Kälteeinbruch - Jan-Erik Fjell - E-Book

Kälteeinbruch E-Book

Jan-Erik Fjell

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Beschreibung

Der Winter ist über Norwegen hereingebrochen, als der Kleinkriminelle Mielkos mit versiegelter Ladung im Land eintrifft. Doch in einer abgelegenen Waldhütte bei Oslo wartet er vergeblich auf seinen Auftraggeber. Entgegen aller Vorsicht öffnet er den Laster – und blickt in die Gesichter zweier verängstigter kleiner Jungen … Zur selben Zeit wird Kriminalkommissar Anton Brekke zu einem mysteriösen Mordfall gerufen: Ein unscheinbarer Lehrer wurde im Keller seines Hauses aufgefunden, die Kehle durchgeschnitten. Anton beginnt zu graben und stößt auf derart Böses, dass selbst dem hartgesottenen Mordermittler das Blut in den Adern gefriert …

Erstmals 2013 auf Deutsch erschienen.

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Seitenzahl: 588

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Buch

Der Winter ist über Norwegen hereingebrochen, als der Kleinkriminelle Mielkos mit versiegelter Ladung im Land eintrifft. Doch in einer abgelegenen Waldhütte bei Oslo wartet er vergeblich auf seinen Auftraggeber. Entgegen aller Vorsicht öffnet er den Laster – und blickt in die Gesichter zweier verängstigter kleiner Jungen …

Zur selben Zeit wird Kriminalkommissar Anton Brekke zu einem mysteriösen Mordfall gerufen: Ein unscheinbarer Lehrer wurde im Keller seines Hauses aufgefunden, die Kehle durchgeschnitten. Anton beginnt zu graben und stößt auf derart Böses, dass selbst dem hartgesottenen Mordermittler das Blut in den Adern gefriert …

Jan-Erik Fjell

Kälteeinbruch

Thriller

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Stephanie Elisabeth Baur

Die norwegische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Skyggerom« bei Juritzen Forlag, AS, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Neuausgabe Mai 2024

Copyright © Jan-Erik Fjell, 2012 by Agreement with Grand Agency

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Erstmals 2013 auf Deutsch erschienen.

Alle Rechte an der deutschen Übersetzung

bei Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: © Michal Affanasowicz/Trevillion Images; FinePic®, München

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-32165-9V001

www.goldmann-verlag.de

Dein größter Feind ist der, von dem du nichts ahnst.Du wirst ihn nicht kommen sehen.

Inzwischen hatte er die Fassade durchschaut. Hatte sie abblättern sehen wie die Farbe an einem uralten Haus. Er hatte den wahren Anton Brekke erblickt, der zum Vorschein kam, wenn er allein war. Wie jetzt. Verschwunden war die verwegene Attitüde. Der Mann, der vor zwei Stunden hocherhobenen Hauptes aus dem grauen Passat gestiegen war, hatte sich schlagartig verändert, sobald er sein Hotelzimmer betrat. Die Deckenbeleuchtung ging an und aus, als hätte er nichts Besseres zu tun, als immer wieder auf den Lichtschalter zu drücken. Hoffentlich hatte er nichts Besseres zu tun. Hoffentlich befand er sich nicht einmal in der Nähe der Antwort, die er suchte.

Dennoch musste er ihn im Blick behalten. Mit eigenen Augen sehen, was der unbestrittene Primus der Kripo trieb. Ob der Instinkt, für den er berühmt war, auch dieses Mal zum Leben erwacht war.

Prolog

Vilnius, Litauen

Ein altes Moped und ein paar leere Bierkisten waren alles, was sich in der dunklen Seitengasse befand. Doskino blieb stehen und sah zur Straße, die in dreißig Metern Entfernung verlief. Ein Polizeiauto fuhr langsam vorbei, aber aufgrund der Dunkelheit konnten sie ihn hier nicht sehen.

Als die Tür hinter ihm zugeschlagen wurde, hörte er, wie der Mann versuchte, sich aus dem eisernen Griff zu befreien, mit dem Ivan seinen Hals umklammert hielt. Doskino zählte die Sekunden. Länger als zwanzig hatte noch keiner durchgehalten. Der Kurier, der auf seiner letzten Tour schwach geworden war und sich an der Ladung Crystal Meth bedient hatte, war schon nach zwölf fertig gewesen. Ivan trat neben Doskino, der ihm eine Zigarette hinhielt und sich selbst eine zwischen die Zähne schob. »Hast du Feuer?«, fragte Ivan.

Doskino zündete beide Zigaretten an. »Was ist mit der nächsten Fuhre?« Er sah den dreißig Jahre jüngeren Ivan an.

»Ich hab schon jemanden beauftragt, mir einen zuverlässigen Fahrer zu suchen.«

»Gut. Aber nicht wieder so einen Idioten.«

Ivan lächelte. »Na, einen Professor kriegen wir sicher nicht.«

Zehn Tage später

Teil 1

Der Mord

Montag, 13. Dezember

Kapitel 1

In den alten Gebäuden brannte nicht ein einziges Licht. Der Kontrollposten zwischen Deutschland und Dänemark in der Nähe von Flensburg war unbesetzt. Man hatte ihm gesagt, er brauche sich keine Sorgen zu machen, dennoch atmete er erleichtert auf. Jetzt in den Abendstunden sah es hier aus wie in einer Geisterstadt. Oder wie in einer kleinen, verlassenen Town im Wilden Westen, in der die allgemeine Gesetzlosigkeit die Einwohner in die Flucht geschlagen hatte.

Aber hier gab es weder Geister noch Cowboys. Es gab nur die EU und so gut wie offene Grenzen. Ein Paradies für Leute wie Doskino und ihn selbst.

Bernandas Mielkos schlug mit beiden Händen ein Trommelsolo auf das Lenkrad. Verließ die Autobahn an der nächsten Ausfahrt und steuerte den Wagen langsam über eine schmale Straße. Bald hatte er den Rastplatz erreicht. Er schaltete das Radio ein. Stieß auf Musik, die seiner Meinung nach weder Melodie noch Rhythmus hatte. Suchte weiter. Hielt inne, als er bekannte Töne hörte. Sang leise und falsch mit: »… All along the waterfall, with you, my brown-eyed girl. You, my brown-eyed girl. Do you remember when we used to sing, shalalala …«

Das Dröhnen eines von hinten nahenden Dieselmotors übertönte sowohl seine eigene Stimme als auch die von Van Morrison. Der Platz um ihn herum wurde in helles Licht getaucht. Bernandas Mielkos sah in den Rückspiegel. Sechs Scheinwerfer blendeten ihn. Zwei viereckige unten und vier runde oben auf dem Führerhaus. Er klappte die Zigarettenschachtel auf und ließ das Fenster etwa drei Zentimeter herunter. Die kalte Dezemberluft kühlte sein Gesicht. Er war vor fast 19 Stunden in Litauen losgefahren und hatte unterwegs nur selten Pause gemacht. Sechs Mal. Sieben, wenn er eine Pinkelpause von einer Minute mitzählte. Er hätte lieber eine lange Pause gemacht, aber der Alte in Vilnius hatte ihm eingeschärft, dass der Wagen nie länger als zehn Minuten am Stück stehen sollte. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Bernandas zündete die Zigarette an. Nahm einen tiefen Zug und spürte die wohltuende Wirkung des Nikotins. Zog noch einmal und beobachtete, wie sich die Glut ein paar Millimeter durch das Papier fraß. Ließ das Fenster noch ein kleines Stück hinunter und blies den Rauch in den kalten Winter.

Die Fahrertür des Lastwagens fiel laut ins Schloss. Bernandas zuckte zusammen. Der andere Fahrer warf einen langen Schatten auf den Boden vor dem Transporter. Bernandas nahm noch einen Zug und versuchte, den anderen im Außenspiegel zu verfolgen. Der Mann verschwand aus seinem Blickfeld. Um ihn durch das andere Fenster sehen zu können, lehnte Bernandas sich auf die Beifahrerseite. Da. Der Mann verschwand zwischen ein paar schneebedeckten Büschen.

Bernandas sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Zwölf Minuten nach Mitternacht. Noch waren von seiner Pause ein paar Minuten übrig.

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, dachte Bernandas. Doskino musste verdammt paranoid sein. Dennoch traute er sich nicht, längere Pausen zu machen. Er konnte nicht ausschließen, dass sie den Wagen mit einem hochmodernen Ortungs- und Abhörsystem ausgestattet hatten. Bernandas musste lächeln. Die Paranoia hatte offensichtlich auch von ihm Besitz ergriffen.

Außerdem hatte man ihm unmissverständlich nahegelegt, dass er bei der Fracht nichts zu suchen hatte. Dass es für ihn das Beste wäre, wenn er sich nur im vorderen Bereich aufhielte und den Laderaum des vier Jahre alten VW Caravelle gar nicht erst betrat. Eine Wand mit einem kleinen Plastikfenster trennte die drei Vordersitze vom Laderaum. Hinter der Scheibe hing eine kleine Gardine, die die Sicht versperrte.

Der Lastwagenfahrer kam zurück. Kletterte ins Führerhaus. Der schwer beladene Laster benötigte den gesamten Rastplatz, um genügend Fahrt aufzunehmen und sich auf der Autobahn in die rechte Spur einzureihen. Er donnerte an Bernandas vorbei, als hätte der Fahrer ihn nicht einmal bemerkt. Als existierte der rote Caravelle nicht.

Bernandas griff in eine Tüte mit Süßigkeiten, die er sich an einer Tankstelle in Flensburg gekauft hatte. Die ersten drei Stückchen waren lecker gewesen, jetzt schmeckten alle gleich, ob salzige Lakritze oder süßes Weingummi. Er hatte die Süßigkeiten ohnehin nur gekauft, um sich noch ein paar Stunden wach zu halten, dazu ein paar Dosen Red Bull. Er nahm einen großen Schluck von dem künstlichen Getränk und aß vier Lakritzstückchen aus der Tüte. Dann schnappte er sich seinen Rucksack, der auf der Beifahrerseite auf dem Boden stand, und stieg aus. Ließ den Blick mehrere Male über den Rastplatz schweifen, um ganz sicherzugehen, dass außer ihm niemand da war. Er öffnete den Rucksack und holte den Schraubenzieher heraus. Montierte die litauischen Schilder ab und ersetzte sie durch schwedische.

Als er sich wieder ans Steuer setzte, war von seiner Pause noch eine Minute übrig. Er ließ den Motor an und fuhr auf die Autobahn. Behielt in ganz Dänemark und hinter Kopenhagen konstant hundertzehn Stundenkilometer bei, bis er den Wagen schließlich in den Tunnel vor der Öresundbrücke lenkte. Er beugte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf das Lenkrad, um seinen Rücken durchzustrecken. Bremste auf neunzig Stundenkilometer herunter. Im Spiegel sah er ein Auto, das von hinten näher kam. Er knipste das Licht an und klappte die Sonnenblende herunter, in die er ein Foto seiner kleinen Schwester geklebt hatte. So klein war sie im Übrigen gar nicht mehr, zwanzig – vier Jahre jünger als er – und definitiv die Klügere von ihnen beiden. Es machte ihm nichts aus, das zuzugeben, er wusste, dass ihr später einmal alle Türen offenstehen würden. Für ihn selbst galt das nicht. Das einzige Fach, in dem er nicht durchgefallen war, war Sport gewesen. Darin hatte er sogar Bestnoten bekommen. Es war aber keineswegs so, dass Bernandas als Jugendlicher eine überdurchschnittlich gute Konstitution und Ausdauer besessen hätte. Doch nachdem sein Lehrer die ganze Klasse dazu gebracht hatte, ihn auszulachen, weil er die Runde auf dem Sportplatz nicht schnell genug gelaufen war, hatte Bernandas ihm noch am selben Abend mit einem selbst gebastelten Schlagstock einen Besuch abgestattet.

Danach brauchte er am Sportunterricht nicht mehr teilzunehmen.

Bernandas’ Blick ruhte weiterhin auf seiner Schwester, doch nun näherte er sich dem Zoll. Er steuerte das Häuschen mit der Nummer sechs an, wo nur zwei Autos vor ihm in der Schlange standen. Er wartete, bis er an der Reihe war, und bezahlte die Mautgebühr für die Brücke nach Schweden in bar. Zum Dank schenkte ihm die Frau vom Zoll ein routiniertes Lächeln. Gleich hinter dem Grenzübergang standen fünf Polizeifahrzeuge und mindestens doppelt so viele Polizisten. Es sah aus, als bereiteten sie sich auf einen Zugriff vor.

Bernandas fluchte. Davor hatte er sich gefürchtet, seit er zu Hause losgefahren war. Und nicht nur da. An jedem Grenzübergang hatte er darüber nachgedacht. Sie hatten ihm gesagt, die Sache sei bombensicher. Er könne unmöglich geschnappt werden. Aber was für ein Schwachsinn war das denn? Natürlich konnte er geschnappt werden.

Die Klimaanlage stand auf dreiundzwanzig Grad, er drehte den Temperaturregler auf sechzehn und stellte die Lüfter so ein, dass ihm die Luft direkt ins Gesicht geblasen wurde. Atmete langsam. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke: Vielleicht war das hier eine Testfahrt? Vielleicht war in dem Wagen überhaupt nichts versteckt? Vielleicht wollten sie ihn mit der ganzen Tour bloß testen? Ob er in der Lage war, den Job zu machen. Deshalb wollte Doskino auch nicht so recht raus mit der Sprache, was er transportieren sollte und wo das Zeug versteckt war. Und deshalb sollte er selbst auch nicht suchen. Weil er nichts finden würde.

Ein dunkelhaariger Polizist hob die Hand und bedeutete Bernandas anzuhalten. Er knipste eine längliche Taschenlampe an. Das grelle Licht blendete Bernandas durch die Windschutzscheibe. Er hatte das Gefühl, als würden die Süßigkeiten jeden Moment in ihm hochkommen.

Er spähte durch die Frontscheibe. Prüfend. Auf der Suche nach einem Fluchtweg. Die Polizisten schienen nur darauf zu warten, dass er einen Fluchtversuch unternahm. Einen Moment lang erwog er, das Auto rückwärts aus der Warteschlange zu manövrieren und gegen die Fahrtrichtung zurück zur Brücke zu fahren, bis er wieder in Dänemark war – falls er die Fahrt überlebte. Auf dänischem Boden konnten sie ihm nichts anhaben, obwohl sie ihre dänischen Kollegen vermutlich informieren würden. Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Wo vorhin noch ein Auto hinter ihm gewartet hatte, stand nun ein Lastwagen. Den konnte er nicht so einfach wegschieben wie einen PKW.

Sie waren nicht zufällig da.

Das hier war keine Routinekontrolle, so etwas gab es zwischen Dänemark und Schweden nicht. Die Grenzen waren hier so gut wie offen. Eine Zollkontrolle war eine Sache. Aber eine Polizeikontrolle?

Die Hecktür eines Polizeiautos wurde geöffnet. Ein Hund sprang heraus. Ein Drogenhund. Alles andere ergab keinen Sinn. Sie mussten den Hinweis erhalten haben, dass eine größere Menge Drogen unterwegs nach Schweden war. Und zwar genau an dieser Stelle, in genau diesem Augenblick.

Dann klopfte es dreimal energisch gegen die Scheibe. Er holte tief Luft. Kein Grund zur Panik, sagte er sich. Ganz cool bleiben, bald kannst du weiterfahren.

Er drückte auf den Knopf am Fenster und ließ die Scheibe ganz herunter. Sah den Polizisten fragend an. Unschuldig und glaubwürdig auszusehen, kostete ihn keine einzige Kalorie. Vor einem Richter log er ebenso routiniert wie vor seiner Mutter, und beides hatte er oft genug geübt. Allerdings war das Risiko noch nie so hoch gewesen wie jetzt.

Er spürte, wie ihm der kühle Luftstrom aus der Klimaanlage und die frostige Luft von draußen gleichzeitig über Gesicht und Hals strichen. Sein Herz klopfte schon wieder langsamer. Ihm war nicht mehr so heiß.

Das Licht aus der Maglite des Polizisten traf ihn im Gesicht. Bernandas kniff die Augen zusammen. Ein zweiter Polizist ging mit dem Hund, der vor wenigen Sekunden aus dem Polizeiauto gesprungen war, rechts an seinem Wagen entlang. Bernandas schaute in den Seitenspiegel. Beobachtete, wie sich der Hund schnüffelnd am Wagen vorarbeitete.

Der Polizist am Fenster ließ die Taschenlampe sinken und sprach mit gedämpfter Stimme in das Mikrofon an seiner Schulter.

Dann winkte er Bernandas weiter.

Erst als die Polizisten und ihre Autos im Rückspiegel immer kleiner wurden, trat ihm der erste Schweißtropfen auf die Stirn. Das war knapp gewesen. Viel zu knapp. Während er noch in den Rückspiegel sah, traf er eine Entscheidung: Er würde es bei dieser einen Fahrt belassen. Testfahrt hin oder her. Er könnte ohne Weiteres auch in Zukunft für Doskino arbeiten, aber es musste etwas weniger Riskantes sein. Er war sich sicher gewesen, für diesen Job wie geschaffen zu sein, doch seine Reaktion gerade eben bewies das Gegenteil. Hätte der Polizist den Verdacht gehabt, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuging, hätte er den verdammten Köter bloß reinschicken müssen, und Bernandas hätte in den nächsten zwanzig Jahren nichts anderes zu Gesicht bekommen als Gefängnismauern. Von innen.

Das war es nicht wert. Finanziell lohnte sich das Ganze zwar schon, aber was sollte er mit so viel Geld, wenn er eingebuchtet wurde? Und außerdem: Was würde seine kleine Schwester sagen? Die immer zu ihm aufgeblickt hatte, obwohl er nie etwas zuwege gebracht hatte.

Er begann über das Was und Wie viel nachzudenken.

Heroin? Ecstasy? Crystal Meth? Fünf Kilo? Zehn Kilo? Fünfzig Kilo? Als Doskino davon erzählte, hatte es ganz einfach geklungen. Der alte Mann war so ruhig gewesen, als schickte er einen stinknormalen Umzugswagen los.

Bernandas fuhr an eine Tankstelle und holte sich einen Kaffee, bevor er seine Fahrt ins Stadtzentrum von Malmö fortsetzte. Er gähnte und rieb sich die Augen, während er in großen Schlucken aus dem Pappbecher trank. In Kürze würde er die Pizzeria erreichen, deren Adresse er auswendig gelernt hatte. Dort erwarteten ihn ein warmes Essen und ein Bett.

Kapitel 2

Die einzige Zufahrt zum Hinterhof der angegebenen Adresse in Malmö führte durch einen hohen, schmalen Torbogen aus Beton. Während Bernandas den Caravelle vorsichtig durch die enge Öffnung manövrierte, behielt er die Rückspiegel genau im Auge. Der eine Teil des Hinterhofs wurde durch das unregelmäßige Flackern einer Außenleuchte erhellt, die jeden Augenblick zu erlöschen drohte. Bernandas sah sich um. Neben ein paar Mülltonnen und zwei Containern war nur noch ein anderes Auto zu sehen.

Mit ausreichend Abstand hielt er hinter dem anderen Wagen, einem schwarzen Lexus SUV mit schwarzen Felgen.

Er blieb noch eine Minute sitzen und blickte starr geradeaus. Dachte nach. Über seine kleine möblierte Wohnung zu Hause in Vilnius, die verglichen mit einer Gefängniszelle gar nicht so schlecht war. Über die verschiedenen Jobs, die er gehabt hatte, als Maurer, Zimmermann und Geldeintreiber. Er hatte sie gehasst, vor allem den Job als Schuldeneintreiber, aber im Vergleich zu der Aussicht, vierundzwanzig Stunden am Tag eingesperrt zu sein, war alles eigentlich nur halb so schlimm. Und über seine Schwester dachte er nach, die ihn eines Tages ganz sicher zum stolzesten großen Bruder der Welt machen würde. Genau genommen hatte sie das schon geschafft, denn sie war die Erste in der Familie, die studierte. Die einzige Frau aus der Sippe, von der er sich sicher war, dass sie eines Tages nicht nur sich selbst, sondern auch Mann und Kinder würde versorgen können. Und die Einzige, die ihn auch dann nicht im Stich lassen würde, wenn alles schiefging.

Bevor er aus dem Auto sprang, atmete er einmal tief ein, stieß die Luft aber rasch wieder aus.

Ein faulig-süßlicher Geruch drehte ihm fast den Magen um. Er hielt sich die Hand vor den Mund. Der Gestank hing schwer zwischen den hohen Betonmauern, die den Hinterhof begrenzten. Die Müllcontainer quollen regelrecht über. Er zog sich den Pulloverkragen über die Nase, ging auf die Metalltür rechts neben den Autos zu und hämmerte mit der Faust dagegen.

Nichts geschah. Er versuchte es noch einmal.

Einen Augenblick später öffnete sich eine Luke, die Bernandas bisher nicht aufgefallen war. Sie befand sich auf Augenhöhe und maß ungefähr fünfzehn mal fünf Zentimeter. Der Geruch von Hefeteig und Tomatensoße schlug ihm ins Gesicht. Zwei große, finstere Augen sahen ihn durch die Luke an. »Arturas …?«, fragte er vorsichtig. Er war sich ziemlich sicher, den Namen einigermaßen richtig auszusprechen.

Die Augen auf der anderen Seite der Tür schienen einem Mann zu gehören, der bereitwillig jedem den Schädel einschlagen würde, der seinen Namen falsch aussprach.

»Yes. And you must be Bernas?«

»Bernandas«, korrigierte er. »Freut mich, dich endlich kennenzulernen. War ’ne anstrengende Fahrt.«

Arturas nickte. Die Luke wurde geräuschvoll geschlossen, dann folgte ein Klicken im Schloss, und die Tür ging auf. Arturas streckte ihm eine riesige, behaarte Hand entgegen und drückte fest zu.

»Du hast bestimmt Hunger, oder?« Der Mann mit der behaarten Pranke lächelte.

»Ja, auch, aber ich bin vor allem hundemüde.« Bernandas verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. Noch war ihm die Situation nicht geheuer, er blieb vorsichtig. Außerdem stimmte etwas nicht mit den Augen dieses Mannes. Doskinos Blick daheim in Vilnius war prüfend und durchdringend gewesen. Diese Augen jedoch … irgendwas war damit.

Eine dünne Goldkette mit einem Kreuz, das wie ein Anker in den Wogen seiner Brustbehaarung ruhte, hing um seinen Hals. Am Handgelenk trug er ein massives goldenes Armband mit Fischmuster. Weißes Hemd, dazu eine dunkelbraune Anzughose. Sein Körper war schmächtig, die Hände waren dagegen gigantisch. Die Nägel bis aufs Fleisch abgekaut.

Die Küche der Pizzeria war ein länglicher Raum mit Arbeitsflächen zu beiden Seiten. Ganz hinten stand ein Ofen, in dem man vier Pizzen gleichzeitig backen konnte, je zwei übereinander. In die Wand zum Restaurant hin hatte jemand eine viereckige Öffnung gehauen. Bernandas steckte den Kopf durch die Öffnung, blickte in den im Dunkeln liegenden Raum voller Tische und Stühle und überlegte, ob hier überhaupt Restaurantbetrieb herrschte oder ob der Laden nur zur Abwicklung ihrer Geschäfte diente.

Arturas pries seinen Ofen, während Bernandas versuchte, seinen englischen Akzent einzuordnen. Bei Doskino war das kein Problem gewesen. Es wäre ihm auch gelungen, wenn er nicht schon vorher gewusst hätte, dass der Alte Russe war. Aber er hier? Bernandas war sich nicht einmal sicher, ob Arturas der Vorname oder der Nachname war. Der Typ konnte von überall aus Osteuropa kommen, Bernandas tippte jedoch auf Rumänien.

»Was meinst du, Bernas, soll ich dir eine Pizza machen?« Arturas war schon dabei, den Teig zu einem großen Fladen zu formen. »Meine Pizza Spezial vielleicht?«

Bernandas drehte sich wieder um. Beobachtete, wie die fast nagellosen Finger den Teig bearbeiteten. Arturas warf den Pizzaboden in die Luft und fing ihn elegant wieder auf. »Ich bin gut, was?« Er lachte leise. »So schwer ist das gar nicht. Ich kann’s dir beibringen, wenn du willst.«

»Nee … lass mal gut sein«, antwortete Bernandas und lehnte sich an die Arbeitsplatte.

»Du musst wissen, auf eine gute Pizza gehören nicht viele Zutaten. Ich mach dir jetzt eine Arturas Spezial.« Er verteilte die Tomatensoße auf dem Boden und fuhr fort: »Die meisten packen alles drauf, was sie finden können. Schinken, Peperoni, Salami, Hackfleisch und, und, und. Jedes für sich – völlig okay. Alles zusammen – ekelhaft. Und dann noch diese Soße, die gelbe …«, er hielt inne und sah zu Boden, »hilf mir mal.« Er schnipste mit den Fingern. »Béarnaise!«

»Schmeckt die dir nicht?«

»Nicht auf Pizza.« Arturas streute den Käse auf den Belag und sagte: »Ich könnte diesen Amateuren, die Béarnaise auf ’ne Pizza packen, den Kopf abreißen. Einmal hab ich es sogar getan.« Er drehte sich zu Bernandas um und lächelte schief. Ein merkwürdiges Lächeln, Bernandas wusste nicht, ob es ihn beruhigen oder beunruhigen sollte. »Ich mach nur Spaß. Aber Lust dazu hätt ich schon. Zwei Sorten Fleisch auf einer Pizza sind mehr als genug. Für meinen Geschmack schon zu viel, aber verkaufen tut die sich am besten. Schinken und …« Er nickte zum Kühlschrank, der neben der Küchentür stand. »Nimm dir was zu trinken, und setz dich ins Restaurant, ich komm nach, sobald die Pizza fertig ist. Du isst doch Peperoni?«

Bernandas nickte.

»Gut. Männern, die keine Peperoni essen, traue ich nämlich nicht über den Weg. Und meine sind erstklassig. Verbrennen einem die Zunge, wenn man’s übertreibt. Aber es ist schon spät, ich halt mich zurück. Wir wollen ja nicht, dass du heute Nacht dauernd rausmusst, um was zu trinken, oder? Ist ein wichtiger Tag morgen.« Er sah auf die Uhr am Pizzaofen. »Ich rede von morgen. Dabei ist längst morgen. Du kannst dich ein paar Stunden aufs Ohr hauen, dann geht’s wieder auf die Piste. Du musst ausgeruht sein, und jetzt siehst du ganz schön abgekämpft aus.«

Bernandas öffnete eine Dose Fanta und trank auf dem Weg ins Restaurant, wo er sich gleich an den ersten Tisch setzte.

Wenige Minuten später brachte Arturas die Pizza auf einem runden Tablett. Er stellte es auf den Tisch und setzte sich Bernandas gegenüber.

»Lass es dir schmecken«, sagte Arturas und nahm sich auch ein Stück. Er sprach mit vollem Mund: »Du kriegst in der ganzen Stadt keine bessere Pizza. Vielleicht nicht mal im ganzen Land. Also, wenn ich’s mir genau überlege«, er kaute und schluckte den Bissen hinunter, »würde es mich nicht wundern, wenn du bis nach Italien müsstest, um eine bessere Pizza vorgesetzt zu kriegen.«

Die Ernsthaftigkeit, mit der er das sagte, zeigte, dass er von seinen Worten überzeugt war. Bernandas nickte zustimmend, obwohl ihm die Pizza nicht besonders gut schmeckte. Als Magenfüller ganz okay, aber wenn er es sich aussuchen könnte, würde er sich lieber einen Hamburger bestellen. Selbst ein Hotdog mit Senf und Ketchup würde besser schmecken.

Bernandas hatte wortlos ein paar Bissen gegessen, als Arturas das Schweigen brach: »Du wirkst nervös.«

Er schluckte hinunter, was er im Mund hatte. »Eigentlich war ich nicht besonders nervös, zumindest nicht bis kurz vor Schweden.«

»Wie meinst du das?«

»Großes Polizeiaufgebot an der Grenze.«

»Ach so, richtig. Kein Grund zur Aufregung, mein Lieber, die haben nicht nach dir gesucht.«

Bernandas sah ihn fragend an. »Was soll das heißen?«

»Solange die nichts Bestimmtes suchen, gibt’s auch keinen Großeinsatz. Jeden Tag kommt kiloweise Stoff über die Brücke. Davon fangen Polizei und Zoll maximal ein paar Prozent ab. Bei manchen funktioniert das Netzwerk nicht, und die Behörden kriegen Wind davon, dass was unterwegs ist. Tipps, du weißt schon. Die werden dann geschnappt. Nur die Trottel werden geschnappt.« Er sah Bernandas an, der noch nicht ganz überzeugt war. »Du hast doch die schwedischen Schilder rangemacht, als du nach Dänemark reingekommen bist, oder?«

»Ja. Um genau zu sein, ich hab sie einen knappen Kilometer hinter der dänischen Grenze montiert.«

»Gut. Wenn du morgen früh aufwachst, hab ich sie gegen norwegische Kennzeichen getauscht. Außerdem haben wir hinter der norwegischen Grenze einen Freund, der uns warnen wird, falls eine Zollkontrolle bevorsteht. Du wirst nicht geschnappt. Und weißt du warum?«

Bernandas schüttelte den Kopf.

»Weil außer uns beiden, unserem russischen Freund und dem Empfänger in Norwegen nur noch unser lieber Grenzposten von der Sache weiß – und den wirst du nicht zu Gesicht bekommen. Der weiß nicht mal, in was für einem Auto du unterwegs bist. Er weiß nur, wann du über die Grenze kommst. Weil du mich nämlich anrufen wirst, wenn du dich dem Übergang näherst. Kapiert?« Arturas sah auf die Uhr. »Und bis dahin sind es nur noch wenige Stunden.«

»Die schwedischen Schilder hätten mir heute nichts gebracht, wenn mich der Polizist angesprochen hätte. Der hätte ziemlich schnell kapiert, dass ich kein Schwede bin, wo ich kein einziges Wort Schwedisch kann.«

»Meines Wissens muss man nicht Schwedisch können, um ein in Schweden zugelassenes Fahrzeug zu fahren.« Arturas lächelte. »Du bist nicht dumm. Erinnerst mich ein wenig an mich selbst vor zwanzig Jahren. Hungrig und furchtlos. Du scheinst in der Polizeikontrolle keine Nerven gezeigt zu haben.«

»Das kam dann hinterher.«

»Das ist nicht verboten.« Arturas stand auf. »Beim ersten Mal ist es nie lustig. Frag mich mal. Ich bin für unseren Freund schon in jeden erdenklichen Winkel Europas gefahren, und sieh mich jetzt an. Hab meine eigene Stadt.« Er machte eine ausladende Armbewegung. »Ich bin über alles informiert, was in dieser Stadt passiert. Wenn du alles richtig machst, wird es bei dir genauso laufen. Aber hüte dich vor den Fallen.«

»Was für Fallen?« Bernandas wischte sich mit einer Serviette den Mund ab.

»Mein jüngerer Bruder … War fast genauso lange dabei wie ich, aber er war nicht stark genug. Konnte weder mit dem Geld noch mit dem Stoff umgehen. Inzwischen hat das Kokain sein Hirn aufgefressen.« Er machte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung an der Schläfe. »Bei dem ist was durchgebrannt. Dass man so leicht an das Zeug rankommt, ist lebensgefährlich, Bernas, und wenn du nicht aufpasst, krepierst du schneller daran als an einer Kugel. Konzentrier dich auf den Job. Immer. Sieh mich an. Auch wenn es hier vielleicht etwas spartanisch aussieht, hab ich genug Geld und ein gutes Leben. Verheiratet, drei tolle Kinder und ein großes Haus im Umland. Der Unterschied zwischen mir und meinem Bruder ist, dass ich mich von den Versuchungen ferngehalten habe. Mach einen großen Bogen um den Stoff, hörst du? Auch wenn es verlockend klingt, die Taschen voller großer Scheine zu haben und lauter Frauen um dich herum, die genau deshalb mit dir zusammen sind, weil du Geld und unbegrenzten Zugang zum Stoff hast. Lass die Finger davon, dann wirst du ein sorgenfreies Leben haben, denn wenn man so lange dabei ist wie ich, läuft der Laden wie von selbst. Verstehst du, was ich meine?«

»Drogen haben mich noch nie interessiert.«

»Das spielt keine Rolle. Wenn sie da sind, interessieren sie dich auch. Deshalb gebe ich dir jetzt einen freundschaftlichen Rat: Hüte dich vor den Fallen und hab den nötigen Respekt vor dem Zeug.« Er schien noch etwas sagen zu wollen, verfiel dann aber in einen weniger ernsten Ton und wechselte das Thema: »Ich hab dir im ersten Stock ein Bett zurechtgemacht. Iss dich satt, geh duschen und sieh zu, dass du ins Bett kommst.« Er sah auf die Uhr. »Wie die Zeit vergeht, was? Ich schaffe die Ware über Nacht rein. Wär ’ne Katastrophe, wenn das Auto gestohlen würde, oder? Du warst doch nicht so dumm, der Versuchung zu erliegen, oder?«

»Natürlich nicht. Hab mich nicht vom Steuer wegbewegt.«

»Gut. Vor ein paar Wochen hatten wir nämlich einen Kurier, der seine Neugier nicht im Zaum hatte. Er hat nach der Ware gesucht, und er hat sie gefunden. Als wir das bemerkt haben, haben wir … nein, mein Lieber – das willst du gar nicht hören. Aber so viel kann ich sagen, das war seine letzte Fahrt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Falls du verstehst, was ich meine?« Er lächelte boshaft.

Kapitel 3

»I’ve played all my cards«, sagte Anton Brekke zu den drei Männern, die keineswegs frischer aussahen als er selbst. Seine Stimme klang heiser. Als hätte er die ganze Nacht Whisky gesoffen und Zigarren geraucht. »And that’s what you’ve done, too.« Er stand auf. Signalisierte dem Veranstalter und Inhaber des Autohauses, dass er aussteigen wollte. Er wandte sich wieder den drei Männern zu, die so wenige Chips vor sich liegen hatten, dass Anton sich fragte, ob es bei ihnen für einen Hotdog auf dem Heimweg reichen würde. Vielleicht, wenn sie zusammenlegten. »Nothing more to say. No more ace to play.«

Der Veranstalter kam, schob die Stapel an Antons Platz zusammen und ging mit den Chips zu dem Safe in der Ecke, um sie zu wechseln. Anton griff nach dem Sakko, das über seiner Stuhllehne hing. Schlüpfte hinein und sah die Männer noch einmal an. Alle drei starrten mit zusammengepressten Lippen zurück.

»The winner takes it all«, sagte er mit vor Pathos triefender Stimme. »The loser’s standing small.« Er lachte höhnisch.

Alle drei sahen so aus, als wollten sie ihm jeden Moment an die Gurgel springen.

»Ganz ruhig. Genießt lieber den Moment. Nutzt die Gelegenheit, euch ein paar gute Ratschläge abzuholen, denn so nah werdet ihr einem Profi sicher nicht mehr kommen – es sei denn, wir spielen irgendwann noch mal gegeneinander.« Er grinste.

»Halt bloß das Maul, oder ich komm rüber«, sagte der eine, ein robuster Nordnorweger, der noch vor wenigen Stunden damit geprahlt hatte, wie viel Geld er als Fischer verdiente. Heute war er um zwanzigtausend erleichtert worden, den größten Teil davon hatte Anton eingestrichen.

»Uhh.« Anton zog die Schultern hoch und schlang die Arme um den Körper. »Ich zittere schon.«

Der Mann am Safe winkte Anton zu sich herüber.

»Ich wusste gar nicht, dass du ABBA-Fan bist«, sagte er.

»Mir ist nichts Passenderes eingefallen als ›The Winner T…‹«

»Ich kenn das Lied«, unterbrach ihn der Veranstalter und reichte Anton einen braunen Umschlag. »57 400 Kronen. Ganz ordentlich, würd ich sagen.«

»Bisschen mehr als 1500 die Stunde. Minus die 10 000, mit denen ich mich eingekauft habe. Auch nicht mehr, als ein durchschnittlicher Anwalt verdient.« Anton nahm den Umschlag und steckte ihn in die Innentasche seines Sakkos. »Ja, doch. Ich hab gut gespielt.«

»Eine ordentliche Portion Glück war auch dabei«, erwiderte der Veranstalter, der alle großen Pots mitverfolgt hatte.

»So was wie Glück existiert in meinem Leben nicht. Ich hab was ganz anderes als Glück. Und weißt du, was das ist?«

Der Veranstalter sah ihn fragend an und seufzte ein »Nein«.

»Talent. Ich bin gut. Begabt. Manche würden sogar behaupten, dass ich der Beste bin, aber …«, Anton fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft, »… zum Glück bin ich bescheiden genug zuzugeben, dass es da draußen noch den einen oder anderen gibt, der besser ist als ich. Da fallen mir locker etliche ein: Phil Ivey, Daniel Negreanu, Gus Hansen, Scotty Nguyen, Phil Hellmuth …« Anton hielt inne. Sah zur Decke und runzelte die Stirn. »Nein, vergiss Phil Hellmuth. Ich bin besser als er.«

Der Veranstalter schüttelte genervt den Kopf. »Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Yes, Baby«, antwortete Anton. Dann wandte er sich zur Tür. Kam an dem Tisch vorbei, an dem die drei Spieler saßen, die er eben abgezockt hatte. Sie starrten allesamt auf denselben Punkt in dem grünen Filz. Während er sich im Schneckentempo zur Tür bewegte, fing er an, die Melodie von The Winner Takes It All zu pfeifen. Er drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Tür auf.

Obwohl die Sonne nur mit Mühe durch einen schmalen Riss in der Wolkendecke blinzelte, blendete sie Anton heftig. Er kniff die Augen zu, drehte sich um und machte sie langsam wieder auf. Rieb sich das Gesicht und gähnte. Auch wenn es annähernd zehn Grad minus sein musste, war die Kälte äußerst wohltuend. Er glühte. Seit ziemlich genau 36 Stunden war er nicht mehr an der frischen Luft gewesen. Davon hatte er schätzungsweise 30 Stunden gespielt, die übrigen sechs hatte er schlafend auf der Rückbank eines neuen Kombis in der Ausstellungshalle verbracht, wofür er sich einen Rüffel vom Veranstalter eingehandelt hatte, der der Ansicht war, er hätte sich zumindest in einen Gebrauchtwagen legen können.

Sein Handy vibrierte in der Jackentasche. Das Wort Papa blinkte auf dem Display. Anton nahm das Handy ans Ohr und sagte: »Hallo.«

»Anton …?« Obwohl er noch nie erlebt hatte, dass bei seinem Sohn ein anderer ans Handy gegangen war, fragte Antons Vater bei jedem Gespräch nach, ob er mit Anton sprach.

»Ja, Papa, ich bin’s.«

»Wie geht’s dir?«

Anton ließ sich lautstark über seinen Gewinn aus. Für ihn würden allem Anschein nach gute Zeiten anbrechen, die Tausender nur so hereinflattern.

»Du hast gesagt, dass du mit dem Unfug aufhörst. Nur Idioten verspielen ihr Geld.«

»Weiß ich, aber ich gewinne d…«

»Ja, diesmal schon«, unterbrach ihn sein Vater. »Das hast du von deinem Onkel. Der hat Haus und Hof verspielt. Und bald hat er sich vermutlich auch zu Tode gesoffen. Wenn es nicht schon passiert ist. Wir haben lange nichts mehr von ihm gehört.« Sein Vater seufzte resigniert. »Aber ich ruf nicht an, um dir die Leviten zu lesen. Bald ist Weihnachten.«

Natürlich. Hätte er ein wenig nachgedacht, wäre ihm sofort klar gewesen, was sein Vater wollte. Seit Anton von zu Hause ausgezogen war, rief ihn sein Vater jedes Jahr Mitte Dezember an. Immer wieder das gleiche Spiel. Anstatt seinem Sohn auf gut Glück etwas zu kaufen, ging er mit ihm zu seinem alten Arbeitgeber, Goldschmied Ambjørnsen in Fredrikstad. Sein Vater war schon immer an Gold und Edelsteinen interessiert gewesen, an höchster Stelle stand bei ihm jedoch das Uhrmacherhandwerk. 45 Jahre lang hatte er in diesem Beruf gearbeitet.

Anton stöhnte. »Richtig, Weihnachten.«

»Genau. Vor ein paar Tagen habe ich Truls Petter Ambjørnsen getroffen, der hat mir erzählt, dass sein Sohn nach und nach den Laden übernimmt. Vielleicht sollte ich demnächst mal hinfahren und Hallo sagen und ihm erzählen, dass ich vor vielen Jahren für seinen Großvater gearbeitet habe. Da freut er sich bestimmt. Truls Martin heißt er, soweit ich weiß. Vielleicht hab ich Glück und find was im Sonderangebot.«

»Ja, wär ja auch höchst seltsam, wenn du mal den vollen Preis für was bezahlen würdest.« Anton grinste.

»Da hast du recht«, antwortete sein Vater ernst. »Was wünschst du dir?«

Anton blinzelte in die Sonne. Musterte die Omega an seinem Handgelenk. »Weiß nicht. Eine Breitling vielleicht? Oder eine Bulgari?«

»Eine Bulgari?«, hustete sein Vater. »Ich bin doch kein Millionär! Hast du nicht erst vor ein paar Jahren eine Omega bekommen? Gefällt sie dir nicht mehr?«

»Doch, klar … Fahr du nur runter und schmier dem dritten Truls Honig um den Mund. Wenn du den Geizkragen spielen willst, kann ich mir jederzeit …«

»Nix«, unterbrach ihn sein Vater. »Geld kriegst du keins. Du Lümmel. Ich melde mich. Mach’s gut. Mama lässt übrigens grüßen. Also bis dann.«

Noch bevor Anton etwas sagen konnte, hatte sein Vater aufgelegt.

Er spiegelte sich in den großen Fenstern des Autohauses. Nahm den Schlips ab, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche. Er sah müde, ungepflegt und dreckig aus. Sein weißes Hemd hatte drei Flecken auf der Brust. Dennoch hatte er eine gewisse Ausstrahlung. Er war ein Siegertyp. Das sah er seinem Spiegelbild in der Scheibe an.

Gab es überhaupt etwas, was er nicht hinbekam? Heute jedenfalls nicht. Heute war sein großer Tag. Und den wollte er genießen. Dass er in den letzten zwei Tagen höchstens sechs Stunden Schlaf bekommen hatte, spürte er nicht.

Bis er im Hinterzimmer des Autohauses einen Pot nach dem anderen abzuräumen begann, hatte er Angst gehabt, ihn verloren zu haben: seinen Instinkt, der noch vor wenigen Jahren so ausgeprägt gewesen war. Seinen Instinkt, der ihm sagte, ob er hinschmeißen, mitgehen oder erhöhen sollte. Seinen Instinkt, der ihm sagte, ob er das Richtige oder Falsche tat – bevor er die Entscheidung traf. Leider war dieser Riecher merklich schwächer geworden. Außerdem konnte er Gesichter nicht mehr so gut lesen, aber vermutlich lag das daran, dass Anton immer häufiger Internetpoker und kaum noch vis-à-vis spielte. Ein Talent musste gepflegt werden, andernfalls verkümmerte es, das war doch logisch.

Anton sagte dem Taxifahrer, er wolle nach St. Hanshaugen, sie müssten vorher aber noch einen Stopp im Bogstadveien einlegen, bei Meny. Hinter der Fleischtheke stand ein junger Verkäufer, auf dessen linker Wange etliche prall gefüllte Eiterpickel prangten, deren Anordnung an den Großen Wagen erinnerte. Anton bat ihn, ihm vier Zentimeter von seinem feinsten Chateaubriand abzuschneiden.

»Schatobra was?«, der Verkäufer machte ein ratloses Gesicht.

Anton sah ihn an. Zwei Sekunden lang fixierte er den Großen Wagen, bevor er wieder Augenkontakt herstellte. »Filet. Vom Rind. Haben Sie das?«

»Jawohl.«

»Ich spreche von einem ganzen. An dem noch niemand rumgeschnippelt hat. Und butterweich soll es sein, kapiert? Ich will keins, das gerade frisch aus dem Tier herausgeschnitten wurde.«

Der Verkäufer nickte und verschwand in dem angrenzenden Raum, in dem die Delikatessen zubereitet wurden, die jetzt die meterlange Frischetheke zierten.

Klatschend landete das Filet auf der Theke. »Das ganze?«

»Nein, ein Stück aus der Mitte. Vier Zentimeter dick.«

»Das wäre dann ungefähr so viel«, sagte der Verkäufer und maß das Fleischstück mit seinen beiden Zeigefingern ab.

»Ihr Augenmaß funktioniert jedenfalls bestens.«

»Schatobra … Noch nie gehört«, sagte er, als er das Stück abschnitt.

»Sagt auch fast niemand außer mir …«

»Ach so«, grinste der Verkäufer, »dann wundert mich das nicht.«

Anton wartete, bis er aufblickte, und fügte hinzu: »… und sämtlichen Köchen auf der Welt.«

Ohne ein weiteres Wort nahm er das Stück Fleisch entgegen und ging weiter. Füllte seinen Korb mit zwei Flaschen Cola, einer Tüte Kartoffelspalten, Champignonsoße, frischen Pfifferlingen, einer Dose Maiskölbchen und dem Nachtisch: einem mit Schokolade überzogenen Weihnachtsschwein aus Marzipan. Er blieb stehen und musterte die vielen roten Schachteln, die sich mitten im Gang stapelten. Tüten mit allerlei Süßigkeiten, mit Schneeflocken und Wichteln verziert, damit sie sich in dieser Jahreszeit besser verkauften. Und es funktionierte. Er packte zwei weitere Marzipanschweine in den Korb.

Eine Stunde später erfüllte der Duft von gebratenem Fleisch die gesamte erste Etage von Antons Wohnblock in St. Hanshaugen. Zweimal war der Rauchmelder losgegangen, sodass Anton schließlich die Wohnungstür und das Fenster im Wohnzimmer öffnen musste. Die ältere Dame, die bei ihm gegenüber wohnte, hatte auf dem Weg zur Treppe den Kopf hereingestreckt und voller Unverständnis gefragt, wie es möglich sei, dass so ein stattlicher Polizist, der obendrein noch kochen konnte, allein wohnte. Woraufhin Anton erwidert hatte: »Ja, das soll mal einer verstehen. Aber Sie wissen ja, Undank ist der Welten Lohn.«

»Ja, ja, das stimmt«, hatte sie geantwortet und war vorsichtig die Treppe hinuntergestiegen.

Er ließ das Filet einen Moment ruhen, bevor er es zusammen mit den gebratenen Pfifferlingen, den Kartoffeln und dem Mais auf einen Pappteller bugsierte. Vorsichtig goss er die Soße über die Kartoffeln. Holte eines der beiden Steakmesser, die er sich zugelegt hatte, als er vor vier Jahren hier eingezogen war. Bevor er auf den Stuhl am Küchentisch sank, schloss er die Wohnungstür und stellte das Fenster auf Kipp. Mit dem Messer hebelte er den Kronkorken von der Cola-Flasche, nahm einen Schluck und griff nach der Gabel. Schnitt ein großes Stück Filet ab. Rosa. Perfekt.

Der erste Bissen war gerade auf dem Weg zu seinem Mund, als sein Handy auf der Küchenbank vibrierte.

Anton legte die Gabel weg. Sah auf das Display und lächelte.

»Hallo«, sagte er und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen.

»Hallo Anton«, sagte Elisabeth Brekke Olsen. »Geht’s dir gut?«

»Bestens. Nahezu perfekt. Kann ich fabelhaft sagen, oder klinge ich dann wie eine deiner Freundinnen?«

Sie sagte nichts.

»Und wie geht’s dir und Alex?«, fuhr Anton fort, als er keine Antwort erhielt. Er sah zur Decke. »Ich dachte, wir könnten mal wieder was zu dritt unternehmen. Von morgen bis Sonntagnachmittag hab ich Dienst. Wie wär’s mit abends? Deshalb rufst du doch an, oder? Um mir zu sagen, dass du mich vermisst?«

Er setzte sein breitestes Lächeln auf und wusste, dass sie ihn gut genug kannte, um es durch die Leitung zu spüren. Sein charmantes und zugleich arrogantes Ich-kriege-immer-was-ich-will-Lächeln, mit dem er nicht nur sie, sondern auch schon ihre Eltern bezirzt hatte. Seit ihm dessen Wirkungsmacht aufgegangen war, hatte er sich mit diesem Lächeln durchs Leben manövriert.

»Ähm …«

»Den Unterhalt hab ich nämlich überwiesen«, versicherte er kurz.

»Deshalb ruf ich nicht an …«

»Na gut, aber ich hab ihn am Freitag überwiesen.«

»Schön. Aber …« Kurze Pause. »Ich hab das Haus verkauft.« Die letzten Worte kamen so unerwartet, dass Anton sie fast nicht verstand.

Er schob den Teller ein paar Zentimeter von sich weg und stützte die Ellenbogen auf.

»Echt …?« Mit einem Mal war sein Tonfall ernst. Sie sagte nichts.

»Warum?«, fragte er weiter. »Wohl kaum, weil du es ohne mich nicht mehr darin ausgehalten hast?«

Schweigen. Dann sagte sie reserviert: »Alex und ich ziehen nach Ullern.« Sie hätte noch hinzufügen können: basta. Und keine Diskussion. Denn genau das wollte sie sagen. Und es gab auch nichts zu diskutieren, das Haus gehörte jetzt ihr. Zumindest hatte es ihr gehört.

Anton wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte seinen Sohn vor acht Tagen zuletzt gesehen, da hatte er nichts von einem Umzug erwähnt. Schweigend ließ er die letzten Wochen Revue passieren. Vor gut einem Monat waren sie zu dritt essen gewesen, um Alexanders zwölften Geburtstag zu feiern. Elisabeth, die in den vergangenen vier Jahren ständig wegen verspäteter Unterhaltszahlungen herumgenörgelt hatte, hatte gestrahlt wie ein fünfkarätiger Diamant in gleißendem Sonnenlicht. Sie war wie bei ihrer ersten Begegnung gewesen. Hatte ihn mit demselben schüchternen Blick angesehen wie damals, als sie zum ersten Mal zusammen aufgewacht waren, dem Blick, mit dem sie alles von ihm bekommen konnte, wie sie später herausfinden sollte. Bei ihrem gemeinsamen Abendessen vor gut einer Woche hatte sie ihm sogar liebevoll einen kleinen Fussel vom Jackenärmel gestrichen. Und noch weitergemacht, als der Fussel längst weg war. In jener Nacht hatte er kein Auge zugetan und hin und her überlegt, wie er ihre Beziehung nur gegen die Wand hatte fahren können. Er wusste, warum, am schlimmsten jedoch war die Erkenntnis, dass er es beim nächsten Mal wieder ganz genauso machen würde. Denn Tage wie den heutigen wollte er um nichts in der Welt missen. Obwohl er Elisabeth gern zurückhätte, wusste er, dass ihn die Sucht – der unbedingte Drang zu gewinnen – erneut überkommen würde.

In den letzten vier Wochen hatte sie ihn dreimal angerufen. Hatte sich erkundigt, wie es ihm ging, wie es auf der Arbeit lief und ob es abends oft spät würde. Letzteres war ihre Art zu erfragen, ob er viel Geld verloren hatte. Beim letzten Anruf hatte Anton vorgeschlagen, dass sie sich einmal zu zweit treffen könnten, nur sie beide. Sie könnten bei einem Kaffee oder einem Abendessen ein wenig plaudern. Einem etwas besseren Abendessen, zu dem er sie sogar einladen wollte. Doch sie hatte davon nichts wissen wollen. Deshalb habe sie nicht angerufen, und es tue ihr leid, wenn er sie missverstanden habe. Dann hatte sie aufgelegt.

Auch wenn die richtigen Schlussfolgerungen zu seinen größten Stärken gehörten, in Bezug auf Elisabeth hatte er sich dahingehend noch nie versucht. Bis jetzt, und jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Sie hatte jemanden kennengelernt und würde mit dieser Arschgeige von nun an dauerhaft das Schlafzimmer teilen. Deshalb war sie beim Abendessen so komisch gewesen. Deshalb hatte sie ihn in den darauffolgenden Wochen angerufen. Und deshalb hatte sein Sohn auch nichts gesagt. Seine Mutter hatte ihn gebeten zu schweigen, weil sie es Anton selbst erzählen wollte. Aber dann hatte sie sich nicht getraut, denn sie wusste nicht, wie er es aufnehmen würde. Bis jetzt, wo der Umzugswagen aller Wahrscheinlichkeit nach schon mit laufendem Motor im Hof stand.

»Verstehe«, sagte Anton kurz angebunden. Er wartete ein paar Sekunden. Versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. »Wer ist der Kerl?«

Sie seufzte.

»Ich höre?«, bohrte er weiter.

»Ich habe jetzt nicht viel Zeit, Anton. Ich wollte nur schnell anrufen und dir Bescheid geben. Dachte irgendwie, dass ich dir das schuldig bin.«

»Dachte irgendwie, dass ich dir das schuldig bin … Das ist ja wohl das Understatement des Jahres. Wofür hast du gerade keine Zeit? Mir zu sagen, wie er heißt?«

»Ja.«

Anton grinste. »Ist das dein Ernst? Solange es sich nicht um meinen Bruder oder einen Kollegen handelt, ist es mir scheißegal.«

Er wusste, dass er log.

Sie wusste, dass er log.

»Du willst ihn nur durch sämtliche Datenbanken jagen und gründlich durchchecken.«

»Yes.«

»Jetzt reiß dich zusammen«, sagte sie angesäuert.

»Mich zusammenreißen?« Er stand auf. »Ich soll mich zusammenreißen?«

»Na prima«, sagte sie sarkastisch. »Jetzt regst du dich doch auf. Genau das wollte ich vermeiden.«

»Findest du das so merkwürdig, dass ich wissen will, bei wem mein Sohn einzieht?«

Sie antwortete nicht.

»Na gut«, fuhr er fort. »Ist er bei dir? Willst du es deshalb nicht sagen?«

»Ich will keinen Streit zwischen euch beiden. Das sage ich dir gleich. Das ertrage ich nicht. Unterm Strich werde nämlich nicht ich die Leidtragende sein, sondern Alex.«

»Meinst du, er stellt sich mir vor, wenn ich ihn an den Haaren aus dem Haus ziehe und ihm die Fresse eintrete?«

Es machte klick.

»Elisabeth? Hallo?«

Sie hatte aufgelegt.

»Scheiße«, murmelte er. Dann rief er sie noch einmal an. Er musste es neunmal klingeln lassen, bevor sie abnahm: »Ja …?«

»Entschuldige«, setzte er an. »Es tut mir leid. Okay? Kein Grund, sich zu streiten. Aber ich will seinen Namen wissen, und zwar jetzt. Es ist ja wohl kein Geheimnis, du bist diejenige, die die Sache unnötig kompliziert macht.«

Nach einer langen Pause sagte sie: »Aber du verstehst vielleicht, warum ich nicht gerade scharf darauf bin, es dir jetzt zu erzählen, wenn du so sauer bist?«

»Klar. Aber da es nun mal so ist, dass Alex dort wohnen soll, werde ich ihn so oder so gründlich durchchecken. Wöchentlich. Täglich.«

»Herlov Langgaard«, sagte sie und atmete hörbar aus.

»Der Investor? Der Typ, der unser Haus taxiert hat?«, entfuhr es Anton.

»Mmh.«

»Ich glaub, ich muss kotzen.«

Diesmal war er derjenige, der auflegte. Schlagartig fühlte er sich, als hätte ihn ein Schwergewichtsboxer zusammengeschlagen. Die gute Laune war ihm vergangen, und auch der Appetit.

Kapitel 4

Bernandas steckte sich den Finger ins Ohr. Drehte ihn energisch hin und her und zwang sich mehrmals zu einem Gähnen. Der Druck in seinen Ohren hatte sich aufgebaut, als er den tiefsten Punkt des 3,7 Kilometer langen unterseeischen Tunnels erreicht hatte, der zu der Insel führte, auf der er den Empfänger treffen sollte. Nachdem er fünfmal gegähnt hatte und sein Gehörgang bereits schmerzte, ließ der Druck endlich nach. Er warf einen Blick auf sein GPS-Gerät. Noch etwas mehr als vier Kilometer, dann war er da. Unmittelbar nach dem Tunnel lenkte er den Wagen in eine nur mäßig von Schnee geräumte Bushaltebucht. Bei laufendem Motor tippte er die Nummer seiner Schwester in das Handy.

»Taip?« Ja?

»Sveiki, tai Bernandas.« Hallo, ich bin’s, Bernandas.

»Hallo!«, sagte sie laut. »Wessen Nummer ist das?«

»Die benutze ich nur vorübergehend. Wie geht’s dir?«

»Großartig!«, rief sie. »Habe heute die Note meiner letzten Prüfung erfahren. Eins minus.«

Bernandas lächelte stolz. »Alles andere hätte mich auch überrascht.«

Sie kicherte. »Ich war mir ganz sicher, nicht bestanden zu haben.«

»Das denkst du jedes Mal, a…«

»Wo bist du?«, unterbrach sie ihn.

»Im Moment bin ich in Norwegen.«

»In Norwegen?«

»Ja, aber in ein paar Stunden bin ich wieder in Schweden und auf dem Weg nach Vilnius.«

»Norwegen … Schweden? Wieso das denn?« Ihre Stimme klang jetzt misstrauisch. »Was treibst du, Bernandas? Du machst doch keine Dummheiten?«

»Nur ein kleiner Kurierdienst«, sagte er beschwichtigend. »Gut bezahlt, und bald ist ja Weihnachten, da hab ich mir gedacht: Warum nicht?«

»Bernandas.« Es entstand eine kurze Pause. Ihr Atem hatte sich verändert, als hätte sie eben noch im Bett gelegen und sich plötzlich aufgerichtet. »Keine Dummheiten?«

Ihr Tonfall war exakt der gleiche, mit dem auch seine Mutter ihn als kleinen Jungen bei unzähligen Gelegenheiten zurechtgewiesen hatte.

»Aber nein«, log er. »Keine Sorge.«

»Das klingt nicht besonders überzeugend. Du hast doch gesagt, du arbeitest als Zimmermann?«

»Das mach ich jetzt schon seit einer Weile, und ist auch in Ordnung, aber nicht im Winter. Dann hab ich diesen Job angeboten bekommen. Ich bring dir was Schönes mit.«

»Und was genau fährst du …?«

»Ein Auto«, sagte er schnell, und bevor sie ihre Frage umformulieren konnte, fügte er hinzu: »Ich muss jetzt aber Schluss machen. Ich ruf dich morgen Vormittag an. Hab dich lieb.«

»Bern…«

Er legte auf. Schob das Handy unter den Schenkel und fuhr wieder auf die Straße. Schneebedeckte Äcker gingen in weihnachtlich geschmückte Wohngebiete über. Sogar die Bäume in den Gärten waren mit Hunderten kleiner Lämpchen dekoriert. Schmale Sträßchen schlängelten sich zwischen großen Häusern hindurch.

Bernandas berührte das Minuszeichen auf dem Touchscreen des GPS-Geräts. Nachdem er seit seiner Abfahrt in Malmö mehr als sieben Stunden unterwegs gewesen war, hatte er sein Ziel nun fast erreicht, noch 460 Meter, dann hatte er die Hälfte seiner Reise geschafft.

Er nahm an, dass hier vor nicht allzu langer Zeit noch überhaupt keine Häuser gestanden hatten. Die Hälfte der Einfamilienhäuser sah aus wie Baustellen. Langsam fuhr er das letzte Stück Straße hinauf. Sein Blick wanderte zwischen dem kleinen Bildschirm und der Fahrbahn hin und her. Er verlangsamte das Tempo und blickte suchend durch die Windschutzscheibe, als die Straße plötzlich an einem Wendeplatz endete. Dem GPS zufolge waren es noch 400 Meter. Ein provisorischer Parkplatz mit zwei Reifenspuren im Schnee war offensichtlich die letzte Haltemöglichkeit. Dahinter erstreckten sich nur noch Bäume, so weit das Auge reichte.

Er musste den Rest zu Fuß gehen.

»Pragaras!« Verdammt!

Bernandas schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Frustriert lehnte er sich in dem klammen Sitz zurück, auf dem er insgesamt mehr als dreißig Stunden verbracht hatte. Der rote Punkt auf dem Display markierte den Treffpunkt. Er blinkte hell. Bernandas stellte den Motor ab. Fischte eine Zigarette aus der Packung, die er an einer Shell-Tankstelle gleich hinter der norwegischen Grenze gekauft hatte, und sprang aus dem Wagen. Seine Winterstiefel versanken im Schnee. Die dicke blaue Daunenjacke konnte die Kälte nicht abhalten. Der Wind, dem der Wald mit seinen dicht stehenden Bäumen nichts an Kraft zu nehmen schien, traf Bernandas mit unverminderter Wucht. Mit dem GPS in der Hand bewegte er sich auf den Treffpunkt zu. Die digitalen Ziffern in der rechten oberen Ecke zeigten 18:45. Noch eine Viertelstunde – wenn er den Weg hier draußen überhaupt fand.

Zwischen den Windböen verfluchte er Doskino, Arturas und diese Eiswüste namens Norwegen. Auch zu Hause in Litauen wurde es mitunter kalt, aber hier konnte man sich vor Kälte ja kaum vorwärtsbewegen.

Auf dem Parkplatz hatte er nicht verstanden, warum sie ausgerechnet diesen Ort als Treffpunkt gewählt hatten, aber nachdem er etwa zwölf Minuten durch den Schnee gestapft war, in Richtung Meer, das gegen die Felsen schlug, wusste er wieso. Niemand mit redlichen Absichten war so verrückt, sich in dieser Jahreszeit hier draußen aufzuhalten.

Nach zwanzig Minuten hatte er jegliches Gefühl in Fingern und Zehen verloren. Zwischen ein paar Fichten konnte er das kleine rote Haus erkennen, das man ihm vor seiner Abreise beschrieben hatte. Er ging schneller. Bahnte sich einen Weg durch den Schnee. Schob die Zweige beiseite, damit sie ihm nicht ins Gesicht schlugen.

Das Schrillen einer altmodischen Türglocke durchschnitt das Heulen des Windes, fast gleichzeitig ertönte die Frauenstimme, die ihm seit seiner Abfahrt in Litauen Gesellschaft geleistet hatte, und teilte ihm mit, er sei am Ziel seiner Reise angelangt. Endlich, dachte er und klopfte an die kleine Scheibe in der Tür. Er wusste, was er sagen würde, wenn der Mann die Tür öffnete: Was war das bloß für eine Schnapsidee, sich hier draußen ein Haus zu bauen? Du Blödmann.

Doch niemand öffnete. Auf der Treppe sah er Fußabdrücke, die nicht sehr alt sein konnten. Der Schnee hatte sie noch nicht vollständig bedeckt.

Keine Reaktion. Er klopfte erneut. Wartete. Sah auf die Uhr. 19:05. Fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit.

»Pragaras!«, schrie er und trat gegen die Tür.

Er ging die vier Stufen hinunter. Machte eine Runde ums Haus und schaute in alle Fenster, die in seiner Reichweite lagen. Nirgendwo brannte Licht.

Auf der Nordwestseite des Hauses, vor den ärgsten Windböen geschützt, blieb er stehen und dachte nach. Was sollte er tun? Er senkte den Kopf und steckte die Hände in die Hosentaschen. So verharrte er einige Minuten, bis er plötzlich zusammenfuhr und fieberhaft seine Jackentaschen abklopfte. In der Innentasche wurde er fündig. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, wenn er es im Auto vergessen hätte. Mit steif gefrorenen Fingern entriegelte er die Tastensperre und öffnete den einzigen eingespeicherten Kontakt: Doskino. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille, dann hörte er endlich den Klingelton.

»Ja?«, fragte der alte Russe auf Englisch.

Keinerlei Überschwang. Keine Freude, dass Bernandas anrief und ihm mitteilte, er sei gut angekommen. Völlige Gleichgültigkeit.

»Ich bin’s, Bernandas.«

»Ich weiß. Was willst du?«

Es knisterte in seinem Ohr. Der Empfang war schlecht.

»Der Kerl, den ich treffen soll, ist nicht hier.« Bernandas klang vorwurfsvoll. »War doch sieben Uhr, oder?«

Keine Antwort. Bernandas wiederholte seine Worte noch einmal.

»Ja. Und du bist sicher, dass du am richtigen Ort bist?«

»Wenn du die richtigen Koordinaten ins GPS eingegeben hast, bin ich auch am richtigen Ort – ja. Alles ist genau so, wie du gesagt hast. Ein kleines rotes Haus mitten in der Pampa. Und ich steh hier bis zum Hals im Schnee und frier mir die Eier ab.«

»Bist du ganz sicher, dass du am richtigen Ort bist?«

»Ich kann ja wohl noch einem GPS folgen.«

»Sekunde. Ich ruf dich zurück.«

»Sch…«

Doskino hatte schon wieder aufgelegt. Bernandas beugte sich vor und nahm das GPS, das er sich zwischen die Knie geklemmt hatte, in die Hand. Auch wenn er sicher war, am richtigen Ort zu sein, wollte er es noch einmal überprüfen. Pfeil und Punkt waren an exakt derselben Stelle. Er hatte sich nicht geirrt. Weder in der Zeit noch im Ort. Der Blödmann war nicht da, und jetzt stand er hier wie ein Trottel in dieser arktischen Kälte und würde sich eine Lungenentzündung holen – wenn nicht gar Schlimmeres.

Auf einmal kamen ihm die dreitausend Euro, die man ihm für den Job versprochen hatte, doch nicht mehr so viel vor.

»Verdammte Amateure!«, rief er und schlug mit der Faust gegen die Wand.

Wenige Minuten später klingelte sein Handy. Die Nummer wurde unterdrückt, aber es konnte nur einer sein.

»Wie sieht’s aus?«, Bernandas kam gleich zur Sache.

»Arturas’ Bruder, dieser Junkie, hat das Treffen vereinbart. Als er Arturas informiert hat, gab’s ein Missverständnis. Der Empfänger kommt um Mitternacht.«

»Willst du mich verarschen? Um Mitternacht? Was soll ich …«, er sah auf die Uhr, obwohl er nur zu gut wusste, wie spät es war, zwölf nach sieben, »… in den fünf Stunden machen? Rumsitzen und mich am Sack kraulen?«

»Beruhig dich, Bernandas.«

»Und was mach ich, wenn er nicht kommt?«

»Glaub mir – er kommt.«

»Und wenn nicht?«

»Dann gibt’s auch kein Geschäft. Das spielt für uns keine Rolle. Wir wurden schon bezahlt. Nimm die Ware mit rein und warte dort auf ihn.«

»Wo ist der Schlüssel?«

Doskino seufzte laut. »Seit wann hindern dich Schlösser am Reinkommen?«

»Na schön, ich kann warten, aber ich geh nicht zurück und hol die Ware. Bei dem Schnee dauert das zwanzig Minuten.«

»Wie bitte?«, rief der Alte aufgebracht, Bernandas hatte ihn noch nie so erregt erlebt. »Du hast die Ware nicht dabei?«

»Die liegt im Wagen«, antwortete Bernandas gleichgültig und zündete sich eine neue Zigarette an. »Außerdem sollte ich die Finger davon lassen. Ich sollte nicht mal nach ihr suchen. Hast du das etwa schon vergessen?«

»Ja, bis du zum Treffpunkt kommst, du Trottel. Du gehst sie jetzt sofort holen.«

»Ich hol sie, wenn der Empfänger kommt. Glaub mir, niemand außer mir ist so bekloppt, hier bei dem Wetter draußen rumzurennen.«

»Du holst auf der Stelle die Ware, sonst brauchst du überhaupt nicht zurückzukommen.«

Bernandas nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und seufzte. »Na schön, wo liegt sie?«

Kapitel 5

Es war weit nach acht, als Bernandas Mielkos mit der Ware zurückkam. In einer Kommode hatte er Teelichter gefunden und auf dem Tisch verteilt. Es gab zwar Strom, aber er wollte keine Festbeleuchtung haben. Die Teelichter mussten reichen.

Von seinen Bekannten aus Vilnius hatten einige Alkohol und Zigaretten geschmuggelt. Andere Welpen. Winzig kleine Chihuahuas, die man an den Pfoten gefesselt und betäubt hatte, damit sie an den Grenzübergängen nicht winselten. Er hatte auch von Leuten gehört, die Mädchen schmuggelten. Junge Mädchen zwischen fünfzehn und sechzehn, die an wohlhabende Männer mit einer Vorliebe für unberührte Natur verkauft wurden. Letzteres brachte offenbar eine Menge ein, jedenfalls mehr als Alkohol und Zigaretten. Aber definitiv weniger als Crystal Meth. Er war sich des hohen Risikos bewusst gewesen, aber die Aussicht auf leicht verdientes Geld ließ die Gefahr schnell in den Hintergrund treten. Zugegeben, am Übergang nach Schweden war er nervös geworden. Und auch an der norwegischen Grenze war er angespannt gewesen, obwohl man ihm versichert hatte, dass es dort keine Zollkontrolle geben würde. Als er die Ware aus dem Wagen holte, war er zunächst überrascht gewesen. Dann skeptisch. Egal ob es sich um Heroin, Kokain oder Amphetamin handelte: Er hatte gehört, diese Drogenköter könnten schon fünf Gramm riechen, die in einem Benzintank versteckt waren. Wo oder worin die Drogen versteckt waren, spielte keine Rolle. Die Hunde waren darauf trainiert, die chemische Zusammensetzung zu wittern. Als er endlich Zeit hatte, sich hinzusetzen und seine Gedanken zu sortieren, wurde ihm schlagartig klar, warum der Köter in Malmö bei seinem Wagen nicht angeschlagen hatte. Eben weil es ein Drogenhund war.

Er hatte nämlich weder Kokain noch Heroin, Amphetamin oder Ecstasy von Litauen nach Norwegen gebracht: Stattdessen hatten ihn im Schein der Teelichter vier braune Augen angeschaut. Sie hatten nicht viel gesagt. Noch nicht jedenfalls. Die beiden Jungen wirkten erschöpft. Der Jüngere war aufgewacht, als Bernandas hinten im Laderaum die obere Abdeckung des Bettes hochgeklappt hatte, unter dem sich ein Hohlraum verbarg. Der Junge hatte getreten und um sich geschlagen. Bernandas hatte ihn gepackt und gesagt, er solle die Klappe halten. Dann hatte er ihn auf einen der beiden Stühle gesetzt, die auf der Ladefläche festgeschraubt waren. Den Älteren musste er aus tiefstem Schlaf wachrütteln.

Darum hatte Arturas gesagt, er würde die Ware über Nacht reinholen. Die beiden Jungen mussten bei ihm im Haus geschlafen haben, und bevor Bernandas Richtung Norwegen aufgebrochen war, hatte Arturas ihnen noch ein Schlafmittel eingeflößt und sie wieder im Wagen versteckt.

Dreitausend Euro hierfür? Diese linken Schweine! Fünftausend wären das Mindeste gewesen!

Bernandas saß da und glotzte die beiden an. Beide trugen dünne Wollpullover und Jogginghosen. Der Ältere starrte zurück.

»Kur yra senas gražus vyras?« Wo ist der nette alte Mann?

Auch nachdem er seine Frage gestellt hatte, hielt er weiter Augenkontakt.

»Was?«, fragte Bernandas.

Der Junge wiederholte die Frage.

»Welcher nette alte Mann?«

»Der uns hierhergeschickt hat.« Der Junge erhob sich vom Sofa. »Sollen wir hier wohnen?«

Er wirkte enttäuscht.

»Was macht ihr hier?«, fragte Bernandas.

Er wusste, weshalb junge Mädchen geschmuggelt wurden. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Doskino Geschäfte mit Kindern trieb. Er hatte gehört, dass Eltern mitunter große Summen dafür bezahlten, dass ihre Kinder zu Verwandten in den Westen gebracht wurden, damit sie dort ein besseres Leben hatten. Aber hier draußen erinnerte nicht viel an den Westen. In seiner Heimat war er in Häuser eingebrochen, die im Vergleich zu diesem Schuppen die reinsten Schlösser waren.

»Wir sollen zur Schule gehen und arbeiten«, antwortete der Junge. »Und in einem großen Haus wohnen.«

»Einem großen Haus?«

Er nickte. »Der alte Mann hat mir ein Bild gezeigt.«

»Ach so? Wie alt seid ihr?«

»Ich bin zwölf«, sagte der Ältere.

»Acht«, kam es von dem Jüngeren auf dem Sofa. »Ich heiße Leonas und soll meine Mama treffen. Wie heißt du?« Leonas sah Bernandas neugierig an.

»Bernandas.«

»Deine Mama ist längst tot!«, rief der andere dazwischen, bevor er seinen Namen nannte: Darius.

»Ist sie nicht«, sagte Leonas leise. »Mein Papa ist tot. Meine Mama habe ich noch nie gesehen.«

Großartig, dachte Bernandas. Er hatte den Chauffeur für eine Familienzusammenführung gespielt.

Dreitausend Euro. Das musste ein Scherz sein.

Er blieb sitzen, während Darius die Schubladen einer Kommode durchsuchte. Der Junge fand einen Block mit leeren Blättern und einen Kugelschreiber. Er setzte sich aufs Sofa und riss ein paar Bögen für Leonas ab, bevor er mit dem Zeichnen begann.

»Und womit soll ich malen?«, fragte Leonas.

»Es gibt nur einen Kuli. Falt doch Papierflieger.«

Leonas knuffte den Älteren am Oberarm. Zur Strafe rammte ihm Darius die Faust in den Bauch.