Dunkelhaus - Jan-Erik Fjell - E-Book

Dunkelhaus E-Book

Jan-Erik Fjell

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der atemberaubende neue Thriller von SPIEGEL-Bestsellerautor und Norwegens Nr. 1 Jan-Erik Fjell.

Einst wurde eine Hütte in den norwegischen Wäldern zum Schauplatz eines bestialischen Mordes. Jetzt fordert ihr dunkles Geheimnis neue Opfer ...
In Oslo steckt Kommissar Anton Brekke mitten in einer Mordermittlung, als ihn eine schreckliche Nachricht ereilt. Sein ehemaliger Mentor und Kollege Harald Uteng ist von seinem Hausboot gestürzt und ertrunken. Scheinbar ein tragischer Unfall. Doch Anton geht der Sache nach. Denn sein Freund wirkte vor seinem Tod an einem Podcast über einen schockierenden alten Fall mit, der ihn nie losließ und an dem auch Anton als junger Polizist beteiligt war: der Mord an einem 17-jährigen Mädchen, dessen blutüberströmte Leiche man in einer verlassenen Hütte im Wald fand. Hatte Uteng eine neue Spur entdeckt und musste deshalb sterben? Auf der Suche nach der Wahrheit steht Anton schon bald vor einem dunklen Abgrund …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 496

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

In Oslo steckt Kommissar Anton Brekke gerade mitten in einer Mordermittlung, als ihn eine traurige Nachricht erreicht. Sein ehemaliger Mentor, der pensionierte Polizist Harald Uteng, ist in der Nacht von seinem Hausboot gestürzt und ertrunken. Ein tragischer Unfall, wie es scheint. Brekke ist jedoch skeptisch und geht der Sache auf den Grund. Denn Uteng wirkte in den Wochen vor seinem Tod an einem True-Crime-Podcast über einen schockierenden alten Fall mit, der ihn nie losließ und an dem auch Brekke als junger Polizist beteiligt war: der Mord an der siebzehnjährigen Malin aus dem kleinen Ort Aremark, deren blutüberströmte Leiche man damals in einer einsamen Steinhütte im Wald fand. Der Fall sorgte für großes Aufsehen, und ein Verdächtiger wurde für die Tat verurteilt. Doch wurde der falsche Mann gefasst, und musste Uteng sterben, weil er dem wahren Mörder nun, Jahre später, zu nahe kam? Anton Brekke begibt sich auf Spurensuche und steht bald am Rand eines tiefdunklen Abgrunds …

Weitere Informationen zu Jan-Erik Fjell sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Jan-Erik Fjell

DUNKel-haus

Thriller

Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann

Die norwegische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Gråsonen« bei Capitana Forlag, Bonnier Norsk Forlag, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung November 2023

Copyright © Jan-Erik Fjell, 2020

By Agreement with Grand Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Trevillion Images/Evelina Kremsdorf; FinePic®, München

Redaktion: Julie Hübner

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29915-6V002

www.goldmann-verlag.de

Teil I

Kapitel 1

Freitag, 7. September

Aslak Rød stellte sich vor den Eingang des Dorfladens, in dem er arbeitete. Es war halb zwei. Er steckte sich eine Zigarette an und saugte das Nikotin ein, während er zu zwei Wolken hinaufsah, die am blauen Himmel ineinanderglitten. Ein Wagen kam angefahren und parkte. Die Fahrerin, die in seiner Erinnerung immer schon uralt gewesen war, stieg aus und bewegte sich langsam auf die Eingangstüren zu, während sie sich auf eine Krücke stützte. Aslak Rød hörte sie ein schwaches »Hallo« murmeln, als sie an ihm vorbeiging. Im selben Moment, in dem die Türen aufglitten und sie einließen, konnte er Glenn an der Kasse etwas sagen hören, was von dem jungen Mann, der gerade seine Waren einpackte, mit einem höflichen Lachen quittiert wurde.

Aslak Rød starrte auf die Glut seiner Zigarette.

Er hatte Glenn schlechte Scherze machen hören, seit der vor zwanzig Jahren im Laden angefangen hatte. Dagegen war auch so weit nichts einzuwenden – solange nur sie beide anwesend waren. Und ja, manchmal landete er durchaus einen Volltreffer. Das Problem war nur, dass Glenn nicht begriff, wann etwas nicht mehr lustig war. Irgendwie kapierte er nicht, wann er besser aufhören und den Mund halten sollte. Und so tischte er einen blöden Witz nach dem anderen auf, derweil die Kunden ihre Waren aufs Band legten, bezahlten, einpackten, gingen und dabei die Augen verdrehten. So wie Aslak Rød jetzt.

Er blickte die Landstraße hinunter, die sich zwischen dem Laden auf der einen und der Tankstelle auf der anderen Straßenseite fortsetzte. Er drehte eine kleine Runde über den Parkplatz, rauchte weiter und glotzte über die Straße hinweg einen Mann an, der mit dem Helm in der Hand neben seinem Motorrad stand und tankte.

Die Ladentüren gingen wieder auf, und der Kunde mit dem höflichen Lachen trat auf die Straße. Er wünschte Aslak Rød ein schönes Wochenende und schritt mit einer Tragetasche in jeder Hand auf seinen Wagen zu.

»Ebenfalls«, entgegnete der Kaufmann und klopfte die Asche an seiner Zigarette ab. »Schönen Gruß zu Hause.«

Er rauchte zu Ende, trat die Zigarette auf dem Boden aus und ging wieder hinein. Dort stellte er sich vor die Kasse, an der Glenn saß, und hörte die Tür des Milchkühlschranks knarren, als die am anderen Ende des Ladens geöffnet wurde.

»Die müsste mal geölt werden«, sagte Glenn, während er den Verschluss einer Limonadenflasche aufdrehte und seine vollen Lippen um das Mundstück legte.

»Und wieso ölst du sie dann nicht, Glenn?«

Statt zu antworten, nahm Glenn zwei Schluck. Der Tischventilator, den er neben sich aufgebaut hatte, lief auf vollen Touren, nutzte aber nicht viel. Glenns Stirn glänzte. Die ohnehin schon dunklen Flecken unter seinen Armen waren noch größer geworden und korrespondierten mit den feuchten Streifen rechts und links unterhalb seiner Brust. Es spielte keine Rolle, ob das Thermometer zwanzig Grad über oder zwanzig Grad unter null anzeigte. Glenn schwitzte.

»Gibt’s schon was Neues von der Ladenkette?«, fragte Glenn und schraubte die Flasche wieder zu.

Als der frühere Ladenbesitzer ins Rentenalter gekommen war und beschlossen hatte, das seit drei Generationen in der Familie befindliche Lebenswerk an eine Ladenkette zu verkaufen, hatte Aslak Rød nicht gedacht, dass sich allzu viel verändern würde. Doch er hatte sich geirrt. Das Management der Ladenkette hatte seine Fleischtheke abgeschafft. Das war der erste Schritt gewesen. Wo Aslak Rød seit Beginn seiner Lehrzeit im Jahr 1984 gestanden und erstklassige Fleischwaren zerteilt und feilgeboten hatte, standen drei neue Kühltruhen mit vakuumverpackten Produkten. Eigentlich hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich für einen Job an einer Fleischtheke unten in Halden zu bewerben, doch als er gefragt worden war, ob er die Stelle des Geschäftsführers von Aremarks neuem Lebensmittelgeschäft übernehmen wolle, hatte er dummerweise zugesagt. Jetzt war es zu spät. Wer würde schon einen Mann jenseits der fünfzig anstellen? Niemand. Allerdings war ihm vor vierzehn Tagen eine Idee gekommen, die er Glenn und Emily sogleich präsentiert hatte und die von beiden positiv aufgenommen worden war. Gleich am nächsten Tag hatte er dem Management der Ladenkette in Oslo eine E-Mail geschickt und den Wunsch geäußert, in seinem Laden wieder eine Fleischtheke zu installieren. Nicht so groß wie die ehemalige, denn dann würde er sie nicht allein bedienen können, und für mehr Angestellte reichten die Umsätze nicht. Aber eine kleine Theke in der Ecke, ein bescheidenes Plätzchen, wo er das tun könnte, wozu er am besten geeignet war: gutes, frisches Fleisch verarbeiten.

»Nein, ich habe aber gestern Morgen noch eine weitere Mail geschickt. Hab ein paar Zeichnungen hinzugefügt, die zeigen, wie ich mir das vorstelle. Nur um zu unterstreichen, dass ich es ernst meine.«

»Clever«, meinte Glenn. »Und was machst du, wenn die Nein sagen?«

»Mich erschießen.«

Glenn lachte, dass sein Wanst und seine Wangen nur so schwabbelten.

»Aber ernsthaft, was machst du dann?«

»Dann sagen sie eben Nein. Ich werde dann gar nichts machen, aber ich bin optimistisch. Ich hab nämlich auch die Zahlen aus den Jahren angehängt, als wir die Theke noch hatten, und hab darum gebeten, die mit dem letzten Jahresumsatz zu vergleichen. Und solange diese Idioten noch Plus und Minus beherrschen, werden sie sehen, dass mit Qualitätsfleisch und gutem Service noch immer Geld zu machen ist.«

Glenn griff wieder nach der Limonade, drehte den Verschluss ab und sagte: »Weißt du eigentlich, wie die Samen ihre verflossenen Liebhaber nennen?«

»Nein«, stöhnte Aslak Rød.

»Examen.«

Aslak Rød schüttelte resigniert den Kopf und lief weiter in den Laden hinein, während er Glenn hinter sich lachen hörte.

»Hab ihn jetzt übrigens bekommen«, rief Glenn ihm nach.

»Was denn?«, fragte Aslak Rød und ordnete einige Packungen in den Regalen.

»Den Podcast, für den ich interviewt wurde.«

Glenn hielt sein Handy hoch.

»Ich hab die Aufnahme als E-Mail bekommen und kann sie mir noch vor der Veröffentlichung am Montag anhören. Wusstest du, dass die jede Woche 150 000 Hörer haben?« Glenn zeigte auf sich selbst und grinste. »Und jetzt wird dieser Typ hier berühmt.«

Aslak Rød trat zurück an die Kasse.

»Lass mal hören.«

Glenn reichte ihm das Handy. Es war fettverschmiert.

»Hast du wieder Chips gegessen?«, fragte Aslak Rød.

»Ja. Drück einfach auf den Anhang.«

»Ich bin nicht ganz blöd, Glenn«, entgegnete Aslak und ging weiter.

»Willst du meine Ohrstöpsel leihen?«

»Nein.«

Im Pausenraum legte er das Handy auf den Tisch und drückte auf die Audiodatei. Er warf einen Blick auf die Wand, wo seine Messer hingen. Die hatte ihm sein Vater geschenkt, als er den Gesellenbrief erworben hatte. Jetzt waren sie das Einzige im ganzen Gebäude, das ihn daran erinnerte, was er eigentlich war.

»Sie hören den Krimipod«, verkündete eine Stimme hinter dem simplen Gitarrenakkord der Erkennungsmelodie.

Aslak Rød trat an den Kühlschrank und nahm einen Milchkarton heraus.

»Mir gegenüber sitzt ein glatt rasierter Mann mit ernstem Gesicht.« Die Stimme klang seriös und klar. »Seine Augen sind braun. Er hat grau meliertes Haar. Breite Schultern. Wenn man ihn ansieht, fällt es schwer sich vorzustellen, dass er ein Leben hinter sich hat, in dem Gewalt, Mord und andere ernsthafte Verbrechen ein ebenso natürlicher Teil des Alltags waren wie ein Leberwurstbrot für uns andere. Sie und ich, liebe Hörer, werden nun Bekanntschaft mit dem Mann schließen, der jahrelang das Flaggschiff der Kripo Oslo verkörperte. Mein Name ist Kristian Bolstad.«

Wieder ertönte der Gitarrenjingle. Aslak Rød trank direkt aus dem Milchkarton und rülpste dezent.

»Der ehemalige Hauptkommissar und Mordermittler Harald Uteng – danke, dass Sie meine Einladung endlich angenommen haben.«

»Ich habe zu danken«, entgegnete Harald Uteng.

»Ja, liebe Zuhörer, Ihnen kann ich’s ja erzählen: Ich habe schon früher versucht, Harald hierher zu bekommen. Nach vier Absagen gab ich auf, aber dann, vor zwei Monaten, rief er mich plötzlich an und fragte, ob ich noch interessiert sei. Darüber werden wir später noch sprechen. Aber erst zu Ihnen, Harald. siebenundvierzig Jahre bei der Polizei, vierzig davon als Mordermittler bei der Kripo in Oslo.«

»Tja«, sagte Harald Uteng. »Ich bin schon seit einigen Jahren offiziell kein Polizist mehr, obwohl ich dort noch lange Zeit gearbeitet habe.«

»Weil Sie aufhören mussten, als sie siebenundfünfzig wurden?«

»Es ist ja nun einmal so, dass man in einigen Berufen in Pension gehen kann, wenn man siebenundfünfzig wird, so auch bei der Polizei. Aber ich habe beim Einstellungsgremium um Verlängerung ersucht, und da ich die Anforderungen an den Job noch immer erfüllte, wurde dem Antrag stattgegeben. Als ich dann zweiundsechzig wurde, war per Gesetz eine weitere Verlängerung nicht mehr möglich.«

»Aber in Pension wollten sie auch nicht gehen?«

»Offen gestanden dachte ich, ich wäre dafür bereit. Ich war gerade mal zwanzig, als ich bei der Polizei anfing. Da war es nicht so wie heute. Seinerzeit reichten einigermaßen gute Zeugnisse, vom Militärdienst zum Beispiel, um aufgenommen zu werden. Ich habe kurze Zeit für die Schutzpolizei in Oslo gearbeitet, bevor ich mich bei der Mordkommission beworben habe – in der Abteilung, die wir alle heute als Kripo kennen.«

»Mit so viel Ermittlungserfahrung auf dem Buckel sollte man vielleicht meinen, dass Sie irgendwann mal genug hatten?«

»Ja. Aber als ich das Kripo-Gebäude zum letzten Mal verließ, kam ich mir wie ein kleiner Junge vor, den man zu Beginn der Sommerferien vergessen hatte, derweil die anderen unterwegs ins Ferienlager waren. Plötzlich war alles leer. Schluss. Aus und vorbei. Ich war schlichtweg total einsam. Das Einzige, was mir bevorstand, war ewigwährende Freizeit. Alles, was ich gekannt hatte, gab es nicht mehr.«

Aslak Rød nahm noch einen Schluck Milch, stellte den Karton zurück in den Kühlschrank und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Und dann wurden Sie Abteilungsleiter an der Polizeihochschule und haben unter anderem Polizeibeamte zu Mordermittlern ausgebildet. Da waren Sie bis vor gut sechs Monaten, als sie schließlich siebenundsechzig wurden. Musste man Sie hinaustragen?«

»Es war kurz davor«, erwiderte Harald Uteng kichernd. »Inzwischen sind ja ein paar Monate vergangen, aber ich finde es immer noch seltsam, morgens aufzustehen und dann nichts zu tun zu haben.«

Aslak Rød nahm das kleinste seiner fünf Schlachtermesser, setzte sich wieder und fuhr mit dem Daumen vorsichtig über die Messerschneide.

»Sie sagten, Sie seien einsam gewesen, als Sie aufhörten. Gab es keine Familie, die nur darauf wartete, mehr Zeit mit Ihnen zu verbringen?«

»Nein«, entgegnete Harald Uteng rasch. »Ich war mal verheiratet, aber … Als Mordermittler hat man theoretisch natürlich die gleichen Arbeitszeiten wie jeder andere – und trotzdem ist man ständig mit der Arbeit beschäftigt. Man hört nie auf zu grübeln. Man hört nie auf zu jagen. Wenn das Wochenende kommt, und man sitzt da mit seiner Frau und soll sich entspannen … ich habe das nie geschafft, solange ich einen laufenden Fall hatte. Das ist ein bisschen so wie in diesem Song … You can check out any time you like, but you can never leave.«

»The Eagles«, sagte Kristian Bolstad. »›Hotel California‹.«

»Ich konnte meine Frau gut verstehen. Ich wäre auch nicht gern mit mir verheiratet gewesen.«

»Sie haben über vier Jahrzehnte in mehreren hochkomplexen Mordfällen ermittelt, aber in all diesen Jahren haben Sie nur ein einziges Interview gegeben, wenn man das überhaupt so nennen kann. Wieso?«

»Tatsächlich war es so, dass ich gar keine Interviews geben durfte, in denen das, was ich sagen würde, nicht vorher abgesprochen war. Ich war immer ein wenig zu freimütig. Deshalb habe ich komplett darauf verzichtet und es den PR-Verantwortlichen bei der Kripo überlassen.«

Aus dem Handylautsprecher kam das Geräusch von knisterndem Papier.

»Ich habe hier eine Ausgabe der VG vom 5. Oktober 1989. Harald Uteng ist auf der Titelseite abgebildet und sagt – ich zitiere: ›Ich bin froh, dass man als Polizist nicht die Robe des Richters tragen muss.‹« Es entstand eine kurze Pause. »Sie nicken, Harald, aber was wollten Sie mit dieser Bemerkung eigentlich ausdrücken?«

»Ich habe im Laufe der Jahre an so vielen unterschiedlichen Fällen gearbeitet, und manchmal stellt man sich eben die Frage: Hat er oder sie das verdient?«

»Reden Sie jetzt von den Tätern?«, fragte Kristian Bolstad.

»Ja. Manchmal spielen eben auch andere Faktoren eine Rolle.«

»Können Sie ein Beispiel nennen?«

»Es ist ja kein Geheimnis, worauf sich dieses Zitat bezieht«, sagte Harald Uteng. »Ich habe 1989 zu dieser Aussage gestanden und werde das bis zu meinem Tode auch weiter tun.«

»Möchten Sie unseren Hörern verraten, worum es dabei ging?«

Aslak Rød sah sein Spiegelbild in dem polierten Messerstahl. Die Tür des Pausenraums wurde geöffnet. Glenn füllte beinahe den ganzen Türrahmen. Aslak drückte auf Pause.

»Wurde ich schon erwähnt?«, wollte Glenn wissen.

Aslak Rød holte tief Luft und stieß sie wieder aus.

»Nein.«

»Und? Ist er gut?«

Aslak Rød beugte sich vor und las vom Display ab.

»Ich habe vier Minuten und sechsundvierzig Sekunden gehört.«

»Ah, ja.«

»Aber du, Glenn …« Langsam richtete sich Aslak Røds Blick auf die Gestalt an der Tür. »Hast du jemanden ohne mein Wissen eingestellt?«

»Wovon redest du?«

»Hast du jemandem eine Stellung in diesem Geschäft verschafft, ohne mich zu informieren?«

»Hä?« Glenn lachte nervös. »Nein?«

»Anders ausgedrückt: Können sich die Kunden da draußen jetzt einfach an den Waren bedienen? Also, weil du da stehst … und nicht an der Kasse sitzt.«

»Ach so. Das meinst du.« Neues, nervöses Lachen. »Ich geh jetzt zurück.«

Glenn schloss die Tür hinter sich, und Aslak Rød hörte ihn davoneilen. Er drückte wieder auf Play.

»Ein Vater kam nach Hause und fand dort seine elfjährige Tochter vor, die vergewaltigt und misshandelt worden war«, fuhr Harald Uteng fort. »Sie lebte gerade noch, war bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen worden. Während sie auf den Rettungswagen warteten, fragte der Vater, wer ihr das angetan habe, woraufhin die Tochter ihm einen Namen nannte. Den Namen eines sechsundzwanzigjährigen Mannes, der in derselben Straße wohnte. Der Vater fuhr mit seiner Tochter im Rettungswagen mit. Im Krankenhaus war die Kleine nicht in der Verfassung, mit der Polizei zu reden, und der Vater sagte kein Wort. Er hatte bereits entschieden, was er tun würde. Noch am selben Abend ging er zu dem Haus, das etwa hundert Meter von seinem entfernt lag. Als der junge Mann die Tür öffnete, hielt ihm der Vater das Gewehr an den Hals. Sagte vermutlich keinen Ton. Drückte einfach nur ab. Da kann man sich jetzt fragen: Hat der Vater vierzehn Jahre Gefängnis verdient? Juristisch betrachtet: definitiv. Aber wenn man mal einen Augenblick vom rein Juristischen absieht? Verdiente der Mann, der das elfjährige Mädchen vergewaltigt und zusammengeschlagen hatte, zu sterben? Vielleicht. Denn was soll eine Gesellschaft mit solchen Menschen tun? Ich meine, dass es keine Möglichkeit für Rehabilitierung geben sollte, wenn man solch eine Tat begangen hat, und mit dieser Meinung habe ich auch nie hinter dem Berg gehalten. Denn: Dieser sechsundzwanzigjährige Mann hätte niemals Gelegenheit bekommen dürfen, das zu tun, was er getan hat. Er hätte schon längst im Gefängnis sitzen müssen.«

»Er war einige Jahre zuvor verdächtigt worden, ein dreizehnjähriges Mädchen in Trondheim ermordet zu haben, richtig?«

»Ja, aber er kam frei und zog an einen Ort, wo niemand wusste, wer er war. Zu jener Zeit war so etwas ja noch ohne Probleme machbar.«

»Sie haben nie daran gezweifelt, dass er das Mädchen in Trondheim umgebracht hat?«

»Nicht eine Sekunde. Aber ich konnte es nie beweisen. Hätte ich das gekonnt, wären der Gesellschaft drei tragische Ereignisse erspart geblieben. Die Elfjährige wäre nicht vergewaltigt worden, ihr Vater hätte wahrscheinlich niemanden ermordet, und der Täter wäre noch am Leben – auch wenn man ihn vermutlich zu einundzwanzig Jahren einschließlich Sicherungsverwahrung verurteilt hätte. Aber noch mal zurück zu meiner Aussage. Die wirft nämlich eine neue Frage auf: Was, wenn der Vater ein weiteres Mal die Beherrschung verloren hätte? Wer hätte dann darunter gelitten? Ich kann das nicht beantworten. Und deshalb bin ich froh, dass meine Aufgabe darin bestand, mich an Fakten und Beweise zu halten. In der Robe des Richters hätte ich ihn verurteilen müssen. Auch wenn er vielleicht nicht einen einzigen Tag im Gefängnis verdient hatte. Denn die Gesellschaft muss beschützt werden, Kristian. Selbst wenn dieser arme Vater tat, was wir uns alle in diesem Fall zu tun gewünscht hätten, steht die Gesellschaft an erster Stelle. Immer.«

»Verstehen Sie, warum Ihnen daraufhin von Ihren Vorgesetzten ein Maulkorb verpasst wurde?«

»Ja, natürlich. Es war eine Gedankenlosigkeit. Ich hätte das für mich behalten müssen.«

»Liebe Hörer«, sagte Kristian Bolstad. »Kommen wir jetzt zu dem Fall, der Harald dazu bewegt hat, Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich habe hier ein altes Pressefoto in Schwarz-Weiß liegen. Es wurde im Dezember 1991 vor einer Steinhütte im Wald von Aremark geschossen. Um die Hütte ist Absperrband gespannt. Harald trägt einen langen dunklen Mantel. Neben ihm steht ein jüngerer Kollege. Beide sehen ziemlich mitgenommen aus. Das war ein schlimmer Fall, nicht wahr, Harald?«

»Ja«, erwiderte Harald Uteng nach einer langen Radiosekunde. »Dieser Fall war … grauenhaft.«

Kapitel 2

Freitag, 7. September

Die unmöblierte Wohnung im Zentrum von Fredrikstad wirkte auf den ersten Blick nicht sonderlich groß. Und nachdem er den Großteil der achtundvierzig Quadratmeter in Augenschein genommen hatte, konnte Anton Brekke konstatieren, dass sie auch auf den zweiten Blick nicht geräumiger wirkte.

Er hatte sich ans Wohnzimmerfenster gestellt. Drei Etagen tiefer auf der Straße hing eine Gruppe Jugendlicher vor dem gegenüberliegenden Gebäude herum: Nelly’s Kebab House. Aus der Küche ertönte die Stimme des Maklers, der die Interessenten über die Wohnung und die Eigentumsverhältnisse im Haus aufklärte. Neben Anton selbst und Magnus Torp waren zwei junge Paare zur Besichtigung gekommen sowie ein älteres Paar mit erwachsenem Sohn, den der gut gekleidete Vater als »Junior« bezeichnete.

Die Jugendlichen unten betraten gerade den Kebabschuppen.

Die Oberflächen der Kücheneinrichtung erstrahlten in Hochglanz. Neu und modern. Helles Parkett und weiße Wände. Eines der jungen Paare bewunderte die integrierte Kaffeemaschine. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Junior unterhielt sich leise mit seinen Eltern.

»Tja, und dann die Lage«, sagte der Makler und breitete den Arm in weitem Bogen aus. »Zentraler als hier kann es kaum werden. Im Erdgeschoss liegt ein Lebensmittelgeschäft, das auch sonntags geöffnet ist.« Er blickte Magnus mit einem schiefen Lächeln an. »Kein Problem also, wenn man tags zuvor auf ’ner Party war.« Er stieß ein trockenes Lachen aus. »Und alles ist schnell erreichbar. Ein knapper Kilometer bis zum Bahnhof und etwa zweihundertfünfzig Meter zum Busterminal.«

Anton warf einen Blick in den Gang, um zu prüfen, ob er beim Hereinkommen vielleicht eine Tür übersehen hatte. Das war nicht der Fall. Daher fragte er: »Aber wo ist das Bad?«

»Das Bad, ja!« Der Makler trat einen Schritt vor und zeigte auf die offene Schlafzimmertür. »Da drinnen.«

»Im Schlafzimmer?«, Anton zog eine Augenbraue hoch. »Offene Küchenlösungen kennt man ja, aber offene Badlösungen? Könnte ja richtig interessant werden, eine Tour mit der MS Porzellan zu machen, wenn man Übernachtungsgäste hat.«

Magnus schloss die Augen und schüttelte sanft den Kopf, während Junior lachte. Anton ging ins Schlafzimmer, öffnete die Tür zum Bad und schaltete das Licht ein. Drinnen sah es aus wie in der übrigen Wohnung. Modern, mit bestmöglicher Raumnutzung.

»Du kannst wohl nicht anders, wie?«, murmelte Magnus.

»Was denn?«, fragte Anton, während er untersuchte, ob sich die Tür zur Duschkabine problemlos öffnen und schließen ließ.

»Eine Tour mit der MS Porzellan?«

»Zur Abwechslung hab ich’s mal hübsch verpackt. Aber mal was ganz anderes, wie wäre es mit: Danke, dass du mich an einem Freitagnachmittag zu einer Wohnungsbesichtigung begleitest, Anton. Das ist wirklich sehr nett von dir.«

»Als ob du was Besseres zu tun hättest«, meinte Magnus. »Aber danke, dass du mitgekommen bist. Und danke für all die guten und wichtigen Fragen, die ich zu stellen vergessen habe, an die du aber gedacht hast.«

»Nichts zu danken«, erwiderte Anton.

»Das war Ironie.«

»Und das habe ich begriffen.« Anton trat ans Schlafzimmerfenster. Der Ausblick war der gleiche wie aus dem Wohnzimmer. »Ich bräuchte morgen mal deine Hilfe.«

»Was ist morgen?«

»Hab ’nen Volvo entdeckt, der zu verkaufen ist. Steht oben in Sarpsborg. Du kennst dich mit Autos besser aus als ich.«

»Du hast also weder Ahnung von Wohnungen noch von Autos?«

»Touché. Kommst du mit?«

»Jaja, aber brauchst du wirklich ein Auto?«, fragte Magnus.

»Klar brauch ich ein Auto!«

»Ernsthaft? Überleg mal. Du kannst mit dem Zug nach Oslo und dann weiter mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Und falls du im Laufe des Arbeitstages einen Wagen brauchst, kannst du dir einfach einen aus der Garage holen. Und zu Hause hast du im Umkreis von ’nem halben Kilometer alles, was du brauchst. Gut für dich und die Umwelt.«

»Vielleicht sollte ich auch einfach aufhören, Fleisch zu essen, und fortan mein Leben mit Yoga und Sojamilch würzen?« Anton schüttelte den Kopf. »Du redest manchmal einen Stuss.«

Der Makler betrat das Zimmer. Junior führte die Schlange der Kaufinteressenten an. Anton ging zurück in das, was in einigen Tagen oder Wochen das möblierte Wohnzimmer von jemandem sein würde, einschließlich Küche, während Magnus mit den anderen im Schlafzimmer blieb. Unten auf der Straße wurde ein Scooter angelassen. Hinter dem Dach des Hauses, das unter anderem den Kebabschuppen beherbergte, konnte Anton die Glasfassade vom Fredrikstad Blad sehen. Ein paar Silhouetten bewegten sich hinter den großen Fenstern.

Er wollte gerade näher an die Küchenzeile herantreten, als die Champions-League-Version von »Zadok the Priest« aus seiner Innentasche drang. Er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, fischte das Handy heraus und nahm den Anruf an.

Nach fünfzig Sekunden hatte der Anrufer sein Anliegen vorgebracht.

»Torp!«, rief Anton, während er auf den Flur trat. »Wir müssen los.«

Magnus’ Kopf erschien in der Schlafzimmertür.

»Was’n los?«

»Mord.«

Kapitel 3

Freitag, 7. September

Der pensionierte Hauptkommissar stand im sechzehnten Stockwerk und blickte aus den Fenstern von Adrian Lockes Büro. Das Opernhaus lag wie ein Eisberg am Ufer. Die erleuchtete weiße Fassade des Ekeberg-Restaurants hob sich von dem grünen Hügel oberhalb des Mossevei ab. Die Wohnungen, die drüben in Sørenga gebaut worden waren, sahen aus wie unzählige, übereinander errichtete Kaninchenställe. Auf der anderen Seite des Boulevards am Barcode standen Baukräne, die sich am kommenden Montagmorgen wieder hin- und herbewegen würden.

»Was zu trinken, Herr Kommissar?«, fragte Adrian Locke vom anderen Ende des Raums, wo es eine Schrankbar gab.

Harald Uteng schüttelte den Kopf.

»Ach, kommen Sie schon«, sagte Adrian Locke. »Ich kann doch sehen, dass das heute nicht Ihr erster ist.« Er gab jeweils anderthalb Fingerbreit Whisky in zwei Gläser und stellte eines davon auf die andere Seite des Schreibtischs. Steifes Leder knirschte, als er sich hinsetzte. Harald Uteng nahm ihm gegenüber Platz. Adrian Locke trank, während er in die feuchten Augen des alten Polizisten blickte, deutete mit dem Kopf auf den Drink, hob sein eigenes Glas und sagte: »Prost!«

Harald Uteng griff nach dem Glas, ließ kurz die Hand kreisen und sah den brauen Inhalt am Rand hochschwappen, ehe er einen Schluck nahm.

»Wissen Sie noch, als wir letztes Mal so zusammensaßen, Adrian?«

»Ja.«

»Ist jetzt einige Jahre her.«

»Länger als ein halbes Leben«, entgegnete Adrian Locke.

»Ich bin in letzter Zeit ein paarmal in Aremark gewesen.«

Harald richtete den Blick auf das Modell eines F-16-Kampfflugzeugs, das auf einem Mahagonistativ die Ecke des Schreibtischs zierte. Er stellte das Glas auf seinem Oberschenkel ab und hielt es fest. Ein Handy klingelte. Adrian Locke zog das Telefon aus der Tasche, schielte auf das Display und stellte den Ton ab.

»Werden Sie nicht vermisst?«, fragte Harald Uteng.

»Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben« – Adrian Lockes Ton war sarkastisch –, »aber ich saß gerade in einer Besprechung, als Sie aufgetaucht sind. Also lassen Sie uns gleich zur Sache kommen, Hauptkommissar. Was tun Sie hier?«

Harald Uteng kippte den Drink in zwei Zügen in sich hinein und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen.

»Wie schon gesagt: Ich bin in letzter Zeit ein paarmal in Aremark gewesen.«

»Meinetwegen können Sie nach Aremark fahren, so oft Sie wollen, aber was hat das mit mir zu tun?«

»Vor ein paar Monaten rief mich Kristian Bolstad an. Kennen Sie ihn?«

Adrian Locke schüttelte den Kopf.

»Der macht so ein Radioprogramm im Internet. Sie wissen schon, diese Sendungen, die gerade so angesagt sind.«

Adrian Locke sah auf die Uhr und sagte: »Einen Podcast.«

»Ich habe nie ganz verstanden, was die Menschen an den Tragödien anderer so sehr fasziniert«, sagte Harald Uteng, »aber das liegt vielleicht daran, dass ich mich so viele Jahre intensiv damit beschäftigt habe. Deshalb habe ich seine Frage nach einem Gespräch höflich abgelehnt.« Er rutschte auf dem Stuhl hin und her, hob leicht eine Schulter und lehnte sich zurück. »Ich lebe auf einem Boot, habe aber nicht mal was fürs Angeln übrig. Pensioniert zu sein ist sicher schön, wenn man ein Hobby hat oder eine Familie. Aber ich habe nichts dergleichen. Es hat nicht lange gedauert, bis ich den halben Tag im Bett verbracht habe. Ich bin sogar einmal zu so einem Treffen für pensionierte Polizeibeamte gegangen. Da habe ich jemanden kennengelernt, der vor zwei Jahren aufgehört hat. Ein Kerl aus Bergen, der mit mir im selben Boot saß, wenngleich er nicht wie ich auf einem lebte. Er sagte, dass er sich die Zeit damit vertriebe, sich alte, aufgeklärte Fälle anzusehen, und empfahl mir, das Gleiche zu tun. Ich bin seinem Rat gefolgt, und der Mann hatte recht. Es war interessant. Ich bin herumgefahren und habe Zeugen besucht, die ich seit fünfzehn, zwanzig oder auch vierzig Jahren nicht gesehen hatte. Ich suchte nach Antworten, die ich damals bei den Ermittlungen nicht bekommen hatte. Ein paarmal bekam ich sie, ein paarmal auch nicht. Aber es war anregend und auch sehr bewegend. Besonders, wenn ich die Eltern von Söhnen oder Töchtern wiedersah, deren Ermordung ich damals untersucht hatte.« Er klopfte mit dem leeren Glas sachte auf seinen Schenkel. »Das war verdammt schwer. Weil das Leben für alle anderen weitergegangen ist. Sehen Sie nur sich selbst an.«

»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke.«

»Das glaube ich Ihnen, Adrian. Aber für eine Mutter oder einen Vater geht das Leben niemals einfach so weiter. Ein Bruder oder eine Schwester kommen schon damit zurecht. In der Regel tun sie das. Oft sogar sehr gut. Aber Eltern?« Harald Uteng schüttelte den Kopf. »Die können sich vielleicht wieder auf die Knie hochrappeln, aber sie kommen niemals wieder auf die Füße.«

»Sie haben das Schwein gekriegt, das ist trotz allem das Wichtigste.«

»Ja, ich habe das Schwein gekriegt. Aber habe ich auch alle Antworten bekommen, Adrian?«

Adrian Locke warf einen neuen, indiskreten Blick auf die Uhr.

»Das müssen Sie andere fragen, Kommissar. Jedenfalls kann ich Ihnen die Antwort nicht geben.«

»Ich habe sie nicht bekommen.«

Die beiden sahen einander an.

»Ja, wie gesagt«, fuhr Harald Uteng fort, »ich fing schnell an, mich zu langweilen, nachdem ich pensioniert worden war. Mitte Juli kam ich in meinem Unterlagenstapel zu dem Punkt, an dem ich Ihre Heimatgefilde aufsuchen wollte. Malins Mutter war nicht anders als jede andere Mutter, die so etwas erlebt hat. Sie war genauso wie damals, als ich Aremark verlassen hatte. Ein Wrack. Wir hatten ein langes und gutes Gespräch. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, habe ich den Wagen an der Tankstelle aufgetankt und in dem alten Lebensmittelladen eingekauft. Und … tja, was soll ich sagen? Der einzige Unterschied zu damals war, dass der Laden seinen Namen geändert hatte. Es war wie eine Zeitreise. Dieses Gefühl hatte ich bei keinem der anderen Besuche, die ich gemacht habe. Es war so intensiv, dass ich zu der alten Steinhütte rausfahren musste, um mich zu überzeugen, dass Malin nicht doch noch dort lag.«

Adrian Locke hob den Kopf und sah sein Gegenüber fragend an.

»Ja«, sagte Harald Uteng. »Das klingt vielleicht etwas seltsam. Ich wusste ja, dass sie nicht mehr da war. Aber mich überkam ein Drang, den Ort wiederzusehen. Oder vielleicht auch ein Zwang. Ich weiß nicht. Aber egal: Ich musste das ganze Wochenende an Malin denken. Am darauffolgenden Montag habe ich Kristian Bolstad angerufen. Der mit diesem …« Harald Uteng schnippte mit den Fingern. »Sie haben es vorhin gesagt. Dieses Internetradio.«

»Podcast«, murmelte Adrian Locke.

»Ja. Ich sagte ihm, wir könnten tief in einen über fünfundzwanzig Jahre alten Mordfall eintauchen und herausfinden, wie sich so ein Ereignis auf einen kleinen Ort mit knapp 1500 Einwohnern auswirkt – auch noch viele Jahre später. Und hier kommen Sie ins Spiel. Wir haben bereits die erste von drei Episoden eingesprochen – die erscheint am kommenden Montag. Episode zwei werden wir am Mittwoch produzieren, doch die dritte und letzte … Nun, ich hatte gehofft, dass Sie da mitmachen würden. Das würde dem Ganzen viel mehr Leben geben. Aus Bolstads Studio werden auch Videos gesendet. Direkt ins World Wide Web.«

»Warum um alles in der Welt möchten Sie mich dabeihaben?«

»Weil Sie damals mittendrin gestanden haben. Und Sie und ich könnten das ein für alle Mal in Ordnung bringen.«

»In Ordnung bringen?« Adrian Locke hob den Kopf. »Wir beide? Ich wüsste nicht, was ich mit Ihnen zu klären hätte.«

»Ach nein?« Harald lächelte. »Dann sind Sie dabei? Ich schätze auch, dass es den Aremarkern gefallen würde, etwas von Ihnen zu hören. Immerhin sind ja in all diesen Jahren große Dinge mit Ihnen passiert.«

Adrian schüttelte sanft den Kopf.

»Ich gebe keine Interviews.« Er hob einen Finger in die Luft und fügte hinzu: »Es sei denn, es geht um die Locke-Stiftung.«

»Warum nicht?«

»Weil ich dabei nichts zu gewinnen habe. Die Presse dreht einem doch nur das Wort im Mund herum. Und dann habe ich plötzlich etwas gesagt, woraus mir sechs Monate später dann womöglich ein Strick gedreht wird.«

»Aber ist nicht jede PR gute PR?«

»Da irren Sie sich. Jede PR ist schlechte PR.«

»Das soll ja auch gar kein richtiges Interview werden«, sagte Harald Uteng. »Mehr so etwas wie ein Gespräch zwischen alten Bekannten.«

»Nein, danke. Und man muss kein Ermittler sein, um den Zweck von so etwas zu erkennen.«

Es wurde leise an die Tür geklopft, die sich dann einen Spaltbreit öffnete. Sandra Locke schaute herein. Als sie den Besucher erblickte, zog sie die Tür weiter auf und trat über die Schwelle. Der alte Ermittler stellte das Glas auf den Schreibtisch, wischte ein paar unsichtbare Krümel von der Hose und erhob sich.

»Harald Uteng?«, sagte sie überrascht.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, während sie gleichzeitig die Hand ausstreckte und ihn begrüßte.

»Höchstpersönlich«, erwiderte er. »Wie geht es Ihnen?«

»Sehr gut.« Ihr Lächeln verwandelte sich in eine fragende Miene, während sie ihren Ehemann anblickte. »Aber was … Was gibt es denn?«

»Ich komme sofort«, sagte Adrian Locke. »Wir sind hier gleich fertig.«

Sandra Locke trat einen Schritt zurück und sagte: »Die Ministerin für Entwicklungshilfe muss gleich weiter.« Sie setzte wieder ein Lächeln auf und senkte die Stimme: »Schön, Sie wiederzutreffen.«

»Ebenso«, entgegnete Harald Uteng. Die Tür wurde geschlossen.

»Sie ist noch immer genauso schön.«

Adrian Locke überhörte das Kompliment.

»Und ich kann auch gleich für sie antworten. Falls Ihnen der Gedanke gekommen ist, Sandra da mit reinzuziehen: Kommt nicht infrage. Und falls es schwierig für Sie ist, darüber zu reden, ohne uns zu erwähnen, dann müssen Sie uns anders nennen.«

»Sie beide anonymisieren? Was damals geschehen ist, ist doch kein Geheimnis.«

»Nein, aber Sie verstehen doch wohl, dass wir unsere Namen nicht noch einmal mit diesem Fall in Verbindung bringen möchten. Wozu sollte das gut sein? Es spielt keine Rolle, dass das Ganze lange her ist. Und dabei denke ich zuallererst an Sandra. Es wäre ihr Zusammenbruch. Und darüber hinaus …«

Adrian sprach nicht weiter.

»Die Geschäfte?«, ergänzte Harald Uteng.

»Ja – so einfach kann man es auch sagen.«

»Aber das hat doch nichts zu bedeuten. Sie und Ihre Frau waren Zeugen.«

»Ja, immerhin haben Sie schließlich verstanden, dass ich nichts anderes als ein Zeuge war. Aber das spielt auch keine Rolle. Halten Sie meinen – und Sandras – Namen da raus.«

»Ich werde niemanden anonymisieren. Deshalb will ich ja, dass Sie dabei sind. Dann können Sie Ihre Version erzählen. Ich kann niemals vermitteln, wie das alles damals die Bevölkerung vor Ort geprägt hat. Das könnt nur ihr, die ihr alles hautnah miterlebt habt. Besonders Sie. Und wer weiß, vielleicht würde es Sandra ja sogar guttun.«

»Lassen Sie es mich ein für alle Mal klarstellen: Halten Sie unsere Namen da raus!«

»Nein.«

Adrian Locke legte die Fingerspitzen aneinander. Behutsam fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

»Ich habe schon seit vielen Jahren keine Angst mehr vor der Polizei, Herr Hauptkommissar. Ich bin nicht mehr der zwanzigjährige Bauernbursche aus Aremark, den Sie einschüchtern können, indem Sie Ihre Stimme erheben. Denn wie Sie es selbst eben gesagt haben: Das Leben geht weiter. Wenn Sie darüber nachdenken, und dabei müssen Sie das noch nicht mal sonderlich gründlich tun, werden Sie begreifen, dass es äußerst unklug wäre, meinem einzigen Wunsch nicht nachzukommen.«

»Das kann ich nicht tun.«

»Ich möchte sogar behaupten, dass Sie es mir schulden.«

»Ihnen schulden? Ich habe lediglich meine Arbeit getan.«

»Ihre Arbeit bestand darin, den Täter zu fassen – und nicht darin, jeden geschlechtsreifen Mann im Bezirk als potenziellen Mörder und Vergewaltiger abzustempeln.«

»Das habe ich auch nicht getan.«

»Aber so gut wie, verflucht«, fauchte Adrian Locke. »Wenn Sie meinen Wunsch nicht respektieren, kann ich Ihnen versichern, dass Sie sich in Zukunft nicht langweilen werden. Weil Sie dazu schlichtweg keine Zeit mehr haben. Und ich werde Sie nicht in Ruhe lassen, bis Sie all Ihr gespartes Geld für Anwaltsrechnungen aufgebraucht haben und das Boot, auf dem Sie wohnen, mir gehört.« Adrian Locke legte den Kopf schräg. »Und selbst dann werde ich Sie nicht in Frieden lassen.«

Harald Uteng blickte wortlos über den Schreibtisch.

»Also wirklich …«, fuhr Adrian Locke in milderem Ton fort. »Wozu? Warum wollen Sie jetzt alte Wunden aufreißen?«

»Es geht nicht darum, alte Wunden aufzureißen, sondern der Sache auf den Grund zu gehen.«

»Wovon reden Sie? Der richtige Mann wurde gefasst und in zwei Instanzen verurteilt.«

»Wie ich bereits sagte: Das heißt nicht unbedingt, dass man alle Antworten kennt.« Harald Uteng nahm das F-16-Modell vom Tisch, hielt es mit beiden Händen fest und betrachtete es von allen Seiten.

»Wussten Sie, dass die F-16 das erste Jagdflugzeug mit seitlich montiertem Steuerknüppel war?«

»Ja«, erwiderte Adrian Locke. »Das hat man gemacht, damit der Pilot den einen Arm ausruhen konnte und bessere Kontrolle hatte, wenn er bei seinen Manövern hohen G-Kräften ausgesetzt war.«

»Wenn Sie ins Studio kommen, können Sie selbst am Steuerknüppel sitzen und sich den G-Kräften entgegenstellen. Denn Ihr Name wird erwähnt werden, Adrian. Genauso sicher wie die Tatsache, dass alles, was aufsteigt« – Harald Uteng hielt das Flugzeugmodell seitlich am ausgestreckten Arm und ließ es an der Schreibtischkante landen, ehe er es vor Adrian hinstellte –, »irgendwann wieder auf den Boden zurückmuss.«

Kapitel 4

Freitag, 7. September

Harald Uteng starrte auf die Buchstaben, die auf seinem Notizblock ineinanderflossen. Seine Beine wirkten kraftlos. Er unterstrich das letzte Wort viermal und ließ das Notizbuch samt Kugelschreiber auf den Nachttisch fallen. Er hob das Ladekabel vom Boden auf, steckte es in sein Handy und schaltete das Gerät wieder ein.

Bevor er dazu kam, das Telefon wegzulegen, klingelte es. Harald Uteng spähte auf das Display und brauchte ein paar Sekunden, um die Buchstaben zusammenzusetzen, die ihm entgegenleuchteten.

»Ja«, meldete er sich.

»Sie leben also noch«, sagte Kristian Bolstad hörbar erleichtert. »Ich hab schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich versuche seit zwei oder drei Stunden, Sie zu erreichen.«

»Mein Akku war leer. Worum geht’s denn?«

»Da ist was, worüber wir reden müssen, Harald. Wenn es für Sie so wichtig ist, dass wir mit der letzten Episode live gehen, dann muss ich wissen, was passieren wird.«

»Kein Interesse.«

»Es muss aber sein. Ich dachte deshalb, dass wir uns diese Woche ein wenig früher als vereinbart treffen könnten, und Sie verschaffen mir etwas mehr Überblick.«

Harald Uteng legte eine Hand in den Nacken und massierte die Muskeln.

»Das war aber nicht die Absprache.«

»Das ist mir schon klar, und ich kann mich dafür nur entschuldigen. Aber das muss ja auch keine Veränderung bedeuten.«

»Wir können das Video auch lassen und gehen nur mit dem Ton live.«

»Das spielt keine Rolle. Ich bin aber der verantwortliche Redakteur und muss daher wissen, was gesendet wird. Wenn wir live gehen wollen, muss ich darüber im Bilde sein. Wie gesagt: Ich bin verantwortlich.«

»Jetzt tun Sie doch nicht so, als wären Sie der Chef von Aftenposten«, sagte Harald Uteng mit lauter Stimme. »Sie haben mir freie Hand versprochen!«

»Ich weiß«, entgegnete Kristian Bolstad versöhnlich. »Aber es gibt Sponsoren, auf die ich Rücksicht nehmen muss.«

»Ihre Sponsoren gehen mich ’nen Scheißdreck an!«

»Harald …«

»Nein, jetzt kommen Sie mir nicht mit Harald. Wissen Sie, wie meine Alt…« Harald Uteng holte Luft. »Wissen Sie, wie meine Alternative aussieht?«

»Nein …«

»Ich könnte den Revolver rauskramen, der hinten im Schrank liegt. Ich könnte ihn reinigen und von alten Pulverspuren befreien, bevor ich nach Aremark fahre und die Innenwände der Steinhütte mit meiner Hirnmasse bemale.«

»Sind Sie vielleicht im Laufe des Abends auf den Kopf gefallen?«

Harald Uteng schloss die Augen und rieb sich mit der Hand das Gesicht.

»Sind Sie zu Hause, oder …?«, fuhr Kristian Bolstad fort.

»Ja.«

»Möchten Sie, dass ich vorbeikomme?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Verdammt, natürlich bin ich sicher!«

»Hören Sie«, sagte Kristian Bolstad. »Ich will lediglich eine gewisse Kontrolle behalten. Ich brauche etwas mehr Klarheit über das, was kommt. Ich verspreche Ihnen, dass wir das trotzdem genauso gut und authentisch hinkriegen, wie Sie sich das vorgestellt haben. Ich garantiere Ihnen, dass ich nicht eingreife. Jedenfalls nicht, solange das, was Sie sagen wollen, keine heiklen Grenzen überschreitet.«

Harald Uteng gab keine Antwort. Er starrte nur auf seinen Notizblock.

»Harald …«, fuhr Kristian Bolstad fort. »Sie klingen erschöpft. Ich rufe Sie morgen wieder an, okay? Versuchen Sie, ein paar Stunden zu schlafen.«

»Kristian.«

»Ja?«

»Fahren Sie zur Hölle.«

Harald Uteng brach die Verbindung ab und warf das Handy aufs Bett. Er tastete sich an der Wand entlang und bewegte sich vorsichtig in den Salon. Ein gelber Lichtstrahl fiel auf Fußboden und Steuerrad, als er den Kühlschrank öffnete. Er nahm eine Dose Tuborg heraus. Das Metall klickte scharf, als er sie öffnete. Dann führte er sie an die Lippen und trank, ging zum Bug des Bootes und schaltete den CD-Spieler ein. Er regulierte die Lautstärke, dann trat er wieder in den Salon und trank im Stehen, während Johnny Cash »Don’t Take Your Guns to Town« anstimmte.

Nach vier Schluck Bier drückte er die Bierdose zusammen und warf sie in den leeren Mülleimer unter dem Spülbecken. Er setzte sich an den Tisch und starrte in die Dunkelheit. Das CD-Gerät wechselte die Tonspur und spielte »I’ve Always Been Crazy«. Mit den Fingern trommelte Harald Uteng den Takt auf die Tischplatte. Er zog den Vorhang so weit wie möglich zur Seite, spähte in die Nachbarschaft, die aus Segel- und Motorbooten verschiedener Größe bestand, und sang leise mit: I’ve always been crazy, but it’s kept me from going insane …

Seine Finger hörten auf zu trommeln, während er gleichzeitig The Highwaymen das Singen überließ.

Harald ahnte eine Bewegung bei einem der Bootshäuser in der Nähe. Er drückte sich enger ans Fenster, starrte hinaus. Nichts. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, versuchte den Alkoholrausch zu verscheuchen, der erst vor einer halben Stunde leicht abgeklungen war, jetzt aber wieder an Intensität zunahm. Abermals warf er einen Blick hinaus. Wer oder was auch immer dort gewesen sein mochte, war jetzt verschwunden.

Er ließ den Vorhang wieder los und sang: But I can say I never intentionally hurt anyone.

Harald Uteng zuckte zusammen. Aus schmalen Augen blickte er auf seine Armbanduhr. Viertel vor zwölf. Die Musik hatte aufgehört zu spielen, aber er war nicht deswegen wach geworden. Irgendwo auf dem Boot hatte es eine Bewegung gegeben. Und ein Geräusch. Zumindest eines von beidem. Er hielt den Atem an, konnte aber nur das Brummen des Kühlschranks hören.

Und Schritte. Behutsame Schritte. Als ob derjenige, der sie machte, nicht gehört werden wollte.

Harald richtete sich auf. Lauschte. Lächelte schwach in sich hinein und schüttelte den Kopf. Da waren keine Schritte. Da war überhaupt nichts. Er blickte noch einmal auf die Uhr, stand auf und trat an die Anrichte, griff nach der Zigarettenschachtel und klemmte sich eine Kippe in den Mundwinkel. Dann öffnete er die Salontür und ging hinaus aufs Deck. Es fiel leichter Nieselregen, dennoch erlaubte ihm die Wolkendecke über dem Oslofjord hier und da ein paar Sterne zu sehen.

Harald Uteng ging nach achtern, stützte sich mit einer Hand an der Reling ab und holte das Feuerzeug hervor, um sich die Zigarette anzuzünden.

Er stellte sich an den Relingdurchgang, schirmte die Zigarette mit der Hand gegen den leichten Wind ab und gab sich Feuer. Er füllte die Lunge und blies den Rauch wieder aus, während er auf das Wasser und die sanften Hügel blickte, die sich hinter dem nächtlichen Oslo erstreckten.

Plötzlich waren die Schritte wieder da.

Und jetzt waren es keine leichten, behutsamen Schritte.

Jetzt waren sie sehr zielbewusst.

Kapitel 5

Montag, 10. September

»Ich habe beschlossen, heute ein Gebot abzugeben«, sagte Magnus und nahm einen Bissen von seinem Leberwurstbrot mit sauren Gurken. »Der Makler meinte, die Wohnung sei sofort bezugsbereit. Wäre wirklich schön, endlich ein eigenes Zuhause zu haben.«

»Mmhm«, entgegnete Anton, während er einen Schluck Kaffee trank und seinem Spiegelbild im Fenster zunickte.

Er hatte sich ein paar Scheiben Schinken, Salami, eine Ladung Frühstücksspeck und einen Kanten Weißbrot genommen, vorläufig aber nur ein paar Streifen von dem Speck gegessen. Sie hatten sich zum dritten Mal im Thon Hotel Parken getroffen, saßen an einem der Fenstertische und frühstückten. Es war noch früh. So früh, dass das Frühstücksbuffet eigentlich erst in zwanzig Minuten bereitstand, aber niemand hatte etwas gesagt, als Anton und Magnus sich bedienten. Um sie herum war es leer, bis auf eine Kellnerin, die mit Brotkörben, Aufschnittplatten und einfachen warmen Gerichten zwischen Küche und Buffettisch hin- und herrannte. Auf der anderen Seite der menschenleeren Fußgängerzone leuchtete der Turm der Domkirche in der morgendlichen Dunkelheit auf.

»Was würdest du tun?«, fragte Magnus.

»Ich würde was in Oslo kaufen«, erwiderte Anton. »Ist halt praktischer, wo du schon da arbeitest.«

»Du ja auch, aber trotzdem wohnst du in Fredrikstad.«

»Tu das, was ich sage – und nicht das, was ich mache«, entgegnete Anton. »Wie oft hab ich das jetzt schon gesagt?«

»Öfter.« Magnus nahm noch einen Bissen und sagte schmatzend: »Aber die Wohnung war doch schön, die wir uns angesehen haben. Wenn ich die kaufe, kann ich’s mir sogar leisten, mein Auto zu behalten. Garagenplatz ist ja inklusive.«

»Mmhm.«

Antons Augen sahen aus wie die eines Baby-Kätzchens. Am Abend zuvor war es spät geworden. Sie waren erst kurz nach Mitternacht ins Hotel zurückgekehrt. Den ganzen Samstag und Sonntag hatten sie Zeugen vernommen.

»Glaubst du, es ist der Ehemann?«, fragte Magnus leise.

»Nein. Ich weiß, dass er es ist. Wir bleiben also an ihm dran, bis wir was finden. Ich denke, das wird dauern, deswegen solltest du deine Mutter bitten, die Wohnungsschlüssel für dich zu holen – sofern du die Bieterrunde gewinnen solltest.«

Anton rollte zwei Scheiben Schinken zusammen und schob sie sich in den Mund. Dann reckte er den Hals und spähte zum Buffettisch hinüber. Magnus stand auf und nahm seinen Teller.

»Guckst du bitte mal, ob da irgendwo Senf ist?«, fragte Anton. »Grober.«

Magnus nickte einer hübschen Kellnerin zu und näherte sich dem gut bestückten Buffettisch. Er füllte ein Glas mit Orangensaft und nahm sich dann noch etwas Graubrot, ein gekochtes Ei und geräucherten Lachs.

Anton hatte ihm den Rücken zugekehrt und beugte sich über den Tisch, während er in sein Handy sprach. Magnus konnte an seiner Körpersprache erkennen, dass etwas passiert war. Vielleicht gab es Neuigkeiten in ihrem Fall.

Magnus ging zum Tisch zurück und setzte sich, während er Anton fragend ansah.

»Morgen um zwölf an der Polizeihochschule? … Ich wäre ja gern gekommen … Nein, das möchte ich bezweifeln … Ob ich ein paar Worte sagen kann?« Anton seufzte. »Was heißt schon kennen? … Ja, von uns aus der Kripozentrale in Bryn, vielleicht … Nein, ich komme. Torp wird schon einen Tag allein klarkommen.« Er sah plötzlich hellwach aus, als ob er hoch konzentriert eine Pistole im Anschlag hätte und ein Ziel anvisierte. »Gut … dann sehen wir uns morgen.«

Anton blieb stehen und blickte so lange auf sein Handy, bis das Display schwarz wurde. Er fuhr mit den Vorderzähnen über seine Bartstoppeln am Kinn.

»Ist was passiert?«, fragte Magnus.

»Harald Uteng ist tot.«

Kapitel 6

Dienstag, 11. September

Vierzig Minuten, nachdem Professor Jens Lunder von der Polizeihochschule zur Gedenkstunde willkommen geheißen hatte, begaben sich Anton und der Leiter der taktischen Ermittlungsabteilung, Roar Skulstad, mit der Menschenmenge aus dem Auditorium nach draußen. Es handelte sich um ehemalige und aktive Studenten, alte Kollegen von Harald Uteng sowie Lehrer und Referenten. Die Menschen verteilten sich in den Gängen. Einige waren stehen geblieben und unterhielten sich. Skulstad wechselte ein paar Worte mit Jens Lunder und einigen anderen Rednern, ehe er sich wieder Anton anschloss.

»Wieso hast du nichts davon gesagt?«, fragte Skulstad, als die beiden weitergingen.

»Was denn gesagt?«

»Jens Lunder hat mir erzählt, er hätte dich gefragt, ob du nächsten Monat für die Studenten im dritten Jahrgang einen Vortrag über organisierte Kriminalität halten willst.«

»Ja, er wollte wissen, ob ich für ein Comeback bereit bin.«

Professor Jens Lunder war schon an der Polizeihochschule gewesen, als die noch gar keine Hochschule war. Anton hatte immer mit ihm zu tun gehabt, wenn er seine Vorträge hielt. Doch dann war Anton nach einer Razzia in einem illegalen Pokerclub vor vier Jahren in den Streifendienst strafversetzt worden. Der Vortrag, den er einmal im Jahr hielt, war aus dem Vorlesungsprogramm genommen worden – genauso wie er die Streifen an seiner Schulter verloren hatte.

»Wieso hast du Nein gesagt?«

»Weil ich keine Lust habe.«

»Anton.«

»Außerdem ist mein Vortrag nicht mehr auf dem letzten Stand.«

»Die Kriminalität in Norwegen hat sich seit deinem letzten Auftritt nicht radikal verändert.«

»Nein«, sagte Anton. »Aber es fühlt sich irgendwie nicht richtig an, das Gleiche wie vor fünf, sechs oder sieben Jahren zu erzählen.«

»Ich finde, du solltest noch mal darüber nachdenken«, sagte Skulstad. »Ist doch eigentlich was Gutes, die eigenen Erfahrungen an zukünftige Polizisten weiterzugeben.«

Anton setzte ein schiefes Grinsen auf und sagte:

»Ja, Skulstad, genau das ist meine große Leidenschaft …«

Schulter an Schulter betraten sie den Hof. Skulstads alter, aber gepflegter Jaguar glänzte im Licht der Herbstsonne, die ihren höchsten Stand erreicht hatte.

»Kaum zu glauben, dass er sein Leben tatsächlich im Wasser beendet hat«, sagte Anton. »Warum konnte er sich nicht eine Wohnung kaufen, wie alle normalen Menschen auch? Wieso musste er sich unbedingt diesen verfluchten Kahn aussuchen?«

»Das Gleiche ist mir auch schon durch den Kopf gegangen.«

»Und du weißt noch immer nicht mehr?«

»Ich habe kurz mit dem Kollegen aus dem Polizeidistrikt Øst gesprochen.« Skulstad steckte den Autoschlüssel ins Türschloss. Die vier Schlösser klickten, als er ihn herumdrehte. »Die haben eine Kippe an Deck gefunden. Vermutlich war er also draußen, um eine zu rauchen, und ist dann ausgerutscht oder hat das Gleichgewicht verloren. Freitagabend hat’s geregnet, an Deck war es also rutschig. Er hat sich hier …«, Skulstad deutete auf seine Schläfe, »… eine Verletzung zugezogen, die laut Rechtsmedizin daher rühren könnte, dass er mit dem Kopf auf die Kaikante oder gegen die Reling geknallt ist. Außerdem hatte er relativ viel Alkohol im Blut.« Skulstad ließ die Unterarme auf dem Autodach ruhen. »Jens Lunder hat mir erzählt, dass Harald ordentlich getrunken hat, dass er ein richtiger Säufer geworden sei, nachdem er hier aufgehört hatte. Wusstest du das?«

»Nein.«

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

Anton blies die Backen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen. Er überlegte.

»Muss zwei Jahre her sein. Ich war unten am Bootsverein in Bekkelaget und hab bei ihm vorbeigeschaut.«

»Ah, ja. Zuletzt hatte er einen Liegeplatz im Bootshafen Oksval.«

»Wo ist der?«, fragte Anton.

»Nesoddtangen«, erwiderte Skulstad und öffnete die Fahrertür. Er setzte sich in den Wagen. Anton nahm neben ihm Platz. »Du hast ihn also seit zwei Jahren nicht gesehen?«

»Nein«, sagte Anton mit einem schwachen Kopfschütteln. Er blickte zur Seite, ehe er Skulstad wieder ansah. »Er war schon ein spezieller Typ, stimmt’s?«

»Ein schlechtes Gewissen brauchst du jedenfalls nicht zu haben.«

»Du hast leicht reden«, entgegnete Anton. »Er rief mich im Sommer an. Hab ich das erzählt?«

»Nein. Was wollte er?«

»Er hat völlig unzusammenhängendes Zeug geredet. Dass alles nicht so ist, wie es aussieht, und so weiter. Wovon redest du, Harald?, hab ich ihn gefragt. Er meinte dann, er hätte Turid besser behandeln müssen. Dass sie neunzehn Jahre ihres Lebens an ihn verschwendet hätte. Ihre besten neunzehn Jahre.«

Skulstad starrte nachdenklich auf das Lenkrad.

»Weißt du, was das Schlimmste ist?«, fuhr Anton fort. »Das ist mir die letzten Nächte während unseres Falls da unten in Kristiansand ständig durch den Kopf gegangen.«

»Was denn?«

»Dass ich eine Scheißangst davor habe, so zu enden wie er. Sieh dir nur mein beschissenes Leben an. Ich bin neunundvierzig und besitze nicht mehr als eine Wohnung, die ich vielleicht abbezahlt habe, ehe ich mich in die Kiste lege.«

»Vergiss nicht deinen Jungen.«

»Das tue ich nicht. Aber das war genau das, was Harald klar geworden ist. Alex ist bald erwachsen, und wie spannend ist es dann noch, seinen alten Vater zu besuchen? Einen Vater, der es nicht mal geschafft hat, das Einzige zu tun, worum Alex’ Mutter ihn gebeten hat, sondern der alles vergeigt hat, weil er nur an sich selbst gedacht hat. Ich habe das nie jemandem erzählt, aber ich bin froh, dass Alex nicht bei mir wohnt. Nicht, weil ich keine Zeit mit ihm verbringen will, sondern weil er durch das Zusammenleben mit Elisabeth ein viel besserer Mensch geworden ist und es auch bleibt.«

»Bist du deprimiert?«

»Nein«, erwiderte Anton. »Wenn ich allerdings ein paar funktionierende Hirnzellen hätte, dann müsste ich es wohl sein. Weil mich die Sache mit Harald daran erinnert, dass plötzlich alles vorbei sein kann.« Er lehnte sich zurück. »Hast du vielleicht Lust, mich nach Gardermoen zu fahren? Ich muss zurück zu meinem Mordfall.«

Teil II

Einige Wochen später

Kapitel 7

Sonntag, 7. Oktober

Die weiße Boeing 737 hatte gerade ihre Flughöhe erreicht, als auch schon der Anflug auf Gardermoen, den Osloer Flughafen, eingeleitet wurde. In der Kabine war es ruhig. Anton konnte nur Zeitungsseiten hören, die umgeblättert wurden. Magnus blickte abwechselnd auf sein iPhone sowie auf die beiden Flugbegleiterinnen, die vor dem Cockpit standen und sich leise unterhielten. Anton saß in der zweiten Reihe am Fenster. Magnus hatte den Gangplatz gewählt. Der Sitz zwischen ihnen war frei. Anton schaute aus dem Fenster und konnte zwischen den Wolken unter sich die Hauptstadt erkennen. Tjuvholmen und Aker Brygge. Holmenkollen. Die Innenstadt. Er entdeckte Smestad, wo er die besten Jahre seines Lebens verbracht hatte, und er versuchte, den Garten auszumachen, wo Alexander seine ersten Schritte gemacht hatte, zog dann jedoch die Sonnenblende herunter, ehe er ihn erblickte. Er lehnte den Kopf an die Nackenstütze und schloss die Augen.

»Die Pressekonferenz läuft jetzt«, sagte Magnus.

Er hielt das Handy hoch, und sie steckten die Köpfe zusammen. Auf dem Bildschirm waren ein Mann und zwei Frauen zu sehen. Alle drei trugen Uniform und saßen an einem Tisch mit Mikrofonen und provisorischen Namensschildern aus gedruckten Blockbuchstaben auf einem A4-Blatt. Die Polizeichefin, eine Frau Anfang fünfzig, saß in der Mitte und wurde von der Kamera herangezoomt.

Der ganze Fall hatte Ende August begonnen. Ein Mann hatte seine Frau bei der örtlichen Polizeidienststelle als vermisst gemeldet, nachdem sie von einem Abend bei einer Freundin nicht zurückgekehrt war. Die Entfernung zum Haus der Freundin betrug achthundert Meter. Kein langer Spaziergang. Polizei, Rotes Kreuz und Freiwillige suchten nach ihr, ohne Erfolg. Neun Tage nach der Vermisstenmeldung hielt sich eine Gruppe von Kita-Kindern am Strand auf, um eine Flaschenpost ins Meer zu werfen. Die Kinder hatten einen zusammengeknoteten Müllsack gefunden, der wie ein Ball geformt war. Sieben Stunden nachdem die Kinder den Müllsack aufgerissen hatten, waren Magnus und Anton am Flughafen Kristiansand gelandet.

Das Video, das in der Pressekonferenz gezeigt wurde, füllte den ganzen Bildschirm aus. Fotokameras und blitzende Lichter.

»… stehen wir Ihnen nach diesem Briefing für Einzelinterviews zur Verfügung.« Die Polizeichefin trank einen Schluck Wasser. »In den letzten sechs Wochen hat der Polizeidistrikt Agder, mit Unterstützung der Kripo, intensive Untersuchungen im Hinblick auf den Mord an Mona Vale durchgeführt. Sie war von ihrem Ehemann am 29. August dieses Jahres als vermisst gemeldet worden. Aufgrund bestimmter Funde in der Wohnung der Verstorbenen hat die Polizei am Dienstagabend die Festnahme von Mona Vales Ehemann beschlossen.«

Ein neuer Blitzlichtregen folgte.

»Nach Vernehmungen durch Ermittler der Kripo am Donnerstag und Freitag gestand der Ehemann gestern Nachmittag, dass er Mona Vale in der Nacht zum 29. August getötet hat. Er ist mittlerweile offiziell des Mordes beschuldigt. Was zur Festnahme geführt hat, möchten wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht näher erörtern, dasselbe gilt für das Tatmotiv.« Die Polizeichefin blickte auf ihre Notizen. »Die weitere Ermittl…«

Anton winkte ab und ließ sich wieder zurücksinken. Magnus schaltete das Video aus, legte das Handy weg und fragte, ob Anton Lust hätte, ihm am Abend beim Möbelaufbau in der neuen Wohnung zu helfen.

»Ich kann leider nicht, Alex kommt. Aber wir könnten ja morgen mal bei dir vorbeikommen?«

»Kommt er heute? An ’nem Sonntag?«

»Die Herbstferien fangen morgen an«, sagte Anton mit geschlossenen Augen. »Ich hab mir die ganze nächste Woche freigenommen. Der Junge und ich haben uns seit einer Ewigkeit nicht gesehen.«

»Verstehe«, entgegnete Magnus. »Ich muss übrigens kurz nach Elverum.«

Anton öffnete die Augen.

»Jetzt gleich?«

»Ich will mir da einen Schreibtisch ansehen, den ich im Internet entdeckt habe.«

»Kurz nach Elverum ist aber nichts, was so einfach mal eben geht. Selbst von Gardermoen dauert das mindestens eine Stunde.« Anton stöhnte. »Dann nehme ich den Zug nach Hause.«

»Sicher?«

»Klar«, erwiderte Anton und schloss wieder die Augen.

Es war elf Minuten nach fünf, als der Zug aus Oslo mit einem metallischen Kreischen auf Gleis 1 des Fredrikstader Bahnhofs einlief.

Anton folgte dem Beispiel des Mitreisenden in Jeans und Blazer neben ihm: Er wartete, bis der Waggon sich fast geleert hatte, bevor er sich von seinem Sitz erhob. Dann setzte er die Sonnenbrille auf und folgte seinem Sitznachbarn durch den Mittelgang nach draußen, danach weiter über den Bahnsteig und zum Taxistand, wo sie getrennter Wege gingen. Mit der Reisetasche über der Schulter schlenderte Anton nach Hause. Auf den Gehsteigen lag haufenweise trockenes Laub. Vor dem Café Qvarteret am Ende der Jernbanegate saß eine Gruppe von Frauen in den Vierzigern, die laut lachten und an ihren Weingläsern nippten. Anton bog nach rechts ab und ging an dem alten, stillgelegten Krankenhaus vorbei, dessen zwei verlassene Hochhausblöcke in den Himmel ragten.

Er betrat den Eingangsbereich zum Ferjestedsvei 20, während gleichzeitig hinter ihm eine Autotür zugeknallt wurde. Ein umgestürzter Gartenstuhl lag neben einem Tisch. Er stellte ihn wieder auf und setzte den Weg zu seiner Wohnung fort. Hinter sich hörte er schnelle Schritte auf dem Kiesweg und warf einen Blick über die Schulter. Es war ein junger Mann mit knabenhaftem Gesicht. Höchstens fünfundzwanzig. Gut angezogen. Anton setzte den Fuß auf die unterste Treppenstufe.

»Brekke!«

Anton drehte sich um. Der junge Mann stand fast direkt hinter ihm.

»Ja?«

»Ich habe Ihnen eine E-Mail und mehrere SMS geschickt, aber keine Antwort bekommen. So langsam frage ich mich, ob ich die korrekten Kontaktdaten bekommen habe.«

»Wer sind Sie?«

»Kristian Bolstad.«

Irgendwo klingelte etwas bei Anton. Mehrmals, um genau zu sein. Die E-Mail war vor drei oder vier Wochen gekommen, und die beiden SMS hatten ihn letzte Woche im Abstand von zwei Tagen erreicht. Alle drei waren mit Kristian Bolstad, Journalist signiert gewesen. Die E-Mail war lang gewesen. So lang, dass Anton die ersten beiden Sätze gelesen und dann gleich zum Ende gescrollt hatte. Alle drei Kontaktversuche hatten Bolstads Wunsch ausgedrückt, Anton im Zusammenhang mit einer True-Crime-Sendung, die der Journalist über den Mord in Kristiansand plante, sprechen zu können.

»Ach ja«, sagte Anton, kramte seinen Schlüssel hervor und nahm die beiden letzten Stufen in Angriff. »Die Kontaktdaten stimmen.« Dann fiel ihm plötzlich ein, dass seine Adresse geheim war und es niemandem in der Zentrale der Kripo erlaubt war, Informationen über seinen Wohnort herauszugeben. »Woher wissen Sie, dass ich hier wohne?«

»Ich wollte Sie eigentlich schon Mitte August aufsuchen«, erwiderte Kristian Bolstad und trat einen Schritt vor. »Ich hab schon da draußen gestanden.« Er zeigte auf die Eingangspforte. »Aber Harald hat sich plötzlich anders entschieden.«

»Harald? Harald Uteng?«

»Ja.«

»Und wieso waren Sie beide hier?«

»Ich produziere einen regelmäßigen Podcast, in dem ich mich mit alten Kriminalfällen beschäftige. Nennt sich Krimipod. Harald und ich wollten eigentlich drei Spezialepisoden über den Aremark-Mord im Jahr 91 machen. Aber dann … tja, dann ist Harald gestorben, und ich musste das ganze Projekt einstellen.«

Offenkundig hatte Harald zum Ende seines Lebens viel getrunken, dachte Anton. Normalerweise wäre er jedem ausgewichen, der ihm eine Kamera oder ein Mikrofon vors Gesicht hielt. Auf so etwas hätte er sich niemals eingelassen, wenn er bei klarem Verstand gewesen wäre.

»Ich war ebenfalls in Kristiansand und habe die Ermittlungen verfolgt. Deshalb wollte ich gern mit Ihnen in Kontakt kommen. Ich hatte gehofft, dass wir da unten ein Gespräch führen könnten.«

»Aber daraus wurde nichts«, konstatierte Anton.

»Wäre es vielleicht möglich, jetzt …«

»Nein«, unterbrach Anton ihn. »Das ist nicht möglich.«

»Harald war ziemlich zufrieden mit der einen Episode, die wir einspielen konnten. Könnten Sie sich die nicht mal anhören? Ich schicke sie Ihnen gern zu. Ich möchte nämlich mit Ihnen was Ähnliches machen, auch wenn daraus dann kein Podcast wird. Ein bisschen darüber reden, wer Anton Brekke eigentlich ist. Sie sind ja mehr oder weniger der einzige landesweit bekannte Polizeibeamte, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Der nicht anfällig ist für Korruption. Aber natürlich sollte der Fokus auf dem Mord an Mona Vale liegen.«

Anton schüttelte den Kopf, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.

»Das Ganze würde auch erst dann publiziert werden, wenn ein Urteil gesprochen ist«, fuhr Kristian Bolstad fort. »Falls es das ist, woran Sie denken. Dass es noch zu früh ist, Unterhaltung aus dem Fall zu machen, meine ich.« Mit den Fingern zeichnete er Anführungszeichen in die Luft. »Allerdings muss man von Anfang an dabei sein, wenn das Ergebnis gut werden soll. Ich denke an sechs Episoden à dreißig bis vierzig Minuten. Wie ich der Pressekonferenz entnommen habe, waren Sie es, der ihn zu einem Geständnis gebracht hat. Unter anderem könnten wir natürlich gern darüber reden.«