Dula, das Mädchen, das mit dem Bison ging - Martin Spirig - E-Book

Dula, das Mädchen, das mit dem Bison ging E-Book

Martin Spirig

5,0

Beschreibung

Der Neandertaler "Klan des Bisons" gehört zu den Allerletzten seiner Art nach der großen Gletscherschmelze der letzten Eiszeit vor 10.000–15.000 Jahren. Dula vom Stamm des Bären ist ein Mensch der "neuen Art", wie wir ein "Cro-Magnon-Homo-Sapiens-Mensch". Eine Naturkatastrophe zwingt das kleine Mädchen Dula bei den "Anderen" aufzuwachsen. Bald zeigt sich, wie überlegen ihr Intellekt den Neandertalern ist. Ihr Aufstieg im Klan des Bisons, vom Mädchen zur Frau und von der Frau zur Jägerin und Kriegerin, beginnt. Das fordert die Neandertalergesellschaft und die Welt der Geister, Dämonen und der weisen Ahnen fundamental heraus. Die Lebensweise der Neandertaler tut sich auf, fundiert recherchiert und äußerst spannend beschrieben. Die Neandertaler waren keine keulenschwingenden, nur grunzende Primitiven ohne Sprache. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zwingen die Paläontologen, das Bild des Neandertalers fundamental zu revidieren.

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Inhalt

Teil 1

Das Mädchen

Teil 2

Die Frau

Teil 3

Die Jägerin und Kriegerin

ANHANG

Es beginnt lange vor unserer Zeit. Sehr langer Zeit! Während der endlos scheinenden letzten Würm-Eiszeit wandert – weit über Europa und den Nahen Osten verstreut – der Neandertaler. Vor 42.000 Jahren taucht eine neuartige Menschenart auf: der Cro-Magnon-Homo-Sapiens-Typ. Im Rahmen der Menschheitsgeschichte teilen sich die beiden Gruppen für eine kurze Zeit die prähistorische Bühne.

Vor 20.000 Jahren beginnt eine neue Wärmeperiode, in der wir modernen Menschen heute leben. Man nennt sie Holozän. Die gewaltigen Wassermassen abschmelzender Gletscher überfluten ganze Landstriche; die Nord- und Ostsee entstehen, wo dereinst riesige Wollhaarmammut-, Auer-, Moschusochsen- und Rentierherden weideten. England und Irland werden Inseln. Der Meeresspiegel der Ozeane und des Mittelmeers steigt an. Ganze Küstenlinien verändern sich. Vom Gletschergewicht in die Erdkruste niedergedrücktes Land hebt sich langsam an, als diese abschmelzen. Die Rhônemündung ist vor 12.500 Jahren immer noch ein 20 Meter hoher Wasserfall, der während der Eiszeit über 200 Meter hoch gewesen sein muss; das zeigen submarine Tiefenmessungen einer gewaltigen Schlucht, welche der Fluss über Jahrtausende ins Gestein gegraben hat. Auch die Permafrostböden der Tundra tauen auf. Das schafft optimale Wachstumsbedingungen für Wälder, die sich von Süden her nach Norden ausbreiten. Allen voran die Birke, gefolgt von der Kiefer, Haselnuss, schließlich von der Eiche, Esche, Buche, Linde und der Ulme. Die offene Tundra wird von einer dichten Waldvegetation immer weiter nach Norden verdrängt. Jene Tiere, welche nicht nach Norden ziehen, aber ans Tundraklima angepasst sind, finden in den Bergen einen neuen Lebensraum; das sind Bergziegen und Steinböcke, die gleichfalls Ziegen sind.

Die Mittel- und Jungsteinzeit (Mesolithikum und Neolithikum) sind von einer sich verändernden Pflanzen- und Tierwelt geprägt. Es gibt immer weniger wandernde Tierherden auf offenem Gebiet, denen der Neandertaler folgt und die er jagt. Viele Arten sterben aus, andere kommen, wie das Rotwild, einige bleiben, gleich dem Säbelzahntiger, Bär, Eber, Wildpferd und dem prähistorischen Wolf und Fuchs.

Es beginnt die Zeit eines tiefgreifenden Wandels in der Lebensweise der Menschen. Noch sind sie alle Jäger und Sammler. Während des Übergangs von der Mittel- zur Jungsteinzeit dringt mit erstaunlicher Schnelligkeit eine sesshafte Landwirtschaftskultur vom Nahen Osten in Europa ein. Ein gewaltiger wirtschaftlicher, technischer und sozialer Evolutionsschub setzt ein, der alles verändert und sich seit 13.000 Jahren unvermindert bis in unser modernes Weltraum- und Internet-Zeitalter fortsetzt und weiter rasant fortschreitet.

Während dieses tiefgreifenden Wandels vor wenigen 1000 Jahren beginnt jetzt unsere Geschichte – die Geschichte Dulas, des Mädchens, das mit dem Bison ging. –

Teil 1

Das Mädchen

Vor unendlich langen Zeiten, als die Erde noch größtenteils mit Eis bedeckt ist, folgen die ersten Artgenossen des Menschen den riesigen Großwildherden in ein neues Land, um zu jagen. Bevor die »neuen« Menschen auftauchen, bewohnen die »alten« dieses Land. Dula und der Stamm des Bären nennen sie so, weil sie vor ihnen da waren. Es sind die raubeinigen Neandertaler. Es gibt nur noch wenige von ihnen; sie sind am Aussterben, weil die Großtierherden durch den Klimawechsel immer weniger werden. Dula, das zehnjährige Cro-Magnon-Homo-Sapiens-Mädchen, hat noch keinen dieser robusten Eiszeitmenschen gesehen, auch die Eltern, Großeltern und die Stammesahnen nicht. Ein Zusammentreffen des »alten« und des »neuen« Menschen ist äußerst selten. Die Lebensräume sind riesengroß, die Populationen klein. Eine Begegnung ist rein zufällig auf ihren Wanderschaften als Wildbeuter.

Adug ist der »Primus inter Pares« unter den Jägern seines Klans. Es ist der Neandertaler-Klan des Bisons. Der Bisonbüffel ist das Totem der längst verstorbenen Ahnen in mystischen Urzeiten ihrer legendären Wanderungen aus einem unbekannten Land. Adug ist der Anführer der Gruppe, kein Häuptling, der seinen Leuten befehlen kann. Die Jäger beraten und entscheiden gemeinsam über wichtige Stammesangelegenheiten. Adug ist der Stärkste von ihnen, der beste Fährtenleser, und er kennt Jagdmethoden, das Mammut, den Auer- oder Moschusochsen, den Eber und den großen Rotwildhirsch zu erlegen. Nabu ist Adugs Sohn; er soll nach zwanzig Vollmonden den Initiationsritus bestehen, um ein vollwertiger Jäger zu werden. Loba, die Mutter, ist eine hochangesehene Frau, die viele essbare Beeren, Kräuter, Früchte und Wurzeln kennt. Sie ist im späten sechsten Monat schwanger.

Die wirklich große Klanfrau, auf die man hört, ist Maman, die heilige Frau, die Schamanin, die Medizinfrau, die Hebamme. Der Klan nennt sie »große, weise Mutter«. Ihre Visionen können gleich dem Adler zum großen Geist entschweben und seinen Willen kundtun.

Isa ist die verwitwete, hochschwangere Tochter; sie ist robust und fit genug, dem Schritt der Klanmitglieder über Berg und Tal und durch steinige, buschbewachsene, manchmal wasserreiche Bäche zu folgen. Ogon ist Isas Vater und Mamans Gatte, der verkrüppelte, alte Weise, der selbst nicht mehr jagen kann und am Feuer Gintoys lebt, seines jüngsten Bruders, der für ihn jagt und ihn mit Nahrung versorgt. Gintoy ist der einzige Überlebende von vier Brüdern. Ogon brach sich viele Monde zuvor auf der Jagd nach dem Wildschwein den Knöchel. Das von seinem Speer verwundete Tier griff ihn an und malträtierte ihn. Er kann froh sein, dass Fangul kam, ein starker Jäger, der das zornige Tier erlegte, bevor es Ogon tötete. Dicke Narben im Gesicht und am Körper bezeugen den Vorfall, ein verlorenes Auge und ein verdreht verwachsener Fuß. Ogon hinkt meistens der Klanschar hinterher. Wenn er zurückbleibt, ist er des Todes. Der Klan wird nicht auf ihn warten. So sagt es das Gesetz seit der Zeit der großen Urahnen. Ogon hat den Speer des Jägers gegen eine Astgabel eingetauscht, die ihm als Gehhilfe dient. Er könnte damit keinesfalls einen Raubtierangriff abwehren. Nicht das Tier, er selbst wäre die Beute!

Der Klan des Bisons zählt 28 Personen, ein Dutzend Männer – gestandene Jäger –, deren Frauen, die aus anderen Stämmen eingeheiratet haben, Schwestern und Töchter, die bei Heirat den Klan verlassen und das Leben im Stamm des Gatten verbringen werden; der Rest sind Kinder. Jeder verheiratete Jäger ist für sein eigenes Feuer zuständig, das heißt, er muss sein Weib, die Geschwister und Kinder mit Nahrung versorgen. Sonst gilt das kommunistische Prinzip der Nahrungsteilung bei einer Großtierbeute, die man gemeinsam erlegt hat, denn um jedes Feuer lagern unterschiedlich große Familien.

Die Frauen und Kinder tragen auf den ausgedehnten Wanderungen die Lasten in Tierhautbeuteln, die Faustkeile, Schaber, Nadeln und Feuersteine sowie den Proviant der einzelnen Familie und Holzbündel für das überlebenswichtige Feuer.

Die Jäger sind mit dem bewährten Speer bewaffnet. Die Spitze besteht aus geschärften Knochen, Stein oder Horn, oder sie ist feuergehärtet. Die Jäger umringen die Wanderschar, um sie vor einem Tierangriff zu schützen. Sie sind jederzeit für die Jagd bereit, sollte sich eine lohnende Beute zeigen. Es sind zumeist Kleintiere, gegen die klobige Wurflanzen völlig ungeeignet sind. Sie sind für die Großtierjagd ausgelegt und werden vom Neandertaler seit tausenden von Jahren erfolgreich eingesetzt. Die Steinbeile können ebenso wenig ausrichten. Die Frauen sammeln Beeren, Früchte, Wurzeln und Kräuter, wenn sie unterwegs welche finden. Aber der Boden ist karg! Die großen Mammut- und Ochsenherden sind verschwunden. Ohne Höhle ist der Klan schwach. Sie wissen, die Geister des Windes werden bald den weißen Regen bringen – und Schnee heißt Tod ohne den Schutz einer Höhle! Der Hunger liegt schwer im Magen. Seit einem Vollmond sind sie jetzt unterwegs, ohne einen Unterschlupf zu finden oder eine Jagdbeute zu erspähen. Sie haben nicht einmal den großen Rothirsch gesehen!

Fangul tritt neben Adug und stellt den Speerschaft unmutig auf den steinigen Boden.

»Warum zürnen uns die Jagdgeister? – Warum zeigt uns der große Geist keine Höhle? – Warum lenken die Ahnen unsere Schritte an keinen Fluss, wo wir fischen können? – Sage es dem Klan! Du bist der Anführer! Oder weißt du nicht, was zu tun ist? Der Proviant ist aufgebraucht! Der Klan hungert!«

»Warum forderst du mich heraus, Fangul?« Adug streicht mit dem Handrücken über die stark hervortretenden Brauenwülste und lässt die Hand langsam über die Hügel schweifen. »Mein Geist erkundet dieses Land nach Beute und Unterschlupf. Die Geister und die Ahnen reden nicht zu mir. Reden sie zu dir? – Ich weiß, du begehrst den ,weißen Speer’. Ich weiß, du willst das ,Amulett der Bisonhörner’ tragen. Ich weiß, du willst der Anführer sein. Maman sagt, du seist noch nicht reif genug. Die Jäger sagen, du seist unbeherrscht und ungestüm. Ich biete dir den ,weißen Speer’ und das Bisonamulett, falls du gute Beute und eine Höhle für den Klan findest. Dann empfehle ich dich den Jägern zur Wahl. Dann sollst du unser Anführer sein, denn du bist ein großer Jäger.«

Adug und Fangul sind herbe Konkurrenten sehr unterschiedlichen Temperaments und meistens entgegengesetzter Meinung. Das artet oft zu lautstarken Streitereien aus, die Maman und Ogon schlichten müssen. Es gibt im Klan die Anhänger des Adug und die Anhänger des Fangul. Tuktul führt eine dritte Gruppe an, die manchmal die eine oder andere Seite oder gar keine unterstützt. Die erwachsenen Jäger entscheiden in einer Art direkter Demokratie. Die weise Maman, die Schamanin, gibt dann den Segen der Geister und der Ahnen oder auch nicht. In diesem Fall muss erneut beraten und abgestimmt werden.

Es mag sein, dass die Sprache der Neandertaler nicht so differenziert gewesen ist wie unsere Sprache; es ist aber gewiss nicht so, dass sie nur grunzen, kreischen, gestikulieren oder primitive Laute formulieren konnten gleich den Primaten. Das bislang einzige bekannte Gen, das im menschlichen Erbgut für die Sprache zuständig ist, trägt der Neandertaler ebenfalls in seiner Erbmasse. Es ist das unlängst entdeckte Gen FoxP2. Es beeinflusst sehr wahrscheinlich bei beiden Menschenarten die Sprachfähigkeit. Ein Defekt führt zu schwersten Sprachstörungen. Die sprachliche Erbmasse des »modernen« Cro-Magnon-Homo-Sapiens-Menschen und des Neandertalers wird weiterhin intensiv erforscht.

»Du bietest mir die Klanführung an, wenn ich Beute und Unterschlupf finde?«, fragt Fangul ungläubig.

»Mamans großer Geist wird gleich dem Adler das weite Land erkunden, denn er reicht viel weiter, als das Jägerauge es je tun kann«, entgegnet Adug mit magischer Stimme. Fangul muss, ob er will oder nicht, auf den Rat der weisen Mutter hören. Adug wiederholt die Geste, indem er mit dem Handrücken über seine nach hinten fliehende Stirn fährt. Es ist, als wolle er den eigenen Geist über die Landschaft ausbreiten, über alles, was sich dort unter dem Himmel befindet.

Die Klanmitglieder gehen stumm, jeder für sich und doch in der Schar zusammen. Man spricht wenig. Es gibt während des Gehens auch wenig zu reden. Adug und Fangul befinden sich jetzt am Schluss der weit aufgefächerten Marschformation, die sie vorher angeführt haben.

Ogon humpelt heran. Er ist stets der Letzte, der kommt, wenn die Gruppe für eine kleine Weile rastet oder Frauen und Mädchen ihn achtlos überholen, weil sie ein paar Beeren gefunden, Früchte gepflückt oder eine essbare Wurzel mit dem Wühlstock ausgegraben haben. Gintoy, der um viele Jahre jüngere Bruder, geht ein paar Schritte vor dem alten Weisen. Große Steine und knorrige Äste liegen im Weg, über die er stolpern und hinfallen könnte. Auch das Atmen fällt schwer. Ogon ahnt, sein Geist wird bald zu den großen Ahnen des Bisons gehen.

Die Neandertaler legen täglich mit ihren Familien zwanzig, dreißig, vierzig Kilometer auf ihrer Wanderschaft zurück, um eine neue Höhle zu finden. Da müssen selbst kleine Kinder mithalten. Einzelne Jäger entfernen sich fünfzig Kilometer von ihrer vorübergehenden Wohnstatt, um Beute zu jagen. Sie nehmen sie vor Ort aus, Fleisch, Knochen, Horn, Felle, so viel sie tragen können.

Der Neandertaler ist stets in Bewegung. Das ist der Grund, weshalb er von sehr robuster Statur ist: breite Schultern, ein kurzer, kräftiger Nacken und besonders starke Arme und Beine. Der Cro-Magnon-Homo-Sapiens-Mensch ist graziler, größer gewachsen und viel weniger kräftig.

Die »große, weise Mutter« lässt sich von Isa und Ogon auf den nahen Hügel begleiten. Der Klan muss unten im Tal warten. Wenn Mamans Geist gleich dem Adler über das weite Land schwebt oder sie die Geister um Rat befragt, dann ist das ein magischer Geheimritus. Ein kleiner Bissen vom getrockneten Pilz und das Schwirrholz, das Ogon an einer langen Sisalfaser über ihrem Haupt durch die Luft kreisen lässt, versetzen die Schamanin in eine geheimnisvolle Trance. Dann beginnt sie plötzlich zu zittern und zu beben, verdreht die Augen, manchmal tritt Speichel aus dem Mund, der unverständliche Worte stammelt. Dann hat der »Große Geist« Maman in Besitz genommen. Dann kann sie ihn, die Geister der Lüfte, der Jagd und die vielen Schutzmächte oder die Ahnen des Bisons befragen. Sie kann auch die unzähligen Dämonen verjagen, die dem Klan oder einzelnen Personen Übles antun wollen. Dann hat die »große, weise Mutter« Visionen, die den Willen der Geister kundtun oder einen Weg weisen. Wo sind die großen Wildtierherden? Wo bietet eine Höhle dem Klan Schutz vor Wind und Kälte? Der visionäre Adler Mamans schwebt übers weite Land und kann nichts finden. Wollen die bösen Geister den Klan des Bisons verderben?

Die Mächte von Gut und Böse widerstreiten heftig im Geist der Schamanin. Sie schütteln ihren Körper, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Da schreitet plötzlich ein mächtiger Bisonbüffel auf Maman zu. Er bleibt mit gesenkten Hörnern dicht vor ihr stehen. Er mustert sie mit feurigen Augen und stößt schnaubend heiße Atemwolken aus. Die kräftigen Vorderhufe werfen die Erde nach hinten auf. Da wendet sich der große Bison plötzlich ab und schreitet gemächlich an Maman vorüber. Ein kleiner Bär erscheint und folgt dem großen, weisen Bisonbüffel. Seite an Seite entschwinden sie im visionären Nebel. Was bedeutet das seltsame Traumbild? Weder die Ahnen noch die Geister geben einen Hinweis auf eine Höhle oder eine Beute! –

Uba und Töchterchen Dula streifen mit anderen Frauen und Mädchen vom Stamm des Bären durch den lichten Wald und das üppige Unterholz von Sträuchern, Farnen und Schachtelhalmen. Die Bewegungen dieser »neuen« Menschen sind elegant und grazil, ihr Wuchs schlank und größer als der der »alten« Menschen, der Neandertaler. Auffallend ist die helle Haut; sie ist wenig bis gar nicht behaart. Die Frauen haben höhere Stirnen und keine Brauenwülste. Sie setzen verfeinerte Werkzeuge ein, um die Wurzeln auszugraben, und kleine, scharfe Klingen, um sie aus dem Erdreich zu schneiden. Sie sammeln Beeren, Früchte, Kräuter, Vogeleier und Pilze für ihre Familien. Dula kennt viele Pflanzen, die man auf dem Feuer zubereitet, und auch welche, die Wunden heilen oder böse Geister vertreiben, die Krankheiten verursachen oder lästiges Zahn- und Kopfweh verscheuchen.

»Den Pilz lass lieber stehen!«, warnt Uba die Tochter besonnen. »Siehst du die vielen Punkte? Es sind böse Punkte! Ein Dämon wohnt in ihnen. Er macht schreckliches Bauchweh und schickt dich zu den Ahnen! Merk dir also den Pilz, damit du ihn meidest! – Aber die Wurzel dort kannst du ausgraben und zum heimischen Feuer mitnehmen.«

Dula macht es geschickt mit der Hacke und dem scharfen Steinklingenmesser. Sie streift die Erde von den Wurzelhaaren ab und steckt das knorrige Ding in den Beutel.

Das Mädchen springt als Einzige der Sammlergruppe mit flinken Füßen über die Gesteinsbrocken auf die andere Seite des Wildbachs. Es hält nach Fischen in den seichten Wasseransammlungen Ausschau, die das Gewässer durchfließt.

»Entferne dich nicht zu weit!«, ruft Uba besorgt. »Es streifen Wildtiere durch den Wald.«

»Sieh, Mutter: Forellen! Soll ich sie fangen?«

»Wenn du es mit bloßen Händen schaffst? Fische würden unseren Speiseplan bereichern«, lautet die Antwort trocken, als sähe Uba das Scheitern der Tochter voraus. Dula erntet wissendes Schmunzeln und schadenfrohes Lachen der Frauen und Mädchen, weil die Greifversuche misslingen. Dula kann froh sein, bei den Manövern nicht ins Wasser zu fallen. Dann hätten die Fische sie bestimmt ausgelacht!

Ein tiefes Brummen steigt plötzlich von tief unten im Boden hoch. Er zittert, schüttelt und bebt. Schockwellen entfalten an der Oberfläche explosionsartig eine verheerende Wirkung. Bäume stürzen um. Felsen brechen auf. Steinbrocken fallen. Erdspalten breiten sich spinnennetzförmig aus. Gelbe Gaswolken zischen in die Höhe. Es stinkt gewaltig nach faulen Eiern. Der böse Erdgeist zürnt und tobt vehement. Er spuckt Feuerfunken und glühende Magmafetzen, die Pflanzen und Bäume in Brand setzen und verbrennen. Der Höllendämon bringt böses Unheil über die nach Nahrung suchenden Frauen.

Dula läuft blindlings, in Panik schreiend tiefer in den Wald hinein. Im letzten Moment! Eine gewaltige Sturzwelle tost den Abhang herunter. Sie reißt alles mit und schwemmt Holz, Geröll und Frauen in eine rauchende Erdspalte oder darüber hinweg. Das Beben muss einen tiefen Abfluss in den See gerissen haben, der sich oberhalb des Waldes befindet.

Das Mädchen hört Mutter verzweifelt rufen. Dula macht kehrt, tränenüberströmt, verängstigt, zitternd. Der Boden schwankt unter den Füßen, als herrschte hoher Seegang.

Uba hält sich am Wurzelstock einer ausgerissenen Buche fest. Dula robbt heran, streckt die Hand aus. Sie will Mutter helfen, die tapfer gegen die niederstürzenden Wassermassen ankämpft, um nicht in die Erdspalte gespült zu werden.

»Bleib zurück! Du kannst mich nicht retten!«, schreit Uba.

»Mama! Mama!«, weint das Mädchen verzweifelt.

»Nimm das, damit du weißt, woher du kommst!«

Die Mutter wirft der Tochter das Bärenamulett zu. Die reißende Strömung schiebt den entwurzelten Baum bedrohlich nah auf die Bodenöffnung zu. Tosen. Beben. Gischtwolken zischen in die Luft, wenn Wasser auf heißes Magma in der Tiefe trifft.

»Mama! Mama!«, schreit das Mädchen. Ubas Füße suchen Halt an der Bruchkante. Die Fluten ergießen sich über sie hinweg in einen tiefen Schlund. Gestein, Holz, Busch und Baum, nichts widersteht den tosenden Fluten. Uba kann sich nicht länger festhalten. Sie fällt – das Wurzelwerk mitsamt dem Baum über ihr ein wenig später…

Dann ruht plötzlich die Erde. Das Donnern, Dröhnen und Beben verstummt. Nur das gewaltige Rauschen der herabstürzenden Wassermassen ist zu hören. Die Sturzfluten haben in wenigen Minuten eine breite, viele Meter tiefe Rinne - ja eine Schlucht! - ins Erdreich gegraben und alles fortgespült, was dort wuchs. Der ganze See scheint auszulaufen, als hätte ein böser Geist den Stöpsel gezogen. Beißender Schwefelgestank und weiße Gischtwolken hängen über der verwüsteten Landschaft, die jetzt kein Wald mehr ist. Tiefe Spalten klaffen. Es fließt keine Lava heraus. Der Druck im Erdinneren ist zu niedrig, die tief sitzende Magmakammer zu entleeren.

»Mama! Mama!«, schluchzt Dula überwältigt. Dicke Tränentropfen kullern über das Gesicht. Sie zittert verängstigt am ganzen Körper. Der Erdgeist hat Mutter verschlungen und auch die anderen Frauen und Mädchen. Alle sind tot! Sie sind zu den Ahnen gegangen! Es ist unmöglich, die reißenden Wassermassen zu überqueren. Dula ist allein, vom Stamm abgeschnitten und des Todes, eine leichte Beute für umherstreifende, hungrige Raubtiere!

Weg von hier, sagt Dulas Shima, der große, unbekannte Schutzgeist. Die gefährlichen Fluten könnten sie erfassen und zu den Ahnen schwemmen. Die tödliche Wassermenge lässt nicht nach. Im Gegenteil! Der ganze See scheint auszulaufen. Dula weiß nicht, wohin sie jetzt gehen soll. Wird der große Klangeist den Weg weisen? Sie trösten? Werden die Ahnen die Tränen trocknen? Sie beschützen?

Dulas zierliche Hand ertastet das Amulett, das Mutter ihr zugeworfen hat, bevor der zornige Erdgeist sie verschlang. Es sind fünf auf einer Sisalfaser aufgereihte Bäreneckzähne, Muscheln und seltene Vogelfedern, eine magische Kette, die Dula um den Hals hängt.

Das kleine Mädchen weint still vor sich hin. Es geht bis zur Dämmerung über Stock und Stein, ziellos, von den Ereignissen geschockt, stupide, bis zum Umfallen müde.

Ein Säbelzahntiger folgt Dula seit einiger Zeit. Er beobachtet die Beute mit funkelnden Augen, aber Dula merkt, dass da etwas lauert. Ein knackendes Hölzchen. Ein schwankender Ast, den nicht der Windgeist bewegt haben kann. Plötzlich steht sie Auge in Auge mit dem Säbelzahntiger: Jäger und Beute. Das Mädchen schreit auf und eilt weg. Das Tier setzt zum Sprung an. Zwanzig Schritte, dann ist Dula tot! Zehn Schritte! Fünf! Das Mädchen verschwindet in einer engen Felsspalte. Das Urvieh ist ein gewaltiges Exemplar, gewiss fünfmal größer als die vermeintliche Beute. Es zwängt den mächtigen Kopf durch die Öffnung. Die Eckzahnreißer messen vierzig Zentimeter und reißen jedes Tier in Stücke. Riesige Tatzen schlagen nach dem Mädchen. Jetzt ist die Bestie wütend, faucht, schnappt und geifert, zwängt sich durch die enge Felsöffnung, schlägt mit scharfen Krallen nach der Beute. Dula schreit, was die Lungen hergeben. Das macht den Tiger noch wütender. Es ist ein kleiner Felsspalt, nicht tiefer als zwei Meter. Die tödlichen Tatzenstreiche verfehlen das Mädchen um wenige Zentimeter, was das Urvieh noch angriffiger macht.

Dann zieht es sich plötzlich zurück. Es beginnt heftig zu graben, den Boden aufzuwerfen, den Zugang zur Beute zu verbreitern. Und tatsächlich, das Biest zieht eine blutige Krallenspur über Dulas Oberschenkel. Der Blutgeruch versetzt die Bestie in Rage. Gleich angelt sie sich die Beute, zieht sie aus der Spalte heraus und stillt den unbändigen Hunger. Der Kopf des Mädchens fände dreimal Platz im gewaltigen Rachen.

Was tut Dula? Sie nimmt geschwind das scharfe Wurzelschneidemesser aus dem Beutel. Ist es eine spontane Eingebung des Shima? Eine Intuition der Ahnen, die ein kleines Mädchen nicht sterben lassen wollen?

Dula sticht nach der Tatze und der empfindlichen Schnauze des Säbelzahntigers. Er zeigt sich überrascht, plötzlich auf Widerstand zu stoßen, und greift vorsichtiger an. Er schnäuzt und faucht, als ihn das Mädchen voll in die Nase trifft und das Blut hervorschießt. Das schwächt sichtlich die Jagdbrunst. Aber er gibt nicht auf. Der Hunger ist stärker als der Schmerz in der Schnauze und der Tatze.

Das Urvieh versucht eine Viertelstunde lang, seine Beute in der Fels-spalte zu erhaschen. Dula sticht plötzlich entschlossen und gezielt zu. Sie raubt der Wildkatze ein Auge. Das wirkt. Der Tiger heult schrecklich auf und zieht sich zurück.

Das Mädchen wartet und horcht. Es ist still draußen. Hat sich die Bestie aus dem Staub gemacht? Ist Dula gerettet? Sie riskiert einen Blick aus der Felsspalte ins Freie, das Wurzelschneidemesser stichbereit in der Hand. Da steckt das Biest plötzlich den gewaltigen Schädel erneut durch die Felsöffnung. Das Mädchen weicht reflexartig zur Wand zurück. Im letzten Moment! Die Krallen verfehlen die Beute um Haaresbreite; sie hätten gewiss tödlich getroffen, und die Raubkatze wäre doch noch zum Fraß gekommen.

Es ist eher Wut und Verzweiflung als Mut. Dula versenkt die Klinge bis zum Griff in der Nase des Tigers. Ein kräftiger Schnitt, die Scheidewand ist durchtrennt. Blut spritzt auf das Mädchen. Das Schmerzgeheul ist ohrenbetäubend, aber es nützt. Das Biest weicht sofort zurück und lässt sich nicht mehr blicken. Dula wagt erst im Morgengrauen, den Felsspalt zu verlassen. Sie muss sicher sein, dass das Urvieh ihr nicht irgendwo auflauert. –

Der Klan des Bisons erholt sich langsam vom Schock des Erdbebens. Es war bis hierher spürbar. Die Kinder sind sehr verängstigt. Niemand wurde getötet. Herabstürzendes Geröll setzte ein paar blaue Flecken und Beulen ab. Bikin wurde arg am Kopf getroffen.

Fangul tritt besorgt und ungestüm auf Maman zu, die die Platz-wunde am Kopf seiner Frau begutachtet.

»Es ist nichts Ernsthaftes«, versichert die Schamanin, die auch Medizinfrau ist. »Es wird Bikin vorerst etwas schwindlig sein. Der Kopfwehdämon wird sie ein paar Sonnenaufgänge lang plagen. Isas Kräutergeist wird ihn vertreiben.«

Fangul interessiert nicht so sehr den Zustand seiner Gattin. Ihn interessiert viel mehr der Klan, die Klanführung.

»Sage uns, weise Mutter, weshalb Lugala, die große Erdmutter, uns grollt und den Boden erbeben lässt!«, fordert er zu wissen. »Sage, weise Mutter, weshalb Lugal, der große Jagdgeist, uns keine Herde zeigt und den Klan hungern lässt! Sage, weise Mutter, weshalb Shima, dein Adlergeist, weder eine Beute noch eine Höhle findet! Hat Shima die ,große, weise Mutter‘ verlassen? Kann sie das Traumbild des Bisonbüffels und des kleinen Bären nicht deuten?«

Ogon, der verkrüppelte Alte, weist Fangul zurecht, Maman gefälligst den gebührenden Respekt zu erweisen. Die Ahnen und großen Geister wüssten schon, weshalb sie so handeln.

»Ach, Ogon, einst großer Mogur des Klans, kannst du vielleicht aus Mamans Vision weissagen?«, versetzt Fangul verärgert.

»Respekt, sag ich! Zügle deinen Hitzkopf! Erzürne die großen Geister und die Ahnen nicht!«

»Die Jäger fragen sich seit einiger Zeit, ob Adug den Stamm des Bisons weiterhin anführen kann«, stellt Fangul unbeirrt fest. »Adugs Shima lässt ihn gleichfalls ratlos. Er weiß nicht, was zu tun ist!«

Ogon rappelt sich mühsam auf.

»Weißt du, was zu tun ist, großer Jäger? – Du weißt es ebenso wenig!« Isa schreitet ein, bevor ein Streit entbrennt. Man soll jetzt weitergehen.

»Adug wird mich den Jägern zur Wahl als Anführer empfehlen, wenn ich Beute mache und eine Höhle finde«, stellt Fangul fest.

»Hat er das gesagt?«, fragt Isa ungläubig.

»Das habe ich gesagt«, bestätigt Adug. Er tritt in den Personenkreis um die Schamanin. »Ich werde unserer ,großen, weisen Mutter‘ den ,weißen Speer‘ und das ,Amulett der Bisonhörner‘ zur Aufbewahrung geben, bis Wetterschutz im Fels und Nahrung gefunden sind.«

Adug legt die Zeichen des Anführers vor der Schamanin nieder. Sie zögert, den ,weißen Speer‘ zu ergreifen. Auch das ,Amulett der Bisonhörner‘ will sie nicht nehmen.

»Der Klan darf nie ohne Anführer sein«, sagt Maman mit mystischer Stimme. »Der Shima des Anführers schützt den Klan.«

»Dann rufe den Kreis der Jäger zusammen, weise Mutter«, ergänzt Fangul geschwind. »Empfiehl mich als Anführer! Auch du, großer Mogur! Die Jäger werden auf euch hören, wenn sie beraten.«

»Nicht, bevor Maman die Geister des Himmels, der Erde und in den Dingen und den großen Klangeist des Bisons um Rat gefragt hat!«, wendet Isa ein.

Die »große, weise Mutter« denkt lange nach. Dann nimmt sie bedächtig den Speer und das Amulett in ihre Obhut. Fangul kann sich ein verborgenes Grinsen gegen Adug nicht verkneifen.

Maman begibt sich in Begleitung ihrer Tochter Isa abseits unter das kreisende Schwirrholz Ogons. Die alte Schamanin kostet von der Tollkirsche, die sie in Trance versetzt und Visionen erzeugt. Adug und Fangul beobachten den Ritus aus der Ferne. Der Stamm lagert am Hügelfuß. Alle wissen, immer wenn das Schwirrholz über Mamans weisem Haupt brummt, um die Geister zu wecken, die vielleicht schlafen könnten, sie einfach dasitzt, zittert, bebt und murmelt, dann befragt sie die Geister und die Ahnen. Dann schweift ihr Adlergeist in weite Ferne, die das Jägerauge nie erkunden kann.

»Der Beste wird den Klan anführen!«, kommt es aus Mamans Mund. Doch wer ist der Beste? Adug und Fangul sind bewährte Jäger. Es gibt auch andere erfahrene Jäger im Klan. Wen unterstützen die Geister? Nicht die Jäger sollen entscheiden; Maman, die »große, weise Mutter«, soll dem Besten den »weißen Speer« und das »Amulett der Bisonhörner« geben, wie es die Geister bekunden.

»Was sagt Shima zu Fangul, um Nahrung und Wetterschutz für den Klan zu finden, bevor der weiße Regen kommt?«, fragt ihn die Schamanin. Ihre Stimme tönt wie aus einer anderen Welt. Die Wirkung der Tollkirsche hat noch nicht nachgelassen. Isa muss die Mutter stützen. Sie steht auf wackligen Beinen.

»Ich, Fangul, werde den Klan des Bisons zu den Wasserstellen der weiten Wiesen (Tundra) führen, weise Mutter, wo viele Tiere sich versammeln. Dort, am Fuß der Berge, wo das Wasser herauskommt, wird es eine Höhle geben!«

»Was sagt Shima zu Adug, um Nahrung und Wetterschutz für den Klan zu finden, bevor der weiße Regen kommt?«, wiederholt Maman mit mystischer Stimme.

»Ich lasse Fangul den Vortritt, unser Anführer zu sein, ,große, weise Mutter‘«, erwidert Adug der alten Frau. »Ich, Adug, werde Fangul unterstützen, weil der große Jagdgeist ihm eine hervorragende Idee offenbart hat. Der Klan wird vor dem weißen Regen genügend Nahrung und im Fels einen schützenden Unterstand finden.«

Die Antwort überrascht Maman. Insgeheim hält sie Adug für den Besten – Fangul für den Zweitbesten, trotz seines Hitzkopfes. Es wird sich geben, denkt Maman. Sie übergibt Fangul den »weißen Speer« und hängt ihm das »Amulett der Bisonhörner« um. Das genügt, um als Klananführer anerkannt zu werden. Die »große, weise Mutter« hat den Willen der Geister und der Ahnen kundgetan.

Fangul würdigt Adug keines Blickes, als er stolz an ihm vorüber-schreitet. Er hebt den »weißen Speer« hoch. Er gibt dem Klan das Zeichen für den Aufbruch und weist die Richtung. Es gibt für den neuen Anführer weder eine Ehrenbezeugung noch eine Feier oder einen Initiationsritus. Der, dem Maman den Speer und das Amulett überreicht, ist der unbestrittene Klanführer. Die Jäger gehorchen unwidersprochen, weil die Ahnen und die großen Geister des Himmels, der Erde und in den Dingen ihn auserwählt haben, bis sein Shima erlöscht und er es nicht mehr verdient, Primus inter Pares zu sein.

»Wenn Fangul bloß hält, was er verspricht, bevor der Klan verhungert und der weiße Regen kommt, denn dieser ist nah!«, sagt Isa skeptisch zu ihrer Mutter, der Schamanin. Ogon und Gintoy, sein Jüngster, der einzige überlebende von fünf Brüdern, schweigen. Sie hätten es lieber gesehen, wenn Adug Klanführer geblieben wäre…

Der Stamm des Bisons wandert den ganzen Tag, langsam, stetig, weit verteilt, aber immer in Blickkontakt. Die Frauen suchen im Vorbeiweg essbare Beeren, Früchte, Kräuter, Wurzeln und Eier von bodenbrütenden Vögeln.

Man geht achtlos an einer Menschenleiche vorbei. Sie ist blutig und liegt auf dem Bauch zwischen herbem Buschwerk im Geröll. Bikin, Fanguls Gemahlin, nimmt den kleinen Nabu wortlos an der Hand und zieht ihn weg. Um Tote versammeln sich Dämonen, bis jene begraben oder durch den Tierfraß unkenntlich geworden sind. Wen kümmert es, weshalb ein Klan ein verstorbenes Mitglied einfach liegen lässt? Vielleicht war es allein unterwegs, bevor es zu den Ahnen ging.

Die hochschwangere Isa geht gleichfalls im Wandertrott an der Leiche vorbei. Dann bleibt sie plötzlich stehen. Geht zurück. Es ist eine kleine Leiche. Eine besondere Leiche! Isa dreht sie auf den Rücken. Es ist ein Mädchen. Ein Mädchen mit hellen, langen, glatten Haaren, nicht so dunkel, wirr und struppig gleich denen der Neandertaler, und weißer, nackter Haut. Ogon kniet an Isas Seite nieder. Eine tiefe Wunde klafft im Oberschenkel des kleinen Mädchens. Der alte Mogur deutet die Klaue des Säbelzahntigers an. Isa bestätigt es mit leisem Nicken.

»Was macht ihr da?!«, fragt Fangul streng, fast vorwurfsvoll. Er stellt den »weißen Speer« autoritär auf den Boden. Isa hält die Hand auf die Brust des Mädchens.

»Lass sie liegen! Sie ist keine von uns! Sie gehört zu den ,anderen‘! Siehst du doch!«, kommt es mürrisch aus dem Mund Fanguls. Es tönt fast wie eine Rüge.

Adug, Maman, Tuktul und Gintoy treten hinzu. Der Klan wird auf den Zwischenfall aufmerksam. Man behält sich auf der Wanderschaft stets wachsam im Auge. Ein Raubtier könnte lauern. Der Mensch ist zugleich Jäger und Beute. Man muss sich vorsehen, nicht selbst gejagt und gefressen zu werden.

Isa klopft mit der flachen Hand auf ihre Brust. Das bedeutet, das Herz klopft. Das Mädchen lebt! Sein Shima schlummert bloß, d. h. es ist bewusstlos. Fangul atmet unwirsch aus.

»Lass sie liegen, Isa!«, wiederholt er streng. »Der Klan des Bisons hungert. Er kann sich kein weiteres Maul zu füttern leisten! Dann noch ein fremdes! Eines von den ,anderen‘! Das Mädchen wird ohnehin bald sterben! Es ist schwer verletzt. Lass es sein! Es bringt Unheil…!«

Isa bettet den Kopf des kleinen Mädchens mit den blonden, langen, glatten Haaren und der hellen, nackten Haut in ihren Schoß, wo im Bauch das Kindlein auf die Geburt wartet. Die Tochter der Schamanin deutet an, dem Mädchen zu helfen, es gesund pflegen zu wollen. Da schlägt die Kleine plötzlich die Augen auf und schreit nicht einmal.

»Mama! Mama!«, entfährt es dem kleinen Mund. Maman, die alte Schamanin, bückt sich angerufen über das Mädchen und blickt in tiefblaue Augen.

»Woher kennst du meinen Namen, kleines Mädchen?«, fragt sie mit mystischer Stimme. »Hat der große Geist dich geweckt? Will er sich mir offenbaren?«

Aber das Mädchen versteht die Worte der Neandertaler nicht. Es sagt wiederholt: »Mama! Mama!« und plötzlich »Dula!«. Das kleine Mädchen scheint gar keine Angst vor den grobschlächtigen »anderen« zu haben. Uba, die Mutter, hat von ihnen erzählt. Die Legenden sagen, niemand müsse sich vor ihnen fürchten.

»Seht, das Mädchen hat die blauen Augen eines Shima!«, ruft Maman überwältigt. »Wir dürfen es nicht sterben lassen! Die großen Geister des Himmels, der Erde und in den Dingen würden uns zürnen.«

Fangul schüttelt den Kopf. Die blauen Augen einer »anderen« brächten weder Jagdbeute noch einen sicheren Schutz im Fels, stellt er unwirsch fest. Der »weiße Speer« deutet zu gehen an. Da ergreift der alte Mogur das Wort:

»Ein guter Shima offenbart sich in den blauen Augen des Mädchens«, sagt er überzeugt. »Er verwandelt sich in einen unheilvollen Shima, der den Klan des Bisons böse verfolgt, wenn wir es sterben lassen. Die großen Geister des Himmels, der Erde und in den Dingen helfen uns, wenn der Klan es aufnimmt!«

»Und wer soll für sie jagen?«, fährt Fangul ungehalten auf. »Wer nimmt sie an sein Feuer? Du etwa? Du kannst ja nicht mehr jagen!«

»Aber ich kann jagen!«, meldet sich Gintoy zu Wort.

Fangul wendet sich dem jungen Jäger zu.

»Du?!«, fragt er überrascht.

»Ich jage für Ogon, meinen Bruder, für Maman und Isa, die in meiner Obhut sind. Da kommt es mir nicht darauf an, für ein kleines Mädchen ein bisschen mehr Fleisch ans Feuer zu bringen.«