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Bombenanschläge und Attentate erschüttern die ägyptische Hauptstadt. Eigentlich sollte der Buchtitel "Eine verlorene Liebe in Kairo" heißen. Die große Liebe Aselias und Mahmuds gerät in die perfiden Fänge von Islamisten, Jihadisten und Terroristen. Das "Töten im Namen Allahs" und "Wenn Glauben zerstört" ist ein unheilvoller Strudel eines verblendeten Religionswahns und eines schändlichen, eiskalt berechnenden Religionsmissbrauchs aus machtpolitischen Motiven. Es ist das Drama einer Liebe, die im Vordergrund dieses Wahnsinns steht. Es ist eine Liebe, die in der alten islamischen Tradition ums Gedeihen kämpft, wie es Tausende heute tun. Es ist die tragische Liebe, die ein wahnwitziger Glauben zerstört.
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Seitenzahl: 301
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Anhang
Kairo ist eine faszinierende Stadt: orientalischer Zauber, die Exotik des bunten Menschengewimmels in den Souks und Gassen, das moderne Fremde neben alten islamischen Bauwerken und Moscheen mit hoch aufstrebenden, schlanken Minaretten. Ganz dicht dabei und oft direkt angebaut stehen streng kubische Hotels aus Glas und Stahl, imponierende Bürohochhäuser oder hässliche Wohnsilos und eng verschachtelte, renovationsbedürftige Gebäudekomplexe, die sonst irgendwo stehen könnten.
Ein ohrenbetäubender Verkehr quält sich täglich durch das Häusermeer in Dauerstaus von morgens sieben bis einundzwanzig Uhr nachts. Breitgeladene, von Eseln gezogene Fuhrwerke behindern auf der Fahrbahn das Vorwärtskommen; für einen Kilometer braucht man oft eine Stunde! Treiben Hirten ihre Schaf- und Ziegenherden durch das Getümmel, dann benötigt man zwei, dann ist der Teufel los. Polizisten fuchteln aufgeregt zwischen den Autokolonnen herum, blasen die Trillerpfeifen, als gäbe es kein Morgen, und verschlimmern das Chaos auf den Straßen. Die heiße Luft ist von stinkenden Auspuffgasen gesättigt. Sie reizen die Nasen und lassen die Augen tränen. Eine blaugraue Dunstglocke von Staub und Schmutz trübt das Sonnenlicht; sie liegt gleich einer gigantischen Kuppel über dem Stadtmoloch und macht das Atmen schwer.
Kairo ist mit über 20 Millionen Einwohnern die weitaus größte Metropole in Afrika, vielleicht auch die bedeutendste, was den afro-asiatischen Islam betrifft. Eigentlich weiß niemand, wie viele Leute tatsächlich hier leben, sehr wahrscheinlich nicht einmal die Stadtbehörde.
Kairos Gesicht wird von der pharaonischen Antike mitbestimmt. Die Kolossalstatue Ramses II. überragt auf dem zentralen Bahnhofplatz die nie endenden Autokolonnen und Menschenströme; der Pharao mag sich wundern. Im Südwesten schimmern seit 4800 Jahren die weltberühmten Pyramiden von Gizeh blassblau über den heutigen Minaretten, Türmen, Dächern, Terrassen und Oberstockfenstern, ganz abgesehen von den zahlreichen auf dem Stadtgebiet verteilten altägyptischen Relikten und den tatsächlich einzigartigen und unersetzlichen Schätzen im Ägyptischen Museum. Das alles ist Kairo: die gelben Hügelzüge und Hochplateaus zweier Wüsten, die da zusammentreffen – die Arabische im Osten, die Libysche im Westen – Saladins Zitadelle vor den zerknitterten Mokattam-Bergen, der großstädtische Häuserozean beidseitig des träge dahinfließenden Nils orientalisch ungegliedert und wirr zusammengewürfelt. In den Soukgassen herrscht der unbeschreibliche Geruch aus arabischen Küchen, Kaffee- und Teehäusern gemischt mit Eseldung, Gewürzen, Urin, frischem Obst, Schweiß und gebackenem Fladenbrot. Hier trifft der Orient den Okzident. Hier kontrastiert das moderne Profane das erhabene Religiöse, das Laster die sektiererische Frömmigkeit. Ja, das und vieles mehr ist Kairo!
Die Universität liegt auf der Westseite des Nils oberhalb des Zoos und des Botanischen Gartens. Tausende Studenten aus dem In- und Ausland sind an den unterschiedlichsten Fakultäten immatrikuliert. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen auf dem weitläufigen Gelände. Es gibt viele Bäume und Grünflächen. Zahlreiche Studentengrüppchen halten sich zumeist im Schatten auf. Sie diskutieren, oder sie sind in ihre Notizen von den Vorlesungen und in Fachbücher vertieft. Weht der Nordwind, ist es angenehm kühl. Weht der Südwind, ist es heiß und trocken. Der Westwind aus der Libyschen Wüste ist unangenehm stickig und manchmal sandbefrachtet. Bei Windstille reizen die Feinstaubemissionen der Stadt ein bisschen weniger zum Niesen; es gibt hier markant weniger Verkehr. Die ausgedehnten Grünflächen vermögen die Dunstglocke bei gewissen Wetterlagen trotzdem kaum aufzulösen.
Aselia Hassimi und ihre beste Freundin, Rachida Barakat, haben die vierte Semesterprüfung mit Bravour bestanden. Die meisten Studienkollegen und -kolleginnen teilen ihre Freude. Diejenigen, die durchgefallen sind, haben eine zweite Chance, die Fallfächer zu wiederholen – sonst ist der Traum als Rechtsanwalt geplatzt! Ein Studienabbruch hat bei den Eltern größte Enttäuschung und Frustration zur Folge. Er mindert die Ehre des Vaters, das Ansehen der Familie, den Stolz der Sippe. Die Gescheiterten werden als faul, dumm und unfähig abgekanzelt. Sie müssen oftmals Schikanen, im Extremfall eine Verstoßung, ertragen. Die Mädchen werden schnellstens ehrbar verheiratet. Die Jungs landen zumeist in handwerklichen Berufen, schlagen sich als Gelegenheitsarbeiter durch oder rutschen in falscher Gesellschaft in die Illegalität ab, oder sie werden eine dankbare Beute von religiösen Fanatikern.
Aselia und Rachida gratulieren einander im Kreis ihrer erfolgreichen Studienkolleginnen. Die Stimmung ist aufgestellt, ausgelassen. Man lacht, umarmt sich, vergießt erleichtert Freudentränen. Die fundamentalistischen Religiösen wären entsetzt über das Gebaren der jungen Mädchen – und erst recht über deren Kleidung: obszöne Miniröcke, Hotpants, Stöckelschuhe, hautenge Jeans und Kurzarmshirts mit englischen Aufschriften und Bildern von amerikanischen Popidolen und US-Filmstars und unanständig tiefe Blusenausschnitte, die lüsterne Blicke auf weiche Brustrundungen ziehen. Das Tragen des Tschadors – jenes schwarzen Umhangs von den Haaren bis zu den Füßen, der nur das Gesicht und die Unterarme unbedeckt lässt, um den weiblichen Körper unstatthaften Blicken und dem Neid der weniger mit Schönheit gesegneten Frauen zu entziehen – oder des einfachen Kopftuches sind an der Universität verboten. Mädchen aus frommen Familien ziehen nach dem Verlassen des Campus ein Kopftuch an, binden einen knöchellangen Wickelrock um und wechseln die Absatzschuhe mit Joggingschuhen.
Aselia gehört nicht zu diesen Mädchen, obwohl Vater es gerne sähe. Deshalb setzt es hin und wieder einen Streit in der Familie ab. Mutter trägt den schwarzen Tschador, wenn sie aus dem Haus geht. Ob freiwillig oder auf Vaters Befehl, weiß Aselia nicht. Mama ist eine fromme Frau, die oft die Moschee besucht. Zaida Hassimi weiß, dass ihr Töchterchen ein modernes Mädchen sein und sich möglichst wenig von der Religion und schon gar nicht von Sittenwächtern einschränken lassen will. Deshalb unterstützt sie ihr Geblüt insgeheim gegen Vater. Zaida weiß, wie wichtig eine Ausbildung für Aselias Zukunft ist: Sie soll eine hochangesehene, gut verdienende Juristin werden.
Der Tschador ist im täglichen Straßenbild kaum zu sehen. Die Frauen und geschlechtsreifen Mädchen, die ein Kopftuch tragen, sind auffallend in der Minderzahl. Auf den Dörfern und dem Land ist es umgekehrt. Kairo ist eine pulsierende, moderne Großstadt, die jedes Vergnügen bietet. Die westlich orientierten Teenager sind eine Jeans-, T-Shirt-, Turnschuh- und i-Phone-Generation, die Spaß haben will: Klamotten kaufen, Ausgehen, McDonald’s, Bars, Diskos, Kinos mit vorzüglich amerikanischen Actionfilmen… Modebewusste Frauen schminken sich gleich den jungen und zeigen, was sie haben. Es gibt sogar welche, die den Tschador und ein gepflegtes Make-up tragen. Das alles ist für fromme Sittenwächter ein ungehöriger Sündengräuel – in den Augen Allahs, des Allbarmherzigen und Mohammeds, seines Propheten!
»Aselia!«
Das Mädchen mit dem rabenschwarzen, schulterlangen, üppigen Haar hält im lachenden Freudenreigen mit ihren Studienkolleginnen inne. Wer hat gerufen? Sie erblickt einen jungen Burschen ihres Alters, vielleicht ein, zwei Jahre jünger, der auf einer silbergrauen Vespa vorgefahren ist. Es ist ein Motorroller, der in Italien der 50er und 60er Jahre Furore machte, zu tausenden in den Städten die Luft verpestete und einen unverkennbaren ›Sound‹ erzeugt. Jeder junge Bursche führte damals sein Mädchen auf einer Vespa aus; sie gehörte zum guten Stil, bevor das Auto, der ›Piccolino‹, die Mädchenherzen höherschlagen ließ. In einem stets mit Staus verstopften Stadtmoloch wie Kairo ist ein Motorroller das ideale Fortbewegungsmittel. Es geht viel rascher vorwärts, wenn man ein wenig frech überholt und die stehenden Autokolonnen austrickst – solange man kein Rotlicht überfährt und einem Polizisten in die Quere kommt.
»Was macht der denn hier?«, wundert sich Aselia. Sie streicht fast verlegen eine üppige Locke hinters Ohr. »Ich bin gleich zurück«, sagt sie zu den Mädchen.
Sie schultert das modische Rucksäckchen, in dem sich die Studienunterlagen und andere Sachen befinden, und springt flink im bunten Minirock und Joggingschuhen die sanfte Grasanhöhe zur Straße hinunter.
»Ihr Freund?«, wirft ein Mädchen die Frage in die Runde.
»Na, klar doch«, erwidert Rachida und grinst. »Aber sie haben’s bis jetzt noch nicht gemacht!«
Erstaunte Augen. Woher sie das denn wisse? Verlegenes Kichern. Offenes Haar aus dem Gesicht streichen, es mit der mädchenhaften, ruckartigen Kopfbewegung in den Nacken werfen. Nur eines der Mädchen ist ›berührt‹.
»Ich dachte, du hättest eine Vorlesung«, ruft Aselia ihrem Freund zu. »Juhu! Ich habe bestanden!«, rückt sie gleich mit der Neuigkeit heraus, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Ich habe immer gewusst, dass meine Aselia ein kluges Mädchen ist! Gratuliere!«, sagt Mahmud (ausgesprochen Machmud) und erwidert ihr fröhliches Lachen. »Dein Vater wird sehr stolz auf dich sein!«
Das Mädchen kommt zu Atem. Es bleibt im geziemenden Abstand stehen. Sich in der Öffentlichkeit zu berühren wäre unschicklich, sich gar zu küssen ein arger Frevel. Im Iran käme man dafür ein paar Tage ins Gefängnis.
»Und? Wie geht’s dir? – Wieso bist du hier?«
»Die Anatomie ist ausgefallen«, lässt Mahmud Nasir verlauten. Er lässt den Motor kurz aufheulen und meint: »Ehrlich gesagt, ich bin durchgefallen! Ich habe die propädeutische Prüfung total versaut, um ins 4. Semester zu kommen! Ich fliege hochkant von der Uni! Aus der Traum, Arzt zu werden! Meine Mutter wird sehr enttäuscht sein. Mein Vater …!«
Mahmud unterbricht sich. Er will sich’s lieber nicht vorstellen.
»Es tut mir aufrichtig leid für dich«, sagt Aselia fast tröstend. Was würde wohl ihr Vater sagen und mit ihr machen, wenn sie von der Uni flöge?
»Schon gut, Schatz!«, beschwichtigt Mahmud und würgt den Knollen im Hals hinunter. Er reagiert seine Frustration am Handgashebel der Vespa ab. »Ich bin gekommen, um dich abzuholen. Spring auf! Ich fahre dich nach Hause!«
Aselia winkt den Studentinnen auf der baumbestandenen Grasanhöhe zu, will heißen, dass sie ihren Freund begleitet. Sie schwingt sich beinspreizend auf den Hintersitz des Motorrollers. Der Saum des Minirocks rutscht weit nach oben.
»Nicht so, Aselia!«, weist Mahmud das unzüchtige Verhalten zurück. »Es geziemt sich für ein Mädchen nicht, so dazusitzen. Sitz bitte seitlich auf!«
Die Studentinnen kichern unter vorgehaltener Hand. Aselia wechselt wortlos die Sitzstellung. Sie platziert den Rucksack auf den Oberschenkeln, um ihre Schönheit zu bedecken. Unanständig genug, dass jetzt alle Welt nackte Waden sieht!
Mahmud Nasir gibt Gas und braust weg. Aselia zeigt den Kolleginnen wegen ihres Dummgetues den Stinkefinger. Es ist viel gefährlicher, seitlich auf dem Roller zu sitzen als andersrum. Beinspreizen! Ha! Blödsinn! Ein modernes, selbstbewusstes Mädchen zeigt, was es hat. Ob Minirock, Riemchenschuhe oder körperbetonte Shirts und Modejeans, sie sind in den Augen der Sittenwächter allemal ein Gräuel.
Mahmud lenkt die Vespa sicher durch den dichten Verkehr. Wenn’s nicht weitergeht und die Autos die Fahrbahn blockieren, weicht er über den Gehsteig aus. Einige Passanten grollen. Sie tadeln das rüpelhafte Verhalten. Typisch Jugend! Verdorben! Verzogen! Kein Respekt vor dem Gesetz und traditionellen Werten! So und anders tönt es verärgert. Einige fluchen oder rufen Allahs sofortige Strafe an.
Aselia umfasst mit dem rechten Arm den Fahrer, um bei den gewagten Kurvenmanövern nicht vom Roller zu fallen. Die Knie gehen oftmals zentimeternah an den Autos vorbei, wenn Mahmud im engen Korridor zwischen den stehenden Kolonnen überholt. Er hat alles im Griff. Aselia braucht keine Angst zu haben. Sie benötigt für den Heimweg von der Uni gerade einen Viertel der Zeit als mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Mahmud stoppt die Vespa einen Straßenblock vor Aselias Zuhause. Es ist ein besseres Stadtviertel, etwas grüner, die Luft weniger belastet. Das nie endende Verkehrsrauschen, das ständige Hupen und die durch Mark und Bein dringenden Sirenen der Einsatzkräfte sind fern. Hier wohnen besser situierte Leute, nicht gerade die elitären Superreichen – aber immerhin! Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Kairo sehr weit auf.
»Es ist wohl besser, ich setze dich hier ab«, vermerkt Mahmud Nasir. »Deine Eltern sollen uns ja nicht zusammen sehen. Hast du’s deinem Vater gesagt?«
Aselia steigt von der Vespa, schwingt das Rucksäcken über die Schulter und streicht den Minirock glatt.
»Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit«, gesteht das attraktive Mädchen. Sie ordnet das üppige, vom Fahrwind zerzauste Haar und macht behänd einen Rossschwanz im Nacken. »Papa kommt nur kurz zum Essen heim und meis tens spätnachts, wenn ich schlafe. Die Arbeit frisst ihn auf! Mama ist oft einsam und leidet manchmal unter seiner üblen Laune. Aber er meint es nicht so! Er liebt seine Familie.«
»Wenn einer Polizeimajor ist? Er ist gewiss ein viel beschäftigter Mann. Diebe jagen! Verbrecher dingfest machen! Terroranschläge verhindern…!«, lautet die sarkastische Bemerkung. Sie ist von einem entwaffnenden Lächeln begleitet.
»Weißt du, Mahmud«, erwidert Aselia besorgt, »wenn ich Papa auf dem falschen Fuß erwische, dann ist es aus! Dann hat er kein Gehör! Ich muss den richtigen Moment abwarten!«
»Hast du deiner Mutter etwas angedeutet?«
»Ehrlich gesagt, ich habe ein bisschen Angst, es meinen Eltern zu sagen«, gesteht Aselia kleinlaut. »Sie haben vielleicht ganz andere Pläne mit mir, wenn ich das Jura-Studium abgeschlossen habe.«
»Aber du wirst ihnen sagen, dass wir uns lieben und einander versprochen haben?«
Das Mädchen zögert, denkt kurz nach.
»Bitte, hab ein wenig Geduld. Ich werde es ihnen sagen!«
Die Stimmung zwischen den Verliebten entspannt sich. Aselia blickt bekümmert.
»Ich hoffe, mein Vater hat keinen Bräutigam für mich bestimmt und schon einen Heiratsvertrag abgeschlossen!«
»Du meinst, er will dich zwangsverheiraten?«, forscht Mahmud nach. »Du kannst doch Nein sagen! Wir leben im 21. Jahrhundert! Die Zeiten der gehorsamen Tochter, die sich widerspruchslos in eine ungewollte Ehe fügt, sind längst vorbei! Oder etwa nicht?«
Das Mädchen schüttelt den Kopf, dass der Rossschwanz im Nacken tanzt.
»Du hast ja Recht, Mahmud!«, gesteht sie besorgt. »Ich denke genauso wie du. Aber meine Eltern eben nicht! Sie sind fromme Muslime und wohl alten islamischen Traditionen verpflichtet.«
Bedrücktes Schweigen. Sekundenlang. Mahmud stellt den Motor der Vespa ab.
»Und? Was sagen deine Eltern? Sind sie mit unserer Heirat einverstanden?«
Mahmud nickt.
»Sie meinen, du wärst eine gute Partie!«, gesteht er etwas verlegen.
Das Mädchen verwirft das schöne Haupt.
»Na, klar! Vater ist ja Polizeikommandant, gutverdienend und meine Familie recht wohlhabend!«
»Meine auch, Aselia!«, schiebt Mahmud ein. »Mein Vater ist Bauingenieur. Wie du weißt«, fügt er hinzu.
»Deine Eltern erwarten wohl eine saftige Mitgift, wie?«, fährt das Mädchen unwirsch auf.
»Sie sagen, die Liebe sei für eine Ehe unwichtig. Man werde lernen, einander zu lieben.«
Aselia bläst die Luft durch die Nase.
»Das tönt aber sehr traditionell islamisch, Mahmud! Hast du nicht gerade gesagt, wir leben im 21. Jahrhundert? – Deine Eltern sind wohl frommer, als sie vorgeben. Wir sind Kinder des Islam! Aber ich vertrete einen modernen Islam! Einen, in dem Ehepartner sich selber wählen. Die Frau dem Mann gleichgestellt ist! – Und einiges mehr!«
Der Jüngling auf der Vespa stimmt der Feststellung zu.
»Du willst doch die Mutter meiner Kinder werden, die ich mir so sehr von dir wünsche?«
Aselia wechselt das Standbein. Natürlich wolle sie das. Wenn sie verheiratet sind! Da sie sich lieben, sei eine Heirat ja kein Problem. Nur Papa sei ein Problem, wenn er ihre Ehe verbietet und eine Zwangsheirat anordnet. Bei einer Weigerung würde er die ungehorsame Tochter wohl halb totschlagen, vielleicht verstoßen!
Schweigen. Die Worte wirken.
»Also, Schatz, sprich mit deinem Vater, wenn du den Zeitpunkt für richtig hältst.«
»Das werde ich! Versprochen!«
Die Verliebten lächeln sich an. Am liebsten wären sie sich um den Hals gefallen und hätten sich geküsst. Aber in der Öffentlichkeit?
»Ich danke dir, dass du mich nach Hause gebracht hast. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch!«
Mahmud Nasir kickt den Motor an, wendet die Vespa und braust weg.
»Wir sehen uns!«, ruft Aselia ihm nach. Er biegt bei der nächsten Straßenkreuzung ohne Blinker links ab. Das Herz klopft bis zum Hals hinauf. Das Mädchen liebt ihn aufrichtig. –
Auf dem Amerikanischen College in Kairo besuchen Buben und Mädchen die gleiche Klasse. Auf arabischen Schulen sind die Geschlechter streng getrennt. Das gilt nicht nur fürs Klassenzimmer und den Pausenplatz. Mädchen gehen an einem anderen Ort in die Schule. Die Schulhäuser befinden sich oft in einem anderen Stadtteil. Das ist gewollt. Knaben und Mädchen sollen sich nicht begegnen und verführen, obwohl sie auf der Unterstufe noch gar nicht geschlechtsreif sind. Strenggläubige Moslems wollen ihre Töchter eigentlich gar nicht ausbilden lassen, aber in Ägypten herrscht bis zur Oberstufe Schulpflicht für beide Geschlechter. Diese Eltern bringen ihre Töchter persönlich in die Schule und holen sie wieder ab. Sie erziehen sie von den Freveln der Moderne möglichst abgeschirmt im Geiste des Islam zur Häuslichkeit und bereiten sie auf die Ehe vor. Ein Mädchen soll unberührt heiraten und die Mutterpflichten kennen.
Auf dem Pausenplatz der amerikanischen Schule herrscht eine ausgelassene Stimmung. Die Kinder und die jungen Jugendlichen tragen keine Uniform. Man kleidet sich westlich modern. Man spielt, springt, scherzt und neckt sich; Knaben und Mädchen gruppieren sich automatisch. Es gibt auch gemischte Grüppchen. Reifere Mädchen sehen die Jünglinge gern – und umgekehrt. Im Verborgenen! Wagt es einer, ei nem Girl zu nahe zu treten oder sogar anzufassen, dann setzt es verbal heftigen Widerstand ab und eine vehement abwehrende Geste. Man ziert sich, ist unsicher, aber man mag es insgeheim.
Eine dunkelblaue Luxuslimousine mit schwarz getönten Scheiben rollt langsam auf den Pausenplatz. Ein US-Wimpel prangt am vorderen Kotflügel. Der uniformierte Fahrer öffnet stramm die Hintertür. Der Botschafter holt seinen elfjährigen Sohn vom College ab. Die Begrüßung ist herzlich. Die bunte Schülerschar nimmt von der Staatskarosse kaum Notiz und spielt weiter. Es ist nicht das erste Mal, dass der hochrangige Diplomatendaddy sein Geblüt abholt. Heute ist ein besonderer Tag: der letzte Schultag vor der großen Hitze – Sommerferien!
Das muss natürlich gefeiert werden. Ein schrillbunter ›Yami-Yami-Eiswagen‹ fährt mit ohrenbetäubendem Tingeln vor. Laute Zirkusmusik tönt aus dem Lautsprecher auf dem Dach. Das lockt sofort die Buben und Mädchen an. Schreiend bestürmen sie den umgebauten Lieferwagen. Jeder will bei heißen Temperaturen ein Eis schlecken. Der Fahrer klappt die Seitentüre hoch.
»Kommt her! Kommt alle her! Hier gibt’s Eis für euch – fast gratis!«, verkündet er lautstark. Die ausgelassene Kinderschar belagert das Auto, das sich in einen Verkaufsstand verwandelt hat. Eine junge Frau sitzt drin. Sie beginnt hurtig die ungestümen Bestellungen entgegenzunehmen.
»Ja, kommt her! Kommt alle her! Wir haben das beste Eis in ganz Kairo! Ha, was sag ich da?! Das leckerste Eis von ganz Ägypten!«, lädt der junge Mann die Kinderschar ein. Ein Seitenblick verrät: Ein Motorrad wartet am Rand des Pausenplatzes. Ob der Fahrer mit dem halb aufgeklappten Helmvisier den Sohn, die Tochter erwartet? Der Unbekannte hat vorschriftsmäßig einen zweiten Helm dabei.
Der Eisverkäufer lacht und tanzt und fuchtelt wie ein Clown mit den Armen. Alle sollen herkommen und ein Eis kaufen.
»Willst du auch ein Eis?«, fragt der Botschafter seinen Sohn. Natürlich will Jason ein Eis kaufen.
»Dann spendiere ich dir eines!«
Der mit einem dunkelblauen Anzug und Krawatte gekleidete Vater nimmt den Knaben an der Hand und geht mit ihm zum Eiswagen. Das Sicherheitspersonal der Schule erfreut sich an der Freude der Kinder. Niemand fragt, wer dieses bunte ›Yami-Yami-Zirkuseisfahrzeug‹ bestellt hat, um die Schüler am letzten Schultag vor den Ferien zu überraschen.
Der Fahrer wendet die Motocross-Maschine und verschwindet hinter der Ecke.
»Ich lasse euch jetzt kurz allein«, verkündet der Eisverkäufer aufgestellt. »Ich bin gleich zurück! Versprochen! Also, kommt her, Kinder! Kommt her! Mira hat genügend Eis für euch mitgebracht! Ja, kommt alle her!«
Niemand nimmt von Miras wässrigen Augen Notiz. Die Tränen laufen über und rinnen das Gesicht hinunter. Die junge Frau ist plötzlich bleich und lacht nicht mehr. Der Eiswagenfahrer entfernt sich spielerisch tanzend, die schreiende Kinderschar armfuchtelnd motivierend, vom besten Eis in ganz Ägypten zu kosten. Der Mann verschwindet hinter der Hausecke. Der Motorradfahrer wartet mit laufendem Motor. Er fährt an, bevor der Kollege richtig im Sattel sitzt. Dieser nimmt den Fernzünder aus der Jackentasche, drückt kaltblütig den Knopf. Die rote Kontrolllampe springt auf Grün.
»Allahu akbar – Gott ist groß!«, murmelt der Mann. Die gesamte Häuserzeile bebt unter der gewaltigen Explosion. Die Druckwelle ist so stark, sie fegt die Frontfassade des College und der umliegenden Gebäude förmlich weg. Der Feuerpilz schießt turmhoch in den Himmel. Nichts überlebt im Umkreis von 200 Meter. Der ›Yami-Yami-Eiswagen‹ war eine Bombe, bis zum Dach mit hochwertigem Sprengstoff gefüllt. Die einstürzenden Häuserfassaden begraben die Menschen im Gebäude unter Trümmern: Schüler, Lehrer Collegepersonal. Dort, wo vor wenigen Sekunden der Eiswagen stand und sich begeisterte Kinder tummelten, klafft jetzt ein rauchender, zwei Meter tiefer Krater. Der belebte Pausenplatz hat sich in ein tödliches Inferno verwandelt. Der Schock wirkt nach, als ob die Zeit stillstünde. Die Attentäter – die terroristischen Massenmörder – verschwinden unerkannt im Verkehrschaos von Kairo. Sie fühlen sich gut. Sie meinen, im Namen Allahs des Allbarmherzigen richtig gehandelt zu haben!
Amar ist der Lenker. Khalid hat den Sprengsatz gezündet. Sie machen einen Umweg über belebte Straßen, bevor sie in die Altstadt fahren. Sie müssen sicher sein, nicht verfolgt zu werden. Der Inlandgeheimdienst ist allgegenwärtig und könnte sie bei der Wegfahrt vor der verheerenden Explosion beobachtet haben.
Die Gassen sind schmutzig, dunkel und oftmals so eng, man könnte keinen Esel darin wenden. Kein Tourist verirrt sich hierher. Amar beherrscht meisterhaft die Motocross-Maschine. Er kurvt um überfüllte Abfalleimer, die die städtische Müllabfuhr niemals leert, und weicht unnützen Sachen aus, die niemand mehr braucht und bloß die Durchgänge verstellen.
Die Sicherheit verlangt, eine weitere Runde durch das verwinkelte Altstadtviertel zu drehen. Amar stoppt vor einem Doppelflügeltor. Die Häuser stehen hier so eng zusammen, kein Auto, nicht einmal ein Pferdewagen hätte es auf Anhieb passieren können. Khalid gibt mit dem halbmondförmigen Messingklopfer das vereinbarte Zeichen. Ein kleiner Bub, vielleicht sechs-, siebenjährig, öffnet das Tor. Die Attentäter fahren auf einen quadratischen Hof, der gepflastert und erstaunlich sauber ist. Eine Säulengalerie umsäumt den Platz. Die Häuser rundherum sind vierstöckig, baufällig, die meisten Fenster vergittert. Gitter zum Innenhof? Seltsam! Sie führen zu Studierzimmern und anderen Räumen. Der kleine Komplex ist eine Medrese, wo junge Männer den Koran und die Scharia, das islamische Recht, studieren. Niemand ist zu sehen. Die Studenten treffen sich hier zu bestimmten Zeiten und wohnen zuhause.
Der Knabe führt Khalid und Amar in den ersten Stock. Zwei Männer hocken auf Bodenmatten vor einem Fossil von Fernseher im alten 4:3-Format. Er hat falsch eingestellte Farben und einen arg schlechten Empfang über die Zimmerantenne. Die rieselnden Bilder zeigen einen Ort des Grauens: zusammengestürzte Fassaden, rauchende Trümmer, ein von der Explosion zerrissenes Autowrack, dessen Farbe und Marke kaum mehr feststellbar sind, Feuerwehr-, Polizei-und Ambulanzeinsätze, – und natürlich ist die Presse da! Amina Hefnawi vom staatlichen Hauptsender, deren Name am unteren Bildrand eingeblendet ist, berichtet mit aufgeregter Stimme vom mörderischen Terroranschlag auf das US-College in Kairo.
»…Die Urheber dieses grausamen, menschenverachtenden Attentats auf unschuldige Kinder und Jugendliche sind noch unbekannt! Die Polizei vermutet einen Racheakt muslimischer Fanatiker wegen der Hinrichtung der zehn verurteilten Terroristen im Militärgefängnis von Kairo letzte Woche«, sprudelt Amina ins Mikrofon. Sie trägt ein dunkelblaues Armani-Kostüm, kein Kopftuch, dafür sittsam hochgesteckte Locken und ist dezent geschminkt. Sie ist eine Vollblutreporterin, eine äußerst attraktive Erscheinung anfangs dreißig. Sie hätte auch eine Topmanagerin in einem Weltkonzern sein können.
Die Männer begrüßen Khalid und Amar mit dem traditionellen Bruderkuss. Beide tragen den Kaftan und gepflegt getrimmte Bärte, der ältere Mann einen weißen Turban, der andere die Kefije, das schwarzweiß gewürfelte arabische Kopftuch.
»Allahu akbar! Allah segne euch!«, spricht Abu Hamsa seine Anerkennung aus. Er ist der religiöse Führer der Terrorzelle in Kairo. Der andere ist Safi Al-Fakr, der Verbindungsmann zum IS, dem Islamischen Staat, der die Waffen und den Sprengstoff liefert.
»Das habt ihr wahrlich gut gemacht!«, bestätigt Al-Fakr. Er lächelt in triumphierender Genugtuung. »Ich werde es dem Kalif melden. Ihr habt eine große Belohnung verdient.« Ob im Diesseits oder Jenseits bleibt offen.
»Macht euch keine Sorgen, Brüder«, fährt Abu Hamsa fort. Seine Stimme ist angenehm, sehr einnehmend und sympathisch. Er ist der Prediger, der Lehrer in der Medrese, ein selbsternannter Imam, der das absolute Vertrauen des IS genießt.
»Vergesst niemals: Allah, der Allbarmherzige der Muslime, verabscheut alle Ungläubigen, selbst ihre Kinder, die im frevelhaften Geist der westlichen Dekadenz aufwachsen. Ihre Väter sind arglistige Kreuzfahrer, die unseren wahren Glauben des Islam vernichten wollen! Ihre Brut tritt in ihre unheilvollen Fußstapfen, wenn wir sie nicht ausmerzen, bevor sie herangewachsen ist und böses Gift verbreitet! – Ihr seid Helden!«, fügt Abu Hamsa frohgemut hinzu.
Schweigen. Amina Hefnawi schnarrt im Hintergrund ihren TV-Bericht in die Kamera. Sie versucht, Jamal Hassimi, den verantwortlichen Polizeikommandant des Altstadtbezirks, für eine erste Stellungnahme zu gewinnen. Umsonst.
Abu Hamsa hat bei den Attentätern den letzten Zweifel an ihrer heldenhaft vollbrachten Tat ausgeräumt, weil sie Allah gefällt.
»Na, dann wollen wir mal!«, verkündigt der Prediger streng ausatmend den nächsten Schritt. Er wählt auf einem alten Handy die vorprogrammierte Nummer der Fernsehstation, über die Amina Hefnawi live berichtet. Abu Hamsa bekennt sich zum Anschlag auf das US-College bei der Redaktionsleitung. Es sei die gerechte Strafe des IS, die der westlichen Dekadenz einen schweren Schlag versetzt habe, und die Rache für die Hinrichtung der inhaftierten Kameraden, die jetzt heldenhafte Märtyrer seien. Der Anschlag gelte gleichfalls den verruchten Taten der USA und der CIA in Ägypten.
»Allahu akbar!«, beendet Abu Hamsa seine Botschaft und klappt das Handy zu. Safi Al-Fakr zerquetscht es zwischen den Eisenbacken des Schraubstocks auf der Werkbank. Dann schmilzt er das flach gedrückte Ding mit dem Bunsenbrenner ein, um es völlig unbrauchbar zu machen.
Der kleine Bub erscheint. Er serviert gesüßten Tee in dickwandigen Gläsern.
»Wir wollen auf die schwere Niederlage der Kreuzritter anstoßen und unsere Helden feiern!«, verkündet Abu Hamsa kühn. »Allahu akbar!«
Die Gotteseiferer trinken die Gläser leer. Der kleine Junge schenkt nach. Abu Hamsa hebt sein Glas.
»Die gute Mira war ein tapferes Mädchen«, stellt er fest.
»Sie ist eine Märtyrerin und genießt jetzt die Freuden im Paradies! Ihr gebührt Ehre und Anerkennung.«
Ob 72 keusche Jünglinge ein Mädchen im Paradies erwarten, das für Allah sein Leben aufgeopfert hat?
Die Männer leeren die Gläser in einem Zug und schlagen sie kopfüber auf den Tisch. Erledigt! Abu Hamsa geht zur ägyptischen Staatsflagge an der Wand. Ein Tresor ist dahinter eingemauert. Flinke Finger wählen die Kombination und nehmen einen verschlossenen Papierumschlag heraus.
»Khalid, mein Bruder und Gefährte«, sagt Abu Hamsa freundlich. »Dadrin sind 2500 US-Dollars! Du bist dafür verantwortlich. Amar weiß, wo Miras Familie wohnt. Er fährt dich hin. Das Geld ist der Dank an die Eltern für das große Opfer, das die Tochter Allah, dem Allbarmherzigen, dargebracht hat. Richte ihnen meinen Segen und die unerschütterliche Gewissheit aus, dass Mira jetzt bei Allah ist und glücklich im Paradies lebt. Allahu akbar!«
»Gott ist groß!«, bestätigt Khalid. Es ist für ihn eine heilige Mission. –
Die Rettungskräfte dringen vorsichtig zwischen den Trümmerschichten des eingestürzten College und der umliegenden Gebäude vor. Die Pioniere halten sich mit schwerem Gerät zurück, weil Verschüttete in Hohlräumen überlebt haben können.
Jamal Hassimi, der zuständige Kommandant des Kairoer Altstadtbezirks, erscheint vor Ort. Er will persönlich einen Augenschein nehmen. Der Anblick bietet ein Bild des Grauens und der Zerstörung. Die Einsatzkräfte bergen Kinder und zwei Erwachsene aus den Trümmern. Sanitäter versorgen die Schwerverletzten notdürftig. Ambulanzen fahren sie mit Blaulicht und Sirenen ins Spital.
Der Polizeimajor begibt sich unverzüglich zur improvisierten Einsatzzentrale, wo die Rettungsmannschaften organisiert und koordiniert werden und die Informationen zusammenlaufen. Die Zahl der verschütteten Toten liege zurzeit bei 87, meldet der Feuerwehreinsatzleiter, aber diese Zahl werde sicher steigen. Die polizeiliche Spurensicherung sammle Leichenteile der Explosionsopfer auf, denen die Gerichtsmediziner DNS-Proben entnehmen werden, um eine Identifizierung zu ermöglichen. Die Eltern wollen das eigene Kind, kein fremdes – schlimm genug! – oder an einem leeren Grab ihren unermesslichen Verlust betrauern.
Amina Hefnawi vom staatlichen Fernsehen verschafft sich dreist Zutritt ins Einsatzhauptquartier. Sie will den aktuellen Stand der polizeilichen Ermittlungen erfahren. Jamal Hassimi schmeißt die Reporterin mitsamt dem Kameramann hochkant raus. Die Ägypter, ja die ganze Welt, habe Anspruch, alles über den Terroranschlag zu erfahren, redet Amina sich raus und ignoriert den groben Rauswurf. Ungefragt beginnt sie mit dem Interview.
»Herr Jamal Hassimi: Sie sind Polizeimajor und der zuständige Kommandant des Altstadtbezirks von Kairo. Bitte sagen Sie den Zuschauern: Gibt es ein Bekennerschreiben? Hat sich jemand zum Bombenattentat bekannt? Was ist das Motiv, ein amerikanisches College anzugreifen?«
Hassimi stößt das Mikrofon unter seiner Nase schroff weg. Kein Kommentar! Es werde eine offizielle Pressekonferenz geben. Amina lässt sich als Vollblutreporterin nicht beeindrucken, schon gar nicht abwimmeln. Die Polizisten müssen fast handgreiflich werden, die aufdringliche Fernsehlady im Armani-Kostüm loszuwerden.
»He, was fällt euch ein, mich anzufassen!«, rebelliert sie laut. »Ein Rauswurf verstößt gegen die Pressefreiheit, meine Herren! Ich werde Klage einreichen, wenn meine körperliche Integrität verletzt wird! Ich hoffe, du hast das rüpelhafte Verhalten gefilmt, Anwar!«
»Alles im Kasten!«, bestätigt der Kameramann. »In Bild und Ton!«, ergänzt er grinsend.
Jamal Hassimi lässt die Kamera beschlagnahmen. In Ägyp ten gäbe es keine uneingeschränkte Pressefreiheit, lautet die Begründung.
In diesem Moment spricht der ›kleine Mann‹ in Aminas Ohr. Es ist der Redaktionsleiter auf dem Interkom. Sie horcht und nickt und kann sich schließlich eines Lächelns nicht erwehren. Was ist denn lustig hier vor Ort?
»Hören Sie, Herr Hassimi«, sagt Amina Hefnawi fast schadenfroh. »Der handgreifliche Zwischenfall ging eben live über den Sender. Das meldete mir gerade der Redaktionsleiter. Sie haben ein Eigentor geschossen! Ich verlange die Kamera unverzüglich zurück, damit ich meinen Live-Bericht über den Anschlag des ›Islamischen Staates‹ auf das US-College fortsetzen kann!«
»,Islamischer Staat‹?«, echot Jamal Hassimi überrascht. »Wer sagt das? Woher haben Sie die Information?«
»Mein Redaktionsleiter hat mich gerade informiert. Er hat ein Bekennertelefon von Abu Hamsa höchstselbst erhalten! Da staunen Sie, was, Major?«
Der Aufzeichnungschip soll aus der Kamera entfernt und übergeben werden.
»Den können Sie ruhig behalten! Er nützt Ihnen nichts!«, bemerkt Amina keck. »Wie ich schon sagte: Das rüpelhafte Verhalten Ihrer Polizisten wurde live gesendet! Ich ersuche Sie also höflich, die Kamera unverzüglich auszuhändigen. Sie ist staatliches Eigentum von Ägypten!«
Ein Polizist gibt auf ein zustimmendes Kopfnicken des Majors die Kamera zurück. Amina und Anwar, der Kame ramann, verlassen die Einsatzzentrale. Große Bestürzung herrscht im Kommandozelt. Jamal Hassimi schlägt verärgert die Faust auf die Handfläche.
»Verdammt!«, schimpft er los. »Wieso sind die Medien immer vor der Polizei informiert?«
Bedrücktes Schweigen. Der Polizeikommandant reißt sich vor seinen Leuten zusammen. Er hat nur kurz die Fassung verloren.
»Der verdammte IS! Abu Hamsa ist also der Urheber des Bombenanschlags! Ein Attentat auf Kinder! Auf unschuldige Kinder!«, wiederholt er entsetzt. »Sie ermorden Kinder! Kaltblütig! Vorsätzlich! Im Namen Allahs! – Diese Leute sind keine Muslime! Allah hat sie längst verdammt! Die Hunde haben es nur noch nicht gemerkt! Verruchte Terrorbande!« –
Eine sehr attraktive Frau und ein männlicher Begleiter in Anzug und Krawatte betreten die Einsatzzentrale. Sie präsentieren Ausweise, um passieren zu dürfen. Jamal Hassimi verdreht die Augen und atmet unwirsch aus.
»Och, nein! Nicht Sie schon wieder!«, krächzt er gestört. »Was wollen Sie denn hier?«
»Wir sind immer dort, wo etwas Schlimmes passiert!«, kommt es über volle, dezent geschminkte Lippen. »Vor allem, wenn es sich um einen Terroranschlag auf eine US-Einrichtung handelt«, ergänzt die Lady kompetent. »Also, Jamal: Briefen Sie mich bitte! Sie wissen: Sie sind dazu verpflichtet. Unsere Regierungen haben eine enge Zusammenarbeit vereinbart. Die Türe schwingt auf beide Seiten.«
»Ich weiß! Ich weiß! Ich weiß!«, winkt Hassimi gestresst ab. »Ach, Mildred! Sie sind eine Plage! Weshalb gehen Sie nicht nach Amerika zurück? Was hält Sie noch in Kairo?«, schnauft er ungestüm.
»Mein Job!«, antwortet die Frau unbeeindruckt. »Ich wurde nach Ägypten beordert und habe Pflichten zu erfüllen. Es tut mir leid!«
Eigentlich braucht sie sich nicht zu entschuldigen. Es ist ihr auch egal, ob sie jemand sympathisch findet oder nicht. Ihre Arbeit verlangt analytische Kompetenz, Führung, Durchsetzungsvermögen und einiges mehr – nicht Schönheit.
Mildred Kemp hat die dreißig um acht Jährchen überschritten. Man sieht ihr es gar nicht an. Sie sieht viel jünger aus.
Mildred streicht eine schwere Locke von der Stirne hinters Ohr. Das üppige Haar besitzt einen natürlichen Rotstich, der sehr sexy wirkt. Blaue Augen, ein ebenmäßig schönes Antlitz und eine perfekte Figur unterstreichen eine außerordentlich elegante Persönlichkeit. Sie wäre auch als Mannequin durchgegangen.
Die Frau, sommerlich chic gekleidet, zeigt keine Regung, als sie von der Täterschaft des Terroranschlags erfährt. Sie ist nicht einmal erstaunt. Sie vermutet einen Racheakt wegen des Bombardements, das die USA gegen den ›Islamischen Staat‹ im Irak und in Syrien durchführt und ihm erhebliche Verluste zufügt. Mildred Kemp reagiert sehr betroffen, als ein Ermittlungsbeamter meldet, man habe das Autowrack als das Dienstfahrzeug des amerikanischen Botschafters identifiziert. Der Mann von der Spurensicherung hält einen Mercedesstern, das Nummernkennzeichen und den US-Wimpel in der Hand, der bei Diplomatenfahrzeugen am vorderen Kotflügel befestigt ist. Der US-Botschafter befindet sich mit größter Sicherheit unter den Opfern – und sehr wahrscheinlich sein Sohn, der hier das College besucht. Ob Zufall oder Absicht des IS? Der amerikanischen Botschafter und sein Kind könnten auch das Hauptziel des Attentats gewesen sein – nicht die Schule und die Kinder!
»Mit allem gebührenden Respekt: Das glaube ich nicht«, sagt der Beamte. Sein Assistent reicht ihm ein größeres Trümmerteil. Es wurde im Eingangsbereich des Schulhauses gefunden. Die Explosion muss es dort hingeschleudert haben. Es ist ein Überbleibsel einer gelb gespritzten Karosserie, sehr wahrscheinlich der Autobombe. Das zerfetzte Blechstück trägt die Aufschrift ›Yami‹. Darunter sind Schleckstängel abgebildet, wie Kinder sie gern mögen.
»Wir haben es mit einem ›Yami-Yami-Eisfahrzeug‹ zu tun«, folgert Mildred Kemp richtig. »Von denen gibt es tausende in den USA. Die Kinder sollten Eis kaufen. Der Anschlag galt nicht dem Botschafter und seinem Sohn. Abu Hamsa wollte die Kinder und das College treffen. Schweinehund!«, entfährt es dem schönen Mund.
»Es gibt bestimmt Videoaufzeichnungen von Überwachungskameras vor der Explosion«, ist Mildred Kemp überzeugt. »Darauf sollte dieser ›Yami-Yami-Eiswagen‹ zu sehen sein. Wie er auf dem Platz vorfährt! Die Kinder ihn bestürmen! Vielleicht steigt der Fahrer aus, um ihnen Eis zu verkaufen …!«
»Wenn’s kein Selbstmordkiller war!«, ergänzt Jamal Hassimi Mildreds Feststellung und räuspert sich. »Wir sollten auch den Dienstwagen des amerikanischen Botschafters sehen! Wie er seinen Sohn abholt!«
Der Polizeimajor bricht ab, weil die Stimme versagt. Es ist ungeheuerlich! So viele unschuldige Kinder wurden in den Tod gerissen! Eine bleierne Stimmung herrscht im Kommandozelt. Man hätte die Luft in Stücke schneiden können.
»Befinden sich die Videoaufnahmen in der Auswertung?«, will Mildred Kemp wissen. Ein Ermittlungsbeamter schaltet sich ein.
»Ein paar Harddisks konnten wir sicherstellen. Ich hoffe, sie sind intakt in diesem verbeulten Kasten dort.«
Der junge Mann zeigt auf das arg havarierte Blechding. Es steht unbeachtet, in der Aufregung fast vergessen auf einem Klapptisch in der Ecke des Pyramidenzelts.
»Auf was warten wir?«, richtet Mildred die Frage an Major Hassimi. »Es ist ein wichtiges Beweisstück. Werten wir die Aufzeichnungen der Überwachungskameras unverzüglich aus! Sie liefern vielleicht entscheidende Hinweise für die Fahndung nach den Attentätern!«
Polizeikommandant Hassimi gibt das wichtige Beweisstück nicht aus der Hand – schon gar nicht der Amerikanerin.
»Sie vertrauen mir nicht mehr, Jamal? Sie sollten mich kennen. Und die ›Firma‹, für die ich arbeite!«, sagt sie verschmitzt. Der geschwungene Mund lächelt charmant. Der Gefragte räuspert sich.
»Ach, wissen Sie, Mildred«, meint er beinahe seufzend. »Gerade weil ich Sie und die ›Firma‹ kenne, bin ich ein bisschen vorsichtig! Vertrauen ist gut – Kontrolle besser. Das beruht auf Gegenseitigkeit, nicht wahr?«
Die Lady schweigt bezeichnend. Charme und Schönheit ziehen bei Jamal nicht.
Hassimi lässt sich zum Polizeilabor chauffieren. Mildred Kemp und ihr tadellos gekleideter Begleiter folgen ihm im dunkelblauen Mercedes der oberen Mittelklasse. Die Limousine hat schwarz getönte Scheiben, die das Innere von unliebsamen Blicken abschirmen. Sie besitzt eine unscheinbare, etwas spezielle Antenne auf dem Dach. Eingeweihte wissen, aber ganz gewiss nicht der kleine Mann auf der Straße: Sie gewährleistet eine direkte Satellitenverbindung.
Das Untersuchungslabor befindet sich in der Nähe des Tag und Nacht belebten Tahir-Platzes in einem beeindruckenden Gebäude. Es ist das Polizeihauptquartier von Kairo. Zwei Steinwürfe weit entfernt befindet sich der riesige Busbahnhof und einen Steinwurf weiter das weltberühmte Ägyptische Museum, wo es von Touristen wimmelt.
Der Tahir-Platz ist ein zentraler Verkehrsknotenpunkt, der 2012 traurige Berühmtheit erlangte. Hier fanden die mehrwöchigen Demonstrationen gegen Präsident Hosni Mubarak statt. Regierungstreue Spezialeinheiten räumten den Tahir mit roher Gewalt. Über 800 Tote und eine ungleich höhere Anzahl von Verletzten war die Folge. Der demokratisch neu gewählte Präsident Mursi von der Moslembruderschaft stellte Mubarak wegen des Massakers vor Gericht. Mursis Absetzung und Verhaftung nach eineinhalb Jahren erfolgloser Amtszeit ging gleichfalls von Demonstrationen auf dem Tahir-Platz aus. Es gab heftige Zusammenstöße zwischen Mursi-Anhängern, Mursi-Gegnern, Verfechtern von Neuwahlen und den Polizeikräften. Der neue Machthaber hieß schließlich al-Sisi, der sich zum neuen Präsidenten Ägyptens wählen ließ. Heute passieren täglich mehrere zehntausend Fahrzeuge den geschichtsträchtigen Platz und riesige Menschenströme.