständigen Sinne werden, wenn sie sich nicht darum bemühen, Seelenheil zu erringen. Zumindest zu anderen gut zu sein, müssen sie lernen, auch wenn sie die Welt nicht durchschauen. Der Geist ist kein Wert an sich und auch keine Voraussetzung dafür, in den Himmel zu kommen. Aber die Güte und die Nächstenliebe anderen Menschen gegenüber, um die sich jeder Mensch bemühen kann, wenn er denn will, ist eine Voraussetzung. Er hätte das alles gerne selbst aufgeschrieben, aber dazu ging es zu langsam und er würde wertvolle Zeit verlieren, die er als Ritter anders einsetzen musste. Er war Ritter, kein Philosoph, kein Schreiber, auch kein Geistlicher. Er würde es Schreibkundigen erzählen, damit sie es festhalten könnten. Er war sich sicher: Für Menschen im Zustand der bloßen Kreatur, die schlimmer handeln als Tiere, die ihre Gattungsbrüder und –schwestern, ja ihre Artgenossen ermorden, um zu überleben oder auch nur besser zu leben, kann es keinen Himmel geben. Die Vorstellung, dass selbst Hunde oder Katzen mit ihren ungereiften Tierseelen, die im Gegensatz zu Kinderseelen nicht entwickelbar, sondern nur im Geschirr abzurichten sind, dass auch diese in einen Himmel kommen könnten, war für ihn als aufgeschworener Ritter undenkbar. Er liebte sein Pferd, aber er hatte kein Bedürfnis, ihm im Himmel zu begegnen und es unter Umständen sogar noch füttern und tränken zu müssen. Wenn ich, so dachte er, von einem Ring zwei Drittel weglasse, dann ist es gar nichts außer eine gefährlich spitze Waffe ähnlich einem Schlagring. Wenn ich nur ein Drittel wegnehmen würde, wäre es zwar auch kein Ring, aber ein mögliches Schmuckstück wie ein Halbmond oder eine Sichel. Wenn ich einen vollständigen Ring geschenkt bekomme, muss ich ihn hüten und wie ein Kleinod pflegen. Wo sollte also das Problem sein? Heilige waren dies für ihn, die ihre Seele dank Gottes Hilfe zu einem edlen glänzenden Ring, der weithin strahlt, ausbilden durften. Man könnte allerdings jetzt wie sein Freund Jan der Niederhusener darüber nachdenken, ob denn Gott, Christus und der Heilige Geist wirklich eins im Sinne einer Person sind, also eines Wesens, oder eins im Sinne eines Zusammenwirkens wie bei einem Baumpilz, der auf der Rinde sitzt und das von ihr hochgezogene Wasser trinkt, das die Rinde aber ohne den Baumstamm natürlich nicht hätte. Aber darin bestand für ihn überhaupt kein Gegensatz: Bei einem Menschen leben doch auch die Organe voneinander, und der Kopf wäre ohne den Körper, in dem unser Herz schlägt und fühlt, der Körper nicht ohne den Kopf möglich, wie er auf dem Schlachtfeld bei kopflosen Rümpfen gesehen hatte. Und auch der normale Tod eines Menschen kommt doch vom Kopf aus, das hatte er bei seiner Oma und bei seinem Opa traurig mit ansehen müssen. Schon lange hatten sie ihn nicht mehr erkannt, als der Körper noch vor sich hinlebte. Alles hängt von allem ab. Irgendwie ist auch alles mehr eine Energie, eine Kraft, was wir Körper nennen. Selbst Steine zerbrechen oder verbrennen ja im Laufe ihres Daseins, das viel länger währt als das Leben eines Menschen. Wo also sollte das Problem sein? Die Kraft faltet sich nach drei Seiten aus und ist einig mit sich selbst. Was wäre ein mögliches deutsches Wort für diese Einheit mit sich selbst? Dreifaltigkeit und Dreieinigkeit, so dachte er, wären gleichwertige mögliche Bezeichnungen für diese eine Kraft, aus der heraus alles lebte, fühlte und dachte. Ihm schien es im vollen goldenen Glanz der hochstehenden Mittagssonne so, als ob es noch mehr Scheingegensätze dieser Art geben würde.

Eine Schrift, die in der ungebrochenen Helroder Sprache niedergeschrieben war, verstand er nicht so richtig. Sprachlich schon, denn gemeint waren „Die Neun Weisen der menschlichen Seele“:

Die nöng wiese van de menschlische Siel

Et jitt mensche, denne kannste en völl saache et niemals wereklisch rischtisch maache. doch wat die denke und och saare, kann e dörep düresch nuutzick draare.

Et jitt och mensche, die jäe helepe, wenn angere en e Onglöck talepe. Doch wenn die einem suu jet schenke, moss du och emme an se denke.

Dann jitt et mensche, die send stolz, enne staaze stieve stamm uss holz. Alles ess joot, wenn man se iert, wemme övve se laat, ess alles vokiet.

Deo nächste typos ess empfindlisch on ess och schnell at jet beleidisch, evve deo hätt richtig joot eidie, idiotos ess ä woet davüe.

Die mensche, die de janze zick am denke send, wa ten se lick, die hant die angere em greff on stond am steuer bei e scheff.

Wenn enne mensch zwesche zwei stöhl sich setzt, weil der enn sie gevöhl sich net entscheide kann beim röttsche, dann setz der sich op et eije vöttsche.

Ich kann alles, on zwa sofort, tüent deo jonge welde am ort, wo er am wereke on schaffe ess, die hälevde, wat deo maat, ess mess.

Könning on kayser, dat benn isch, du enne kleene äreme wisch. wenn du disch mir net ongestells, dann zeisch isch disch, watte von mir hells.

Loss misch enn rou onn röisch schloofe, denn et jitt nix schöneres als poofe. evve wenn du enne schlööver stüers, dann duet et net lang, bess du em hüers.

Was er verstand, war die Beschreibung von neun verschiedenen menschlichen Verhaltensweisen, die diese von Natur aus haben sollten, sodass man ihr Verhalten verstehen, ja fast schon voraussehen konnte. Aber er wusste nicht, woher diese Erkenntnis kommen sollte. Ob Cornelius der Weber das so verfasst hatte? Oder vielleicht der feinsinnige Aloisius aus dem gleichen Hause unten am Dorfrand? Er las es in seiner neueren Sprache und versuchte, die eigentümliche Form der Endungen dieser einzelnen Verse so genau wie möglich hinzubekommen, da sie im Original ja gleich oder ähnlich klangen, aber in seiner Sprache war das nicht möglich: