Die Dulderin - Heinz-Theo Frings - E-Book

Die Dulderin E-Book

Heinz-Theo Frings

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Beschreibung

Das Geschehen des Romans DIE DULDERIN rankt sich um das Leben der Kurfürstin Anna Maria Luisa de Medici und setzt an bei ihrer Jugend in Florenz in den schwierigen politischen und persönlichen Verhältnissen der Medici. Ihre Kunstliebe und ihre Haltung als adlige Frau formieren sich und sind Grundlage ihrer Ehe mit dem Herzog und Kurfürsten Johann Wilhelm II. und ihrer Übersiedlung an den Hof zu Düsseldorf. Ihr aktives und kreatives Leben ist überschattet durch ihre Kinderlosigkeit, sodass sie als einflussreiche und religiöse Frau ihrer Zeit im Bereich der Volksmission tätig wird sowie als Kunstliebhaberin agiert. Nach dem Tod ihres Gatten verlässt sie Düsseldorf und lebt in Florenz, wo sie erdulden muss, dass man ihr als Frau den Großherzogstitel verweigert.

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Hauptbild aus dem Hehlrather Barockaltar, der dem ehemaligen Kapuzinerkloster Aldenhoven entstammt – Gemälde des Malerpaters Damian, Schüler der Antwerpener Malerschule um Jacob Jordaens mit Einbezug seiner Erfahrung der italienischen Maltechnik durch Caravaggio nach einer Italienreise. Äußeres Motiv ist die Himmelfahrt Mariens auf der Kompositionsbasis des Peter Paul Rubens (1577 – 1640) in einem Arrangement gemäß der späten Malweise des Jacob Jordaens (1593 – 1678, Rubens-Schüler), Entstehungszeit um 1700. Inneres Motiv ist die Kinderlosigkeit der Ehe des Kurfürsten Johann Wilhelm II. zu Düsseldorf (1658 – 1716, Kurfürst von Pfalz-Neuburg (ab 1690) und Herzog von Jülich und Berg (ab 1679), der als Kopf des Lieblingsjüngers dargestellt ist. Blonde Frau: seine erste Gattin Erzherzogin Maria Anna Josepha (+ 1689), daneben im braunen Kleid seine zweite Gattin Prinzessin Anna Maria Luisa de‘ Medici aus Florenz (+ 1743, Tochter des Großherzogs Cosimos III.).

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

01

Warum musste denn ausgerechnet ihre Mutter ein solches Scheusal sein, was Anna Maria Luisa seit Jahren zwar wusste, aber noch nie so unabdingbar gespürt hatte wie jetzt, da sie ihre Gebieterin vor ihrem Vater jammern und flehen hörte, sie bereue ihre schlimmen Anfälle von Jähzorn, sie verstehe auch nicht, warum sie täglich so widersprüchlich sei, sie hasse ihre hinterhältigen Gemeinheiten, beschwöre seine Gnade und gelobe Besserung. Reden können alle in ihrer Umgebung, dachte Luisa voller Angst, dass sie selbst das niemals so galant könne, aber auch im Bewusstsein, dass sie es niemals so eloquent wolle, wie sie es hier hörte und oft schon in den Regeln der Hofetikette gelesen hatte. Warum denn jetzt dieses Geplärre ihrer Mutter, wenn diese in ihrer Abwesenheit zwar offensichtlich zerknirscht war, aber morgen schon wieder eine Ekelin sein konnte, kalt wie ein Stein, berechnend wie eine sich anschleichende Katze, explodierend wie der Vesuv in seiner gefährlichsten Zeit? Mit ihren sieben Jahren verstand Luisa nun zwar schon viel, zumal sie ja schon eine standesgemäß hohe Bildung genossen hatte, aber nicht, wieso Gott einer solchen Xanthippe eine so samtweiche Altstimme gegeben hatte, mit der diese stundenlang Madrigale sang, um auf sich aufmerksam zu machen und ihrem Überschwang oder ihrem Leiden Ausdruck zu verleihen. Motetten und Canzonen sangen sie oft gemeinsam, da ihre eigene hohe Sopranstimme dazu passte und das Dunkle des Weltschmerzes in der Stimme der Altistin mildernd überlagerte, wenn nicht gar verscheuchte. Ihre Mutter hatte vor ein paar Monaten einen römischen Komponisten empfangen, Giacomo Carissimi, der mit einem ganz jungen Schüler bei ihnen in Florenz zu Besuch war. Sie hatte ihn eingeladen mit der Bitte, für sie beide eine Fassung des STABAT MATER zu komponieren, die zweistimmig sein sollte und wenig Begleitung nötig habe, ja vielleicht sogar mit Gitarren- oder Lautenklängen untermalt werden konnte. Sie wusste nicht genau, wie er hieß, irgendwie Peter und Alexander und noch ein dritter genuschelter Name war dahinter, aber jedenfalls Scarlatti mit Nachnamen. Er war fünfzehn, schon hoch aufgewachsen und hatte einen neugierigen Blick, der aber wegen seiner schmalen Wangen und seines harten Kinns etwas geheimnisvoll wirkte. Er war ein großes musikalisches Talent und meinte von sich überzeugt, dass er später eine Orchesterfassung dieses Werks schreiben würde. Auch Anna Maria Luisa wusste, dass ihre Lehrer von ihrer Begabung begeistert waren. Überhaupt waren Cembalospiel und Tanzunterricht das Einzige, was sie und ihre Mutter geistig verband. Dann verschwanden Angst, Unverständnis und Abscheu. Aber sie kehrten wie eine wild reitende Geisterschar zurück, wenn die Großherzogin Luisas Vater bissig quälte und entsetzlich anschrie und ihre Augen aus dem Kopf starrten wie scharfe Dolche, die zustechen würden, wenn die Zeit für einen Mord in diesem verfluchten Florenz wieder einmal gekommen sein würde. Deswegen war es auch wirklich besser, dass diese heißblütige Bourbonin in einem anderen Schloss leben würde, wie ihr Vater es wollte. Dieser Cosimo Tertio, wie sie ihn liebevoll witzig nannte, war Luisas Sehnsucht. Sein Leben mit Jagd und Angeln, Reiten und Fechten möchte sie teilen, denn sie hatte den amazonenhaften Körper ihrer Mutter, die ja auch halbe Tage lang mutterseelenalleine wie der Teufel durch die Felder der Toskana ritt, oft hin bis San Gimignano, aber den ruhigen humanen Geist ihres Vaters, der zwar nicht so schön sang, aber Kunst und Malerei, Statuen und Fresken liebte und viele Bauwerke nun vollenden ließ, aber etwas verzweifelt war, in welchem Zustand er als Großherzog von Florenz seine Stadt, seine Lilie, die die Römer einst verehrten, belassen musste. Er war froh, dass er und seine Familie wieder in die Stadt zurückkehren konnten und die Herrschaft wieder in der Hand hatten. Zwischen den Geschlechtertürmen hausten die Untergebenen in brechenden alten Häusern und Hütten, wenn sie nicht mangels eigener Wohnungen in den fast fensterlosen Hochhäusern wie Leibeigene eingesperrt lebten. Es drückte ihren Vater nieder, dass noch so viel zu tun war. Wie sollte sie das alles verstehen, wie damit zu leben lernen, wie ein Glück finden, dessen Trübung nicht gleich schon wieder stärker zu werden drohte als die Freude der jeweiligen gemeinsamen Empfindung.

Anna Maria Luisa saß wie so oft heimlich im Nebenraum unter dem Tisch, weil sie dort niemand sah, und sie hörte dem Keifen und den erschrockenen, ja fast weinerlichen Erwiderungen ihres Vaters zu. Sie verstand jedes Wort, denn ihr Gehör war so feinsinnig, dass ihr Vater ihr manchmal vorhielt, sie höre durch die Palastmauern das Gras wachsen. Es ging wieder einmal um alles: Liebesverhältnisse, die ja in ihren Kreisen normal zu sein schienen, Eifersucht auf bevorzugte Verwandte, da man ja ausschließlich politisch dachte, und um Geldzahlungen und Unterhalt für Schmuck, Vergnügungen und den aufwändigen Alltag mit vielen Bediensteten. Und es ging um sie, die man kurz nur Ludovica nannte, und ihre Brüder Ferdinando und Gian Gastone, der drei Jahre alt war und das alles noch nicht verstand, aber nur noch schrie und herumzappelte, mit hochrotem Kopf durch die Gegend rannte und sich ständig auszog, weil er eingenässt hatte. Er wirkte wie ein ständig überaktiv Kranker. Es war wirklich für sie sehr mühevoll, der Amme immer wieder einmal zu helfen, das alles wieder ins Lot zu bringen. Mittlerweile hatten die beiden Jungen zusätzliche Betreuer, der kleine eine Erzieherin und der große, der schon zehn Jahre alt war, einen Hoflehrer. Ihr jüngerer Bruder war, wenn er nicht überdreht, sondern leergebrannt war, mehr einer dieser Träumer, der ständig mit offenem Mund und in den Nacken gelegtem Kopf dasaß und nichts zu verstehen schien. Seine Augen blickten ins Leere und schienen doch mehr zu sehen als normale Irdische. Man konnte in ihm einen Weisen vermuten mit der Gestik eines Deppen. Eines hatte sie in den letzten Jahren, in denen sie dies bewusst erlebte, schmerzlich erfahren. Sie wusste nun, dass alle Äußerungen ihrer Mutter auf einen Ausruf zurückzuführen sind, den diese unglückliche Frau aber niemals bewusst denken, geschweige denn über ihre Lippen bringen würde: Ich bin anders, aber ihr lasst mich nicht! Dazu kam dann diese nervliche Aufgestacheltheit, als wenn ein ständig wirkendes Gift ihre Galle zersetzen würde. Anna Maria Luisa hatte gehört, dass dies nicht ganz untypisch für die Bourbonen war. Ihre Mutter, Marguerite Louise de Bourbon-Orléans, nun Großherzogin der Toskana, war eine Tochter des Herzogs Gaston d’Orléans aus zweiter Ehe, und deren Mutter war Margarete von Lothringen. Über deren Vater war sie sogar eine Cousine des Königs Ludwigs XIV. Aber schon über das junge Leben der Bourbonin lastete ein großes Schicksal, denn sie musste ihre Kindheit in der Verbannung verbringen, weil ihr Vater wegen seiner ständigen Intrigen und Übergriffe auf das Vermögen anderer auf Schloss Blois geschickt worden war, von wo er sich nicht mehr als tausend Meter im Radius entfernen durfte. Und sie eben auch nicht. Ohne offizielle und auch heimliche Bewegungsfreiheit musste man im Leben doch sicher verrückt werden. Als Marguerite Louise dann die Aussicht hatte, ihren Vater, Großherzog Cosimo III. – als zweite Wahl – zu ehelichen, weil Kardinal Mazarin dies so lanciert hatte, dauerte es wegen der hohen Mitgiftforderungen noch drei Jahre, bis die Ehe ihrer Eltern zustande kam, und darin sah Luisa einen wesentlichen Grund für die misanthropische Grundhaltung ihrer Mutter, die ja auch gar nicht zum vergeistigten und von Klerikern durchsetzten Florenz hin wollte, da sie lieber auf die Jagd ritt und sich tanzend und singend vergnügte.

Wie soll ein Kind, ob nun ein Medicimädchen wie Luisa oder ihre Freundin Lisa, die einfache Tochter einer Weinverkäuferin im Hause Medici, das aushalten, die zuhause andere Szenen ehelicher Auseinandersetzungen erlebte? Befreundet hatten sie sich im Geiste einer verschworenen Schicksalsgemeinschaft.

02

Oft schon hatte sie mit Lisa zusammen Wein verkauft. Es war Wein der Toskana aus dem Anbau der Medici, den sie, wenn er gekeltert, gelagert und abgefüllt war, vermarkten ließen. Das war auch für junge Mädchen eine völlig ungefährliche Tätigkeit, denn sie kamen überhaupt nicht in Kontakt mit dem Kunden. Jetzt, wo sie beide elf Jahre alt waren, machten sie sich einen Spaß daraus. Sie saßen innen eng beisammen vor dem Weinverkaufsfensterchen, eine kleine Aussparung in der Mauer mit einer Höhle dahinter. Die großen und kleinen Türen des Palastes waren rundum verschlossen und niemand konnte zu ihnen durchdringen. Ob Frauen oder Männer, sie riefen von außen ihre Wünsche in dieses Loch hinein und bekamen von innen mitgeteilt, wieviel Geld sie möglichst abgezählt in die Holzlade legen sollten. Manche Paläste hatten auch einen kleinen Aufzug, damit der Wein aus dem Keller nicht hochgeschleppt werden musste. Dieses Fenster der Mediciweinverkäuferinnen gegenüber vom Palast war besonders apart, denn es hatte die Form eines schmalen gotischen Fensters mit einem Faschenrand, der rötlich gestrichen war. Die Verkäuferinnen zogen einfach die Lade, die ein horizontales Brett als Sichtschutz besaß, nach hinten, zählten das Geld und setzten dann eine Flasche auf die Lade, die sie wieder nach vorne schoben. Manchmal mussten sie auf diese Art mehrere Flaschen hintereinander herausgeben, denn es ging nur immer eine Flasche durch das Fenster, das in Höhe des Bauches eines erwachsenen Käufers in die Mauer eingelassen war. Für den großen Verkauf über Tag im Hof waren die Arbeiterinnen und Arbeiter zuständig. Am Abend war dann meistens Lisas Mutter reif, die den Haushalt im Gesindehaus führte, und damit oft Lisa selbst, wenn die Mutter zu sehr eingespannt war. Und sie freute sich über diese einzige Möglichkeit, mit einer Untergebenen zu sprechen, denn Lisa war im Gegensatz zu ihr sehr mitteilungsfreudig. Nur singen konnte sie überhaupt nicht, was sie aber nicht einsehen wollte. Sie traf den Ton nicht, sodass die Hunde in der Umgebung unruhig wurden, und wenn sie es lauter versuchte, fing sie an zu krächzen. Aber ihr helles Lachen war umwerfend fröhlich und überhaupt war sie ein völlig unverbogenes liebes Wesen. Ihre Zähne ließen zu wünschen übrig, aber das war in den gesellschaftlich höheren Häusern überall, wie sie wusste, nicht anders. Wehe, man bekam Zahnschmerzen, dann war man bestenfalls den Badern ausgeliefert. Daran mochte sie nun nicht denken.

Anna Maria Luisa war sich ihrer Verantwortung bewusst. Sie nahm in den folgenden Jahren das aus ihrer Sicht unabwendbar Üble hin, ohne zu sehr in Wehmut zu verfallen, und das unabänderbar Niedrige um sie herum versuchte sie zu ignorieren und filterte das Angenehme heraus. Sie blühte auf, wenn sie Kunst und Musik um sich hatte, und schrieb gerne längere Briefe, so zum Beispiel an ihre Vettern, die fürstliche und geistliche Laufbahnen planten. Sie sog das Künstlerische, das es in Florenz auf Schritt und Tritt gab, in sich ein wie die Lunge frische kühlende Luft, die es in der Realität dieser exaltierten Stadt witterungsbedingt ja kaum gab. Das allerhöchste ihrer Gefühle entwickelte sich jeweils, wenn sie heimlich ausbüchste und sich zur Werkstatt des Bildhauers Marcello Venusti schlich, in der einst Michelangelo, den alle den Göttlichen nannten, gewirkt hatte, als er die Pieta, den David und die Sklaven schuf. Es standen hier noch einige Skulpturen von Michelangelo, die unbeachtet blieben, weil Meister Venusti nur noch malte; diese Figuren hatte der Göttliche selbst noch angefangen. Es war ihr etwas Sonderbares aufgefallen. Da, wo sie jetzt in der oberen Zahnreihe in der Mitte vier Zähne zum Abschneiden von Brot, Käse oder Wurst hatte, hatten zwei der Unvollendeten fünf. Einen in der Mitte wie ein Mal, das den Körper verunstaltete und das man deswegen als Teufelswerk betrachtete. Sie konnte nicht lange hinsehen, denn es war ihr, als hätten diese Skulpturen Schuld anderer Menschen auf sich geladen und würden diese durch ihre Belastung tilgen. Am interessantesten war es, sich Zugang zur Pieta im Dom zu verschaffen, an der der alte Michelangelo, wie ihr Vater ihr erzählt hatte, 20 Jahre gearbeitet hatte, bevor er sie in einem Wutanfall selbst massiv beschädigte. Er muss zugeschlagen haben wie ein Irrer. Manchmal, wenn sie an diese Geschichte dachte, bedauerte sie, dass ihre Mutter ihre Wut nicht mit einem großen Steinhammer an einer Statue auslassen konnte, sondern ihren Vater oder andere solange malträtierte, bis sie dastanden und dreinblickten wie eine beschädigte Figur. Dann wäre ihr doch sicher besser zumute und ihre Wut würde auf Dauer doch sicher so verrauchen? So jung, wie sie war, sie kannte die Geheimgänge, die ihre Familie verwendete, um ohne Berührung mit dem Volk vom Palazzo Pitti über die Ponte Vecchio in den Palazzo del Signoria zu gelangen und von dort mit wenigen Schritten über Hinterhöfe oder schmale Sträßchen sogar zum Dom zu kommen. Im Dom hatte sie die Möglichkeit, auch hinter die Pieta zu gehen und die Personen von hinten zu betrachten, um dann von dieser fast rohen unbearbeiteten Seite aus um die Gruppe der Leidenden langsam herum zu schreiten und zu sehen, wie die Bearbeitung immer besser, genauer und glatter wird, bis sie in den perfekt und edel herausgearbeiteten Zügen und Gliedern des vom Kreuze Genommenen zur Gestalt völligen Wohlgefallens finden. Sie streichelte die Beine Jesu; in hunderten von Jahren würden sie poliert sein. Und in Nikodemus, dem Schutzpatron der Steinmetze, bewunderte sie Michelangelo selbst, denn das hatte ihr Vater ihr versichert: Es ist ein Selbstporträt des Künstlers. Den Wutanfall des Michelangelo kann niemand so richtig erklären, aber da es ja die Statue für sein eigenes Grab sein sollte, muss etwas zwischen diesen Gedanken an den eigenen erlösenden Tod gekommen sein, sodass sich Michelangelo der Befreiung von lastenden Pflichten lossagen musste, sich von der Utopie eines ruhigen Alters verabschieden musste, ohne dass er konzentriert dieses Kunstwerk vollenden konnte. Ihr Vater meinte, dass Papst Paul III. daran schuld gewesen sei, der dem noch sehr kranken Michelangelo den unabweisbaren Auftrag gegeben hatte, den Petersdom mit einer sehr schwierigen Kuppel zu bauen, die die Kuppel ihres Domes in Florenz weit übertreffen sollte. Das habe seinen Lebensabend so überdeckt und es habe so gar nicht seinem eigenen Willen entsprochen, sodass er in einem einzigen Wutausbruch vor sich selbst symbolisch offenlegen musste, dies zerstöre die Ruhe seines Alters. Andere würden apathisch werden und inaktiv reagieren, aber er habe sich mit einem einzigen Akt die Luft für die Erfüllung seiner Pflicht errungen. Nur so könne er diese Aktion verstehen. Kurz vorher habe übrigens sein Lieblingsschüler ihn unangekündigt verlassen. Wenn sie vor dem David des Michelangelo stand, wurde ihr immer ganz schwummrig. Einen nackten Mann im eigenen Leben hatte sie noch nicht gesehen. Sie hatte gehört, dass nicht wenige Frauen des Adels viele Kinder bekommen hatten, ohne ihren eigenen Mann jemals nackt gesehen zu haben. Bei fast jedem Tier konnte man ja an der Männlichkeit überhaupt nicht vorbeischauen. Und manchmal hatte sie bei Pferden gesehen, wie der Hengst fast wie lächelnd in der Luft Witterung aufnahm, an der Stute roch, dann mit einem plötzlich ganz steifen langen Geschlechtsteil von hinten auf die Stute stieg und ein paar Mal zustieß, um dann wie erschlafft über dem Rücken der Stute träumerisch herunter zu gleiten und minutenlang vor sich hin zu trotten, als wenn er blöde geworden wäre. Manchmal wieherte die Stute wie im Triumpf. Aber danach sah das jetzt beim David nicht aus. Und von hinten, wie sollte das bei Menschen denn gehen? Überhaupt konnte sie sich gar nicht vorstellen, in welcher Form Menschen sich begatteten und wie das mit einmal kurz riechen so schnell abgehen sollte. Auch hatte sie beobachtet, dass es zwischen Mann und Frau heimliche Berührungen gab, die mit dem Geschlechtsakt, wie ihre Amme das nannte, zu tun haben müssten.

Einmal, so drängte sich dieses Bild nun wieder auf, hatten sie die Rute eines Mannes nackt vor sich gesehen. Sie hatte mit Lisa an der Weinlade gesessen. Sie hatten ein sonderbar plätscherndes Geräusch gehört. Nachdem sie die Lade schnell zurückgezogen hatten, starrten sie auf ein pinkelndes männliches Glied, wo wie aus einer Wurstpelle eine rote fleischige Erdbeere herausschaute. Wie eine übergroße Eichel im Walde, hatte sie gedacht. Kein Vergleich mit dem dicken Riemen eines Hengstes. Zwei Sekunden waren vergangen, bis ihr kindliches Nachdenken zu einem plötzlichen und erschreckenden Ergebnis gekommen war. Sie waren wie auf Kommando zugleich zurückgezuckt und hatten rasch die Lade vor das Fenster gestoßen. Sie hatten sie mit dem Drehbolzen verrammelt, sodass niemand das hölzerne Gestell nach innen drücken gekonnt hätte. Und sie waren zuerst starr vor Schreck gewesen mit diesem Bild vor Augen und hatten verstanden, dass es, so kurz das Hinschauen gewesen war, ihnen noch lange im Hirn aufflackern würde. Aber dann hatten sie sich in ihre noch schreckstarrenden Augen geschaut, die Köpfe zusammengesteckt und ein herzerfrischendes befreiendes Lachen angefangen, sodass Lisas Mutter gekommen war und erstaunt gefragt hatte, was denn los war. Anna Maria Luisa hatte gemeint: Ich glaube, es fängt an zu regnen. Können sie mich mit ihrem neuen regenfesten Schirm gleich über die Straße nach Hause begleiten? Diesen Wunsch hätte die Mutter Lisas zusammen mit Lisa gerne erfüllt. „Aber es regnet doch gar nicht!“ hatte sie am Tor erstaunt angemerkt. Da hatten Lisa und Luisa vor sich hin gekichert, sich aber beide über die Schulter umgesehen, worüber die Mutter sich wunderte. „Es hat sich eben aber mal kurz so angehört!“ hatte Lisa sie daraufhin beruhigt. Die Mutter ließ es gut sein.

Anna Maria Luisa wurde wagemutiger und schlich sich eines Tages aus dem Hinterausgang der Scheune, in der Meister Venusti seine Werkstatt hatte, heraus in das angrenzende Viertel, um zu sehen, ob es hier noch weitere Kunstwerkstätten gab. In ihrer dunklen Kleidung mit langem Rock und Kapuze würde sie sicher niemand erkennen können. Dabei geriet sie aber in das jüdische Ghetto, das im Jahrhundert zuvor in Florenz eingerichtet worden war. Es war ein harter Schritt in der Politik ihrer Familie gewesen, diesen Bereich zu befehligen, und sie hatte als Kind nicht ganz verstanden, warum es sein musste. Hunderte Menschen aus den verschiedenen Orten hier auf engem Raum unter sich zusammengeschoben, weil sie sonst eine Gefahr für Florenz wären. Aber was denn für eine Gefahr? Wirtschaftlich, weil sie tüchtige Händler waren? Hygienisch, weil ihre Bräuche ungewöhnlich waren? Sie waren doch friedlich und hatten strenge Sittengesetze, vor ihnen musste sich doch eigentlich niemand fürchten. Das Viertel wurde immer dichter besiedelt und viele Menschen begegneten ihr, aber sie waren so mit ihrem Tun beschäftigt, dass niemand sie als außergewöhnlichen Besuch bemerkte. Auch die Juden aus den nahegelegenen Ortschaften Montalcino, Torricella, San Miniato, Montepulciano und Prato mussten in dieses Ghetto, das über zwei mit Toren verschließbare Zu- bzw. Ausgänge verfügte. Es war sonderbar, dass der Meister Venusti also einen geheimen Hinterausgang zu diesem Viertel hin hatte. Vielleicht verkaufte er ja auch hier seine eigenen Skulpturen, beispielsweise die des Moses, bei der sie immer gestanden und sich gefragt hatte, warum denn Hörner auf dem Kopf seien, bis der Meister ihr erklärte, dass dies keine Hörner wären, denn dazu seien sie ja unten auch zu breit gearbeitet, sondern dass dies Lichtstrahlen darstellen sollte, die Moses von Gott empfange und mit ihnen die göttlichen Gesetze. Vielleicht aber kaufte der Künstler hier auch seine Farben zu günstigeren Preisen als bei den Händlern am Ufer des Arno. Die Gebäude links und rechts waren hoch und hatten wenig Abstand, und so fiel nur wenig Licht in diese engen Gassen. Sie rutschte mehrfach aus auf dem nassen Kopfsteinpflaster und befürchtete zu fallen, weswegen sie nun langsamer ging und spürte, wie eine große Furcht in ihr wuchs. Keiner würde sie hier kennen, niemand würde ihr glauben, dass sie die Tochter des Cosimo di Medici war. Man würde sie gefangen nehmen und – ach Gott, ihr fielen die Mythen um die jüdischen Gottesdienstgebräuche ein. Man würde das Blut von Kindern als Messwein trinken! Ach Gott, sie hatte das nie geglaubt, so etwas können sich doch nur entsetzliche Menschen ausdenken, die den christlichen Ritus missachteten, obwohl sie selbst Christen waren. Oder Ungläubige. Und sie wusste, dass ihr Vater darauf bestanden hatte, dass die Gesetze in Bezug auf das jüdische Ghetto nicht zu streng sein sollten. Die Familien sollten ihr eigenes Leben führen können. Die Juden hatten die Erlaubnis einer Selbstverwaltung zugesprochen bekommen, es gab Schulen und koschere Geschäfte. Ein Rabbinatsgericht war für rechtliche Angelegenheiten zuständig, das wusste sie, und in ihr stieg die Hoffnung auf eine gerechte und menschliche Behandlung auf. Die Bewohner des Ghettos wurden nicht brutal behandelt, und wohlhabende Juden konnten überhaupt weiterhin in anderen Stadtteilen ansässig bleiben, womit ihr Vater auch an eigene Wohlbefindlichkeiten gedacht hatte. Die Sepharden mussten überhaupt nicht in das Ghetto umziehen. Es gab deswegen ja in Florenz zwei Synagogen – für den italienischen und den sephardischen jüdischen Ritus. Für diese Erlaubnis hatten die Juden sich schon im Vorfeld den Medici gegenüber als sehr dankbar gezeigt, denn bis dahin mussten sie alle dem italienischen Ritus beiwohnen. Außerhalb des Ghettos lebten viele Sepharden. Allerdings hatte der Großfürst sich daran gestört, dass manche in der Nähe von Kirchen wohnten und er überlegte schon seit einiger Zeit, ihre Rückkehr bzw. Übersiedlung ins Ghetto zu erzwingen. Doch im Vergleich mit anderen Ländern war man in Florenz gegenüber den Juden ziemlich großzügig, wie ihr Onkel Kardinal es stets betonte. Aus anderen Ländern wusste er Schreckliches zu berichten – bis hin zu Massenmorden, was Luisa sich nie so richtig hatte vorstellen können, was aber der Wahrheit entsprach, wie sie auch von ihrem Vater wusste.

Nun bekam sie Hunger und Durst, doch bevor sie sich weinend in eine Ecke der Straße vor dem verschlossenen und bewachten Ausgangstor gedrückt hätte, ging sie mutig in eine Taverne und erzählte dort von ihrem Schicksal, dass sie sich aus Neugier in das Viertel verlaufen hätte und die Tochter des Großherzogs Cosimo sei. Der Wirt und seine Frau brachen in lautes Gelächter aus und sie wiederholten mehrfach ihre Aussage, sodass die ganze Kneipe von einem schallenden Gelächter erfüllt war. Sie wurde zuerst rot, dann bleich, dann sackte sie leicht in sich zusammen und schluchzte. Die Wirtsfrau eilte zu ihr, nahm sie in den Arm und drückte sie an sich, wobei sie durch das Hochstreifen des rechten Ärmels an Luisas rechtem Ringfinger einen Brillantring sah. Daran hatte Luisa nicht gedacht, es war ihr Prinzessinnenring und nun eine Art Ausweis. Dieser Lichtblick konnte aber auch gefährlich sein, denn dieser Ring war mehr wert als die ganze Taverne. Nun wurde das Gesicht der Wirtin rot und dann bleich und sie flüsterte ihrem Mann etwas zu. Die Juden stellten ihr Wasser und Wein, Brot und Käse hin und sprachen miteinander, dann ging der Wirt zu einem Tisch, wo ein ziemlich grobschlächtiger Händler saß und mürrisch aufsah, dann aber nickte. Luisa wusste nicht, worum es ging, und wollte eigentlich in dieser Situation nur noch weglaufen. Nun kam die Frau zu ihr und flüsterte ihr Folgendes ins Ohr: Der Händler dort am Tisch liefert Pomeranzen aus der Toskana in den Palazzo deines Vaters, er ist ein guter Freund eures Kochs Cornelius Poletto und liefert die Früchte auf einem Ochsenkarren, auf dem er aber eine große Kiste stehen hat, in der sich nur wenige Werkzeuge befinden und in der Platz für dich ist. Wir schmuggeln dich der Einfachheit halber jetzt in dieser Kiste aus dem Viertel raus, sonst müssen wir mit dir noch zum Amtsrichter. Der war eben hier und hat ganz schrecklich schlechte Laune, weil er seine Frau in Flagranti ertappt hat und die sich jetzt weigert, die Holzbohlen im ganzen Haus auf den Knien rutschend zu schrubben. Wir wollen uns das ersparen. Und so geschah es. Die Torwächter nahmen sich aus Gewohnheit je eine Pomeranze vom Wagen und einer meinte, man könne ja auch mal die Kiste kontrollieren, ob da nicht ein paar Flaschen Rotwein drin wären. Der andere lachte und meinte: „Beim nächsten Mal, dann müsste ich ja auf den Wagen klettern!“ Luisa stieg auf dem Hof des Palastes heimlich aus der Kiste, denn ihr Vater hätte den Händler sicher gleich auf der Stelle verhaften lassen. Das hatte man vorher so abgesprochen. Auf ihrer dunklen Kleidung sah man die Rost- und Ölflecken nicht, aber der Gestank in diesem rettenden Versteck war streng gewesen, sodass Luisa sich gleich auch waschen wollte. In diesem Augenblick kam Lisa angerannt und verweilte dicht vor Luisas Gesicht, roch den Gestank, rümpfte die Nase und fragte: „Wonach riechst du denn?“ Da legte Luisa den Zeigefinger auf ihre und andeutungsweise auf deren Lippen und fauchte aufgeregt und vor Beschwörung zischend: „Das erzähle ich dir morgen früh!“

03

Sie stöberte gerne in den Schubladen, aber im Zimmer ihres Vaters hatte sie dies noch niemals gewagt. Heimlich schob sie ihren schlanken Mädchenkörper durch den Schlitz der zum Lüften nicht geschlossenen Tür. Ganz ohne Geräusch würde sie die Schublade am fürstlichen Schreibtisch nicht herausziehen können, aber sie wusste, dass der Kammerdiener, der zu dieser Zeit in der Nähe war, aber das Zimmer nicht betreten durfte, schwerhörig war. So wagte sie es. Und sie erlebte die größte Erschütterung ihres Lebens, denn sie fand einen Brief, den ihre Mutter in der Woche zuvor geschrieben hatte, weil sie ohne Wenn und Aber seitens ihres Vaters in ein Kloster verbannt worden war. Jetzt wusste sie, warum sie ihren Vater laut deklamieren, dann schreien und zuletzt unsäglich erbärmlich schluchzen gehört hatte. Es war dieser Brief, dessen Wortlaut sich wie ein Dolch auch in ihr Herz bohrte und ihre immer wieder noch wie kleine Flammen eines einst großen Feuers aufzuckende und dann verlöschende Liebe zu ihrer Mutter für immer zum Schweigen brachte. Nichts ist ergreifender in der Welt, so fühlte und dachte sie danach oft, als das gänzliche Verlöschen der Liebe einer Tochter. Sie ahnte all dies, als sie den Brief zu lesen begann:

„Durchlauchtigster Ehemann! Als Sie mich in Ihrer unnachsichtigen Strenge vor zwei Jahren vom Hof entfernt haben, wuchs mir sehr viel Zeit zu, über meine Verhaltensweisen nachzudenken. Ich kann nach wie vor nichts Verwerfliches daran finden, dass ich mich in einen jungen unbedeutenden Franzosen verliebt und mich mit ihm vergnügt habe, denn er wusste mir die Spiele der Liebe mit manneskräftiger Ausdauer zu ermöglichen, die ich bei Ihnen nicht finden kann. Ein wildes Herz lässt sich nicht mit Philosophie beruhigen! Noch können Sie mir zum Vorwurf machen, dass ich mit der Gruppe von in Deutschland lebenden Roma urwüchsige abendliche Feste erlebte, statt mit Ihnen am Kamin über die Würde des Menschen zu sprechen, nachdem Sie mir seitenlang aus den Schriften Pico de Mirandolas vorgelesen haben. Ist es nicht dieser Philosoph, der die Willensfreiheit höher als die angepasste Vernunfthörigkeit schätzt? Das herumziehende Volk jedenfalls lehrte mich die Willensfreiheit in einigen anstrengenden Wochen, in denen mich mehr Liebhaber hätten beglücken können als Sie an einem Abend fühlende Worte zum Ausdruck bringen. Nur die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft hielt mich davon ab, mich durch ihre Küsse und Aufdringlichkeiten überrumpeln zu lassen. Ganz unverzeihlich war ihre Intervention in Bezug auf Mademoiselle Bauchmont, als sie die acht wunderschönen Perlen der Krone, die ich ihr geschenkt hatte, zurückholen ließen. Es war mein willensstarker Dank für acht Nächte, in denen sie mich über meine Enthaltsamkeit den zügellosen Männern gegenüber hinwegtröstete und mich vergessen ließ, warum meine blühende Leidenschaft die Kraft des späten Sommers behält, obwohl es Winter wird, denn es war in diesem vorigen Sommer kein Gärtner in meinem Garten, die Rosen zu beschneiden und zu veredeln.

Und nun, da Sie mir im Frühjahr wie auch vor meiner zweiten Schwangerschaft zwangsweise beiwohnten, ich Ihnen aber am liebsten etwas an den Kopf geschmissen hätte, und da ich eine dritte Schwangerschaft feststelle, was mir widerwärtig ist, werde ich wieder alles tun, um diese Frucht der Bitterkeit abzutreiben, wenn es mir auch vor der Geburt der Tochter auf die Art des ungezügelten Reitens nicht gelungen ist. Alles in mir begehrt auf und schreit von Unrecht und Vergewaltigung, da Sie mich tagelang zu den Nächten mit Ihnen verpflichteten unter Androhung drakonischer Strafen und einer erneuten Isolation in einem Kloster. Ich werde wieder reiten, als wenn mich der Teufel einholen wolle, und versuchen das abzuschütteln, was das Schicksal mir aufbürdet.

Mit zorniger Verachtung

Marguerite Louise D’Orléans“

Luise wusste somit, dass sie als zweites Kind eine erzwungene Frucht war, unerwünscht und Gegenstand permanenter im Reiten verborgener Abtreibungsversuche. Jetzt erst konnte sie die Erzählungen der alten Küchenmägde verstehen. Wild wie eine Amazone war ihre Mutter stundenlang durch die Felder und Wälder um Florenz geritten. Einmal musste eine Kutsche sie völlig erschöpft in San Gimignano abholen, einmal lag sie drei Tage mit Bluthusten in Sienas Siechenhaus, nahe den Pestkranken, die nur mit Klappern und Ratschen auf die Straße gehen durften. Als sie weiter in der Schublade kramte, fand sie eine Bestätigung dieses furchtbaren Geschehens. Die Kammerfrau Sybilla de Orsini hatte eine Notiz an ihren Vater gerichtet:

„Sie lässt sich zu ihren Ritten den schwarzen Satansrappen Gorgono mit dem härtesten Sattel zäumen und reitet im Herrensitz, allerdings nicht in den Bügeln stehend, sondern mit dem Schritt sitzend und oft sogar mit den Unterschenkeln nach hinten weggeknickt, sodass sie ungeschützt mit dem Geschlechtsteil auf dem Sattel auftrifft, was nicht nur schmerzhaft sein muss, sondern jedes Mal ihren Gebärtrakt so durchschüttert, dass ihre Leibesfrucht keine Chance haben wird, das Licht der Welt lebend zu erblicken, es sei denn, es geschieht ein Wunder und das Kind hält sich kräftig am Steißbein fest.“

Mit einer solch humorvollen Metapher muss sie die Angst des Großherzogs befriedet haben, für den die biologischen Dinge des Lebens nur beiläufig eine Rolle spielen. Dass der Mensch einen Körper habe, registrieren solche Denkertypen wie ihr Vater nur jeweils, wenn sie selbst Schmerzen empfinden oder die Folgen eines zu üppigen Umtrunks verkraften müssen. Aber dann wähnen sie sich irgendwie weg aus ihrem Körper. Sie hatte immer den Eindruck, ihr Vater sei der Meinung, dass nicht er selbst es war, der nun dieses Problem habe, sondern ein anderer, ein dritter, nicht sein Geist oder seine Seele, sondern sein Körper, mit dem er nicht viel zu tun habe. Weiter schrieb die Kammerzofe allerdings noch:

„Nach dem letzten Ausritt blutete die Großherzogin so stark aus dem Schritt, dass ich ernsthaft die Leibesfrucht in der verklumpenden Körperflüssigkeit gesucht habe. Es kann nicht mehr lange gutgehen!“

Luisa hatte gehört, dass ihre Mutter aufgrund der Eskapaden in den letzten drei Monaten der Schwangerschaft das Haus nicht mehr hatte verlassen dürfen und dass die Kammerfrauen ihre Bäder bezüglich der Badetemperatur und –dauer überwachen mussten. Luisa war zutiefst erschüttert, dies alles zu erfahren. Darüber konnte sie mit niemandem sprechen, erst recht nicht mit Lisa oder deren Mutter. Vielleicht mit ihrer Amme Carina, denn diese hatte er sehr wohl von ihrer Geburt berichtet, bei der die Ärzte sich gewundert hatten, dass ein gesundes Mädchen das Licht der Welt erblickte, nach all diesen Perforceritten, und über die Kraft dieser Tochter, die gleich nach der Entnabelung laut geschrien hatte und sich unruhig und mit langen gespreizten Fingern nach der Brust reckte, unkoordiniert wie ein Hackspecht nach der Milchquelle stieß und feuerrote Wangen bekam. Anna Luisa Maria streckte sich unaufhörlich in Richtung des vor ihr liegenden eindrucksvollen Lebens. Das hatte die Mutter verstanden, und nun freute dem Bericht der Amme nach auch sie sich auf die wenigen Stunden Ruhe der Wöchnerin und vor allem auf die Zeit der Unantastbarkeit durch ihren immer wieder aus langen Wochen des Schweigens, Betens und Grollens herausbrechenden ungestümen Ehemann, wenn er sie begehrte.

Trotz dieser belastenden Gedanken blieb das Kopfkissen Luisas nachts trocken, Weinen lag ihr nicht. Wenn sie in ihrem von einem Baldachin überspannten Bett lag und die Seitengardinen zugezogen hatte, betete sie zur Mutter Gottes. Mutter Maria war ihre Zuflucht und der Fluchtpunkt ihres Leids. Egal, wen oder wohin sie einmal heiraten würde, sie würde die Marienwallfahrtsorte der Gegend besuchen und vielleicht mit Gaben und Geschenken unterstützen, indem sie als Förderin auch Fenster stiften würde, denn die kleineren Kirchen waren ihr meist zu dunkel. Der Dom in Florenz strahlte oft so vom Marmorgepränge, dass sie dies als Maßstab nehmen würde. Die Nachtgeräusche sprachen zu ihr, aber sie sah dahinter keine Gespenster wie Lisa, sondern das Klappern der riesigen Fensterläden des Palastes erinnerte sie an die harten Pauken im Orchester beim dramatischen Höhepunkt einer Sinfonia und das Quietschen der Scharniere hatte etwas von der Unbarmherzigkeit schmetternder Clarinentrompeten. Tiergeräusche waren angenehm wie die Bassetthornklänge und der Wind säuselte um die Ecken, als würden die Violinen leise Töne probieren. Mit dem bunten Bild eines Orchesters im Herzen schlief sie dann ein.

Es gab anmutige Stunden des seligen Friedens und der beruhigenden Erfüllung in ihrer Kindheit, wenn ihr Vater mit ihr am Wiesenrand lag und Tiere beobachtete, sich mit ihr unterhielt und auf einem Grashalm Töne produzierte, als würde eine Schalmei schmettern. Er lachte dann herzlich, wenn sie es ergebnislos auch versuchte. Ein Metzger am Rande von Florenz hatte eine ganz lustige Idee gehabt, die ihr Vater ihr zeigte. Aus einer Schweineblase hatte er einen aufgeblasenen Ball gebunden und sie stießen jetzt mit der Fußspitze gegen diese leichte springende Kugel und schossen sie so mit lautem Lachen hin und her, bis sie dann platzte und das scherzhafte Spielchen zu Ende war. Es gab viele glückliche Stunden. Wenn Gian Gastone sie auf der Gitarre begleitete und sie im mezza voce singen konnte. Italienische Lieder waren schwungvoll, aber ihr Musiklehrer hatte ihr auch französische und deutsche Lieder beigebracht, die durchaus anders waren. Hintergründiger oder melancholischer. Bei diesen Liedern leuchtete Gian Gastones Gesicht am meisten. Und wenn Onkel Kardinal Francesco Maria zuhörte, der Bruder ihres Vaters, der in der Villa Lapeggi lebte, die er prunkvoll für sich restaurieren lassen hatte, dann wurde der Raum von einer Weihe erfüllt, wie sie keine Kirche haben konnte.

Als sie dann acht Jahre alt war, hat ihre unglückliche Mutter eine Entscheidung getroffen, die auch aus dem Blickwinkel der Tochter überfällig war. Margarete Luise von Orleáns verließ ihre unselige Ehe und ging im Jahre 1675 zurück nach Paris. Anna Maria Luisa zog daraufhin zu ihrer geliebten Großmutter Vittoria della Rovere in deren Palast, wo es einen überschaubaren sehr gepflegten Innenhof gab, in dem Luisa sich oft spielend, lesend oder auch betend aufhielt, umsorgt von einer gealterten Dienerschaft der Großmutter. Luisa nannte diesen Palast ihrer übergewichtigen Oma „del Rovere“, aber deren Name war ja Vittoria Della Rovere-Medici und der richtige Name des Gebäudes war Palazzo di Medici Riccardi, von Michelozzo 1444 – 1460 gebaut. Die Oma hatte den Palazzo Pitti verlassen, wo sie streng getrennt von ihrem Ehemann Ferdinando II. de Medici lebte, da auch ihre Ehe sehr unglücklich war. Und auch sie war von ihrer Großmutter erzogen worden. Deren Mann, ein Vetter der Mutter Ferdinand II. de Medici, ist sozusagen inexistent. Luisas Vater Cosimo III. ist der geliebte älteste Sohn von Luises Oma und sie als seine Kinder waren nun Ferdinando, der Anwärter auf den Großherzogtitel in der Toskana, Anna Maria Luisa, die Medici-Prinzessin, und Gian Gastone. Lisa Lauretana sah die junge Mediciprinzessin nun nicht mehr ganz so oft, aber sie musste sich nicht heimlich zu ihr hin stehlen, sondern bekam in Abständen die Genehmigung, sie zu besuchen. Und bei dieser Gelegenheit ließen sie sich nicht entgehen, heimlich auszubüchsen. Es war ja nicht so, dass Luisa die Schattenseiten ihrer Heimatstadt nicht kannte. Mit Lisa hatte sie sich einmal verirrt nach Oltrarno, jenseits des Flusses Arno, dem anderen Florenz. Dort gab es vier schummrige Stadtviertel südlich des malerischen Flusses. Diese Viertel hatten einen schlechten Ruf. Dort lebten arme Handwerker und Arbeiter. Man fand an ihrem Rand brennende Abfallhaufen auf Müllkippen. Nach einer Pestwelle verscharrte man hier die Toten. Man hieß sie auch falsche Seite des Flusses. Dort wollte niemand gerne hinziehen. Nur in der Not lebte man hier. Wenn man die Preise an anderen Stellen der Stadt Florenz nicht mehr bezahlen konnte. Mit dem Stadtzentrum war diese Gegend durch vier Brücken verbunden: Ponte Vecchio, die, zuerst hölzern, nach einem großen Hochwasser 1333 eingestürzt war und neu errichtet werden musste. So wie Luisa und Anna sie kannten stand sie seit 1345. Die Ponte San Trinitate lag bezogen auf die Flussrichtung unterhalb der Alten Brücke. Die Ponte alle Grazie und die Ponte San Niccolò lagen oberhalb. Wenn der Frühling kam, waren alle Brücken gefährdet. Im Viertel Drago Verde lebten tausend Familien. Das hieß ‚Grüner Drachen’ und dort verdienten ungefähr zweihundert Familien ihr Geld als Wollkämmer, Wollwäscher und Wollweber. Florenz war reich geworden wegen der begehrten Stoffe. Von dem großen Verdienst kam nur ein geringfügiger Anteil bei diesen Familien an. Das alles war tragisch. Wie leichtfertig man das in Düsseldorf und, wie sie von einer Bediensteten wusste, auch in Köln sah, wenn jemand auf der anderen Seite des Rheins wohnte und damit im falschen Distrikt, weil man dort wie in Florenz nur mühsam auf sein Auskommen kommen konnte, besagte wohl die in beiden Städten übliche Bezeichnung, allerdings zeigte sich hier die irgendwie ab Benrath andere Ausdrucksweise der Bevölkerung. Während die Kölner „Schäl Sick“ sagten, nannten die Düsseldorfer sie „Schäl Sitt“.

So schlenderten Luisa und Lisa an einem nebligen Herbstabend durch Drago Verde, wo die Mieten günstig waren, weswegen dort viele Angestellte der Stadt wohnten, die also im Nordviertel arbeiteten, und so gab es jeden Morgen und Abend einen Wechselstrom auf den Brücken. Sie mussten nun aber dringend nach Hause. Dazu betraten sie die Ponte Vecchio, bemerkten aber, dass sie von fünf etwas älteren Jungen überholt wurden, die sie umtänzelten und begannen, sie mit den Fingern ihrer plötzlich ausgereckten Hände wie mit Spinnenarmen leicht zu berühren. Ihnen schauerte. Luisa versteifte ihre Haltung und raunte: „Ich bin die Prinzessin!“ Die Burschen lachten laut auf, tanzten sich auf die Schultern schlagend auf der Ponte Vecchio herum und skandierten: „Sie ist die Prinzessin, sie ist die Prinzessin!“ Luisa traten die Tränen in die Augen. Sie bekam Angst und fühlte ihre Ohnmacht. Nur die Existenz, so dachte sie, in der richtigen Umgebung sichert Achtung und Würde. Lisa schrie die Burschen derart schrill an, dass sie zumindest kurz innehielten: „Sacchetti sottovuoto!“ „Ihr Saubeutel! Macht Platz, sonst rufe ich die Polizei! Sbirri, Sbirri!“ Aus dem ersten Haus kam ein fünfzigjähriger Riese mit Schmiedeschürze und Schmiedehammer. Es war Lisas Onkel Pedro, der als einziger Grobschmied auf der Brücke den mittlerweile dort ansässigen Goldschmieden Vorarbeiten leistete. Er hob nur leicht mit einem Arm den Hammer in Schulterhöhe und die Jungen stieben wie junge verletzliche Rehe in Richtung Drago Verde. Sie kamen wohlbehalten und Dank des Onkels Schmied unversehrt jeweils zuhause an. Aber Luisa war an diesem Abend noch lange geistig beschäftigt mit dieser Situation. Sollte sie nur die ihr gebührende Achtung finden in Begleitung von Wachsoldaten oder dem Hoftross? Warum hatte sie nicht wie Lisa einfach mal losgeschrien? Konnte ein Schmied mit einem Hammerdrohen mehr bewirken als die Angst vor der städtischen Ordnungsmacht? In subtiler Form verstand sie die Welt nicht mehr.

04

Anna Maria Luisa feierte am 11. August 1682 in diesem blumenreichen Innenhof des Medici-Rovere-Palastes Riccardi Geburtstag. Sie wurde Fünfzehn. Da sie vor Aufregung nicht schlafen konnte, war sie in den Innenhof geschlichen und hatte im Nachgang der sanft untergehenden Sonne die gleißenden und schimmernden Sterne beobachtet und den großen namenlosen Sternenhaufen in mondloser Nacht. Ein kurz aufzuckender Strahl einer Sternschnuppe erinnerte sie an das Bedürfnis, sich Frieden, Glück und Freiheit zu wünschen. Schon morgens flanierte sie selbst rund und beschnitt mit einer Gartenschere in den breiten Amphoren die verwelkten Blütenköpfe heraus. Mit einem in Olivenöl getränkten Lappen wusch sie die Körper der Statuen. Sie hatte keine besonderen Phantasien dabei, auch wenn die Abbildung der Venus dazu Anlass hätte sein können, aber der weibliche Körper war ihr vertraut. Sie fand es seltsam, dass die Figuren ihre Nacktheit so deutlich präsentierten, wie sie selbst und vor allem auch die älteren Damen des Hofes aus ihrem Körper ein großes Geheimnis machten. Oft sahen ihre Männer sie noch nicht einmal ohne Bekleidung. Bei Lisa hatte sie erfahren, dass dies bei den Arbeitern anders war. Lisa badete manchmal mitten auf dem Hof in einem halbierten großen Weinfass. Als sie 14 waren, fühlte sie sich plötzlich so heftig innerlich berührt von Lisas Körper, ihren kräftigen schlanken Beinen, dem Po so kirschenhaft rund und schön wie der, den sie jetzt mit Olivenöl abrieb, und ihre junge Brust, die kleiner war als ihre eigene, aber straff unter ihrem langen schlanken Hals auf Vorposten war. Da Ludovicas Wangen sich gerötet hatten, lachte Lisas Mutter, die Lisa abrieb, vorsichtig und meinte zu ihr: „Du bist bestimmt genauso schön wie Lisa. Wenn ihr zusammen über die Piazza della Signoria geht, schauen sich ja heute schon die Flaneure um. Man wird euch nicht mehr alleine unter’s Volk lassen können. Macht euch das bitte klar, das müsst ihr mir versprechen.“ Luisa hatte fast stotternd geantwortet: „Meine Oma Viktoria lässt kein Mittagessen vergehen, ohne zu mahnen, dass wir jetzt mit 14 Jahren als Frauen gesehen werden und nicht mehr als verspielte Mädchen. Oft muss ich mehr Unterkleidung tragen, als mir lieb ist, vor allem im Hochsommer.“ „Wenn du hier auf dem Hof bist und es ist wieder so warm wie heute, kannst du gerne einmal ein Leinenkleid von Lisa anziehen. Hier sieht dich ja niemand, wenn ich Lisa bade, denn das haben wir so besprochen, dass die Männer im Weinberg sind oder bei der Auslieferung der Bestellungen. Freitags von drei Uhr bis fünf darf hier kein Mann den Hof betreten“, meinte Lisas Mutter mit einem kontrollierten Lächeln und gab Lisa einen Klaps auf den Po. Lisa motzte vor sich hin. Es war das erste Mal, dass Luisa von der Schönheit eines rehjungen weiblichen Körpers berührt war. Es kam etwas Seltsames in ihr hoch. Ob sie jemals auf der Jagd mit ihrem Vater auf ein Reh würde schießen können? Reiten konnte sie jetzt schon wie ihre Mutter, und wenn niemand sie kontrollierte und ihre ungarische Reitlehrerin mit ihr im einsamen Feld unterwegs war, tat sie es auch wie diese nicht im Damensitz mit Rock, sondern mit ihrer Stallhose auf einem harten Ledersattel wie die Männer. Und schießen übte sie schon mit einem Bolzengewehr, das ihr Vater eigens für die drei Kinder hatte anfertigen lassen. Für die Brüder galt das als selbstverständlich, für sie als Mädchen natürlich nicht. Aber sie schoss schneller und traf sicherer als ihr älterer Bruder Ferdinando. Gian Gastone mit seinen 11 Jahren traute sich noch nicht so richtig. Sie aber wusste ganz bestimmt und entschlossen, dass sie später mit oder ohne Ehemann auf die Jagd reiten würde, denn schließlich war ihr Leben jetzt schon von großer Neugier und Erlebnishunger gefüllt, sodass sie oft ihr Tagesprogramm gar nicht hinzubekommen wusste. Singen und Tanzen gehörten unabdingbar dazu, Reiten und Jagen, Beten und Besuche der langen Predigtgottesdienste. Dazu kommen würden Bälle zu allen Jahreszeiten. Egal, wo sie sich nach einer Heirat einmal befinden würde, auf all dies würde sie nicht verzichten und sie würde gerade die Karnevalszeit mit Tanzen und die Frühjahrszeit mit Singen und mit Ausflügen, den Sommer durch Wallfahrten und den Herbst mit der Jagd genießen. Sie hatte schon früh die Idee, einen Schießwettbewerb mit Schützen zu veranstalten. Ein Schützenfest mit Musik, im Winter Musik im Opernhaus und Orchesterkonzerte. Ihr Leben war so voll von Ideen, dass sie kaum Raum sah für einen Ehemann und für eine Familie. Aber dies würde sich ja von selbst ergeben.

„Das ist übrigens ein ganz neues Thema bei uns zuhause“, bemerkte Luisa zu Lisa, als diese sich wieder angekleidet hatte und ihre Mutter ins Haus gegangen war. „Was? Männer?“ schallte Lisa fragend über den Innenhof. „Ja mehr das Heiraten. Wenn wir fünfzehn Jahre alt werden, fangen unsere Eltern oder Großeltern an, Namen zu nennen von meist älteren Männern aus adligen Häusern, die für uns in Frage kämen. Manche jungen Frauen, ja manchmal sogar Kinder werden dann auch verlobt. Sie kennen den Auserkorenen oft überhaupt nicht.“ „Jemanden heiraten, den ich nicht kenne, käme für mich überhaupt nie in die Tüte.“ lachte Lisa. Unsere Mägde probieren sogar meistens aus, ob die Männer, die sie haben wollen, es überhaupt können.“ „Was können?“ zögerte Luisa ihre Frage heraus. „Du meinst das wie bei den Pferden oder Kühen oder wie bei den Ziegen, wenn die Männchen an den weiblichen Tieren hinten riechen, dann einen Phallus bekommen und die Stuten, die Kühe oder die Ziegen besteigen? Meinst du echt Kinder erzeugen?“ „Ja, was sonst, bestimmt nicht Schach spielen.“ „Oh Gott, das käme bei uns niemandem in den Sinn. Wir haben die Ehemänner oft vor der Hochzeit noch nie gesehen.“ „Aber da kauft man die Katze oder, besser gesagt, den Kater doch im Sack!“ wieherte Lisa wie ein junges Fohlen. „Ja, das ist halt so, es muss ja ein reicher Adliger aus gutem Geschlecht sein, da spielt ja Geruch und Aussehen zuerst mal gar keine Rolle. Wir sind schließlich dazu geboren, die Menschen zu ihrem eigenen Vorteil zu beherrschen, zu belehren und zu behüten. Da können wir doch selbst nicht Herzgefühle flattern lassen. Wir heiraten mit kühlem Kopf, die Liebe stellt sich durch Gottes Willen schon ein. In unserer Familie der Medici ist es schon vorgekommen, dass welche in der Kirche geheiratet haben, ohne beieinander zu sein. Bei der Frau war dann in einem weit entfernten Ort ein naher Verwandter als Stellvertreter, das ist möglich, wenn das vorher alles schriftlich Genauestens vereinbart wurde.“ Lisa runzelte ihre junge Stirn und wurde ganz still. Sie ging auf Luisa seitlich zu und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich habe was Blödes erlebt. In der Nacht vor einer Woche, als dieses heftige Gewitter über unserer Stadt stundenlang getobt hat, ist nachts in meinem Zimmer, wo auch meine Schwestern schlafen, mein Onkel aufgetaucht und hat sich ohne Worte mir genähert. Meine Schwestern schliefen wie ohnmächtig aus Angst vor diesem Gewitter. Es ist aber nichts passiert, da ich zu ihm gesagt habe: Onkel, ich weiß, dass du da stehst. Da hat er sich rumgedreht und ist wieder in sein Bett gegangen.“ Luisa flüsterte zurück: „Eure Wohnverhältnisse sind aber auch dumm; wieso musst du in einem Zimmer neben den verwandten Arbeitern schlafen. Bei uns sind die Paläste oft so weitläufig, dass ich gar nicht weiß, wo meine Angehörigen schlafen. Heute noch nächtigt in der Kammer neben meinem Zimmer Carina, meine Amme, die mich sogar schon als Säugling gepflegt hat. Sie kennt jede Schrunde und Hautfalte an mir. Egal, wo ich mal hinziehe, sie muss mit, sonst würde ich untergehen. Das will sie aber auch, darüber haben wir schon gesprochen.“ In Lisas inneren Augenwinkeln formten sich zwei kleine glitzernde Tränchen, so dünn, dass sie nicht an den Wangen herunterliefen, sondern wie zwei Perlen dort stehen blieben. Sie seufzte leise: „Luisa, kannst du mich nicht mitnehmen, wenn du heiratest? Ich kann doch in der Küche arbeiten. Meine Mutter zeigt mir jetzt schon ganz oft das Kochen. Ich mach dir auch deine Lieblingsessen, wenn du mir die Rezepte besorgst.“ Anna Maria Luisa hätte Lisa in diesem Moment am liebsten geküsst, aber das schickt sich nicht und sie kam keinen Moment in Versuchung und ließ es insofern unbedingt. Der Körper des anderen Menschen ist sein Tempel Gottes, hatte sie im Katechismusunterricht bei Pater Girolamo gelernt. Und in einem Tempel darf nur der Tempelpriester Weihrauch erzeugen und beten. Aber sie zischte halb lachend ihrer Freundin ins Ohr. „Aber wehe, du lässt wie neulich das Fleisch verkokeln. Dann kannst du deine Sachen packen und wir schieben dich nach Sizilien ab.“

Es war zwei Wochen später, als Luisa nach Versicherung der Mutter Lisas, dass nun wirklich kein Mann auf dem Hof zur vereinbarten Badezeit auftauchen würde und dass nun wirklich kein Dienstpersonal im Hof sei, es wagte, nach Lisa in den Halbzuber, diesen Bottich, in dem schon Hunderte Liter Wein gelagert worden waren, zu steigen. Niemals hätte sie sich mit Lisa zusammen dort hineingesetzt. Sie hatte Bilder gesehen bei ihrem heimlichen Schnüffeln in der väterlichen Bibliothek, wo einfaches Volk abgebildet war, wie es zusammen in Badeanstalten in großen Holzwannen saß. Im Extremfall sogar Männer und Frauen zusammen. Das war entsetzlich, sie roch förmlich ihre Ausdünstungen und spürte den Schmand der Wanne auf ihrer Haut. Sie erschauerte allein schon beim Gedanken an solche Ungeheuerlichkeiten. Nun aber saß sie selbst unbegreiflicher Weise nackt wie ein Kleinkind in der Wanne, in der Lisa vorher gebadet hatte, aber der Belag des Wassers stammte von ihrer besten Gefährtin. Die ließ es sich auch nicht nehmen, am Bottichrand zu stehen und das Wasser in Wallung zu bringen. Mit einem Schwapp bespülte sie Luisas Haare. Diese schrie kurz auf und schämte sich im selben Moment über diese ungebührliche Gefühlsäußerung. Nun denn, sie bat Lisa darum, ihre Haare zu lösen und tauchte deren Rappenschwärze in das Wasser. Das Freiheitsgefühl, das sich in ihr bildete wie aufgehende Hefe, wenn Kuchen gebacken wurde, war genau so überraschend wie nachhaltig, denn wenn sie schon dazu auserkoren war, so dachte sie fast unbewusst, eine Frau aus höherem Geschlecht zu sein, dann wolle sie frei sein in ihrer Bestimmung, ihrem Handeln und in Bezug auf ihren Alltag. Und nun spritzte sie ihrerseits Lisa nass, die sich lachend an die Seite ihrer Mutter warf, denn mit allem hätte sie gerechnet, aber nicht mit Wasserkaskaden von Luisa ausgehend.

Wie zu Steinstatuen erstarrt standen sie wenige Sekunden später. Alle Freiheitsgedanken waren verflogen, alle Lachimpulse erstorben, an Luisas Oberschenkeln lief es rot herunter, der Schmand färbte sich fraktal, die beiden Zuschauer fassten sich an den Mund, Luisa, die selbst überhaupt nichts spürte und sah, war schockiert über diese Schreckenssalzsäulen vor ihr und erstarrte ihrerseits zum Monument. Für Lisa sah es morbide aus, so wie nach einer Schlachtung eines Huhns, bei der sie oft zugeschaut hatte. Aber das an Luisas Körper! Ihre Mutter erwachte zu neuer Beweglichkeit, ging auf Luisa zu, fasste sie an die Schulter und sagte, Mädchen – Mädchen sagte sie zu einer adligen jungen Dame – Mädchen, dein Blut aus der Scham ist das Blut der gereiften Frau, du hast deine Monatsblutung bekommen, du wirst von nun an jeden Monat aus deiner Vulva bluten und es ist der Zyklus, der dir es möglich machen wird, Kinder zu bekommen, denn die Frau muss bluten, bevor sie fruchtbar wird, und du wirst mit deinem Mann zusammen lernen, welche Zeiten dir zur Verfügung stehen, um Kinder zu zeugen. „Ich rechne für Lisa auch jeden Monat damit.“ Das Wort ‚zeugen‘ sagte Luisa etwas, denn sie hatte durchaus von den Frauen um sie herum erfahren, dass ihre Männer es auf ganz natürliche Weise genauso machen wie die Hengste und die Stiere. Dass aber die Geheimnistuerei um blutige Einlagen in den Unterröcken und Schlitzhosen bei den Frauen, die sie täglich umgaben, mit einem Zyklus zu tun hatten, der indirekt Voraussetzung für eine Schwangerschaft war, das hatte sie noch nicht begriffen. Diese schlichten Bemerkungen der Amme und der Zofe dahingehend, dass auch sie selbst einmal bluten werde und dann die Möglichkeit hätte, Kinder zu bekommen, offenbarten ihren Kern erst jetzt. Aber welchen Sinn hatte das denn, was wollte die Natur denn damit erreichen? Platz machen für Neues? Den Stall ausmisten, damit in neuer Sauberkeit das Wunder des Lebens gedeihen kann? War alles Alte etwa Sünde? Hatte nicht der Pater der Dominikaner bei seiner Predigt einmal behauptet, die Frau müsse leiden wegen ihrer Sündhaftigkeit im Paradies? Weil sie Adam den Apfel gereicht habe? Ob Männer eigentlich ähnliche Unbilden verkraften müssten? Arbeiten im Schweiße ihres Angesichtes mussten doch nur die Armen, und bei ihnen doch beide Geschlechter. Lisas Mutter wusch die inneren Schenkel Luisas mit dem Badewasser, achtete aber sorgfältig darauf, dass diese Brühe nicht an das Geschlechtsteil kam. Dazu holte sie Luisa aus der Wanne und wusch mit Brunnenwasser zwischen ihren Beinen und meinte: „Das dauert jetzt vielleicht fünf Tage.“ Luisa kleidete sich an, lief mit verhaltenem Schritt nach Hause und beschloss noch auf dem Weg, niemandem etwas zu sagen und dafür zu sorgen, dass für diesen Monat noch keiner erfahren sollte, welches große Ereignis sich gezeigt hatte. Sie würde versuchen, dass ihre Amme in der Nähe ist, wenn es im nächsten Monat wieder soweit sein würde. Das müsste ihr eigentlich gelingen. Und es gelang.

Irgendwie schwebte das Thema ‚Männer‘ immer in der Luft – im stickigen Dunst binnen des Hauses wie in der frischen oder schwülen Luft draußen. Alle ihre Hauslehrer kamen ihr in den Sinn. Hauslehrer: Der Urenkel des Hauslehrers der Kinder Lorenzos, Angelo Politiano, unterrichtete die drei Kinder des Cosimo. Sie gingen wie Entenküken hinter ihm her, dem Alter nach sortiert, Anna Maria Luisa also in der Mitte ihrer Brüder, dann aber noch zwei Vetter und eine Cousine, Lisa und manchmal zwei Geschwister von Lisa, wenn sie in die Bibliothek gingen oder eine Naturexkursion machten.

Er war ein Vertreter des italienischen Moralismus und hatte immer wieder beschworen, besonders dem Vater obliege nach den Schriften des Alberti die „Verantwortung für die geistige und sittliche Vervollkommnung seines Kindes.“ Es wurde empfohlen, mit dem Unterricht früh zu beginnen. Palmieri berichtet, dass manche Leute mit dem Unterricht ihrer Kinder warteten, bis diese sieben Jahre alt waren. Das sei nichts als Trägheit: „Noch während das Kind bei seiner Amme lebt, muss der Unterricht einsetzen, und zwar mit den Grundzügen des Alphabets.“ Eltern, die diesen Rat befolgten, gewönnen einen Vorsprung von zwei Jahren. Knaben bräuchten vom siebten Lebensjahr an einen Lehrer. Maffeo Veggio dringt darauf, Knaben in eine Schule zu schicken, damit sie dort Freundschaften schließen konnten. Andere Moralisten bevorzugten den Privatlehrer – ein Rat, an den sich Giovanni Morelli im 14. Jahrhundert hielt. Lorenzo de‘ Medici und viele andere sind von Privatlehrern erzogen worden.

Zwischen dem 10. Lebensjahr von Ferdinando und dem 15. Lebensjahr von Gian Gastone, also ca. 12 Jahre lang