Nachtjagd - Jan-Erik Fjell - E-Book
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Jan-Erik Fjell

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Beschreibung

Die sensationelle Krimientdeckung des Jahres von Norwegens Nr.1-Bestsellerautor Jan-Erik Fjell!

Am Ufer eines Sees in Norwegen wird die Leiche einer jungen Frau gefunden, ihr geschundener Körper ist mit Wunden übersät. Kriminalkommissar Anton Brekke von der Polizei Oslo läuft es bei dem Anblick eiskalt den Rücken herunter. Wenn sich sein Verdacht bestätigt, dann hat der flüchtige Serienmörder Stig Hellum sein grausames Werk wiederaufgenommen – und bereits sein nächstes Opfer im Visier. Für Brekke beginnt ein Kampf gegen die Zeit und gegen unvorstellbar Böses. Denn der Fall ist mit einem Mann verbunden, der in Texas in der Todeszelle sitzt und nun sein Schweigen über eine verhängnisvolle Nacht vor über zehn Jahren bricht …

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Seitenzahl: 597

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Buch

Am Ufer eines Sees in Norwegen wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Ihr nackter, geschundener Körper ist mit auffälligen Wunden übersät. Kriminalkommissar Anton Brekke von der Osloer Polizei beschleicht bei dem Anblick ein schrecklicher Verdacht. Offenbar hat der flüchtige Serienmörder Stig Hellum, der vor Jahren Jagd auf junge Frauen machte, sein grausames Werk wieder aufgenommen. Für Brekke beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen unvorstellbar Böses, dessen Wurzeln tiefer gehen, als er ahnt. Denn in Texas hat der Gefängnisinsasse Nathan Sudlow nur noch wenige Stunden zu leben. Elf Jahre zuvor wurde er für den brutalen Mord an vier Menschen zum Tode verurteilt, nun soll das Urteil vollstreckt werden. Bisher hat er eisern geschwiegen, doch nun vertraut er dem Gefängnispriester die Wahrheit an – und die verhängnisvollen Ereignisse auf seiner Reise in die norwegischen Fjorde …

Weitere Informationen zu Jan-Erik Fjell sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Jan-Erik Fjell

Nacht-jagd

Thriller

Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann

Die norwegische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Gjemsel« bei Capitana forlag, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung März 2023

Copyright © Jan-Erik Fjell, 2019 by Agreement with Grand Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: Yolande de Kort/Trevillion; Claire Walsh/Arcangel Images; Jukka Heinovirta/Arcangel Images; FinePic®, München

Redaktion: Julie Hübner

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30454-6V004

www.goldmann-verlag.de

Für Thea Emilie, vom glücklichsten Onkel der Welt

Teil I

Kapitel 1

Montag, 12. September

Anton gähnte. Er saß auf dem Sofa und sah die Wettervorhersage. Die Uhr in der Ecke des Fernsehbildschirms zeigte 07:06. Die Wetterkarte wurde von Werbung abgelöst.

»Alex!«, rief er, erhob sich vom Sofa und steuerte auf das Zimmer seines Sohnes zu. Er klopfte mit zwei Fingern an die Tür und öffnete sie, ohne eine Reaktion abzuwarten. Etwas blockierte nach wenigen Zentimetern. Eine schwere Tasche stand im Weg. Mit einiger Anstrengung schob er die Tür auf, betätigte den Lichtschalter und ging hinein. Alexander schlief. Ein Bein hing über die Bettkante. Anton tippte mit dem Fuß dagegen. Sein Sohn drehte sich um.

»Wenn du noch duschen willst, bevor wir fahren, musst du jetzt aufstehen.«

Alex nickte, ohne die Augen zu öffnen. Anton sah auf ihn hinunter. Das Einzige, was sich im Bett bewegte, war Alex’ Brustkorb. Anton riss ihm die Bettdecke weg.

»Die Uhr tickt.«

»Mhhm«, grunzte sein Sohn. »Ist noch heißes Wasser übrig?«

»Jede Menge.«

Anton ging zurück zum Sofa, während Alex ins Bad schlurfte.

Das Logo von God morgen, Norge erschien auf dem Bildschirm, ehe der Moderator und die Moderatorin hinter einem Tisch mit Blumen, Kaffeetassen und einem Buch auftauchten. Ganz rechts im Bild saß ein Gast allein auf dem Sofa. Der Kameraausschnitt wechselte. Die Moderatorin mit dem einstudierten Lächeln stand jetzt im Mittelpunkt.

»Unser Gast heute ist der Mann hinter der Website verbrecher.no. Außerdem ist er – als Einziger im ganzen Land – dicht an den Serienmörder Stig Hellum herangekommen. Und jetzt hat er sein Debüt als Autor. Herzlich willkommen, Hans Gulland.«

Die auf den Gast gerichtete Kamera übernahm wieder. Hans Gulland lächelte schüchtern. Er trug sein braunes Haar halblang und in der Mitte gescheitelt. Auf seiner Nase thronte eine modische Brille mit dickem Gestell.

»Vielen Dank. Und danke, dass ich kommen durfte. Ich möchte nur schnell hinzufügen, dass ich nicht allein hinter verbrecher.no stehe. Außer mir sind noch drei weitere Personen daran beteiligt.«

Die Moderatorin machte sich nicht die Mühe, auf seine Berichtigung einzugehen.

»Stig Hellum.« Sie blickte zu ihrem Kollegen hinüber. »Bei dem Namen läuft’s mir immer kalt den Rücken runter.« Der Kollege nickte. »Also, was treibt einen 24-Jährigen dazu, ein Buch über einen der schlimmsten Mörder unserer Zeit zu schreiben?«

»Ich, äh … ich war immer schon äußerst fasziniert von Menschen, die töten. Natürlich nicht von den Morden selbst, aber davon, was jemanden dazu bringt, diese Handlungen zu begehen. Und selbst wenn Stig nicht der einzige Serienmörder ist, den wir hier im Land hatten, ist er zweifellos der interessanteste.«

»In Ihrem Vorwort schreiben Sie, dass Sie einer der ganz wenigen sind, die Stig Hellum bereit war zu treffen. Dass er den Kontakt zu norwegischen und auch internationalen Journalisten verschmäht hat. Weshalb war er bereit, mit Ihnen zu sprechen?«

»Ich glaube, die Antwort ist, weil ich kein Journalist bin, sondern ein junger Mann, der äußerst fasziniert war von dem Fall Stig Hellum.«

»Sie schreiben auch, die Idee zu dem Buch sei Ihnen erst nach dem fünften Besuch gekommen.«

»Ja.«

»Was passierte bei diesem Besuch?«

»Sorry, aber ich muss Sie das einfach fragen«, unterbrach der Moderator das Gespräch. »Ich dachte nämlich, dass Sie ihn im Gefängnis besucht haben, um für Ihr Projekt zu recherchieren. Sie hatten also keine Buchpläne, als Sie ihm den ersten Besuch in der Haftanstalt Ila abgestattet haben?«

»Nein, ich war bloß neugierig auf ihn.«

»Ich glaube, ich wäre doch etwas beunruhigt, wenn mein Sohn derartige Interessen hätte.«

Aus dem Badezimmer kam ein lauter Schrei. Eine Reihe von Schimpfwörtern folgte. Der Schlüssel wurde herumgedreht, bevor sich die Badezimmertür öffnete.

»Du hast gesagt, es gäbe noch heißes Wasser!«, fauchte Alex.

Anton lachte.

»Ja, wirklich sehr witzig!«, rief sein Sohn und knallte die Tür wieder zu.

»Du musst dich beeilen«, sagte Anton mit Nachdruck. »Es ist viel Verkehr in Richtung Innenstadt, und um halb neun habe ich einen Arzttermin.«

»Den du hoffentlich verpasst!«

»Aber was ist passiert, Herr Gulland?«

Die Moderatorin hatte wieder übernommen.

»Eigentlich nichts Besonderes. Mir kam bloß die Idee, dass das Ganze auch für andere interessant sein könnte. Wir erinnern uns ja alle, wie die Medien versucht haben, Stig nach seiner Festnahme darzustellen. Da wurden viele Unwahrheiten verbreitet. Die Boulevardblätter haben alle so getan, als wäre er ein Vollidiot, was aber überhaupt nicht den Tatsachen entspricht. Er ist einer der intelligentesten Menschen, die mir je begegnet sind. Bei einem Intelligenztest, den die Gerichtspsychiater 2002 mit ihm gemacht haben, wurde ein IQ von 156 nachgewiesen. Aber darüber hat keiner geschrieben.«

»Am Ende Ihres Vorworts steht, dass Sie Freunde geworden seien. Gute Freunde. Viele, ich eingeschlossen, werden vermutlich denken, dass das etwas … nun ja … speziell ist. Wollen Sie sich dazu äußern?«

»Mir ist schon bewusst, dass das merkwürdig klingt, aber Stig und ich haben uns irgendwie gut verstanden. Wir hatten so ziemlich den gleichen Humor, was vermutlich dazu beigetragen hat, dass er mich öfter treffen wollte. Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, denn natürlich haben wir auch über das gesprochen, weswegen er verurteilt wurde. Er hat all das mit mir geteilt. Auch die Einzelheiten, die normalerweise nur hinter geschlossenen Türen zur Sprache kommen. Und trotz alledem habe ich Stig nach einer Weile als Freund betrachtet.«

Hans Gulland hob den Kopf.

»Haben Sie ihm erzählt, dass Sie ein Buch schreiben wollten?«

»Ja.«

»Und wie hat er darauf reagiert?«

»Er war begeistert, hatte aber einen Wunsch.«

»Nämlich?«, fragte die Moderatorin.

»Dass ich nichts schreiben sollte, was seine Mutter in ein schlechtes Licht rückt. Da gab’s so viele Klugscheißer, die sich während des Prozesses lang und breit über Stigs schreckliche Kindheit ausgelassen haben.« Hans Gulland verdrehte die Augen. »Aber er hatte überhaupt keine schreckliche Kindheit. Sein Vater war sicher nicht der Netteste, aber der war ja bloß in den ersten Jahren da. Wie Stig sich ausdrückte: Mutter hat ihr Bestes versucht und mehr als manch andere Mutter dafür getan, dass es ihrem Sprössling gutging.«

»Wissen Sie, wo sich Stig Hellum heute befindet?«

Es dauerte ein paar lange Fernsehsekunden, bis die Antwort kam.

»Wenn ich das wüsste, dann wäre das da«, Hans Gulland zeigte auf das Buch auf dem Tisch, »schon viel früher erschienen. Denn es war so gut wie fertig, als Stig getürmt ist. Aber da hatte ich das Gefühl, dass … ja, nennen wir es ruhig das letzte Kapitel … also, dass das fehlte. Aber nun, tja … er wurde ja nie wieder gesehen.«

Die Moderatorin nahm das Buch und hielt es in die Kamera. Der Name des Autors stand oben. Der Umschlag zeigte ein Foto, das von Stig Hellum bei einer Tatortbegehung aus einiger Entfernung geschossen worden war. Er war von vier uniformierten Polizisten umringt. Der Titel prangte weiß auf schwarzem Hintergrund.

»17«, sagte die Frau. »Nach der Werbung reden wir weiter über den Titel. Nur eins noch: Glauben Sie, dass Stig Hellum lebt?«

»Da bin ich mir sicher.«

»Glauben Sie, dass er wieder tötet?«

Hans Gulland nahm seine Brille ab und fing an, die Gläser mit dem Hemdzipfel zu putzen.

»Stig Hellum hört sicher nicht einfach so auf.«

Kapitel 2

2006Huntsville, Texas

Es war Viertel vor eins, als Pater Sullivan seinen Gehstock auf die letzte Stufe zum Verwaltungsgebäude des Gefängnisses Huntsville setzte. Er fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn und aktivierte seine Kraftreserven, ehe er weiterging.

Die Sekretärin des Gefängnisdirektors stand auf, als sie ihn kommen sah.

»Pater Sullivan. Willkommen. Der Direktor wird Sie gleich empfangen. Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«

»Danke, aber ich hatte heute schon zwei Tassen.«

»Etwas Tee vielleicht?«

»Nein, aber besten Dank«, erwiderte Pater Sullivan, bewegte sich mithilfe seines Stocks zu den Stühlen im Wartebereich an der Wand und setzte sich.

»Sagen Sie Bescheid, falls Sie Ihre Meinung ändern.«

Pater Sullivan saß kaum zwei Minuten, als die Tür zum Büro des Direktors geöffnet wurde. Der Gefängnisdirektor, ein kleiner rundlicher Mann, dessen Gürtelschnalle dem Umriss des Bundesstaats Texas nachempfunden war, kam aus seinem Büro.

»Pater Sullivan. Kommen Sie herein.«

Der Pater stützte sich auf seinen Stock und auf die Armlehne des Stuhls und mühte sich hoch. Er begrüßte den Direktor mit Handschlag und betrat das Büro. Dort lehnte er seinen Stock an den Stuhl und nahm vor dem Schreibtisch Platz, während die Tür hinter ihm geschlossen wurde.

An den Wänden hingen Diplome sowie Fotos von ein paar der mächtigsten Männer des Bundesstaats. Der ehemalige Gouverneur, der amtierende Gouverneur und der Mann mit den größten Ambitionen für die Nachfolge. Der Direktor posierte lächelnd neben jedem von ihnen.

»Zunächst einmal«, begann der Gefängnisdirektor und setzte sich, »vielen Dank, dass Sie so kurzfristig kommen konnten. Wir sind alle sehr in Sorge um Pater O’Keefe.«

»Ich habe mit dem Bischof gesprochen, bevor ich hierherkam«, sagte Pater Sullivan. »Pater O’Keefe geht es schon viel besser.«

»Schön zu hören.«

Von draußen drangen laute, rhythmische Rufe durch die geschlossenen Fenster. Der Direktor stand auf und sah hinaus. Er murmelte etwas und schüttelte den Kopf, ehe er die Jalousien gerade rückte und sich an den Fensterrahmen lehnte.

»Jedes Mal stellen die diese verfickte Straße auf den Kopf. Sorry für die Wortwahl, Pater, aber was soll man sagen? Ich werde dafür sorgen, dass dieser Abschaum entfernt ist, wenn Sie wieder fahren.«

»Wann kann ich Mr Sudlow treffen?«

»Was wissen Sie über ihn?«

»Ich weiß nicht mehr, als dass er wegen Mordes verurteilt wurde.«

»Vier Morde, Pater Sullivan. Einer davon so brutal, dass eine Geschworene ohnmächtig wurde, als der Gerichtsmediziner seine Aussage machte. Wussten Sie, dass er sich nach seiner Festnahme geweigert hat, mit der Polizei zu reden? Sogar während des Prozesses hat er kein einziges Wort gesagt. Nathan Sudlow war stumm wie ein Fisch. Hat nicht einmal seinen Namen genannt. Es dauerte fast zwei Wochen, bis die Polizei ihn nach seiner Festnahme 1994 eindeutig identifizieren konnte. Über die Army haben sie es schließlich herausgefunden – Mr Sudlow hatte gedient. Zu dieser Geschichte gehört außerdem, dass er in all diesen Jahren bloß ein einziges Mal Besuch bekam. Alle bekommen Besuch, Pater Sullivan, von Familie und Freunden. Und wenn sie so was nicht haben, dann immerhin von irgendeinem durchgeknallten Groupie, das auf diese Art von Irrsinn abfährt. Die Sorte hat sich natürlich auch für Mr Sudlow interessiert, aber das hat ihn ’nen Scheiß gekümmert.« Der Direktor öffnete die oberste Schreibtischschublade und zog eine Dokumentenmappe heraus. »Er wollte schlichtweg keinen Besuch. Laut meinem Kollegen drüben in Polunsky hat er sich seit der Urteilsverkündung 1995 geradezu beispielhaft verhalten und war sowohl bei den Insassen als auch beim Personal beliebt.« Der Direktor schob die Mappe über den Tisch. »Und genau das beunruhigt mich ein wenig. Es würde mich nicht wundern, wenn sich das ändert, sobald die Uhr auf vier zugeht. Während Ihrer Unterhaltung ist übrigens immer mindestens ein Beamter zur Stelle. Um Ihre Sicherheit brauchen Sie sich also keine Gedanken zu machen.«

»Ich mache so etwas nicht zum ersten Mal.«

»Ich möchte nur, dass Sie darauf vorbereitet sind, was Sie erwartet. Lassen Sie sich von seinen freundlichen Augen und seinem sympathischen Lächeln nicht täuschen, Pater Sullivan. Dieser Mann wurde wegen absolut teuflischer Handlungen verurteilt. Nehmen Sie sich etwas Zeit und lesen Sie sich durch, was ihn hierhergebracht hat. Werfen Sie wenigstens einen Blick drauf.«

Pater Sullivan fuhr sich durch das rötliche Haar, das seinen blanken Schädel umkränzte, und sagte: »Wenn Nathan Sudlow in elf Jahren nur einen Besucher empfangen hat, kann man davon ausgehen, dass er viel auf dem Herzen hat. Falls Sie nichts dagegen einzuwenden haben, würde ich ihn gern jetzt sofort sehen.«

Kapitel 3

Montag, 12. September

Roar Skulstad, der Leiter der taktischen Ermittlungsabteilung der Kripo, betrat den Besprechungsraum. Er schob die Tür hinter sich zu und trat zu dem Tisch, wo Magnus Torp mit vier weiteren Ermittlern saß. In einer Hand hielt er ein halb volles Tablett mit belegten Broten. In der anderen ein Blatt Papier.

Skulstad begrüßte die anderen mit einem »Hallo« und stellte das Tablett auf den Tisch.

»Bedient euch«. Er zeigte mit der Hand auf die Schnittchen. »Reste von der gestrigen Taufe meines Enkelkinds. Greift zu, sonst landet es im Müll.«

Magnus Torp wartete, bis die anderen sich bedient hatten, und nahm dann eine Scheibe mit Lachs und Rührei.

»Wir ihr seht, haben wir einen neuen Mann an Bord.« Skulstad sah über den Tisch. »Ihr habt euch sicher schon bekannt gemacht, aber das ist Magnus Torp, und er fängt heute bei uns an. War vorher bei … Aber das kannst du ja selbst erzählen, Torp. Woher du kommst und so weiter.«

Magnus Torp kaute schnell zu Ende, schluckte und legte das angebissene Brot auf den Tisch.

»Ja …« Er blickte seine neuen Kollegen nacheinander an. »Also, ich heiße Magnus Torp, bin dreißig Jahre alt und komme aus Fredrikstad. Oder eigentlich suche ich jetzt eine Wohnung hier in Oslo, wohne aber noch in Fredrikstad. Ich war die meiste Zeit bei der Streifenpolizei und bei der Fahndung, hatte aber auch schon mehrmals das Vergnügen, mit Anton Brekke zusammenzuarbeiten. Das erste Mal vor sieben Jahren. Ich kann also sagen, dass ich eine Menge von ihm gelernt habe.«

»Wenn Brekke jetzt hier wäre«, meldete sich einer der anderen zu Wort, »würde er vermutlich sagen, dass du alles von ihm gelernt hast.«

Die anderen am Tisch kicherten. Magnus Torp lief rot an und sagte: »Ich freue mich darauf, mit euch zu arbeiten.«

Er nahm einen Bissen von seinem Brot, um zu signalisieren, dass die kurze Präsentation beendet war. Der Abteilungsleiter blickte ihn weiter an. Anscheinend erwartete er mehr. Magnus Torp schluckte.

»Keine Kinder … und Single.« Er sog die Luft ein.

»In Ordnung«, meinte Skulstad. »Fühl dich jedenfalls willkommen.«

Skulstad räusperte sich und blickte auf den Papierbogen vor sich. Ein paar Minuten lang informierte er die anderen über laufende Ermittlungen. Einige griffen erneut nach den Schnittchen, während Magnus Torp zuhörte, was in Verbindung mit einem Ehegattenmord in Hamar, einer Brandstiftung mit beabsichtigter Todesfolge in Tokke und einem verdächtigen Todesfall im Larviker Drogenmilieu unternommen worden war.

»Und dann haben wir noch Hedda Back«, sagte Skulstad.

Magnus Torp hatte von dem Fall gehört. Der Name der 21-jährigen Hedda Back hatte am Abend zuvor die Schlagzeilen der Onlinezeitungen dominiert, nachdem sie am Sonntagmorgen nicht von der Arbeit nach Hause gekommen war. Alle hatten dasselbe Foto verwendet. Eine Porträtaufnahme, auf der sie ernst in die Kamera blickte. Klassisch schön. Schmales Gesicht. Langes dunkles Haar. Auf dem Foto trug sie einen Pony.

»Das ist leider nicht länger nur eine Vermisstensache«, fuhr Skulstad fort. »Sie wurde heute Morgen tot auf Gut Svinessaga am Goksjø aufgefunden.«

»Vestfold, oder?«, fragte einer der Ermittler.

»Ja. Gleich außerhalb von Sandefjord. Der Polizeidistrikt Süd-Ost hat uns zunächst um technische Unterstützung gebeten. Aber wir können davon ausgehen, dass die auch taktische Hilfe wollen, sobald sich die Kollegen da unten einen Überblick verschafft haben. Torp«, Skulstad blickte Magnus Torp an, »ich schätze, du kannst dich schon mal auf eine Tour nach Sandefjord vorbereiten, zusammen mit Anton.« Er sah auf die Uhr. »Wo steckt der überhaupt?«

»Was ist das Ergebnis der Blutuntersuchung von Donnerstag?«, fragte Anton.

»Enttäuschend«, erwiderte Dr. Hass, während er mit dem Stethoskop Antons Brustkasten abhorchte. »Nicht mal Chlamydien.« Er sah seinen Patienten an. »Wo Sie doch Junggeselle sind …«

»Wenn es auch nur die Spur von Chlamydien gäbe, dann wären Sie allerdings auch Zeuge eines medizinischen Wunders. Ich habe nämlich seit dem Frühling nicht mehr zwischen irgendwelchen Schenkeln gelegen.«

»Hatten Sie nicht jemanden kennengelernt? Eine Nachbarin oder so?«

»Mehr als etwas Wein und ein paar Nächte sind nie draus geworden. Sie ist im April weggezogen.«

»Und jetzt haben Sie nicht mal einen kleinen Flirt?«

»Zero.«

»Und ich dachte, die Frauen sind ganz scharf auf Sie.«

»War mal so. Zwei Monate in der Oberstufe. Jetzt weiß ich kaum noch, wie’s da unten aussieht. Na ja, zumindest erinnere ich mich daran, dass es da einen Schlitz gibt.«

Der Arzt grinste, zog mit den Füßen seinen Bürostuhl heran und setzte sich an den Schreibtisch. Er legte das Stethoskop weg und drückte ein paar Knöpfe auf der Tastatur.

»Ihre Entzündungswerte liegen bei 150, das ist nicht so gut.«

»Ich …« Anton räusperte sich. »Ich hab da unten im Sack auch leichte Schmerzen.«

»Im Magensack?«

Anton schüttelte den Kopf und schielte auf seinen Schritt hinunter.

»Oh«, sagte Dr. Hass. »Der Sack. Lassen Sie mal sehen.« Er rollte mit dem Stuhl auf Anton zu.

»So weh tut’s auch wieder nicht.«

»Hatten Sie diese Schmerzen auch schon, als Sie am Donnerstag hier waren?«

»Vielleicht war da alles etwas empfindlich und leicht geschwollen.«

»Ihr Sack war am Donnerstag geschwollen und empfindlich, und Sie haben bloß gesagt, Sie fühlten sich etwas schlapp?«

Anton schluckte und unterließ eine Antwort.

»Irgendeine Veränderung seit Donnerstag?«

»Ja. Es ist schlimmer geworden. Sogar viel schlimmer.«

»Und die Schmerzen sind konstant?«

»Mehr oder weniger, ja.«

»Haben Sie was gegen die Schmerzen genommen?«

»Nur Paracetamol gegen das Fieber.«

»Und das hat bei den Schmerzen nicht geholfen?«

»Eher wenig.«

»Lassen Sie mal sehen.«

Der Ton war entschieden. Dr. Hass schnippte mit den Fingern und deutete auf die Gürtelschnalle. Anton stand auf. Öffnete den Gürtel und knöpfte sich die Hose auf, während der Arzt einen Handschuh überstreifte. Anton zog die Hose herunter. Stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ die Boxershorts folgen. Er schloss die Augen und spürte, wie die latexbewehrten Finger vorsichtig seinen Hodensack untersuchten.

»Das tut etwas weh, oder?«

»Ja.«

»Wie läuft’s eigentlich zurzeit bei der Kripo?«

»Hass.«

»Ja?«

»Im Augenblick scheiße ich drauf, wie’s da oben geht.«

»Und der Junge? Alles in Ordnung?«

»Alex war am Wochenende bei mir.«

Der Arzt legte sich den Hodensack auf die Hand, hob ihn an und drückte vorsichtig am linken Hoden. Anton zuckte zusammen und verzog das Gesicht.

»Hm«, kam es von unten.

Anton blickte auf die einsetzende Glatze von Dr. Hass und fragte: »Ist es Krebs?«

Der Arzt rückte von ihm ab, während er gleichzeitig den Handschuh abstreifte und in den Mülleimer warf.

»Warum haben Sie das nicht schon am Donnerstag erwähnt?«

»Weil ich dachte, dass es vorüberginge.«

Anton zog sich wieder an. Setzte sich ganz vorn auf die Stuhlkante und rutschte vorsichtig nach hinten.

»Und der Gedanke, dass ein gereizter Hoden und ein schlechter Allgemeinzustand vielleicht zusammenhängen, ist Ihnen nicht gekommen?«

»Ich bin Polizist«, erwiderte Anton angesäuert. »Kein Arzt. Ist es Krebs?«

Dr. Hass blickte auf seinen Bildschirm und sagte: »Vermutlich möchten Sie, dass ich die Überweisung für das Krankenhaus in Kalnes ausstelle? Ist von Ihnen aus die kürzeste Entfernung.«

»Überweisung wofür …?«

»Akutchirurgie. Ich möchte, dass Sie eingehender untersucht werden, als ich das hier tun kann. Und dann lassen wir gleich einen Ultraschall machen.«

»Ultraschall? Also ist es Krebs?«

»Krebs steht ganz unten auf der Liste, aber …«

»Aber er steht drauf«, unterbrach Anton.

Dr. Hass blickte ihn beruhigend an und sagte: »Es ist doch gut, Bescheid zu wissen, wenn sich da nichts Schlimmes in Ihrem Sack befindet.« Er öffnete die Schublade und griff nach einer Schachtel, auf der ein rotes Warndreieck leuchtete. Er zog einen Blister heraus, knickte vier Pillen für Anton ab und reichte sie ihm. »Hier sind vier Paralgin forte. Jedenfalls brauchen Sie dann keine Schmerzen zu ertragen, falls die Wartezeit in der Abteilung länger wird.«

Kapitel 4

2006Huntsville, Texas

»Der Direktor hat mir erzählt, dass Sie noch niemals hier waren.«

Die pralle Nachmittagssonne ließ jede Pore und jeden Riss in der hohen Backsteinmauer hervortreten, die sich um die beiden Blocks zog, aus denen das Gefängnis bestand. Die heißen Strahlen grillten den nackten Schädel von Pater Sullivan, der versuchte, mit dem viel jüngeren Vollzugsbeamten Schritt zu halten. Auf den Wachtürmen hockten Scharfschützen und beobachteten eine Gruppe Insassen, die im Gefängnishof Basketball spielten.

»Das ist richtig«, entgegnete Pater Sullivan.

»Ist das Ihre erste Hinrichtung?«

»Nein, ich war schon bei einigen. Als ich noch jünger war.«

»Lassen Sie mich wissen, wenn Sie nach der Hinrichtung noch eine kleine Führung möchten.«

Sie kamen zu der ersten von vier Schleusen. Der Beamte schloss auf, öffnete dem Pater die Tür und machte sie hinter ihm wieder zu.

»Eine Führung?«

»Wir haben hier unser eigenes Museum. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen den alten ›Blitzer‹ zeigen.«

Pater Sullivan gab keine Antwort.

»Den elektrischen Stu…«

»Ich weiß, was das ist«, unterbrach Pater Sullivan. »Danke, aber lieber nicht.«

Die Prozedur wiederholte sich an den nächsten drei Schleusen, ehe sie zu einer schlichten Stahltür kamen. Eine Elster kam angeflattert und ließ sich auf dem Boden vor ihnen nieder. Sie starrte den Pater an und gäckte, ehe sie sich wieder erhob und zur Mauer aufflog. Der Vollzugsbeamte nahm den passenden Schlüssel, drehte ihn im Schloss herum und zog die schwere Tür auf.

Die Mauerwände dahinter waren alt und abgenutzt. Es roch nach stickiger Luft und Reinigungsmitteln.

Die Tür knallte hinter ihnen zu. »Willkommen im Todestrakt.« Der Beamte ging an ihm vorbei und zeigte auf eine türkisfarbene Tür auf der linken Seite des Gangs. »Es findet da drinnen statt.«

Rechts lag ein weiterer Gang mit vergitterten Zellen auf der einen Seite. An der Wand gegenüber saß ein Beamter mit gekreuzten Beinen und gesenktem Kopf an einem Tisch.

»Baxter«, bellte der Beamte, der den Pater begleitete. »Bist du wieder auf deinem Posten eingeschlafen?«

»Ich ruhe mich nur aus«, erwiderte Baxter, ohne die Augen zu öffnen. »Von der Luft hier drinnen wird man ja ganz dösig. Außerdem war ich gestern aus. Jameson hat gewettet, dass ich ihn nicht unter den Tisch trinken könnte.«

»Sieht so aus, als hättest du gewonnen.«

»Hab ich.«

Pater Sullivan blieb stehen, starrte auf die leeren Zellen und fragte: »Wo sind denn die Gefangenen?«

»Dieser Teil des Gefängnisses wird ausschließlich für die letzten Stunden eines zum Tode Verurteilten verwendet. Nathan Sudlow ist gestern Nachmittag aus Polunsky gekommen. Um drei Uhr wird er von der Zelle da hinten hier herübergebracht«, der Beamte zeigte auf die Zelle neben der türkisfarbenen Tür, »wo er seine letzte Stunde verbringt, ehe er in die Kammer geführt wird und die Spritze bekommt.«

Der Vollzugsbeamte trat neben seinen schläfrigen Kollegen und winkte den Pater weiter den Gang hinunter. Vor der hintersten Zelle stand ein Klappstuhl. Pater Sullivan stellte sich daneben. Nathan Sudlow lag auf dem gemachten Feldbett, das mit Bolzen am Boden befestigt war.

»Mr Sudlow, ich bin Pater Tom Sullivan und werde eine Weile hier bei Ihnen bleiben.«

Der Gefangene setzte sich auf, nahm die Füße vom Bett, pflanzte sie auf den Boden und erhob sich. Nathan Sudlow schien irgendwo in den Fünfzigern zu sein und hatte einen athletischen Körper und zwei schlanke Arme mit Adern, die an einen U-Bahn-Plan erinnerten. Sein Haar war grau. Ein kurzer, gepflegter Bart in der gleichen Farbe bedeckte den Großteil seines Gesichts. Er trug eine Jeans und ein weißes Unterhemd mit der Gefangenennummer auf der linken Brustseite.

»Ist das okay für Sie, wenn ich mich setze?«, fragte Pater Sullivan.

»Ich möchte weder Ihre Zeit noch Ihre Kräfte vergeuden.« Nathan Sudlow trat einen Schritt vor. »Denn ich werde nicht das tun, weswegen Sie gekommen sind, Pater.«

»Weswegen bin ich denn gekommen?«

»Um mich dazu zu bringen, meine Sünden zu bereuen und eine Versöhnung zwischen Gott und mir zu erflehen.«

»Das ist ganz richtig, Mr Sudlow.«

»Ich habe schon vor vielen Jahren aufgehört, an Gott zu glauben.«

»Aber Gott hat niemals aufgehört, an Sie zu glauben.«

Nathan Sudlows Atem ging ruhig. Entspannte Haltung. Die Augen wirkten wie dichter Dschungel. Grün und undurchdringlich.

»Seien Sie versichert, Pater … Sie waren noch ein junger Mann, als Gott seinen Glauben an mich verlor.«

Der Pater hielt sich am Gitter fest und setzte sich auf den Klappstuhl.

»Sie verschwenden Ihre Zeit«, fuhr Nathan Sudlow fort und kehrte an die Bettkante zurück.

»Wenn Sie mich hier nicht haben möchten, müssen Sie es sagen. Dann gehe ich und komme um kurz vor vier wieder zurück. Aber, Mr Sudlow … Sie haben noch zweieinhalb Stunden zu leben. Vielleicht verspüren Sie ja das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. In dem Fall wäre ich gern für Sie da. Falls Sie mich also nicht fortjagen, bleibe ich hier sitzen.«

»In Schweigen gehüllt?«

»Das liegt ganz an Ihnen.«

Kapitel 5

Montag, 12. September

Die Sonne hatte die dicke Wolkenschicht nicht durchdringen können. Ein gleichmäßiger Regen ergoss sich auf den Osloer Stadtteil Bryn und den Rest der Stadt. Die Autos, die vier Etagen tiefer über den Autobahnring 3 sausten, wirbelten eine Gischt aus Schmutzwasser auf.

Nach der Morgenbesprechung hatte Magnus Torp den halben Vormittag damit zugebracht, Kollegen zu begrüßen und sich mit seinem neuen Arbeitsplatz in der Brynsallé 6 vertraut zu machen. Jetzt stand er vor der Tür mit dem Schild: ANTONBREKKE – HAUPTKOMMISSAR.

Magnus klopfte an. Von innen erklang ein gedämpftes Ja. Er öffnete die Tür. Anton lag mehr oder weniger auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch. Mit stumpfem Blick sah er Magnus an und nickte ihm dösig zu.

»Erster Tag im neuen Job und so«, sagte er. »Gratuliere übrigens.«

»Was ist los mit dir?«, fragte Magnus. »Du bist ja total bleich.«

»Vermutlich hab ich mir ’ne Grippe zugezogen. Ich hab Schmerzpillen genommen, die fangen langsam an zu wirken.«

Anton richtete sich auf. Magnus bewegte sich zwei Schritte in den Raum hinein.

»Was geht ab?« Anton legte den Kopf schräg und musterte seinen zwanzig Jahre jüngeren Kollegen. »Abgesehen davon, dass du versuchst, der bestangezogene Polizist des Jahres zu werden?«

»Weil ich einen Anzug trage? Ist es das, was du meinst?«

»Genau das meine ich. Was für eine Marke ist das?«

»Wieso tust du jetzt so, als hättest du Ahnung von Modemarken?«

»Hier ist was für dich«, erklang eine Stimme von der Tür her.

Es war Skulstad. Er kam herein und legte eine dünne Dokumentenmappe auf den Schreibtisch. Anton öffnete sie. Obenauf lagen verschiedene Fotos. Darauf zu sehen waren ein altes längliches Holzgebäude an einem Kiesweg, der zu einem See hin abfiel, und ein übervoller Mülleimer dicht neben einem kleinen Kiosk. An die Stelle, wo der Kies aufhörte und in Gras überging, waren große Steine gesetzt worden, um zu verhindern, dass Autos bis an den See hinunterfuhren. Die Tote war mit einem Laken zugedeckt und lag im Gras gleich unten am Seeufer.

»Was ist das für ein Ort?«

»Ursprünglich ein Sägewerk«, sagte Skulstad. »Dient heute als Freizeiteinrichtung.«

Anton blickte auf das nächste Bild. Eine nackte Fußsohle, die halb unter dem Laken hervorlugte. Etwas entfernt von der Toten standen ein paar Banktische im Gras. Eine alte Säge war auf einen riesigen Stein montiert. Drei weißgekleidete Kriminaltechniker lagen auf allen vieren und durchkämmten jeden Quadratzentimeter neben der Leiche. Ein Vierter saß etwas entfernt in der Hocke.

Das dritte und letzte Bild war in die entgegengesetzte Richtung geschossen worden. Ein Streifenwagen stand an der Einfahrt zur Hauptstraße. Zwei Beamte hielten Wache an einem Absperrband, das zwischen dem Wagen und einem Laternenmast befestigt war.

Anton legte die Bilder zur Seite und blickte auf den darunterliegenden Papierbogen.

»Da steht ja nicht gerade viel.«

Hedda Backs Personalien, der Name des Ehemannes und ein paar Zeilen, aus denen hervorging, dass sie am Tag zuvor als vermisst gemeldet worden war. Ganz unten stand: Die Verstorbene wurde ins rechtsmedizinische Institut überführt. Der Polizeidistrikt Süd-Ost bittet die Kripo um taktische Unterstützung.

Kapitel 6

2006Huntsville, Texas

Fast eine Viertelstunde hatten Nathan Sudlow und Pater Sullivan schweigend dagesessen, hatten nur einander sowie den Beton angeblickt, von dem sie umgeben waren. Nathan Sudlow machte ein paar ungeduldige Schritte durch die Zelle. Die alten Stahlfedern quietschten, als er sich wieder auf die Bettkante setzte. Er lehnte sich zurück und stützte sich auf die Ellbogen.

»Wollen Sie gar nichts sagen, Pater?«

»Haben Sie immer noch nichts auf dem Herzen?«

»Nein. Worüber wollen wir also reden? Woraus meine letzte Mahlzeit bestand?«

»Tja … wenn Sie das möchten, können wir ja damit beginnen. Was haben Sie ausgewählt?«

Der Pater sah Nathan abwartend an. Der zum Tode Verurteilte schnaubte und sagte dann nach einer Weile: »Entrecote, Ofenkartoffeln mit Knoblauchbutter und Mais.«

»Klingt nach einer guten Wahl. Hat es geschmeckt?«

»Eigentlich nicht.«

»Und das Dessert?«

»Zwei Kugeln Vanilleeis mit einem bescheidenen Löffel Schokoladensoße.«

»Vanilleeis?«

»Was ist falsch daran?«

Der Pater hob eine Augenbraue.

»Sie haben Vanilleeis gewählt?«

»Ja?«

»Von all den herrlichen Eissorten auf der Welt haben Sie die langweiligste ausgewählt? Warum nicht Schokolade oder Erdbeere? Von Pistazie ganz zu schweigen. Ich versuche ja, allen Menschen ganz offen und ohne Vorurteile zu begegnen, aber jetzt bringen Sie mich in Schwierigkeiten. Vanilleeis …« Der Pater kicherte. »Sie hätten sich wirklich nichts Langweiligeres aussuchen können, wo Sie schon mal die Möglichkeit hatten.«

»Ich hätte Sorbet wählen können.«

»Allerdings, Mr Sudlow.«

Der Pater lachte. Nathan zog den einen Mundwinkel leicht hoch und sagte: »Nate.«

»Wie?«

»Nate. Nicht Mr Sudlow.«

»Okay, Nate … Was ist so völlig schiefgelaufen, dass Sie an diesem gottverlassenen Ort gelandet sind?«

»Sind Sie nicht berufsmäßig zu dem Glauben verpflichtet, dass Gott überall ist?«

»Doch. Aber ich bin auch ein Mensch, und ich könnte durchaus verstehen, wenn Gott sein Angesicht hier drinnen verbirgt.«

»Drüben in Polunsky hat er sich auch nicht gerade in den Mittelpunkt geschoben.« Nathan stand wieder auf. »Kann ich Sie was fragen, Pater?«

»Was immer Sie wollen.«

»Wie oft haben Sie es erlebt, dass ER in letzter Minute eingegriffen hat?«

Pater Sullivan sah ihn fragend an.

»Ich rede vom Telefon«, fuhr Nathan fort. »Das drinnen im Kontrollraum an der Wand hängt und direkt mit dem Büro des Gouverneurs verbunden ist. Wie oft haben Sie erlebt, dass es klingelte?«

»So was wie hier mache ich üblicherweise nicht, Nate.«

»Wie oft?«

»Zum letzten Mal habe ich 1975 an einer Hinrichtung teilgenommen.«

»Pater. Wie oft?«

»Kein Mal. Ist es das, woran Sie denken? Ob das Telefon klingeln wird oder nicht?«

»Erst seit heute. Und jetzt schaffe ich es nicht, mich zu entscheiden, ob es klingeln soll oder nicht.«

»Gibt es etwas, was Sie bereuen, Nate? Haben Sie sich wirklich mit allem versöhnt?«

»Mir wurde von dem einzigen Menschen vergeben, von dem ich Vergebung wirklich brauchte.«

»Wer war das?«

»Jemand, den ich vor vielen Jahren einmal im Stich gelassen habe …«

Kapitel 7

Dezember 1989New York City, New York

Die Digitaluhr am Videogerät unter dem Fernseher zeigte 05:44.

Nathan Sudlow stand im dunklen Wohnzimmer. Weiße Flocken fielen im Schein der Straßenlaternen und hatten im Garten bereits eine zwei Zentimeter dicke Schicht gebildet. Jungfräulicher Neuschnee lag auch auf der Straße. Zwei der Nachbarhäuser auf der anderen Straßenseite waren mit bunten Lichtern geschmückt. Unten an der Straße blinkte ein Rentier auf einem Hausdach in Blau, Rot und Grün. Nathan ging in den Flur und nahm sich eine Jacke aus dem Schrank.

»Papa …«

Ein rundes verschlafenes Gesicht mit blonden Haaren sah zu ihm auf. Seine Tochter drückte sich ihren Lieblingsbären an die Brust.

»Hallo, Mäuschen«, flüsterte Nathan und hockte sich neben sie.

»Was habe ich zu dem Thema ›sich an Papa heranschleichen‹ gesagt, hm?«

»Ich hab’s vergessen.«

»Warum schläfst du nicht?« Er legte ihr eine Hand auf die Wange, streichelte sie mit dem Daumen. »Geht’s dir nicht gut?«

»Ich hatte einen Albtraum, und dann habe ich unten jemanden reden gehört.«

»Das war nur ich. Ich hab mir ein Taxi gerufen. Was war das für ein Albtraum?«

»Ich war ganz allein.«

»Ganz allein? Wo denn?«

»Auf der ganzen Welt. Und dann kam ein Wolf.«

»Aber dann warst du ja nicht allein.«

»Der Wolf wollte mich fressen.« Sie warf einen Blick auf die Tasche neben der Haustür. »Wohin fährst du?«

»Ich muss früh zur Arbeit.«

»Aber du hast gepackt. Kommst du heute Abend nicht nach Hause?«

»Ich glaube schon, aber sicherheitshalber hab ich was Frisches zum Anziehen eingepackt. Man weiß nie, wie das mit solchen Besprechungen läuft, weißt du? Wir können uns nicht immer so schnell einigen.«

»Fährst du weit weg?«

»Nein, aber es kann spät werden … Und … Wir … Hör zu, Lisa. Ich werde versuchen, heute Abend nach Hause zu kommen.«

Das kleine Mädchen konnte die Augen gerade noch offen halten. Nathan umfasste vorsichtig ihre Hand. Draußen näherten sich Motorengeräusche. Zwei Lichtkegel erhellten kurz das Wohnzimmer, ehe der Raum in die Dunkelheit zurückfiel.

»Aber du kommst doch zu meinem Geburtstag?«

Er strich ihr über die Haare.

»Dein Geburtstag ist in drei Tagen, Lisa … Und nichts kann mich davon abhalten, dabei zu sein, wenn du …« Er legte den Kopf schräg. »Wie alt wirst du noch mal?«

Er hielt vier Finger in die Luft und sah sie fragend an. Lisa schüttelte den Kopf.

»Du weißt doch, dass ich älter bin als vier«, sagte sie und setzte eine strenge Miene auf.

Nathan streckte fünf Finger in die Luft.

»Papa … Ich werde sieben!«

Nathan lachte und drückte sie behutsam an sich.

»Komm, ich bring dich nach oben zu Mama. Dann darfst du auf meinem Platz liegen.«

Er betätigte zweimal schnell den Schalter für die Außenbeleuchtung, um dem Taxifahrer ein Signal zu geben, und ging mit Lisa nach oben in den ersten Stock. Er öffnete lautlos die Schlafzimmertür, hob seine Tochter hoch, trug sie zum Bett, legte sie hinein und hielt sich einen Finger vor die Lippen. Sie streckte die Arme nach ihm aus. Er umarmte sie und deckte sie dann zu, ehe er zur anderen Bettseite hinüberschlich und seine Frau auf die Wange küsste. Sie bewegte sich. Er berührte kurz ihren nackten Rücken mit den Fingerspitzen und trat dann auf die Tür zu, während er seiner Tochter zuwinkte und Ich hab dich lieb flüsterte.

Er ging nach unten und aus dem Haus, gab dem Fahrer ein Zeichen und ging an dem Taxi vorbei. Dann schloss er die Garage auf, zog an der Glühbirnenschnur, stellte die Tasche zur Seite, löste die Bremsen am Werkzeugkarren. Er rollte ihn zur Seite und zog die Matte weg, auf der er gestanden hatte.

Mit einem Schraubenzieher stocherte er die lose befestigte Bodenplatte auf. Die Tasten für das Tresorschloss waren im Halbdunkel gerade noch erkennbar. Er tippte einen vierstelligen Code, ein Klicken ertönte, gleichzeitig ging der Deckel auf. Der Safe enthielt verschiedene Pässe, fünf Bündel à zehntausend Dollar, zwei gefüllte Magazine und eine Pistole.

Pässe und Geld ließ er liegen.

Kapitel 8

Montag, 12. September

Vereinzelte Bäume und ein paar Bauernhöfe unterbrachen das flache Terrain. Magnus verließ die E6 an der Ausfahrt nach Sandefjord.

»Nicht gerade unauffällig«, sagte Anton, während er das Foto betrachtete, das die Hauptstraße und die beiden Streifenpolizisten an der Zufahrt zum alten Sägewerk zeigte.

»Freier Einblick, egal wo und wie man sich da oben auf der Straße bewegt.« Er sah zu Magnus. »Was worauf hindeutet?«

»Tja … dass er risikofreudig ist?«

»Risikofreudig. Furchtlos. Selbstsicher.« Anton legte das Foto zurück in die Mappe. »Ich hatte meinen ersten Fall bei der Kripo damals übrigens auch in Sandefjord.«

»Im Ernst?«

»Ja.« Anton nickte. »Anfang der 2000er tauchten hier Gerüchte auf, dass eine ältere Frau eine Menge Bargeld zu Hause herumliegen hätte. Sie war seit fünfzehn Jahren Witwe, und weder sie noch ihr verstorbener Mann hatten sonderlich gut bezahlte Jobs gehabt. Ungeachtet dessen kursierten aber diese Gerüchte über das Geld. Zwei Jungen im Alter von achtzehn und neunzehn sind eines Nachts durch ein offenes Fenster bei ihr eingedrungen und haben Schränke und Schubladen durchsucht. In einer Kommode fanden sie dann die Geldkassette. Die Frau wurde von dem Lärm wach und ging ins Wohnzimmer. Anstatt einfach abzuhauen – denn das hätten sie tun können, sie hatten sich Tücher vors Gesicht gebunden, es wäre demnach nicht möglich gewesen, sie zu identifizieren –, anstatt also einfach abzuhauen, haben sie die Frau erschlagen. Mit der Geldkassette, die übrigens gerade mal knapp 1 600 Kronen enthielt. Der Mord war völlig sinnlos. Man kann natürlich sagen, dass die meisten Morde sinnlos sind, aber wie überall sonst gibt es dabei auch Ausnahmen. Es dauerte eine Weile, bis man den Jungen auf die Schliche kam. Beide waren ziemlich großmäulig, aber als dann der erste zusammenbrach, hat auch der andere gesungen. Und jetzt bist du hier in Sandefjord und ermittelst in deinem ersten Mordfall. Der einzige Unterschied ist das Alter der Opfer. Denn wie mein erster Mord ist auch dieser hier völlig sinnlos.«

»Ist vielleicht Schicksal«, sagte Magnus.

»Schicksal?«, fragte Anton verdutzt. »Bist du jetzt auch noch gläubiger Christ?«

»Wovon redest du?«

»Glaubst du an Gott?«

»Hä?«

»Bist du gläubig?«

»Hab ich irgend ’nen Nerv getroffen, oder wie?«

Anton sah ihn nur durchdringend an.

»Nein«, sagte Magnus nach einer Weile. »Ich bin nicht gläubig.«

»Na, immerhin.«

»Du meine Güte.« Magnus verdrehte die Augen. »Ich habe lediglich gesagt, dass es vielleicht Schicksal ist. Das ist doch wohl kein Grund, sauer zu werden?«

»Von Schicksal reden die Menschen nur, wenn sie eine Entschuldigung für die Dinge brauchen, die nicht ganz nach Plan verlaufen sind. Wenn was in die Hose geht. Dann trösten sie sich mit dem Gedanken, dass das Ergebnis vermutlich auch dann das gleiche gewesen wäre, wenn sie sich anders entschieden hätten – eben weil ja alles angeblich irgendwie vorherbestimmt ist. Das Leben ist aber bloß eine lange Reihe von Entscheidungen. Und diese beeinflussen die Zufälle, die einem begegnen, auf unterschiedliche Weise.«

»Aber es könnte doch Schicksal gewesen sein, dass wir uns kennengelernt haben?« Magnus grinste breit. »Verstehst du? Das muss doch nichts Negatives sein. Allein die Tatsache, dass wir beide unsere Kripo-Karriere in Sandefj…«

»Das Schicksal existiert nicht. Genauso wenig wie Gott.«

»Woher willst du eigentlich wissen, dass es Gott nicht gibt?«

»Hast du nicht gesagt, du wärst nicht gläubig?«

»Aber ich muss doch kein gläubiger Christ sein, um die Ansicht zu vertreten, dass es zwischen Himmel und Erde mehr geben könnte, als uns bewusst ist.«

»Es gibt nicht einen einzigen physischen Beweis für die Existenz Gottes. Du solltest nicht an etwas glauben, was niemand gesehen hat, Torp. Gott. Schicksal. Karma.«

»Ans Karma glaubst du also auch nicht?«

»Nein.«

»Und woran glaubst du?«

Anton blätterte wieder in den Fotos und nahm sich Nummer zwei vor. Das, worauf man gerade noch Hedda Backs nackte Fußsohle sehen konnte.

»Hallo?«, insistierte Magnus. »Woran glaubst du?«

»Ich glaube an die Existenz des Bösen.«

Kapitel 9

Dezember 1989New York City, New York

Nathan stieg am Central Park aus dem Taxi, überquerte die Fahrbahn und setzte sich in den einzigen Wagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand.

»Verdammt, Nate!«, sagte Donald Murphy. »Du solltest doch um sieben hier sein.«

Donald trug eine dunkle Hose, einen Rollkragenpullover und eine Lederjacke. Sein Haar war kurz und weiß, das Gesicht so kantig, als sei es aus einem Steinblock gemeißelt worden. Auf seiner Nase ruhte eine Brille mit einem schmalen Stahlrahmen.

»Massenkarambolage in Queens«, entgegnete Nathan.

»Ist doch wohl nicht der einzige Weg nach Manhattan?«

Donald ließ den Motor an und lenkte den Wagen in die Fahrbahnmitte.

»Ich war aber nicht als Einziger unterwegs. Wohin fahren wir?«

Donald deutete auf das Handschuhfach und fuhr südlich die 5th Avenue hinunter. Bis auf eine dünne Dokumentenmappe, war das Fach leer. Darauf stand » Classified« in fetten roten Buchstaben. Nathan legte sich die Mappe auf den Schoß und fing an zu blättern. Obenauf lag die Fotografie eines Mannes mit schmalem Gesicht. Seine Nase war lang und dünn, und er hatte große, leicht abstehende Ohren. Unten auf dem Foto stand mit Maschine geschrieben: » Afanasiy Grekov«. Das Bild stammte aus dem Jahr 1985.

»Einer der Topmänner des KGB.«

Nathan blätterte weiter. Die nächsten Seiten waren vollgeschrieben mit Informationen über Afanasiy Grekov.

»In den Siebzigern war Grekov einer der besten Scharfschützen beim KGB«, fuhr Donald fort. »Und jetzt ist er hier. In New York City. Kann man sich ja vorstellen weswegen. Übrigens wissen nur Nir Dayan und du und ich davon. Und so soll es bleiben.«

»Soll er geschnappt werden?«

»Terminiert.«

Sie verließen Manhattan. Der Verkehr war dicht, floss aber gleichmäßig über die sechsspurige Hauptverkehrsader durch Brooklyn. Im Radio sang Bruce Springsteen über seine Heimatstadt. Leichte Schneeflocken tanzten im Wind. Die Autos um sie herum stießen dichte Abgaswolken aus.

Sie bogen von der Interstate 278 ab und fuhren in ein Viertel mit unterschiedlich großen Wohnblöcken und kleinen Geschäften in den Straßen. Eine Anwaltskanzlei, ein Friseursalon und zwei Pizzerias. Vor einem der Restaurants stand ein mintgrüner Chevy. Donald hielt am Straßenrand gegenüber an und stellte den Rückspiegel so ein, dass er die Eingangstür des Wohnblocks hinter sich sehen konnte.

»Der Chevy ist seiner, jetzt brauchen wir nur zu warten. Laut Nir Dayan soll vormittags ein Treffen im sowjetischen Konsulat stattfinden, und er meinte, es wäre schon verwunderlich, wenn Grekov nicht daran teilnähme.«

Fast drei Stunden vergingen, ohne dass jemand, außer einem Postboten, das Haus betrat oder verließ.

»Gleich elf Uhr«, sagte Nathan. »Vielleicht sollten wir einfach reingehen?«

»Nein«, sagte Donald und schüttelte den Kopf. »Der Befehl ist glasklar: Nir Dayan möchte, dass es so aussieht, als hätte Grekov seinen Aufenthalt auf Mutter Erde selbst beendet. Wir warten auf ihn, bis er zurückkommt.« Er atmete schnell und tief durch die Nase ein. »Ich habe ein gutes Gefühl, was heute angeht. Ich glaube, wir sind beide zum Abendessen wieder zu Hause.«

»Hoffentlich hast du recht. Ich muss noch eine Geburtstagsfeier planen.«

»Da ist er.«

Ein Mann im Mantel und mit Schiebermütze setzte sich gerade in den Chevy.

»Wir sind sicher, dass sonst niemand in der Wohnung ist?«

»Laut Nir Dayan lebt er allein.«

Donald verfolgte den Wagen im Rückspiegel. Der Chevy wendete an der Kreuzung und kam jetzt auf sie zu. Der kräftige Motor bullerte, als der Wagen an ihnen vorbeifuhr. Die Rücklichter verschwanden in der Ferne. Donald streckte die Hand zur Rückbank aus, griff nach einer Papiertüte, die er sich unter die Jacke schob, und zog den Reißverschluss hoch. Dann nahm er zwei Paar Lederhandschuhe von der Mittelkonsole. Eines davon reichte er Nathan.

Sie stiegen aus und überquerten die Straße.

Im Erdgeschoss schallten ihnen laute Schreie und Kinderlachen entgegen. An der Wand im Gang hing ein Briefkastengestell. Donald eilte daran vorbei und hielt auf die Treppe zu. Nathan folgte ihm in den zweiten Stock, wo sie einen langen Flur betraten. Aus einer der Wohnungen dröhnte Starship mit We Built This City. Ganz hinten im Gang stürmten zwei Kinder aus einer Tür und kamen heulend und schreiend auf Donald und Nathan zugerannt. Sie konnten nicht älter als vier oder fünf Jahre sein. Auf Socken rannten sie an ihnen vorbei bis zum Ende des Gangs und dann wieder zurück, ehe sie in die Wohnung schlüpften, aus der sie gekommen waren.

In der oberen Ecke der ersten Tür war eine 301 eingebrannt. Sie gingen weiter zur nächsten. Donald ging in die Hocke und fischte einen Dietrich aus der Jackentasche. Es klickte. Sie gingen hinein. Nathan schloss die Tür hinter sich.

Die Wohnung war klein, Wohnzimmer und Küche in einem. Abgesehen von etwas schmutzigem Geschirr auf der Arbeitsplatte war alles aufgeräumt. Auf dem Tisch vor dem Sofa lagen ein paar Zeitungen. Mitten im Zimmer hing ein Sandsack an einem Haken von der Decke. Auf der einen Seite des Zimmers gab es zwei Türen. Die zum Bad stand offen. An der Wand hinter dem Fernseher befand sich ein Bücherregal mit drei Fächern. Alle waren zur Hälfte gefüllt mit übereinandergestapelten Magazinen sowie ein paar Büchern. Donald nahm den Sandsack vom Haken und lehnte ihn gegen das Sofa. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und leerte den Inhalt der Tüte auf den Wohnzimmertisch: ein Seil. Er befestigte es am Haken und knotete eine Schlinge.

»Wir sehen uns mal etwas um«, sagte er dann und öffnete die Küchenschränke. »Wäre doch komisch, wenn er hier nicht ein paar Informationen herumliegen hätte, die unsere Vorgesetzten in Langley zum Lächeln brächten.«

Nathan untersuchte die Schublade am Fernsehtischchen. Sie enthielt einen Stapel Papiere. Er blätterte sie schnell durch.

»Wie werden wohl die Russen auf das hier reagieren? In der Mappe steht, Grekov sei lange Jahre einer von Chruschtschows persönlichen Leibwächtern gewesen. Nicht gerade ein Laufbursche.«

»Du kennst doch wohl die Geschichte von Richard Sorge?«, fragte Donald, der sich vor den Küchenschränken auf einen Stuhl gestellt hatte.

Ein kleines Stück Papier ragte unter einem der Rückenpolster am Sofa hervor. Mit zwei Fingern zog Nathan es heraus. Ein Schokoladenpapier. Er ließ es auf das Sofa fallen.

»Nein. Wer ist das?«

»Du machst Witze, oder?« Donald blickte ihn resigniert an und setzte seine Suche fort. Ein paar Teller stießen klirrend gegeneinander. »Aber du weißt schon, was die älteste Tätigkeit der Welt ist?«

»Prostitution.«

»Es gibt noch eine, die mindestens ebenso alt ist. Spionage. Und von allen Spionen und Agenten, die hier auf diesem Planeten herumgelaufen sind, hat keiner größere Bedeutung für die Weltgeschichte als Richard Sorge. Gegen den wirkt sogar James Bond wie ein Chorknabe, und dabei musste er sich nicht mal aus einem Helikopter raushängen. Du und ich, wir haben ja schon viel zusammen gemacht, aber verglichen mit Sorge ist das, was wir ausgerichtet haben, ein Fliegenschiss.«

Nathan trat auf das Bücherregal hinter dem Fernseher zu.

»Nie von ihm gehört.«

»Sorge müsste eigentlich in der Schule auf dem Lehrplan stehen. Er war halb Deutscher und halb Russe. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er für die Deutschen, und nach dem Krieg studierte er Politologie. 1918 wurde er Mitglied bei den Kommunisten und«, Donald kletterte vom Stuhl und schob ihn mit dem Fuß vor den nächsten Schrank, »1924 reiste er in die Sowjetunion und verdingte sich beim sowjetischen Geheimdienst. 1933 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde Mitglied in der Nazipartei, um sein Image als loyaler Deutscher zu perfektionieren. Auf dem Papier war er ja immer noch deutscher Staatsbürger, niemand stellte also Fragen. Er begann, sich bei der Frankfurter Zeitung einen guten Ruf als Journalist aufzubauen, und schließlich konnte er seine Redakteure davon überzeugen, ihn als Auslandskorrespondenten nach Tokio zu schicken.« Donald sah über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass Nathan zuhörte. »Hörst du mir zu?«

»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte Nathan, griff nach einem Buch, hielt es hoch und blätterte die Seiten mit dem Daumen durch, während er in kurzen Zügen wiederholte, was Donald gesagt hatte.

»Tja.« Donald setzte die Untersuchung der Schränke fort. »Du weißt ja wohl, wer 1933 in Deutschland an die Macht kam?«

»Nee, wer war das noch mal?« Nathan blickte ihn ahnungslos an. Donald kicherte und kramte weiter.

»Und in Japan sollte Richard Sorge schließlich zur Legende werden«, sagte Donald in den Schrank hinein. »Er baute ein enormes Kontaktnetz auf und genoss so tiefes Vertrauen, dass er ein Büro in der deutschen Botschaft bekam. Damit hatte er plötzlich Zugang zu streng geheimen Informationen. Abgesehen davon verkehrte er in verschiedenen Bordellen mit verhältnismäßig gut situierter Kundschaft. Kundschaft mit Informationen. Kundschaft, die im Alkoholrausch gern mal locker vor sich hin plauderte. Unter anderem erfuhr Sorge auf diese Weise vom bevorstehenden Angriff auf Pearl Harbour. Historisch hatte das keine Bedeutung. Dass Sorge es wusste, meine ich. Wäre die Information uns in die Hände gefallen, tja dann … Aber Sorge fand auch das exakte Datum für das Unternehmen Barbarossa heraus. Diese Information gab er an Stalin weiter, doch Stalin nahm Sorge nicht ernst – der natürlich recht hatte, wie sich später zeigte –, und Millionen Russen wurden getötet.«

»Weshalb hat er ihn nicht ernst genommen?«

»Er mochte ihn nicht. Stalin glaubte, dass Sorge seine Tage in Tokio mit Alkohol und Huren verschwendete. Dann aber wurde Stalin langsam nervös, weil er fürchtete, dass die Japaner im Osten das tun könnten, was die Deutschen im Westen getan hatten. Angreifen. Und in dem Moment bekam Sorge historische Bedeutung. Er konnte nämlich Fotos von Berichten in der deutschen Botschaft machen, die bewiesen, dass Japan keinerlei Absichten hegte, die Sowjetunion anzugreifen. Weshalb Stalin die ganze Armee, die im Osten stationiert war, nach Westen verlegen konnte und somit ein großes, vereintes Heer den Deutschen gegenüberstand.« Donald sprang vom Stuhl und trat auf die einzige Tür zu, die geschlossen war. Er legte die Hand auf den Türknauf und drehte sich gleichzeitig zu Nathan um. »Es ist völlig unklar, ob die Russen dem Druck hätten standhalten können, wenn Sorge es nicht geschafft hätte, mit dieser Information aufzuwarten. Und dann, Nate … Dann hätte ein großes Risiko bestanden, dass die Alliierten den Krieg verlieren. Zu guter Letzt musste diese lebende Legende natürlich noch enttarnt werden. Das passierte 1944. Die Japaner haben ihn in den Knast gesteckt. Dreimal«, Donald ließ den Türknauf los und hielt drei Finger in die Luft, ehe er die Hand wieder sinken ließ, »dreimal, Nate, wurde Stalin angeboten, Sorge gegen japanische Gefangene in Russland auszutauschen. Aber was, glaubst du, haben die Sowjets geantwortet?«

»Dass sie noch nie von ihm gehört hätten …«

»Korrekt. Und Sorge baumelte am Galgen, während die Sonne über dem Pazifik aufstieg. Zwanzig Jahre vergingen, ehe die Sowjets ihn rehabilitierten. Und weißt du, was er dann bekam?«

»Nein?«

»Sein Gesicht auf einer verdammten Briefmarke.«

»Vermutlich wäre es ihm lieber gewesen, am Leben bleiben zu dürfen.«

»Das glaube ich auch. Jetzt hast du jedenfalls die Antwort.«

»Die Antwort worauf?«

»Darauf, wie die Russen wohl reagieren werden, wenn wir Grekov aus dem Spiel nehmen. Die scheißen auf ihn. Grekov ist nur ein kleines Teil in einem großen Spiel, Nate. Genau wie du und ich. Wenn’s zum Äußersten kommt, sind wir auch nicht viel wert. Du darfst dir nie etwas anderes einbilden.«

Donald drehte den Knauf und stieß die Tür auf. Er konnte gerade noch Nathans Namen rufen, ehe es knallte. Nathan ließ das Buch fallen und warf sich auf den Fußboden, während er nach seiner Pistole griff. Donald fiel zu Boden. Eine Frau mit einer Schrotflinte stand im Schlafzimmer. Nathan kroch zum Sofa. Versuchte herauszuhören, ob sie sich ihm näherte. Er rief nach Donald. Stille. Nathan änderte seine Stellung. Er erhob sich auf die Knie und rief erneut nach Donald, der aber immer noch keine Antwort gab. Nathan legte eine Hand auf den Boden und rollte sich zur Seite, während er gleichzeitig die Pistole hob. Die Frau stand immer noch im Schlafzimmer und richtete die Flinte genau auf ihn. Ihr Bauch war dick und drückte sich gegen das T-Shirt. Die Haare ein riesiger Afro. Sie hob die Waffe. Nathan drückte dreimal schnell auf den Abzug. Die Frau fiel nach hinten, während im selben Moment ihre Waffe losging. Die Schrotladung ging in die Decke. Mit zwei langen Schritten war Nathan bei Donald und vergewisserte sich gleichzeitig, dass die Frau tot war. Der erste Schuss hatte ihre Stirn getroffen, der zweite ihre Brust. Die dritte Kugel hatte sich in ihren hochschwangeren Bauch gebohrt. Nathan sah eine Blutlache unter Donald anwachsen. Er legte zwei Finger an den Hals seines Kollegen. Kein Puls. Seine Augen waren offen, doch der Blick war leer und fern. Nathan packte Donald unter der Achsel und wollte ihn gerade hochziehen, als die Wohnungstür zu Kleinholz verarbeitet wurde.

Kapitel 10

Montag, 12. September

Ein Mann in den Zwanzigern öffnete die Tür. Anton und Magnus stellten sich vor. Der junge Mann gab keine Antwort, nickte bloß.

»Rune Back?«, fragte Anton.

Der Mann schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bin sein Bruder. Rune sitzt auf der Veranda.«

Er trat einen Schritt zurück und schob gleichzeitig die Tür auf. Eine Kinderstimme rief etwas aus dem Keller. Rune Backs Bruder beugte sich über das Geländer der Kellertreppe.

»Ich komme, Noah.« Er setzte einen Fuß auf die Treppe. »Gehen Sie einfach zu Rune durch.«

Anton warf einen Blick in die Küche. Der Kühlschrank brummte leise. Ein leerer Teller stand neben einem Superman-Becher auf dem Tisch. Oben an der Kühlschranktür klebte das Bild eines Jungen in einem Magnetrahmen. Die restliche Tür war von Zeichnungen bedeckt. Ganz unten hing schief eine Postkarte. Sie zeigte ein Schiff der Hurtigruten. Es lag umgeben von hohen grünen Felsen in einem blauen Fjord.

»Kommst du, Magnus?«

Durch das Fenster konnten sie Rune Back in einem Korbstuhl auf der Veranda sitzen sehen. Die Markise bot Schutz vor dem Regen.

Sein rotbraunes Haar verschmolz beinahe mit den Herbstfarben im Garten hinter ihm. In der Hand hielt er eine Zigarette, von der er tiefe Züge nahm. Anton und Magnus beobachteten ihn für einen Augenblick und gingen dann hinaus.

Mit der Zigarette zwischen den Fingern starrte Rune Back auf die kahlen Apfelbäume und die Laubhügel im Garten.

»Hallo«, sagte Anton gedämpft.

Rune Back drehte sich um. Seine Augen waren rot und geschwollen. Er trug Jeans und einen Pulli mit der Aufschrift Sandefjord Rør auf der Brust. Er schien Anfang dreißig zu sein. Anton und Magnus stellten sich vor.

»Ist schon jemand hier gewesen und hat mit Ihnen gesprochen?«, wollte Anton wissen.

Rune Back antwortete etwas. Seine Stimme klang heiser. Er räusperte sich und wiederholte: »Da war ein Polizist …« Mit der Hand, die die Zigarette hielt, wischte er sich über die Wange. »Zusammen mit dem Geistlichen.«

Magnus zog einen Korbstuhl heran und setzte sich Rune gegenüber. Anton blieb stehen. Magnus nahm seinen Notizblock aus der Tasche und legte ihn auf seine Knie. Er ließ die Hand mit dem Stift auf dem Block ruhen.

»Wir werden Ihnen nur ein paar Fragen stellen, dann sind wir auch schon wieder weg.«

»Ich weiß nicht mehr, als was ich gestern schon gesagt habe.« Rune Back drückte die Zigarette in einem Aschenbecher auf dem Boden aus.

»Können Sie das für uns wiederholen?«

»Sie ist nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Das war alles.« Er sah sie an. »Sie ist von der Arbeit nicht nach Hause gekommen …«

»Sie hat im Scandic Park hier in der Stadt gearbeitet?«

»Ja. Sie hatte die Nachtschicht am Wochenende. Die war um sechs gestern früh zu Ende. Noah wacht immer zeitig auf, und als sie um sieben noch nicht hier war, hab ich im Hotel angerufen. Ich hab mit der Kollegin gesprochen, die sie abgelöst hatte, und die hat gesagt, Hedda sei ein paar Minuten nach sechs losgegangen.«

»Sie war also zu Fuß unterwegs?«

»Ja. Es ist ja nicht weit«, erwiderte Rune Back mit leiser Stimme und deutete mit dem Kopf in Richtung Innenstadt. »Zehn Minuten.«

Die unmittelbare Nachbarschaft bestand aus alten, dicht nebeneinanderliegenden Holzhäusern mit kleinen Gärten und weißen Lattenzäunen. Sie stand in auffälligem Gegensatz zu den moderneren Gebäuden, die den Zentrumskern ein paar Blocks weiter ausmachten. Ein Wagen kam schnell um die Kurve gefahren und bremste scharf vor dem Zaun ab. Ein Mann stieg aus, noch ehe der Wagen völlig zum Stillstand gekommen war. Er sprang über den Zaun und kam mit knallrotem Gesicht durch den Garten auf sie zugestürmt. Die Körpersprache drückte irgendetwas zwischen Wut und Verzweiflung aus.

»Wer ist das?«, fragte Anton leise.

»Mein Schwiegervater.«

Rune erhob sich. Antons Handy begann im selben Moment zu klingeln, als Hedda Backs Vater die wenigen Stufen zur Veranda hochstürmte. Auf dem Display leuchtete ihm Mogens Poulsen –RMI entgegen. Anton drückte den Anruf weg und steckte das Handy zurück in die Tasche.

Etwas an der Haltung des Mannes verursachte in ihm eine Art von Anspannung. Auch Magnus war es anscheinend nicht entgangen, denn er stand auf und legte den Notizblock auf den Korbstuhl.

»Es tut mir leid …«, sagte Rune mit tränenerstickter Stimme.

»Du solltest doch gut auf sie aufpassen«, sagte der andere mit zusammengebissenen Zähnen. »Das war das Letzte, was ich zu dir gesagt habe.«

Tränen rollten über Rune Backs Wangen. Der Schwiegervater erbebte. Als wollte er sich jede Sekunde zwischen den beiden Ermittlern hindurchquetschen und auf seinen Schwiegersohn losgehen.

»Und was machen Sie beide hier, während derjenige, der meine Tochter umgebracht hat, irgendwo da draußen rumläuft?« Er zeigte in Richtung Innenstadt. »Wie?«

»Irgendwo müssen wir anfangen«, erwiderte Anton ruhig. »Und ich habe volles Verständnis für Sie. Aber was wir jetzt gerade tun, ist das Wichtigste, was wir zu diesem Zeitpunkt tun können. Die Informationen, die wir jetzt zusammentragen, können sich als ganz entscheidend erweisen.«

Der Schwiegervater atmete schwer durch die Nase aus.

»Wo ist Noah?«

»Unten in seinem Zimmer«, erwiderte Rune.

Heddas Vater stürmte durch die Verandatür und weiter durchs Wohnzimmer. Sein kräftiger Rücken verschwand hinter der Ecke an der Treppe. Anton schloss die Tür hinter ihm.

»Was war denn das?«, fragte Magnus und setzte sich wieder.

»Es ist etwas kompliziert.«

»Versuchen Sie’s.«

Rune Back nahm sich eine neue Zigarette, setzte sich und zündete sie an.

»Hedda und ich haben uns kennengelernt, als sie siebzehn war, und ich … na ja, ich war etwas älter.«

»Wie alt sind Sie?«

»Dreiunddreißig. Zwölf Jahre älter als sie. Das war nicht eben von Vorteil, als sie schwanger wurde, obwohl sie bei Noahs Geburt fast neunzehn war. Wir haben letzten Sommer geheiratet. Ich hatte die Hoffnung, ihre Mutter würde begreifen, dass ich es ernst meinte – dass wir es ernst meinten. Aber sie hat nicht einmal auf die Einladung reagiert.«

»Ihre Frau wurde also einfach ausgestoßen?«, fragte Magnus.

»Ja. Sie ist hier eingezogen, als sie schwanger wurde. Die Mutter hat Hedda gezwungen, sich zwischen mir und ihrer Familie zu entscheiden. Das tat sie dann.«

»Und weswegen hat die Mutter so reagiert?«

»In erster Linie wohl deswegen, weil ich älter war. Außerdem bin ich ja ein ziemlich gewöhnlicher Typ. Die Mutter hat mich nie gemocht und hatte hohe Ambitionen für ihre Tochter … Dass Hedda dann mit achtzehn schwanger wurde …«

»Bedeutete eine Enttäuschung«, sagte Anton. »Aber was ist mit dem Vater?«

»Er hat versucht, sie etwas zu unterstützen, aber viel kam da nicht.«

»Ohne dass die Mutter davon wusste?«

»Ja.«

»Wie ist Hedda damit klargekommen?«

»Es war natürlich schwierig, aber sie meinte, sie hätte keinerlei Zweifel, mit wem sie zusammenleben wollte.«

»Das heißt, dass Sie das jetzt alles ganz allein durchstehen müssen?«

Rune schüttelte den Kopf. »Nein, meine Eltern sind auf dem Weg von Spanien hierher, und dann ist ja auch mein Bruder da. Und ich habe Noah.«

Antons Handy klingelte erneut. Wieder war es Mogens Poulsen. Anton drückte auf den Button, der eine automatische Antwort als SMS verschickte: Ich kann das Gespräch gerade nicht annehmen.

»Aber dass Hedda sich gestern Morgen mit jemandem getroffen hat, halten Sie für ausgeschlossen?«, sagte Anton und schob das Handy zurück in die Tasche.

»Wer sollte das denn gewesen sein, an einem Sonntagmorgen um sechs?«

»War zwischen Ihnen alles in Ordnung?«, fragte Magnus.

»Ich versteh schon, worauf Sie hinauswollen, und nein, sie hätte sich niemals hinter meinem Rücken mit jemandem getroffen.« Rune schüttelte den Kopf. »Nein … niemals. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. Noah und ich waren alles, was sie hatte. Uns ging es gut. Alles war in Ordnung.«

»Hat sie mal von unangenehmen Erlebnissen bei der Arbeit gesprochen?«

»Nein. Sie war da ja auch nie allein.«

»Und es gab auch niemanden, der noch eine Rechnung mit ihr offen hatte?«

»Nein«, erwiderte Rune leise und atmete aus. »Und das mit ihrer Familie war ja sozusagen auch geklärt.« Rune drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Oder … aber nein, vergessen Sie es.« Er spähte in den Himmel.

»Was denn?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich habe gerade nur einfach zu viele Gedanken im Kopf.«

»Wir würden Ihre Gedanken gern hören«, sagte Anton. »Deswegen sind wir ja hier.«

Rune blickte nachdenklich zu Boden.

»Hedda meinte, sie hätte am Freitagabend draußen einen Mann gesehen. Da drüben.« Er zeigte auf den Zaun.

»Haben Sie ihn auch gesehen?«