Die Totenklinik - Martin Spirig - E-Book

Die Totenklinik E-Book

Martin Spirig

0,0

Beschreibung

Dr. Maria Rosa Peredes tritt im San Cristòbal-Hospital in Mexiko City ihre neue Stelle als Transplantations-Chirurgin an. Der Chefarzt nimmt sie zuvorkommend als Gast in seine Familie auf. Da wird plötzlich das neunjährige Töchterchen entführt. Lösegeld: 10 Mio. Dollar! Im Spital häufen sich gleichzeitig seltsame, irreversible Koma-Fälle bei operierten Patienten. Sie verschwinden unauffindbar. Was geschieht mit ihnen? Maria Peredes kommt dunklen Machenschaften auf die Spur. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, Patientenleben und das entführte Mädchen zu retten. Maria gerät in grösste Lebensgefahr!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 568

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anmerkung des Autors:

Der Text ist nicht gendergerecht geschrieben, weil es den Lesefluss beeinträchtigt. Selbstverständlich beinhaltet Arzt oder Mitarbeiter alle Geschlechter; sie sind absolut gleichwertig!

Abbild eines Aztekengottes oder einer hohen Persönlichkeit. Säulenrelief in Teotihuacan, der alten Pyramidenstadt ausserhalb von Mexiko-City.

Mexiko. – Heute.

Die Reifen stieben in den engen Kurven auf der gekiesten Passstrasse, die auf die Sierra Madre hochführt. Der Frauenfuss im geschlossenen Pumps wechselt häufig vom Gaspedal zur Kupplung und zurück. Höchstgeschwindigkeit ist angesagt. Paz de la Vega muss bei den Powerslides herbes Gegensteuer geben. Der Wagen gleitet haarscharf am erdigen, buschbewachsenen Bergabhang vorbei und schleudert Kieselsteine von der schlecht gesicherten Strasse in den Abgrund hinunter. Was die Investigativ-Journalistin veranstaltet, ist lebensgefährlich. Wehe, ein Lkw kommt ihr entgegen! Oder sie verliert die Beherrschung über das Fahrzeug! –

Eine heisse Story ist fast so wertvoll, wie das eigene Leben. Eine wahre Reporterin ist ausnahmslos bestrebt, als erste vor Ort Bericht zu erstatten. Das verlangen Ehrgeiz und Karriere in einer hart konkurrierenden Medienlandschaft.

Paz de la Vega gehört zu den wenigen Journalistinnen in Mexiko, die sich von Bandenführern, Klan- und Mafiabossen wenig beeindrucken lässt. Gewaltandrohungen spornen sie bloss weiter an, mit oder ohne Polizei verdeckt zu arbeiten und zu ermitteln, immer auf der Suche nach einer heissen Story. In ihrer 21jährigen Tätigkeit wurde sie schon zweimal entführt und spitalreif geschlagen; einem Attentat ist sie haarscharf entronnen. Wie die Berufsbezeichnung `Investigativ-Journalistin` sagt, deckt sie Verbrechen, Skandale und Korruptionsfälle auf. Ob Senator, Polizeipräfekt, Richter, Politiker, Rauschgiftmagnat bis hin zu Bandenmitgliedern, korrupten Polizisten, Mordgesellen, Entführern und Vergewaltigern, keiner entkommt ihren flammenden Schlagzeilen in der `Republica Reforma`. Gar mancher Gauner jedwelchen Couleurs hat ihre Hartnäckigkeit und Unerschrockenheit unterschätzt und ist ehr- und würdelos vor dem Richter und hinter Gitter gelandet. Ehre, Ansehen, Würde und die Familie gehören bei den Mexikanern zum höchsten unveräusserlichen Gut; es ist bei vielen wertvoller als das eigene Leben.

Paz de la Vega weiss aus langjähriger Erfahrung und einem gut entwickelten Instinkt, was zu tun und zu lassen ist. Ihr Kamerateam und der TV-Übertragungswagen sind bereits am Tatort. Die Medienleute erwarten die Starmoderatorin, die man im ganzen Land kennt, zunehmend nervös und nervöser werdend. Die Zeit des verfügbaren Sendefensters für eine Live-Schaltung tickt und tickt unbarmherzig herunter. Paz wurde telefonisch über die Geschehnisse informiert; sie braucht nur das Mikrofon zu nehmen, sich vor die Kamera zu stellen – und los geht`s…!

Da gibt es vorerst einen Stau, mindestens einen halben Kilometer lang, obwohl die Nebenstrasse schlecht ausgebaut, die Route distanzmässig weiter als die Hauptstrasse ist und deshalb weniger befahren wird – sollte man meinen! Doch ausgerechnet heute!

»Caramba! – Weg da! – Lasst mich durch! – Idioten!«, schreit die Medienfrau aufgebracht durchs Seitenfenster. Sie hupt und hupt, veranstaltet ein ungeduldiges Hupkonzert. Die im Stau steckenden Automobilisten reagieren verärgert über die dreiste Drängerin, erwidern genervt die Hornsignale, rufen ihr bei den waghalsigen Überholmanövern grimmige Flüche nach, zeigen den Mittelfinger.

Paz de la Vega erreicht die Passhöhe. Ein Polizist kommt der gesetzeswidrig auf der Gegenfahrbahn die Staukolonne mit übersetzter Geschwindigkeit überholende Fahrerin entgegen. Sie muss vor der Absperrschranke brüsk bremsen

»Sie haben es aber eilig, Señora!«, meint er und verlangt mit polizeilicher Autorität den Fahrzeug- und den Führerausweis. Jetzt setzt es wohl eine saftige Busse ab. Die fehlbare Lenkerin zückt den vor der Brust hängenden Presseausweis.

»Paz de la Vega. Investigativ-Journalistin. Ich werde dringend vom Sender erwartet. Sehen Sie die Presseleute dort drüben und den Einsatzleiter der Spezialeinheit? Da muss ich hin. Lassen Sie mich durch, Señor – por favor.«

»Oh, Sie sind es!«, erkennt der Polizist die bekannte Enthüllungsreporterin vom Fernsehen und Kolumnistin von der `Republica Reforma`. »Hier dürfen Sie aber nicht parken, Señora De la Vega«, gibt er zu bedenken.

Die Pressefrau schnappt die Handtasche und die Kostümjacke auf dem Beifahrersitz, steigt aus und wirft dem beeindruckten Mann die Autoschlüssel zu.

»Dann sind Sie einer in äusserster Eile befindenden Dame gewiss behilflich und zuvorkommend, den Wagen dort zu parken, wo es erlaubt ist, por favor«, lullt sie den jungen Mann mit fraulichem Charme ein. »Ich wäre Ihnen dafür sehr dankbar. Ich finde bestimmt ein paar lobende Worte für Ihren Einsatz und die Kooperation in meiner Fernsehreportage, wenn Sie mir Ihren Namen nennen wollen, Señor, por favor?«

»Diego Morales«, antwortet der Geschmeichelte spontan, mehr überrumpelt als erstaunt über das Angebot. Er kann gar nicht nein sagen.

»Muhos Gracias, Señor Diego Morales. Den Autoschlüssel legen Sie einfach hinter die Sonnenblende, okay?«, nickt die attraktive Pressefrau von 43 Jahren mit einem unwiderstehlichen Lächeln den Deal ab. Da erreicht sie den Ruf des Aufnahmeleiters des Fernsehteams vor der Polizeiabschrankung des Tatorts.

»Sie hören, ich muss jetzt gehen.«

Schwupp und weg ist sie.

»Komm schon! Beeil dich, verdammt!«

»Ich komm ein bisschen spät. Keine Panik, Jose!«

»Ein bisschen? Wir sind in einer Minute live auf Sendung. Wo warst du? Ich habe stundenlang auf der Redaktion angerufen.«

»Bin ja da! Der verfluchte Verkehr. Der Stau!«

Paz de la Vega schlüpft für die Moderation in die Kostümjacke.

»Siehst du die Marke?«, weist ein ziemlich aufgeregter Kameramann auf diese hin.

»Natürlich sehe ich die Marke.«

Der Tonmann wirft Paz das Mikrofon zu, das sie im Gehen geschickt auffängt. Die Make-up-Frau pudert das Gesicht ab. Eine Assistentin ordnet in Windeseile die wirre, hochgesteckte Lockenpracht – das alles auf dem Weg zur Marke vor der Absperrung. Dabei verliert sie den linken Schuh im weichen Boden. Keine Zeit, wieder in den Pumps zu schlüpfen.

Im Übertragungswagen läuft der letzte Werbespot vor der Live-Sendung.

»Schöner Fuss. Wusste gar nicht, dass du die Zehennägel verschiedenfarbig anstreichst«, spottet der Kameramann. Er schwenkt über ihre wohlgeformten Beine, die unter dem knapp knielangen Rocksaum des Kostüms verschwinden, auf ihr Gesicht und stellt den Focus scharf.

»Hey, die Sonnenbrille weg!«, ruft der Aufnahmeleiter ihr zu. Paz wirft sie reflexartig in den Staub.

»Die drei obersten Knöpfe an der Bluse zu! Die Zuschauer sind nicht an deinen Brustrundungen interessiert.«

»Vielleicht mehr als an dem verdammten Scheiss hier!«, meint der Kameraassistent schelmisch.

Paz de la Vega klemmt das Mikrofon zwischen die Knie und tut flink wie geheissen. Sie balanciert sich aus, sucht sicheren Stand, weil der linke Schuh am linken Fuss fehlt, den sie auf dem Weg zur Marke verloren hat.

Das Signet `Breaking News` erscheint auf dem Bildschirm im Ü-Wagen. Jose, der Aufnahmeleiter, macht über das Interkom den Countdown. Der Kameramann zählt ihn stumm mit Fingern ab: 5-4-3-21-und live!

»Señores, Señoras, Senhoritas. Hier spricht Paz de la Vega. Ich befinde mich hier auf der Sierre Madre unweit von Teotihuacan«, eröffnet sie die Moderation in die Kamera, als wäre der Aufnahme nicht die geringste Hektik vorausgegangen. »Wieder einmal bekriegen sich Banden um die Vorherrschaft im unseligen Drogenkrieg. Es sind 21 Tote zu beklagen. – 23 Tote, flüstert mir gerade der Einsatzleiter des Special-Squad zu, der neben mir steht. – Die rivalisierenden Banden haben sich bis auf den letzten Mann gegenseitig erschossen. Auch eine Frau ist dabei und vier wie durch ein Wunder überlebende Kinder, die sehr wahrscheinlich entführt worden sind. Die Mädchen befinden sich in medizinischer Obhut. Leider konnte die Spezial-Polizeieinheit das blutige Massaker nicht rechtzeitig verhindern. Die Schiesserei war vorbei, als sie hier eingeflogen ist. Sie sehen die drei Hubschrauber hinter mir im Bild bei den von Kugelsalven durchlöcherten Autowracks der Drogenbanden. Ich spreche jetzt mit dem Befehlshaber des Special-Squad, Capitan Tomaso Roveredo. Was können Sie den Zuschauern über das schreckliche Massaker sagen?«

»Nicht viel mehr, als Sie bereits gesagt haben, Señora De la Vega«, antwortet der Kommandant mit verrauchter Stimme. »Wir kamen leider zu spät, das Schreckliche zu verhindern. Zu gerne hätten wir ein paar Überlebende verhaftet und verhört. Wir schätzen, keines der Opfer ist älter als 20 Jahre. Die Politik muss endlich etwas tun, unsere Jugendlichen und Jungerwachsenen von der Strasse zu holen und eine Perspektive zu geben. Leider gilt es als schick, einer Gang anzugehören. Die Burschen verdienen zehnmal mehr Geld als ein Verkäufer im Supermarkt. Dazu geniessen sie ein hohes Ansehen und frönen dem überlegenen Machtgefühl, Angst und Schrecken sogar unter Erwachsenen zu verbreiten. Kein Wunder, dass die Drogenbarone keinen Mangel an Nachwuchs haben. Die 23 Toten sind kleine Fische. Sie werden sehr schnell ersetzt werden, und das Geschäft läuft weiter. Es ist schwierig, an die Drogenbarone heranzukommen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Konnte Rauschgift sichergestellt werden?«, stellt Paz de la Vega die Frage.

»50 Kilo Heroin. 20 Kilo leichtere Drogen. Die sind eine beträchtliche Summe wert. Die Polizei ermittelt. Es ist anzunehmen, dass die Gangs das Rauschgift einander abjagen wollten.«

»Wurde Schmuggelware gefunden?«

»Sechs Kühlboxen. Sie enthalten menschliche Organe.«

»Was geschieht mit den toten Burschen?«

»Wir fliegen Sie ins Jesù- Hospital oder ins San Cristòbal. Die haben gute Pathologen, die DNA-Analysen für die Personenidentifikation durchführen können. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Können Sie etwas über die menschlichen Organe sagen?«

»Die Boxen haben weder ein Empfänger- noch ein Absender-Etikett. Vielleicht erfahren Sie beim Polizeibriefing heute Abend mehr Details über die laufenden Untersuchungen.«

»Ich danke Ihnen für diese ersten Informationen, Capitan Roveredo. – Damas, Señores«, spricht die Reporterin in die Kamera. »Wir halten Sie mit weiteren Nachrichten beim angekündigten Polizeibriefing auf dem Laufenden. Das war Paz de la Vega mit einem Live-Bericht vom Tatort auf der Sierra Madre in der Nähe von Teotihuacan.«

»Und – wir sind raus!«, ruft der Kameramann. Im Ü-Wagen läuft ein kurzer Werbespot. Ihm folgt die Fortsetzung des unterbrochenen TV-Programms.

»Sehen Sie, was habe ich gesagt?«, stellt die Reporterin fest. »Kein Problem. Wenn ich mal da bin.«

»Kein Problem?«, echot Jose, der Aufnahmeleiter, tadelnd. »Was glauben Sie eigentlich? Bei diesem Sender drehe sich alles um Sie!«

»Was sagen Sie da? Ich bin nicht der Mittelpunkt des Universums?«, vermerkt Paz sarkastisch.

»Sparen Sie sich die schlauen Sprüche! Es gibt auch andere gute Moderatoren und Moderatorinnen.«

»Aber ich bin die beste, die erfahrenste Investigativ-Journalistin!«, setzt sie lächelnd hinzu. Sie kneift ein Auge zu, als ob sie es nicht ernst meinte.

»Es gibt immer eine noch bessere, nicht wahr?«

»Seien Sie doch nicht so verbissen. Ist doch alles gut gelaufen! Stimmt, ich spiele das Spiel nicht unbedingt nach Ihren Regeln, aber ich besorge Ihnen immer eine heisse Story.«

»Sie halten sich für unersetzbar, weil Sie ein paar gute Storys an Land gezogen haben?«

»Jeder ist ersetzbar!«, gibt Paz de la Vega pari. »Das gilt selbst für Aufnahmeleiter. Ich verschaffe dem Sender schliesslich eine gute Einschaltquote. Darauf kommt`s doch an? Haben Sie selbst gesagt.«

»Nun, ich hatte heute Morgen eine kleine Unterredung mit dem Vorstand des Senders. Wissen Sie was?«

»Was denn! Werde ich befördert?«

»Oh ja, Sie werden befördert. Rausbefördert! Sie sind entlassen, Señora Paz de la Vega. Fristlos gefeuert! Jetzt verschwinden Sie aus meinem Blickfeld!«

Die Make-up-Dame tritt auf sie zu.

»Hier die Handtasche, Ihre Sonnenbrille – und der Schuh, den Sie verloren haben! – Tut mir Leid. Ich habe immer gern mit Ihnen zusammen gearbeitet. Jose ist halt ein überheblicher Arsch. Niemand mag ihn in unserem Team.«

»Ich danke dir, Chiquita! – Ach, weisst du«, atmet Paz entspannt aus. »Vielleicht bin ich auch mal hin und wieder ein arrogantes Arschloch. Also flieg ich halt raus! Macht nichts! Ich arbeite sowieso als freie Investigativ-Journalistin! Es gibt schliesslich noch andere nationale Fernsehsender. Und als Chefkolumnistin hab ich die `Republica Reforma`-Zeitung auch noch in Petto.« –

Zur gleichen Zeit: Anflug auf Mexiko-City, die Landeshauptstadt.

Die Stimme der Chefstewardess im Lautsprecher schreckt Maria Rosa Peredes am bequemen 1st Class Fensterplatz auf; jetzt ist sie tatsächlich auf dem Inlandflug von Cancùn nach Mexiko City eingenickt! Die Passagiere werden aufgefordert, sich anzuschnallen, die Sitzlehnen senkrecht zu stellen, die Tischchen hochzuklappen und die elektronischen Geräte während des Landeanflugs auszuschalten - das übliche Sicherheitsprozedere. Eher ungewöhnlich ist eine Entschuldigung: Der Pilot habe wegen Überlastung des Flughafens eine Warteschleife fliegen müssen. Deshalb sei der knapp 5500 m hohe Popocatepetl als kleine Entschädigung der Zeitverzögerung auf der linken Fensterseite der Maschine jetzt sehr nah zu sehen. Man bedankt sich, mit der Aeromexico geflogen zu sein, wünscht einen angenehmen Aufenthalt und einen guten Tag.

Maria Rosa sah vor 15 Jahren den Vulkan das letzte Mal, sogar einmal mit einer dicken, schwarzen Rauchwolke; eine kleines Erdbeben erschütterte die Stadt, das, Gott sei`s gedankt, keine grösseren Schäden verursachte aber ein noch fürchterliches Verkehrschaos anrichtete, als es ohnehin schon Tag ein Tag aus bestand.

Der Popocatepetl ist wohl der bestüberwachte Vulkan der Welt, ein schlafender und keineswegs erloschener Vulkan. Der geringste Rülpser, den der Bergriese von sich gibt, wird von einem dichten Netz von Laserstrahlen registriert und unverzüglich an die Alarmzentrale weiter geleitet, ebenso die Signale von Gasdetektoren und Erdbewegungsmel-dern. Eine grosse Eruption oder sogar eine unerwartete Explosion, die sich am Mount Helen in Alaska ereignete, hätte 100`000de wenn nicht Millionen Tote und eine vollständige Auslöschung der Metropole zur Folge, obwohl gross angelegte Evakuierungspläne existieren. Aber eine 20, 30 Millionenstadt rechtzeitig evakuieren? – Maria Rosa Peredes mag gar nicht daran denken…

Die Maschine setzt zur Landung an, taucht schnell in die Dunstglocke von Feinstaub und Auspuffruss ein, unter der sich ein endloses Häusermeer ausbreitet: Es sind die Armen- und Reichenviertel von Ciudad de Mexico – Mexiko Stadt – Mexiko City – Distrito Federal – durchschnittlich 2240 m hoch gelegen und mit 1500 km2 doppelt so ausgedehnt wie Berlin. Die Metropole ist längst über die Stadtgrenzen hinaus gewachsen; sie ist nach Tokyo vielleicht die zweitgrösste Stadt der Welt mit allen negativen Begleiterscheinungen, von der Kriminalität bis zur Umweltverschmutzung und chaotischem Verkehrsgewirr.

Das Flugzeug setzt sanft auf der Piste auf, man merkt es kaum. Der Sitzgurt kompensiert die Bremswirkung des Umkehrschubs der Triebwerke. Weshalb die Passagiere jeweils von den Sitzreihen aufspringen und das Handgepäck aus den Lockern reissen, sobald die Maschine zum Stillstand gekommen ist und die Gangway noch nicht mal angedockt hat, ist unerklärlich. Man drängt sich lieber zwischen Koffern, Taschen und Rucksäcken auf dem engen Korridor, nur um zu warten, bis endlich die Tür geöffnet wird und man die Maschine verlassen kann.

Maria Rosa Peredes bleibt sitzen, bis ihre Reihe dran ist. Sie lässt einen Drängler aus den hinteren Sitzreihen vor. Den jungen Mann auf sein ungebührliches Verhalten hinzuweisen, würde wohl kaum nützen und bloss Streit bedeuten. Die Chefstewardess hat es gesehen, verdreht die Augen, sagt aber nichts. Die Kinderstube mancher Menschen lässt halt zu wünschen übrig. Vielleicht lächelt sie unter der Gesichtsmaske, die den Passagieren und der Besatzung wegen der Corona-Pandemie zu tragen verordnet ist.

Maria Rosa hat die Handtasche und einen kleinen Trolley als Handgepäck dabei. Eine Viertelstunde Wartezeit am Förderband vergeht, bis es endlich anspringt und weitere zehn Minuten, bis ihr knallroter Metallkoffer erscheint, der aus Sicherheitsgründen von einem gelben Gurt zusammen gehalten wird.

Bei einem Inlandflug gibt es weder eine Zollstation noch eine Passkontrolle. Vier ernst dreinblickende Beamte haben sich vor dem Exit postiert. Sie mustern die Neuankömmlinge aus Cancùn mit Argusaugen. Manch ein Schmuggler, gar ein ausgeschriebener Verbrecher ist ihnen schon ins Netz gegangen.

Eine rege Menschenmenge tummelt sich in der Ankunftshalle. Ein Radau herrscht, man möchte sich die Ohren zuhalten. Maria Rosa hält nach ihrem Namen auf den hochgehaltenen Schildern von erwarteten Passagieren Ausschau. Taxifahrer und Privatchauffeure drängen sich an der Absperrschranke; sie bieten ihre Dienste für einen Transfer in die Stadt an, etliche lautstark, andere diskret und höflich.

Da, ihr Name! Ein strammer Privatchauffeur in dunkelblauer Uniform mit auf Hochglanz polierten Silberknöpfen begrüsst die Señora Peredes; er ist auf Diskretion und Zuvorkommenheit gedrillt. Er nimmt ihr den Koffer ab und stellt sich gleich selber vor:

»Hola, ich bin Pablo. Professor Gutierrez schickt mich, Sie abzuholen, Señora Doktor Peredes. Por favor: Wenn Sie mir bitte folgen möchten? Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug?«

Ein diskreter Seitenblick aufs Kofferetikett verrät, dass er auch die richtige Frau hofiert. Auf der Rückseite der Namenstafel ist ein kleines Foto der erwarteten Dame platziert, und Maria Rosa weiss, dass sie von einem Pablo, dem Privatchauffeur des Professors, abgeholt wird.

Pablo kann sich einen verborgenen Seitenblick auf ihre wohl geformten Beine nicht verhehlen. Der Frau entgeht es nicht. Die angemessene Absatzhöhe betont eine attraktive Beinlinie, die da schlank und sexy unter dem knapp knielangen Rocksaum ihres Armani-Kostüms verschwindet.

Ein dunkelblauer Mercedes der Luxusklasse parkt direkt vor dem Hauptausgang des Arrival-Terminals für Inlandflüge, wo es gewiss eine Sonderbewilligung braucht, erwartete Passagiere einsteigen zu lassen. Maria Rosa nimmt auf dem Beifahrersitz Platz und nicht hinten rechts, zu Pablos Erstaunen. Sie wäre sich zu vornehm und aristokratisch vorgekommen.

»Wenn Sie hier vorn sitzen möchten, Señora, dann gilt leider die Maskenpflicht«, murmelt Pablo fast entschuldigend. »Sie wissen: Die Pandemie. Aber auf dem Rücksitz können Sie das Ding abnehmen, was für Sie vielleicht angenehmer wäre?«

»Es ist in Ordnung, Señor Pablo«, winkt Maria Rosa ab. »Ich bin Ärztin und Chirurgin und es gewohnt, eine Maske zu tragen. Zudem bin ich zweimal geimpft und geboostert. – Übrigens, die Chauffeurmütze brauchen Sie meinetwegen nicht aufzusetzen, was für Sie gewiss auch angenehmer ist!«, ergänzt sie mit lächelnden Augen.

»Perdòn – Por favor, Señora«, meint der Mexikaner mit leisem aztekischem Aussehen, der die 40 um ein paar Jährchen überschritten hat etwas verlegen. »Ich bin Pablo. Einfach Pablo. Es wäre mir peinlich vor den anderen Bediensteten der Familie Gutierrez, wenn Sie mich Señor nennen würden. Ich bin im Dienst kein Señor.…«

»Bueno«, erwidert Maria umgehend, die Gepflogenheit im Hause des Professors fraglos akzeptierend. »Dann fahren Sie mich jetzt bitte zu meiner Wohnung – Pablo«, betont sie den Namen schelmisch.

»Per favor – perdòn, Señora Doktor«, wiederholt Pablo höflich korrigierend. »Professor Gutierrez hat mich beauftragt, Sie direkt zu ihm in die Klinik zu fahren.«

Maria Peredes nickt. Sie wird wohl bald den Grund erfahren.

Pablo startet den Motor und schaltet die Klimaanlage ein; er müsse die Fahrermütze tragen, meint er. Zudem erkennt die Polizei ihn sofort als Privatchauffeur, ohne ihn anzuhalten und zu kontrollieren, ob die Limousine gestohlen sei, als ob ein Autodieb nicht auch eine Fahrermütze aufsetzen könnte.

Der Mann steuert die Luxuskarosse sicher und ohne Hast durchs Verkehrsgewühl ins Stadtzentrum.

Der Privatchauffeur von Maria Rosas zukünftigem Chef stellt nach längerer Fahrt eher zaghaft die Frage, ob die Frau Doktor auch schon mal hier in Ciudad Mexico gewesen sei.

»Das letzte Mal vor etwa 15 Jahren«, erwidert sie bereitwillig. »Ich bin hier aufgewachsen und habe die Schule und die Universität besucht.« Es habe sich zwischenzeitlich gewiss viel verändert, setzt sie hinzu.

»Si, es wurde und wird viel gebaut«, erwidert Pablo ungeniert. »Das Meiste wird illegal gebaut, vor allem in den Armenvierteln. Die Leute haben kein Geld, und die Behörden sind korrupt und uneffektiv. Die Stadtplaner haben keine Ahnung, wie schnell und unkontrolliert die City wächst. Keiner kennt die Einwohnerzahl genau. Man schätzt sie auf 40 bis 50 Millionen!«

»So hoch?«, schiebt Maria Rosa stirnrunzelnd ein.

»Si! Man schätzt die Korruption, die Bandenkriminalität, den Rauschgifthandel und die Prostitution hat sich in den letzten Jahren verzehnfacht! Wenn nicht mehr!«, ergänzt er bitter. »Nur jeder siebzigste Mord wird aufgeklärt. Alle drei Stunden findet eine Entführung mit Lösegeldforderung statt…«

»Das wusste ich nicht!«, stellt die attraktive Ärztin im Armani-Kostüm entsetzt fest. »Das ist ja…«

»Keine Angst, Señora Peredes, Doktor: Sie sind hier sicher«, tröstet Pablo seinen Fahrgast darüber hinweg. – »Sehen Sie den Mann dort mit dem nackten Oberkörper? Am Innenrand des Kreisels? Er wurde gerade von seinen Entführern dort abgesetzt. Er hatte Glück! Er wurde nicht ermordet, weil man das Lösegeld bezahlte. Viele können die geforderte Geldsumme nicht aufbringen. So findet man mehr Ermordete als Freigelassene im Strassengraben – oder man findet sie gar nicht mehr!«

»Das ist ja fürchterlich!«, sagt Maria Rosa überwältigt. »Weshalb erzählen Sie mir das?«

»Wie gesagt: Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind hier sicher«, bekräftigt der Fahrer seine Meinung. »Mexiko City hat auch gute, interessante Seiten. Nur fällt mir gerade keine ein…«

Die Verkehrsampel schaltet auf Rot. Es bilden sich sekundenschnell Kolonnen auf der Vierfachspur.

»Das Verkehrsaufkommen wird hier auf der Plaza de la Constitutiòn jeden Tag schlimmer«, meint Pablo, ohne sich darüber aufzuregen. »Wussten Sie, dass der `Platz der Verfassung` das Stadtzentrum bildet? Der Zogalo wurde übrigens über dem Platz von Tenochtitlàn angelegt, dem Centro historico von Macht und Kultur der alten Azteken vor über 700 Jahren…?«

»Ja und das dort drüben ist die Catedràl Metropolitana«, übernimmt Maria Peredes nahtlos Pablos Gesprächsfaden. »Prunkstücke sind der Altar de los Reyes und der Altar del Perdòn. Und das 235 m lange Gebäude dort ist der Palacio Nacional, den Hernàn Cortèz als seine Regierungsresidenz an der Stelle des alten Palastes von Moctezùma, dem letzten Aztekenkönig, errichtete und heute Amtssitz des Staatspräsidenten ist. Daneben befinden sich die restaurierten Ruinen des aztekischen Templo Mayor. Die Catedràl Metropolitana ist übrigens die grösste Kirche auf dem Kontinent; 1563 fand die Grundsteinlegung statt. Man benötigte 250 Jahre Bauzeit bis zur Einweihung. Wussten Sie, dass die Fundamente langsam auf dem weichen Untergrund absackten? Gewaltige Anstrengungen waren nötig, den Bau zu stabilisieren damit er nicht einstürzt.«

»No, das wusste ich nicht, Señora Doktor«, gibt Pablo zu. Die Ampel springt auf Grün. Die klimatisierte Limousine setzt sich lautlos in Bewegung. »Und ich quassle Ihnen mit meinem bescheidenen Wissen die Ohren voll! Perdòn! Ich werde jetzt schweigen. Es ist nicht mehr weit bis zum Hospital San Cristòbal.«

Die Arzt-Chirurgin wollte sich auf dem Transfer eigentlich nicht mit dem Chauffeur unterhalten; aber wenn man auf dem Beifahrersitz sitzt? Na ja, Mexikaner unterhalten sich schnell gern untereinander. Das ist ihre Mentalität. Hätte Maria Rosa hinter der Trennglasscheibe auf dem Rücksitz Platz genommen, wäre sehr wahrscheinlich kein Wort gefallen. Sie wäre sich wie ein unnahbarer Grande vorgekommen, der sich vornehm aristokratisch durch die Stadt kutschieren lässt und bei Bediensteten nur den Befehlston kennt. Das widerspricht Marias Stil und Charakter als volksnahe Ärztin.

Das San Cristòbal gehört zu den kleineren, spezialisierten Spitälern der Stadt; es ist einer eher reicheren Klientel vorbehalten. Eine Ambulanz überholt den Mercedes mit blinkendem Blaulicht und heulender Sirene auf dem Weg zur Notaufnahmestation. Pablo steuert die dunkelblaue Luxus-Limousine vor den Haupteingang des Gebäudes. Die zehnstöckigen Flügel, erbaut im spanischen Kolonialstil, stehen in einem 70° Winkel zueinander. Das ermöglicht einen dreispurigen Kreiselverkehr. Ein Wasserspiel plätschert in der Mitte einer Grünfläche, die von Hibiskus-Hecken umrandet ist und wo ein langsam drehendes Schild den Spitalnamen in riesigen Lettern verkündet. Zwei Rollstuhlrampen führen neben der breiten Treppe zum überdachten, mehrtürigen Haupteingang hoch.

Maria Rosa Peredes nimmt ihr Gepäck lieber mit; sie weiss ja nicht, wo der Professor sie einzuquartieren gedenkt.

Es herrscht eine rege Betriebsamkeit in der Empfangshalle. Maria muss an der Receptiòn warten, ehe sie dran ist. Die nette Señora will speditiv und zuvorkommend sein und weist sie höflich zu den gegenüber liegenden Empfangsschaltern der Patientenaufnahme hin, ehe sie den Mund auftun kann. Besucher haben normalerweise Blumensträusse und alles Mögliche und unmögliche Mitbringsel dabei und kein Gepäck für einen Spitalaufenthalt.

»Oh perdòn, ich bin Ärztin und keine Patientin«, korrigiert Maria das Missverständnis. »Professor Hernàn Gutierrez erwartet mich. Ich bin eine zukünftige Mitarbeiterin auf der chirurgischen Abteilung. Mein Name ist Peredes. – Doktor Maria Rosa Peredes. Würden Sie mich bitte anmelden?«

Die freundliche Empfangsdame checkt den Termin im Computer. Tatsächlich! Sie nimmt den Telefonhörer in die Hand. Wenn die Señora Doktor kurz Platz nehmen möchte? Sie werde gleich abgeholt.

Ein Mann bricht vor der Patientenregistrierung zusammen. Kein Wunder bei der Bruthitze! Die zahlreichen Propeller an der Decke kühlen die Halle kaum, obwohl sie hochtourig drehen und bloss einen lauen Luftzug verursachen. Der Mann zuckt und windet sich wie ein entzwei geschnittener Wurm und hat Schaum vor dem Mund. Epilepsie ist Marias erster Gedanke. Keine Epilepsie! Der Mann erbricht Speisereiste und schwarz gekalltes Blut. Durchgebrochene Magengeschwüre, ist Rosas zweiter Gedanke. Sie will helfen. Schon eilen zwei Ärzte und drei Schwestern herbei. Ein wirrer Menschenknäuel bildet sich um den Patienten.

»Señora Doktor Peredes? – Doktor Maria Rosa Peredes?«, lenkt eine sympathische Stimme die Aufmerksamkeit vom turbulenten Geschehen ab. Sie gehört einer attraktiven, reifen Frau, die die 50 um ein Jährchen überschritten hat.

»Ja, die bin ich«, bestätigt die Angesprochene ihre Identität.

»Ich bin Margarida Maria Sanchez, die Sekretärin von Professor Guttierrez«, stellt sie sich vor. Ein kurzer Blick aufs Namensschild bestätigt die Identität der älteren Dame sowie die Abteilung ihres Arbeitsplatzes und die Funktion. Ein integrierter Chip regelt gleichzeitig die Zutrittsberechtigung zu gewissen Räumen im San Cristòbal. Oh ja, jede dritte Frau in Mexiko heisst Maria und noch mehr Menschen heissen Sanchez, denkt Rosa so nebenbei.

»Willkommen im San Cristòbal. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Dr. Peredes? Ich nehme Ihr Gepäck.«

»Gracias, es geht schon.«

»Professor Gutierrez ist gerade auf Visite. Ich bringe Sie zuerst zu unserem Personalchef, Señor Joào Fernandez, um die Eintrittsformalitäten zu erledigen. Der Professor hat anschliessend für Sie Zeit.«

Der Name Fernandez ist wohl ebenso wie Sanchez im Land verbreitet, geht der Gedanke durch Rosas Kopf.

Señor Fernandez macht einen gestressten Eindruck. Er knallt den Telefonhörer unwirsch auf den Apparat und drückt den Pieper. Draussen fordert ein Leuchtschild zum Eintreten auf. Jetzt hat er sich doch kurz aufregen müssen, weil wieder einmal einer nicht spurte.

»Ah, Señora Peredes! Ich habe Sie erwartet. Nehmen Sie Platz, Doktor«, reisst er sich zusammen. Er will einen freundlichen Eindruck machen. Der Mittvierziger steht kurz von seinem Bürosessel auf. Eine höfliche Geste weist auf den Stuhl vor dem mit Aktenbündeln überladenen Schreibtisch.

»Ich piepe Sie an, Margo, wenn wir hier fertig sind«, komplimentiert Joào die Sekretärin des Professors aus dem Büro. »Das Gepäck der Señora Peredes lassen Sie hier.«

Der Personalchef setzt sich hin, bevor die zukünftige Klinikmitarbeiterin Platz nehmen kann. Vielleicht ist es die Hierarchie, der Zeitmangel, der Stress, der die Höflichkeit vor einer Dame vermissen lässt. Maria Rosa stellt die Beine parallel, um ja kein falsches Signal auszusenden. Der Mann wäre kein Mann, wenn er ihre Schönheit unbeachtet liesse. Er tut es wenigstens unaufdringlich und verborgen. Er greift nach der Akte auf dem Bündel oben und schlägt sie auf. Es ist Marias Bewerbung, die er sich mit schnellen Blicken in Erinnerung ruft.

»Sie haben einen beeindruckenden Lebenslauf«, stellt er plötzlich fest, ohne sein attraktives Gegenüber anzublicken. »Studium an der hiesigen Universität. Drei Jahre Assistenz Ärztin in diversen Abteilungen im Jesùs Hospital. Vier weitere Jahre in Guadalajara – Mérida – zwei in Acapulco – noch zwei in Tijuana… Wechsel in die Stapelton-Klinik nach San Diego… in die Transplantationschirurgie?«, fragt er fast ungläubig, ihr einen kurzen Blick zuwerfend.

»Das ist richtig«, bestätigt Maria Rosa. » Das Stapelton bot mir die Gelegenheit, mich als Chirurgin weiter zu bilden und Erfahrung zu sammeln. Sie suchen doch eine Allgemein-Chirurgin mit dieser speziellen Qualifikation?«

»Dann wieder zurück nach Mexiko, nach Cancùn? – Nach nur zwei Jahren?«, ignoriert der Personalchef Marias Feststellung zwischen Erstaunen und Zynismus.

»Sie sind weit herumgekommen! Sie vollführen ja ein wahres Job-Hobbing! – Wie lange gedenken Sie denn im San Cristòbal zu bleiben?«

Ein fast misstrauischer Blick streift Maria Rosas Gesicht.

»Professor Gutierrez will eine Abteilung für Transplantationschirurgie eröffnen, wie Sie vielleicht wissen. Das ist der Grund, weshalb ich mich im San Cristòbal beworben habe, Señior Fernandez. Da möchte ich meinen Beitrag leisten und auch bleiben«, sagt sie entschlossen.

»Weshalb sind Sie nach so kurzer Zeit vom Stapelton weg nach Cancùn gegangen?«

»Die Green Card wurde wegen Änderungen im Arbeitsgesetz nicht verlängert. Ich bin Mexikanerin. Nach Cancùn ging ich, weil meine Eltern dort ein Hotel betreiben und das Spital gerade eine Arzt-Chirurgin suchte. Dass ein halbes Jahr später das San Cristòbal jemand für die Allgemein- und Transplantationschirurgie in der Ärztezeitung suchte, ist vielleicht ein Zufall. Jetzt bin ich hier auf Einladung von Professor Gutierrez, um meine Arbeit aufzunehmen. Sie finden den beidseitig unterzeichneten Arbeitsvertrag im Personaldossier, das Ihnen vorliegt, Señor Fernandez. Oder benötigen Sie weitere Angaben? Referenzen?«

Der Personalchef presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Er wendet seine Aufmerksamkeit den Personalunterlagen zu und runzelt die Stirne.

»Sie geben hier den Doppelnamen Peredes-Browning an. Sie sind verheiratet?«

Maria Rosa atmet unmerklich aus.

»Ich bin von meinem Mann geschieden, Señor Fernandez«, lautet die Feststellung trocken. »Es liegt ein Dokument beim Anwalt, das mein Mann noch unterschreiben und ich gegenzeichnen muss. Dann nehme ich wieder meinen Mädchennamen an – Maria Rosa Peredes.«

»Haben Sie Kinder?«

»Keine!«, bestätigt Maria innerlich erleichtert. Schweigen. Sekunden lang.

»Es ist alles vorbereitet«, kommt Joào Fernandez auf den Punkt. »Das ist ihre Batch. Sie dient sowohl als Personalausweis als auch der Zutrittskontrolle. Ohne sie kommen Sie vor 6 Uhr morgens und nach 22 Uhr weder ins Spital hinein noch heraus. Dann müssen Sie den Sicherheitsdienst kontaktieren und ihre Anwesenheitsberechtigung nachweisen. Die haben immer grosse Freude, wenn man das Ding vergisst oder verliert und die Identität überprüfen muss. Es kostet zehntausend Pesos, wenn Sie die Karte verlieren. Hier ist der Schlüssel für den Spint. Da Ihr Pieper. Die Nummer steht darauf. Das ist die Anrufliste Ihrer Arztkollegen auf der Abteilung. Die gesamte Ärzteschaft und das Kader werden ein internes Handy erhalten, sobald die elektronischen Anlagen betriebsbereit sind. Das wird per Ende Jahr der Fall sein. Sie müssen es jeweils nach Arbeitsschluss im Ärztezimmer deponieren, wenn Sie keinen Notfalldienst haben. – Fragen?«

Keine Fragen.

»Dann rufe ich jetzt Margo, die Sekretärin des Professors«, sagt der Personalchef zum Gesprächsende kommend. »Sie wird Sie zum Professor bringen und Ihnen alles zeigen. Willkommen im San Cristòbal.«

Ein freundliches Lächeln. Ein formaler Händedruck. Das Eintrittsgespräch ging schnell und speditiv von statten.

Die Sekretärin wartet draussen im Vorzimmer des Personalchefs.

»Professor Gutierrez hat mir gerade gemeldet, dass er noch immer auf Visite ist«, sagt Margarida Maria Sanchez, genannt Margo, fast entschuldigend. »Ich schlage vor, Sie beziehen Ihre Arbeitskleidung. Dann zeige ich ihnen den Spint. Einverstanden?«

Was soll Frau Doktor entgegnen? Eine gute Idee, die Wartezeit produktiv zu überbrücken.

Die Señora in der Kleiderabteilung hat ein gutes Auge. Der Arztmantel passt auf Anhieb. Vier zum Anfang. Darunter trage man zivil während der Sprechstunde oder auf Patientenvisite einen Jupe. Man könne auch einen Sechsersatz weisse Shirts und drei Hosen beziehen, was gewiss hygienischer sei, betont die Garderobiere eindringlich: Maria Rosa kann nicht nein sagen. Viele Patienten verehren Ärzte als Götter in Weiss, denkt sie, was sie aber für sich strikt ablehnt.

Margo übernimmt das Gepäck, Frau Doktor das Kleiderbündel. Der Spint befindet sich im Damenumkleideraum für Ärztinnen auf der chirurgischen Abteilung, fein säuberlich und moralisch von dem ihrer männlichen Kollegen getrennt. Es gibt Dusch- und Toilettenkabinen, Haartrockner, Spiegel und Schminktische. Es ist niemand da. Der Schichtwechsel findet erst um 19 Uhr statt. In den Schränken hängen ein paar Kleiderbügel, die man nicht von der Querstange entfernen kann und einen separaten Tresor mit einer vierstelligen elektronischen Kombination für die Wertsachen. Wir sind in Mexiko. Da gibt es überall Langfinger, denkt Maria Peredes. Die Handtasche, den Trolley und den Koffer nimmt sie lieber mit ins Büro des Chefarztes. Die Sekretärin hat dafür Verständnis. Was nicht Niet- und Nagelfest ist, wird mitgenommen, um es milde auszudrücken. Spiegel, Waschbecken, sogar ganze Toiletten mitsamt Spülkasten verschwanden unauffindbar während der Renovationsarbeiten der sanitären Anlagen, die noch nicht fest (sprich diebstalsicher) montiert waren.

Maria Rosa muss in Margos Vorzimmer nur wenige Minuten auf den Professor warten.

»Perdòn. Meine Arztvisite hat länger als geplant gedauert. Willkommen in meinem Team«, sagt eine warme sonore Stimme. Der Händedruck ist sanft und angenehm. Ein Chefarzt entschuldigt sich? Ein eher seltenes Verhalten gegenüber untergebenen Mitarbeitern. Sein spanisches Aussehen wirkt sehr sympathisch aufs weibliche Geschlecht. Er hat mit seinen 52 Jahren eine vertrauensvolle, fast väterliche Ausstrahlung.

»Señoras! Señores! Das ist Doktor Maria Rosa Peredes«, stellt er sie seinem Ärztetross vor, der ihn auf der Visite begleitet. Es ist ein gemischtes Team von Frauen und Männern. Die beiden jungen Burschen scheinen Medizinstudenten in den höheren Semestern zu sein. »Sie wird als Oberärztin meine Stellvertreterin in der Transplantationschirurgie sein. Sie wird auf der Abteilung eine eigene Praxis haben und mich als Leitende Ärztin in der Allgemeinchirurgie vertreten – neben Dr. Alfredo Nuñez, der mein 1. Stellvertreter als Oberarzt bleibt«, betont Hernàn Gutierrez ausdrücklich, um ein Hierarchiegerangel zu vermeiden. Maria Rosa quittiert das Nicken des Angesprochenen mit einem unverbindlichen Lächeln, ebenso das der Stationsschwester der Allgemeinen chirurgischen Abteilung. Sie heisst Belèn Rodriguez. Ihr durchaus hübsches, etwas hart geschnittenes Gesicht macht einen eher resoluten Eindruck. Ein Häubchen unterscheidet sie als Schwester von den Ärzten. Es thront leicht und keck auf ihrer melierten, hochgesteckten Lockenpracht. Offenes Haar ist im San Cristòbal für das gesamte weibliche Personal aus hygienischen Gründen untersagt – und das nicht nur im San Cristòbal-Hospital. Man heisst die neue Mitarbeiterin im Team willkommen, versichert ihr die ärztliche Kooperation und wünscht ihr einen guten Arbeitsstart.

»Wir verschieben das De-Briefing der Visite auf morgen früh um 8«, entlässt der Chefarzt die Arztkollegen, die Abteilungsschwester und die beiden Medizinstudenten aus dem Sekretariat. Er komplimentiert Maria Peredes in sein Büro. Margo hebt hinter seinem Rücken am Bildschirm den Daumen und lächelt. Die Frau Doktor hat auch für Frauen einen ansprechenden Charme, dem die Sekretärin erlegen ist.

»Hier im San Cristòbal wird es deutlich reger zugehen als in Cancùn, als Sie es vielleicht gewohnt sind. Por favor: Nehmen Sie Platz«, sagt der Professor. Er setzt sich auf den Chefsessel hinter seinem ausladenden Mahagoni-Schreibtisch.

»Nun, das hoffe ich«, erwidert Maria Rosa, der Aufforderung folgend und lächelt. Sie vermeidet tunlichst, die Knie zu kreuzen, um ja kein falsches Signal zu senden. Der Saum des Armani-Kostüm liegt beim Sitzen ziemlich hoch.

»Sie hatten einen guten Flug?«, erkundigt sich der Hernàn Gutierrez. Er ist doch viel zugänglicher und herzlicher als der Personalchef des Spitals.

»Bueno. Eine Stunde Verspätung ist in Mexiko doch ziemlich pünktlich – solange es nicht die Arbeit betrifft«, setzt Maria entwaffnend hinzu.

»Da haben Sie allerdings Recht.«

»Darf ich Sie etwas fragen, Señior Professor Gutierrez?«

»Fragen Sie – por favor«, lautet die Aufforderung höflich.

»Pablo – Ihr Privatchauffeur – hat mir gesagt, Sie hätten ihn angewiesen, mich direkt ins San Cristòbal und nicht in meine Wohnung im Ärztehaus zu fahren. Unser Termin wäre doch erst morgen? – Ist etwas mit meiner Wohnung?«

Der Gefragte räuspert sich und rückt sich auf dem Chefsessel zurecht.

»Allerdings! Es tut mir Leid, sagen zu müssen: Es hat bei den Renovationsarbeiten einen Brand gegeben…«

»Oh!«

»Wir müssen neu renovieren! Aber ich kann Ihnen anbieten, vorübergehend entweder im Personalhaus der Schwestern und Pfleger zu logieren oder in ein Hotel zu ziehen, bis die Arbeiten abgeschlossen sind – in etwa 14 Tagen! Es wird gehörig nach frischer Farbe riechen. – Wenn Sie wollen, können Sie auch bei meiner Frau und unserer Tochter Pita wohnen. Wir haben genügend Platz und eine Wohnung im Haus, wo sie frei und franko logieren können, bis Sie ins Ärztehaus umziehen können. Wenn das okay ist? Es würde uns wirklich freuen, Dr. Peredes«, setzt er hinzu, als wäre es ihm peinlich. Ein Vorwand für eine Anmache ist ausgeschlossen. Maria ist sich dessen sicher. Hernàn Gutierrez hat sie gewiss nicht wegen ihres Körpers eingestellt, sondern wegen ihrer fachlichen Qualifikationen.

»Nun ja, Sie können es sich überlegen, wohin Sie Pablo fahren soll«, kommt er ihrer Entscheidung zuvor. » Ich zeige Ihnen jetzt die Praxisräume, wenn Sie einverstanden sind, Señora Peredes. Sie können das Gepäck hier lassen. Nehmen Sie lediglich den Batch mit, den Ihnen Dir. Fernandez ausgehändigt hat – wie ich sehe.«

»Gern.«

Der Chefarzt weist seine Sekretärin an, ihn nicht anzupiepen. Er mache mit der Frau Dr. Peredes einen kurzen Rundgang und zeige ihr den Arbeitsplatz.

»Wie schnell möchten Sie unter diesen Umständen denn anfangen? Wenn Sie etwas Zeit brauchen, um sich einzuleben? Es wäre okay.«

»Eigentlich möchte ich sofort anfangen«, erwidert Maria.

»Nichts tuende Hände sind des Teufels, nicht wahr?«

»Kann man so sagen.«

Der Chefarzt führt sie durch endlose Gänge, in denen man sich gehörig verirren kann und zeigt ihr alles, was Sie wissen muss, um hier zu arbeiten.

»Wir sind ein Krankenhaus mit allen erdenklichen Fachgebieten. Die allgemeine Chirurgie haben Sie ja bereits gesehen. Dort teilen Sie Ihr Büro vorerst mit meinem Oberarzt Alfredo Nuñez…«

Keine Rückzugsmöglichkeit für administrative Arbeiten?

»Wir haben die Gynäkologie, eine Pädiatrie, Onkologie, eine kardiologische Abteilung und die Neurologie, der eine Schmerzklink angeschlossen ist«, fährt Hernàn Gutierrez weiter. »Es gibt Psychiater auf Abruf. Alle langwierigen Behandlungen schicken wir ins Zentralhospital De Jesùs. Ferner verfügen wir über eine Röntgen- und Tomografie-Abteilung für die Diagnostik.«

Der Mann öffnet eine Tür und lässt Maria Rosa eintreten.

»Und das hier ist Ihr Reich nach Abschluss der Bauarbeiten«, stellt er fast stolz fest. »Eine kleine Rezeption. Ein Warteraum für die Patienten, die eine Organtransplantation benötigen und nicht bettlägerig sind. Ein Untersuchungsraum. Ein Sprechzimmer. Alles steht für Sie bereit – in etwa drei, vier Wochen!«, fügt er hinzu. Ein staubdicht verpacktes, brandneues Gerät steht in der Ecke einsatzbereit.

»Ein Ultraschall-Diagnostikgerät für mich?«, entfährt es Marias Mund fast begeistert. »Und – wo befindet sich die Aufwachstation der operierten Patienten? Auf der Allgemein-Chirurgie?«

»Nein, im Operationstrakt drüben.«

Maria Peredes wandert zum Fenster, das zum Hof hinausführt.

»Was ist sonst noch im modernen Gebäudeanbau?«

»Im Obergeschoss das neue Personalrestaurant, die Zahnklinik und die Physiotherapie, im Mittelgeschoss die neue Transplantationschirurgie – da wird allerdings auch noch gebaut – im Erdgeschoss die Notfallstation, die Operationssäle, im Untergeschoss die Pathologie, die Spitalapotheke und die Zentralregistratur.«

»Hier fehlt es wirklich an nichts«, stellt die Frau fest.

»Das San Cristòbal ist ein mittelgrosses Hospital. Auch wir verdienen nur das Beste.«

Es ist für mexikanische Verhältnisse ein moderner Arbeitsplatz für Dr. Peredes. Das sieht in den kleinen Städten ganz anders aus, von den Spitälern auf dem Lande nicht zu reden. Dort fehlt es teilweise an allem. Die medizinische Ausstattung ist veraltet, die Bezahlung schlecht; praktische Hausärzte auf den Sierras oder in den Dschungelgebieten verdienen kaum mehr als staatliche Primarlehrer, und die haben schon Mühe, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Bevölkerung ist mehrheitlich arm. Die Meisten können sich keine Krankenversicherung, medizinische Behandlung und Medikamente leisten. Das Einzugsgebiet der Patienten ist riesig. Die Kirche und humanitäre Organisationen helfen wo sie können. Die Regierung verspricht laufend Besserung, tut aber wenig…

»Zwei Fragen, Señor Professor«, sagt Maria Rosa.

»Fragen Sie, Frau Dr. Kollega.«

»Weshalb hat man die Transplantationschirurgie nicht mit der Allgemeinchirurgie zusammengelegt? – Und woher erhalten wir die Organe für die geplanten Operationen?«

»Von Spendern, von denen es in Mexiko leider viel zu wenige gibt«, lautet die Antwort prompt. »Die meisten Leute verweigern eine Organentnahme nach dem Tod aus religiösen Gründen oder haben andere Bedenken. Viele Patienten sterben, weil keine Organe zur Verfügung stehen, ein Problem, das andere Länder auch haben. – Und um Ihre erste Frage zu beantworten:«, fährt der Professor weiter, ehe Maria Rosa den Mund auftun kann, »Das unkoordinierte Nebeneinander der unterschiedlichen Abteilungen ist auf bauliche Massnahmen und die Dringlichkeit ihrer Verfügbarkeit zurückzuführen. Dazu kommen Verzögerungen der gesprochenen Gelder, die für Umzüge oder Neubauten nicht ausreichen. Ich habe nur 1 Stimme im Verwaltungsrat. – Gehen wir in mein Büro? Haben Sie sich entschieden, wo Sie in der Zwischenzeit Ihr Domizil beziehen möchten? Pablo fährt Sie gern an den Ort Ihrer Wahl.«

Maria Peredes räuspert sich etwas verlegen.

»Wäre es unverschämt, wenn ich Ihr Angebot annehme und die freie Wohnung in Ihrem Haus beziehen würde? Das Entgeld für die Miete ziehen Sie direkt von meinem Gehalt ab. Wenn es Ihnen recht ist, Professor Gutierrez?«

»Das wäre völlig inakzeptabel! Äusserst unverschämt!«, erschreckt der Chefarzt seine Untergebene. Ein Eklat, der nicht wieder gut zu machen ist? Ein breites Lächeln zeichnet Hernàns Miene.

»Das war ein Witz!«, beschwichtigt er. »Selbstverständlich! Meine Frau Jessica und ich freuen uns, Sie als unser Gast begrüssen zu dürfen – und auch unsere Tochter Bonita. Sie ist neun, ein sehr aufgewecktes, intelligentes Mädchen. Ich muss Sie warnen. Sie nimmt Leute, die sie mag, manchmal sehr schnell in Beschlag. Und selbstverständlich wohnen Sie bei uns frei und franko. Das ist doch klar«, betont Gutierrez ausdrücklich.

Maria Rosa atmet unmerklich auf. Jetzt war sie doch ein wenig erschrocken. Ein Eklat dieser Art hätte sich gewiss sehr ungünstig auf das zukünftige Verhältnis zu ihrem Chef ausgewirkt – und auf die Karriere.

Kaum im Büro des Professors angekommen, summt das Telefon. Er blickt auf das Display, das die Nummer und den Namen des Anrufers anzeigt.

»Entschuldigen Sie, Frau Dr. Peredes. Da muss ich kurz ran«, stellt Hernàn Gutierrez fest. »Ich werde Sie anschliessend begleiten und meiner Familie vorstellen.«

Er drückt die Verbindungstaste.

»Ich habe gehört, die Neue ist eingetroffen«, meldet sich Àlvaro Mendoza, der Chefpathologe, in der Leitung. Maria Rosa kann die Stimme nicht verstehen. Sie wartet geduldig unter der Tür zum Sekretariat neben ihrem Gepäck.

»Und?«, erwidert der Professor lakonisch.

»Müssen wir uns Sorgen machen?«

»No!«

»Müssen wir sie einweihen?«

Ein zweites No folgt dem ersten im Geschäftston etwas strenger.

»Ist sie vertrauenswürdig?«

»Si!«

»Was ist, wenn sie dahinter kommt? Und alles auffliegt?«

»Dazu wird es nicht kommen. Keine Sorge! Es ist alles unter Kontrolle.«, beruhigt Gutierrez den Anrufer auf der anderen Seite der Leitung.

»Und wenn doch? Müssen wir sie versetzen? – Entfernen? – Ausschalten?«

»Das werden wir sehen, wenn es unvermeidlich wird. Wir bereden das später persönlich und nicht am Telefon.«

Der Chefarzt legt den Hörer auf. Maria Rosa ahnt nicht, dass sie Gegenstand des Telefonats gewesen war.

»Sie können heute früher Feierabend machen, Margo«, sagt der Professor. »Dr. Alfredo Nuñez wird mich notfalls vertreten. Kommen Sie, Frau Dr. Peredes. Wir gehen zu Pablo in die Tiefgarage. Er wird uns fahren. Ich nehme Ihren Koffer, wenn`s recht ist?« – –

20 Minuten Autofahrt zum Haus des Professors bei wenig Verkehr – doppelter Zeitaufwand bei viel Verkehr im Stopp und Go Modus, obwohl Pablo einige Schleichwege und Abkürzungen kennt. Südwestlich des Parque España liegt die Colonia Condesa. Sie ist das absolute In-Viertel der Reichen und Neureichen. Hier befindet sich das Domizil der Familie Gutierrez. Das Grundstück ist von einer hohen Mauer umgeben. Eine überkragende Stacheldrahtrolle verläuft entlang der Krone. Heikle Stellen in der Nähe von Bäumen werden von beweglichen, gepanzerten Sicherheitskameras überwacht. Ein massives Eisentor verhindert den Blick ins Innere. Pablo betätigt die Fernbedienung; die beiden schweren Türflügel öffnen mit einem Klack und leisem Surren nach innen. Drei stabile Rammsäulen verschwinden synchron im gepflasterten Boden und geben die Zufahrt frei.

Eine grosszügig angelegte Grünanlage liegt vor dem Hauseingang. Auf Flossen stehende Steindelfine ragen aus dem muschelförmigen Wasserbecken empor; sie speien kleine Fontänen in die Luft, die friedlich plätschern. Hibiskus-Hecken blühen. Platanen und Palmen spenden angenehmen Schatten von der glühenden mexikanischen Sonne. Spatzen schilpen übermütig in den akribisch getrimmten Büschen und Sträuchern. Das zweistöckige Haus ist im Hazienda-Stil erbaut. Es ist eine paradiesische Oase inmitten einer lärmigen Grossstadt. Da soll Maria Peredes jetzt wohnen? Sie könnte es bedauern, wieder ausziehen zu müssen. Ihr Wohnungsdomizil befindet sich in einem Mehrfamilienhaus in der Zona Rosa, ein schickes Viertel mit Restaurants, Cafés, Bars und Kinos entlang einer belebten Fussgängerzone, die auch Einkaufsmöglichkeiten bietet. Das Haus wird vom San Cristòbal-Spital verwaltet und ausschliesslich von Arztfamilien bewohnt. Die Metro ist nah. Es sind nur wenige Stationen bis zum Arbeitsplatz, ohne Umsteigen zu müssen. Mit dem Auto hätte man 1 Stunde im täglich herrschenden Verkehrschaos; mit der U-Bahn braucht man 10-12 Minuten für dieselbe Strecke.

»Keine Bange, Frau Dr. Peredes«, holt der Professor sie aus den Gedanken zurück. Er sitzt neben ihr im Fonds der Limousine. »Das Ärztehaus, wo sich Ihre Wohnung befindet, ist gleichfalls gut gegen ungebetene Besucher abgesichert. Ich sehe, Sie sind beeindruckt? Irgendwie?«

»Oh ja, das bin ich – sehr sogar! Und nicht allein wegen der Sicherheitsmassnahmen!«, betont Maria Rosa. »Das ist ja ein wahres Paradies!«

»Deshalb heisst es auch Shangri La und das Haus Villa del Sol.«

»Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, mich Ihnen aufgedrängt zu haben…«, meint sie kleinlaut.

»Das müssen Sie nicht. Keinesfalls! Es war ein Angebot, das Sie angenommen haben. Es freut mich, dass es Ihnen hier gefällt. Seien Sie einfach unser Gast«, betont der Professor und lächelt. »Oh, da kommt Pita angerannt! Ich habe ihr schon hundertmal gesagt, sie soll einem fahrenden Auto nicht entgegen springen.«

Das neunjährige Mädchen stürmt gleich einem übermütigen Rehkitz die Stufen von den Arkadenbögen über dem Hauseingang herunter. Diese sind einer breiten Veranda vorgelagert und tragen den oberen Balkon in der ganzen Hausbreite. Pablo hupt, um das Töchterchen des Hauses zu begrüssen.

»Ich habe gewonnen, Papa! Ich habe endlich gewonnen! Zum ersten Mal! Mit einer Sekunde Vorsprung, Papa!«

Pita trabt die letzten Meter an der Wagenseite und klopft ungestüm ans Fenster, bevor die Limousine vor dem Hauseingang stoppt. Kaum ausgestiegen – schwupp! – Pita klammert sich gleich einem Äffchen mit Armen und Beinen an Vater fest; sie überrennt ihn beinahe mit ihrem fröhlichen Ungestüm.

»Na, meine Grosse, dann gratuliere ich dir für diesen grossartigen Erfolg…«

»Ich habe eine wunderschöne Medaille gewonnen, Daddy – an einem goldenen Band aus reiner Seide, Daddy«, sprudelt das Mädchen gleich einem munteren Bergbächlein. »Ich habe sie zum Dank der Virgèn de Guadaloupe geweiht… Aber nur für eine Woche! Dann hänge ich das Medaillon in meinem Zimmer an einem Ehrenplatz auf.«

»Dann hat sich dein hartes Training ja gelohnt«, komplimentiert Professor Gutierrez sein begeistertes Geblüt. Maria Rosa wundert sich: Wieso nennt die Tochter den Vater Daddy? Auf Englisch?

Das Mädchen trägt ein herziges Kleidchen und Sandaletten der teuren Machart. Ein liebliches Haarband ziert die aschblonde Lockenpracht. Pita ist ein ausgesprochen schönes Mädchen mit mandelbraunen Augen, was gar nicht mexikanisch aussieht. Die weisse Haut zeigt: Sie ist keine Mestizin. 80% der Mexikaner sind Mestizen, Mischlinge von den spanischen Konquistadoren-Kolonisten und der einheimischen Bevölkerung.

Maria Peredes ist ebenfalls ausgestiegen. Pablo kümmert sich um das Gepäck. Eine höchst attraktive Donna tritt von der Veranda in den Kreis der Ankömmlinge. Sie ist etwa in Marias Alter, eine weisse Schönheit mit naturblondem, hochgestecktem Haar. Das Gesicht ist ebenmässig und dezent geschminkt, der Mund geschwungen, die Stimme sanft und angenehm.

»So, du hast Daddy ausgiebig begrüsst. Jetzt gehst du auf dein Zimmer und machst die Schulaufgaben fertig. – Hola, Darling! Hast einen strengen Tag gehabt?«

Kurze gegenseitige Küsschen-Küsschen auf die Wangen, nachdem Pita ihn aus der Umklammerung losgelassen hat.

»Hola Pablo«, sagt sie in ihrer stürmischen Freude etwas gedämpft.

»Hola Pita«, erwidert der Chauffeur die Begrüssung, die man fast herzlich nennen möchte. »Soll ich das Gepäck in die Wohnung der Señora bringen, Señor?«

Der Gefragte nickt.

»Oh, wir haben einen Gast? Willst du mich nicht vorstellen?«

»Das ist meine Frau Jessica – Frau Dr. Maria Rosa Peredes.« Der Professor deutet auf die genannte Person. »Ich habe dir von meiner neuen Stellvertreterin im Spital erzählt. Sie wird die nächsten zwei, drei Wochen unser Gast sein, bis ihre havarierte Wohnung wieder in Stand gesetzt ist. Das ist dir doch recht, Darling?«

Die beiden Frauen sind sich auf Anhieb sympathisch. Sie geben sich freundschaftlich die Hand. Fast hätte Hernàn Gutierrez seine Gattin der Eifersucht verdächtigt, einen attraktiven Gast im Haus logieren zu lassen, wenn auch nur vorüber gehend.

»Willkommen in der Villa del Sol. Es ist mir eine Freude«, versichert die Dame des Hauses lächelnd. Wenn der Herr Gemahl fremdgehen wollte, dann hätte er dazu tausend Möglichkeiten, es hinter ihrem Rücken im Hospital zu tun. Dann hätte er Maria Rosa kaum hierher gebracht und ihr vorgestellt.

Maria Peredes bedankt sich für die freundliche Einladung. Jetzt weiss sie, weshalb Pita den Vater Daddy nennt.

»Amerikanerin?«

»Schuldig!«, bekennt Jessica spontan. »Mein englischer Akzent haftet mir wohl immer an. – Nennen Sie mich Jessy – einfach Jessy, okay?«

»Und ich bin Maria Rosa – Maryrose – auf Englisch – Jessy!«

»Und ich bin Bonita«, stellt sich das Mädchen vor. »Aber alle nennen mich Pita – auch in der Schule. Sie dürfen mich Pita nennen – einfach Pita!«

Die Neunjährige streckt die Hand zur Begrüssung aus und lächelt verschmitzt mit ihrem einnehmenden Wesen.

»Pita!«, tadelt die Mutter umgehend ihr Geblüt. »Du bist vorwitzig und frech! – Entschuldige dich augenblicklich…«

»Schon gut!«, beschwichtigt Maria Rosa den Tadel. »Ich nenne dich also Pita – und ich bin Maryrose, okay?«

Kurzer Händedruck, stramm und freundlich.

»Was habe ich gesagt? – Du gehst jetzt auf dein Zimmer und machst die Schulaufgaben! Los!«

Ein unbemerktes Augenzwinkern der Señora Peredes: Pita zieht sich ermutigt zurück und verschwindet hüpfend im Haus. Sie überrennt in der Doppelflügeltüre fast eine Bedienstete, die auf die Veranda heraus tritt.

»Ich habe Sie gewarnt, Dr. Peredes?«, schmunzelt der Professor. »Pita nimmt alle in Beschlag, die sie mag. Jetzt por favor: Treten Sie ein in die Villa del Sol. Seien Sie unser Gast. Herzlich willkommen.«

Maria steigt die Stufen zur Veranda hoch. Eine Rollstuhlrampe führt seitlich vom Vorplatz herauf. Eine Hollywood-Schaukel und zwei Ziertischchen stehen da, daneben die Bedienstete in Demutspose.

»Das ist Marisol, unsere Haushälterin«, stellt die Herrin des Hauses sie dem Gast vor. Maria schiebt ein kurzes `Hola` ein, das Marisol höflich erwidert.

»Sie werden die Wohnung der Señora Dr. Peredes in Stand halten und ihre Anweisungen befolgen…«

»Jawohl, Donna Gutierrez.«

Kurzer Dienerknicks.

Jessica lässt vor sich knicksen und von der Bediensteten als Donna ansprechen? Dann ist ihr Gatte gewiss der Don! Pablo ist ebenfalls bedienstet, doch er spricht jenen als Señor an…? Es herrscht anscheinend ein streng hierarchisches Regiment in der Villa del Sol.

»Perdòn, Don Gutierrez«, sagt die Haushälterin untergeben. Maria hat also richtig vermutet. »Der Señor Anwalt sagt, ich soll Ihnen sagen, dass die Dokumente heute unterzeichnet werden sollen, um sie beglaubigen zu können. Er erwartet Sie ganz ungeduldig auf der rückwärtigen Veranda, Don Gutierrez. – Das soll ich Ihnen ausrichten…«, setzt die etwas pummelige Einheimische kleinlaut hinzu, als müsste sie sich schämen. Marisol hat die 50 um ein, zwei Jährchen überschritten, schätzt Maria Rosa, denn das hochgesteckte Haar unter dem Häubchen ist ergraut und das Gesicht von Kummerfalten gealtert.

Der Professor zwingt den hochsteigenden Grimm im Bauch unter die Vernunft.

»Hast du Antonio eingeladen, mein Herz?«

»Nein, er ist von selbst ziemlich aufgeregt gekommen«, erwidert Jessica kühl und vielleicht etwas angewidert über diesen unerwarteten Besuch. »Ich sagte ihm, dass ich nicht wüsste, wann du kommst und habe ihn mit Pfirsichtee bewirtet.«

Kaum gesagt, stürmt ein Mann von der rückwärtigen Veranda in die Empfangshalle; links und rechts führen Treppen ins obere Stockwerk. Von einem Rundumbalkon gelangt man in die einzelnen Zimmer.

»Caramba, Hernàn!«, poltert er los. »Ich versuche dich den ganzen Tag zu erreichen. Wieso rufst du nicht zurück? Gewisse Leute werden nervös und nervöser, zum Teufel! Wir müssen endlich die Papiere unterzeichnen, verstehst du? Es ist dringend!«

Der Professor hat seine Emotionen fest im Griff.

»Darf ich vorstellen: Antonio Vargas. Unser Anwalt. – Dr. Maria Rosa Peredes. Meine neue Transplantationschirurgin für die geplante Abteilung. Sie wird für einige Tage unser Gast sein.«

Antonio Vargas kommt sehr schnell von seinem ungeduldigen Grimm herunter.

»Hola, Dr. Peredes. Ach, entschuldigen Sie mein forsches Auftreten. Geschäfte! Die können manchmal recht aufreibend sein. Es freut mich, Sie kennen zu lernen.«

Der Mittvierziger trägt einen teuren Anzug und die passende Seidenkrawatte. Er nimmt die gepflegte Hand auf und deutet einen Handkuss an. Maria lächelt unverbindlich:

»Es freut mich meinerseits, Sie kennenzulernen.«

Der Herr Anwalt weiss wenigstens, was sich einer Dame gegenüber gehört. Seine Stimme ist plötzlich sanft, sonor, sympathisch. Er ist ein durchaus schöner Mann, schlank, weiss, kein Mestize. Sein einnehmendes Wesen lässt Frauenherzen schnell höher schlagen. Jeder Mensch hat eine energische Seite. Das ist verzeihlich, vor allem wenn Rosa in seine hellen Augen schaut.

»Dann lassen wir dich jetzt mit Señor Vargas und euren Geschäften allein«, sagt Jessica Gutierrez förmlich. Sie wendet sich ihrem Gast zu. »Kommen Sie, Maryrose: Ich zeige Ihnen die Wohnung. Pablo hat Ihr Gepäck bestimmt schon hingebracht.«

Antonio Vargas blickt der attraktiven Frau im dunkelblauen Armani-Kostüm nach. Sekunden lang. Er ist von deren Charme und Schönheit überwältigt. Wahnsinnsbeine! Wahnsinnsweib! Er würde sie niemals von der Bettkante stossen. Die Luft gleitet leise pfeifend durch die Zähne.

»Wo hast du die denn her?«

»Geht dich nichts an!«

»Und?«

»Und was?«

»Vögelst du sie?« –

Maria Rosas vorübergehendes Domizil in der Villa del Sol befindet sich nicht kleinräumig irgendwo versteckt im Obergeschoss der Hazienda. Es ist ein separater Anbau mit schattigen Arkaden neben der rückwärtigen Veranda, die zu einem Park hin ausgerichtet ist. Es gibt zahlreiche Akazien, Palmen, gepflegte Blumenbeete, ein imposantes Wasserspiel aus dem Krug einer nackten Marmorschönen und einen Swimming Pool. Ein Jacuzzi und ein Sprungbrett sind vorhanden. Etliche Bedienstete arbeiten emsig, ohne die Donna Hausherrin und ihren Gast zu beachten, die sie geflissentlich ignoriert. Die Familie Gutierrez beschäftigt ein kleines Heer von Bediensteten, denkt Maria Rosa beeindruckt.

Noch mehr beeindruckt, ja ergriffen ist sie von der grosszügigen Wohnung: Wohn- und Esszimmer gehen mit vorgelagerten Terrasse zum Garten hinaus. Es gibt zwei geräumige Schlafzimmer mit je eigenem Badezimmer und WC – sogar ein Separat-WC für Gäste! Eine moderne Küche… Die Wohnung ist mindestens viermal so gross wie die in der Zona Rosa, die Maria hätte beziehen sollen, wäre da kein Brand gewesen. Sie kommt sich wie ein kolonialer Grande vor, der von hier aus das Land und alle darauf lebenden Menschen regiert.

»Das kann ich nicht annehmen, Jessica«, schüttelt sie denn Kopf. »Das ist zu gross, zu schön für mich… ich… ich… Sie verwöhnen mich zu sehr. Am Schluss will ich gar nicht mehr ausziehen. Sie müssen mich rauswerfen lassen!«

»Was soll das? Unsinn! Sie können bleiben, solange Sie wollen! Ich würde mich freuen. Auch Pita würde sich freuen! Sie mag Sie sehr, hab ich bemerkt. – Also, machen Sie es sich bequem. Die Wohnung gehörte meinem jüngeren Bruder. Er studierte an der Harvard Universität und arbeitet jetzt im Silicon Valley. Er kehrt wohl nicht so schnell wieder nach Mexiko zurück. Wenn überhaupt!«

Jessica deutet in die Richtung, um zum Thema zu kommen:

»Übrigens, die Türe dort führt ins Freie. Es ist ein Separateingang zur Wohnung, damit Sie nicht durchs Haus gehen müssen. Sie ist mit einer Alarmanlage gesichert. Der Code X1Y07 schaltet sämtliche Sensoren an den Türen und Fenstern ein und aus. Es ist das weisse Kästchen neben dem separaten Wohnungseingang. Code X1Y07: Sonst haben wir die Polizei im Haus. – Das Linientelefon ist nicht angeschlossen. Ich nehme an, Sie haben ein Handy. Die Seitentür dort im Korridor ist ein Lift in die Tiefgarage, falls Sie sich mal ein Auto zulegen wollen. Die Fronttür dort drüben führt zu uns ins Haus. Daneben sehen Sie die Gegensprechanlage. Einfach die Nummer auf der Liste wählen, den grünen Verbindungsknopf drücken, und Sie haben die gewünschte Person in der Leitung. Selbstverständlich benützen Sie das Haus, den Garten, das Schwimmbecken, wie es Ihnen beliebt, Maryrose. – Jetzt habe ich genug geredet. Also: Packen Sie aus! Richten Sie sich ein! Das Gepäck befindet sich im grossen Schlafzimmer.«

Die Einführung der Hausherrin war klar, kurz und bündig. Mehr braucht Maria nicht zu wissen. X1Y07 merkt sie sich den Sicherheitscode der Alarmanlage.

»Jessy: Ich weiss nicht, wie ich Ihnen danken soll, dass ich hier sein darf, bis meine Wohnung fertig renoviert ist. Ich bin – ich bin – wirklich überwältigt…«

Ein treffenderes Wort fällt ihr nicht ein.

»Schon gut. Ich lasse Sie jetzt allein. Wenn Sie Fragen haben? Einfach fragen.«

Schwupp – Jessica Gutierrez verschwindet durch die Verbindungstür im angrenzenden Haus. Maria Peredes steht einen Moment völlig ergriffen vom Luxus ihrer Umgebung da. Sie stösst plötzlich einen unterdrückten Jauchzer aus, breitet die Arme aus und dreht sich tänzerisch im Kreis, das Tränenwasser in den Augen. Sie wirft sich in den knautschigen Ledersessel vor dem Kamin und atmet vorerst einmal tüchtig durch. Sie kommt sich wie im Paradies vor.

Die fröhliche Entspannung dauert kurz. Es läutet an der Verbindungstür zum Haus. Eine Klingel ist auch noch vorhanden? Die Haushälterin steht draussen.

»Perdòn«, sagt Marisol fast entschuldigend. »Donna Gutierrez hat mich beauftragt, die Bade-, die Handtücher und die Bettwäsche zu bringen. Sie wusste ja nicht, dass Sie kommen würden, sonst hätte ich alles vorbereitet, Donna Dr. Peredes.«

Marisol schiebt ein Metallwägelchen vor sich her, auf dem die erwähnten Bett- und Badeutensilien in frohen Farbmustern aufgestapelt sind.

»Señora genügt. Ich bin keine Donna«, korrigiert Maria Rosa sanft lächelnd.

»Ach, wissen Sie, wir Bedienstete sind angehalten, jede Dame mit dem Titel und als Donna anzusprechen, sogar Bonita, die Tochter des Hauses, ist eine Donna!«, lautet die Antwort höflich kühl. »Ich ziehe Ihr Bett jetzt an, wenn`s recht ist, Donna Dr. Peredes?«

Wenn das die angewiesene Gepflogenheit im Hause Gutierrez ist, jede Dame mit Titel und Donna anzusprechen?«, bestätigt Maria. »Und – wie spreche ich Sie an?«

»Ich bin Marisol. Einfach Marisol. – Ohne Señora.«

»Und ich darf Ihnen auch nicht helfen? – Beim Bettanziehen? – Marisol?«

»Lieber nicht, Donna Dr. Peredes. Ich bin die Haushälterin. Donna Gutierrez würde meine Respektlosigkeit Ihnen gegenüber tadeln. Sie würde sagen, ich mache meine Arbeit nicht richtig.«

»Wirklich?«

»Donna Gutierrez und der Herr sind vielleicht ein wenig streng, aber gerecht«, erwidert Marisol. »Wir Bedienstete können uns in keiner Weise beklagen – auch wenn`s manchmal seltsam hier zugeht«, setzt sie im mysteriösen Tonfall hinzu.

»Zum Beispiel?«

»Ach«, schnaubt sie, das Spannleintuch auf dem Bett ausbreitend. »Wissen Sie, Diskretion, Verschwiegenheit, Höflichkeit und Gehorsam sind für uns Bedienstete höchste Tugenden in diesem Haus. Wir reden niemals über die Geschäfte oder Gespräche unserer Obrigkeit. Ich sage nur, seien Sie ein wenig vorsichtig und nicht zu vertrauensselig.«

Maria nickt, obwohl sie gern weiter gefragt hätte. Aber Leute ausfragen ist nicht ihr Ding. Sie ringt sich ein Lächeln ab und sagt:

»Dann lasse ich Sie jetzt ihre Arbeit tun. – Wenn Sie aber mal reden möchten? Mir können Sie vertrauen.«

Der Stachel ist gesetzt, der die Zunge der Haushälterin lösen könnte. Auch Marisol hat mit ihrer Bemerkung den Neugierstachel in Marias Fleisch gesetzt. Was das wohl für Dokumente sind, die so dringlich unterzeichnet werden sollen? Was für Geschäfte stecken dahinter? – Dieser Antonio Vargas! Der Anwalt der Gutierrez versteht es gewiss sehr gut, rechtliche Nachteile in Vorteile zu verdrehen – vielleicht mit einer kleinen Korruption diskret ein bisschen nachzuhelfen? Nach Mexikaner Art? Maria Rosa hat beim Weggehen sehr wohl seine lüsternen Blicke hinter ihrem Rücken bemerkt, die ihre Schönheit belästigten. Hätte sie sich umgeschaut, es wäre eine törichte Flirteinladung gewesen.

Maria Peredes grabscht das Handy zwischen den vielen Sachen und Sächelchen, die eine Frau so braucht, aus der Handtasche. Die Verbindung zum Transporteur in Cancùn klappt auf Anhieb, was nicht selbstverständlich ist. Gott sei Dank ist er noch nicht losgefahren. Es sind rund 1800 km in die Hauptstadt. Maria müsste schnell einen Einstellplatz für ihre Möbel finden.

Dann meldet sie den Eltern in Cancùn ihre Ankunft in Mexiko-Stadt. Maria schwärmt von der vorüber gehenden Luxus Unterkunft im Shangri La der Villa del Sol des Professors. Er habe sie sehr herzlich bei sich zuhause aufgenommen, weil ihre Wohnung wegen Renovationsarbeiten noch nicht bezugsbereit sei. Nun freue sie sich, morgen ihre neue Tätigkeit im San Cristòbal-Hospital aufzunehmen.

Donna Peredes tritt vom Wohnzimmer auf die vorgelagerte Terrasse ins Freie hinaus. Das Dach wird von zwei grosszügigen Arkadenbögen getragen; sie erlauben eine herrliche Sicht auf den Park der rückwärtigen Seite der Hazienda. Ein Bediensteter rückt gerade die Verandamöbel zurecht und platziert bequeme Sitzpolster auf den Sesseln. Er trägt die Jeanslatzhose eines Handwerkers.

»Das ist Pacco«, ertönt hinter Maria Pitas fröhliche Stimme, ehe sie den Mund auftun kann. »Pacco ist unser Hauswart. Er ist für das Wasser, die Elektrik und alle Apparate im Haus zuständig, ausser den Alarmanlagen. Das macht unser Sicherheitsmann«, betont das Mädchen eifrig. »Ansonsten hilft Pacco den anderen bei der Arbeit. Jetzt kümmert er sich gerade um ihre Gartenmöbel, damit Sie es bequem haben. Darf ich vorstellen: Pacco – und das ist Donna Dr. Peredes. Donna Dr. Peredes wird für einige Zeit unser Gast sein.«

Ein höflich freundliches Hola wird ausgetauscht. Weitere Worte wären gar nicht möglich, denn Pita fährt munter weiter:

»Wenn etwas kaputt ist oder etwas nicht richtig in der Wohnung funktioniert, dann rufen Sie einfach Pacco über die Gegensprechanlage. Er wird sofort kommen und sich darum kümmern. Das dort drüben ist Jose«, fährt Pita fröhlich weiter. »Er ist unser Gärtner. Seine Familie hilft ihm, wenn es viel zu tun gibt. Er ist auch für den Pool zuständig, den er vom hinein gewehten Laub gerade reinigt. Und das dort bei den Rosenhecken ist Lucinda; Lucinda ist Spetterin, Wäscherin, Mädchen für alles.«

»Die Familie Gutierrez hat aber viele Bedienstete«, meint Maria Rosa angenehm überrascht.

»Oh, das sind noch nicht alle!«, sprudelt das Mädchen ungestüm. »Das Küchenpersonal, den Butler, Mamas Privatchauffeur, den Sicherheitsmann und seine Assistenten haben Sie noch gar nicht kennen gelernt. Ich habe sogar einen eigenen Fahrer! Er ist gleichzeitig mein Bodyguard. Er bringt mich zur Schule und holt mich wieder ab. – So das wär`s«, schliesst Pita ihre eifrige Rede ab. Aber das Mädchen ist noch nicht fertig.

»Mama schickt mich, Ihnen etwas zu geben«, sagt es munter. »Jetzt dürfen Sie raten, in welcher Hand ich es hinter meinem Rücken habe.«

Pita guckt verschmitzt und wippt gespannt auf den Zehenspitzen auf und ab.

»Jaaa, dann wähle ich – vielleicht – – deine – Linke?«