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Der erste Band der Claire-Watkins-Krimiserie Nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes zieht die Polizeidetektivin Claire Watkins mit ihrer zehnjährigen Tochter Meg aus der Großstadt Minneapolis aufs Land, um dort ein neues, friedliches Leben zu beginnen, weit weg von allen quälenden Erinnerungen. So hofft sie. Aber was Claire nicht ahnen kann: ihre Tochter Meg war Zeugin des Mordes an ihrem Vater. Und der Mörder weiß, dass er gesehen wurde ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 415
Mary Logue
Dunkle Ernte
Krimi
Aus dem Amerikanischen von Veronika Cordes
FISCHER Digital
Für Peter, wie immer in Liebe
Ich möchte meiner Schreibgruppe danken: Deborah Woodworth, Tom Rucker, Becky Bohan, Marilyn Bos und Pete Hautman sowie zwei ehemaligen Mitgliedern – Andy Hinderlie und George Sorenson. Ferner ein besonderer Dank an kritische Leser, die mich auf meinem Weg begleitet haben: R.D. Zimmerman, Kate Green, Ruth LaFortune, Dodie Logue und Mary Anne Collins-Svoboda.
Fort St. Antoine ist eine fiktive Stadt. Benannt ist sie nach einem von den Franzosen am Ostufer des Lake Pepin errichteten Fort im heutigen Bundesstaat Wisconsin. Keine der in diesem Buch auftretenden Charaktere ist an tatsächlich existierende Personen angelehnt.
Sie hatte ihrer Mutter fast alles erzählt. Wie der dunkelgrüne Lkw aus der Nacht herangedonnert war, wie die Räder gequietscht hatten, wie ihr Vater erfasst, durch die Luft geschleudert worden und dann auf der Fahrbahn gelandet war. Sie hatte ihr sogar erzählt, wie Dad der Länge nach hingestreckt auf dem schwarzen Teer gelegen hatte, so still, dass es wehtat. Wie der Gedanke, Dad könnte tot sein, sie durchzuckt und sich dann verdichtet hatte, trotz ihrer Bemühungen, ihn zu verdrängen. Dies alles hatte sie ihrer Mutter erzählt, aber es war dennoch nicht alles.
Ein Jahr später bedrückte sie das Geheimnis, das sie bewahrte, noch immer. Es zerrte und nagte an ihr. Ließ sie nicht in Ruhe. Jeden Tag musste sie daran denken. Es machte ihr Angst. Gelegentlich beugte sich die Mutter zu ihr hinunter, strich ihr über die Stirn und sagte: »Meggy, du bekommst ja schon Sorgenfalten. Dazu bist du noch zu jung. Geh doch raus und spiel.« Und Meg brachte es nicht fertig, ihrer Mutter zu sagen, dass sie Angst hatte. Ständig. Weil sie wusste, dass auch ihre Mutter Angst hatte.
Seit sie jedoch auf dem Land lebten, war Meg nach und nach gelöster geworden. Vielleicht weil sie davongekommen war. Vielleicht war jetzt alles vorbei. Vielleicht war sie dem Mann inzwischen egal. Allmählich glaubte Meg, dass er wirklich nicht mehr nach ihr suchen würde.
Deshalb war es umso schlimmer, als erneut die Angst in ihr hochkroch. Heute, nach dem Unterricht, hatte sie gespürt, dass jemand sie beobachtete. Sie hatte absichtlich ein Buch fallen lassen und sich gebückt, um es aufzuheben und sich dabei unauffällig umzusehen. Etwas Verdächtiges hatte sie nicht bemerkt. In einiger Entfernung parkte ein Lastwagen auf der Straße, aber das war nichts Ungewöhnliches. Und doch schoss ihr das Blut wie Metall durch die Adern. Auf der Heimfahrt im Bus hatte sie am Fenster gesessen und hinausgespäht, aber nichts Besonderes bemerkt.
Ihre Mom glaubte, Meg wäre im Haus gewesen, als der Lkw ihren Vater erfasste. Was Meg ihr noch immer verschwieg, war, dass sie hinausgelaufen und dann umgekehrt und zurückgekommen war und sich zwischen die Gardinen geflüchtet hatte – wo ihre Mom sie schließlich entdeckte. Deswegen wusste Meg, dass sie in Gefahr war. Auch wenn ihre Mom Polizistin war, konnte sie nicht jeden vor allem beschützen. Ihr Vater jedenfalls war getötet worden.
Und Meg hatte den Mann gesehen. Sie wusste, wie er aussah. Und er hatte sie ebenfalls gesehen. Ihr war nicht entgangen, wie seine Augen bei ihrem Anblick aufblitzten und kugelrund wurden. Er hatte sie durch die Windschutzscheibe angestarrt, und daraufhin war sie weggerannt. Er wusste, wie sie aussah. Und sie wusste, dass er eines Tages auftauchen und sie erwischen würde.
Als Claire aus ihrem Haus trat, in die untergehende Aprilsonne, warf sie nochmals einen Blick zurück. Wie die Mauern einer Festung ragte der Bluff – das Riff – hinter ihrem Dach in den blassblauen Himmel. Diese schützende Wand war mit ein Grund, weshalb sie dieses alte Farmhaus gekauft hatte. Der Bluff hatte sich aus dem Kalkstein herausgebildet, durch den sich der Mississippi im Laufe der Jahrhunderte sein Bett gegraben hatte. An seinen dem Fluss abgewandten und weit weniger steil abfallenden Flanken wuchsen stachlige rote Zedern, schlanke Birken, schwarze Walnussbäume und Eichen.
Meg, ihre zehnjährige Tochter, zupfte an ihrer Jacke. »Mom, ich lauf schnell mal rüber zu Ramah. Sie steht vor ihrer Tür. Bin gleich wieder da.«
»Ja, lauf nur zu.«
»Aber du musst zuschauen. Schau zu, bis ich drüben bin.«
»Natürlich schau ich dir zu.« Sie zauste Megs Haar und schickte sie los. Ihr geliebtes Töchterchen. Vor allem ihretwegen waren sie nach Fort St. Antoine gezogen. In ihrem Haus in St. Paul hatte sich Meg gefürchtet.
Inzwischen lebten die beiden schon fast neun Monate in Fort St. Antoine. Die Kleinstadt lag etwa eineinhalb Fahrstunden südöstlich der Twin Cities, eingebettet zwischen den Kalkstein-Bluffs und dem Lake Pepin, einem Natursee, der sich im Mississippi gebildet hatte. Die Stadt war nach einem im 18. Jahrhundert errichteten französischen Fort benannt, von dem kaum noch etwas übrig geblieben war. Seine Blütezeit hatte Fort St. Antoine um 1910 erlebt, mit 730 Einwohnern, einer Eisenbahnstation, und dazu noch einer Fähre. Beides gab es inzwischen nicht mehr. Das Städtchen, das einst den Farmern im Umland als wichtiger Verkehrsknotenpunkt gedient hatte, war jetzt allenfalls noch ein Ziel für Tagesausflügler aus den Twin Cities. Etwa 180 Menschen lebten gegenwärtig hier.
Claire riss sich vom Anblick der Bluffs los und sah Meg von Ramahs Haustür aus winken. Ramah, die schon älter war, kümmerte sich jeweils eine oder zwei Stunden um Meg, wenn die Kleine aus der Schule kam.
Claire sah Landers Anderson, ihren anderen Nachbarn, in seinem Garten sitzen, ging auf ihn zu, um kurz mit ihm zu plaudern. »Was gibt’s Neues?«, rief sie ihm entgegen.
»Ich sinniere so vor mich hin.« Er grinste sie unter seiner grün karierten Baskenmütze an, aus der das weiße Haar in Büscheln hervorquoll. Ein altes Green-Bay-Packers-Sweatshirt spannte sich über seinem Bauch.
»Das Beste, was man an einem solchen Abend tun kann.«
»Ja. Endlich lässt uns der Winter aus seinen Fängen. Ein schöner Tag. Da frag ich mich unwillkürlich, wie oft ich noch erleben werde, dass es Frühling wird.«
»Keine Bange. Sie bleiben uns bestimmt noch eine Weile erhalten.«
»Ich muss ja auf Sie aufpassen.« Landers klopfte mit der flachen Hand auf den Stuhl neben sich.
»Ich kann mich nur einen Moment setzen. Meg und ich haben ein großes Programm für heute Abend vor. Wir haben uns ein Video ausgeliehen und wollen Popcorn zubereiten. Eine kleine Party sozusagen. Weil ich doch morgen frei habe. Hätten Sie nicht Lust, rüberzukommen?«
»Besten Dank.« Er lüpfte die Baskenmütze und drückte sie sich wieder auf den Kopf, dass sein weißes Haar an den Seiten aufstob. »Aber ich lese gerade ein faszinierendes Buch.«
»Was denn?«
Landers lachte in sich hinein. »Der Jährling«, sagte er dann. »Bei dem vielen Wild in diesem Jahr ist mir dieses Buch wieder eingefallen, das ich als Junge gelesen habe. Hab’s mir in der Bibliothek ausgeliehen.« Und nach einer kurzen Pause fragte er: »Wie macht sich Meg in der Schule?«
»Sie hat ihre Höhen und Tiefen. Seit ein paar Tagen scheint sie etwas zu bedrücken, aber wenn ich sie danach frage, sagt sie, es sei nichts.«
»Meg grübelt viel. Das macht einem den Alltag nur schwerer.«
Claire sah Landers an. Wie sehr sie diesen alten Mann doch in ihr Herz geschlossen hatte. Er war ihr eine große Hilfe gewesen, als sie hierher gezogen waren, hatte ihr immer wieder Tee gebracht, wenn sie erschöpft war vom Tapetenablösen; er hatte sie mit Wasser versorgt, als ihre Leitungen platzten, hatte ihr sein Telefon zur Verfügung gestellt, bis ihr eigenes angeschlossen wurde; an seiner Schulter hatte sie sich ausgeweint, wenn sie sich allein fühlte und mutlos und nicht wollte, dass Meg es merkte. Er gehörte zu den wenigen, die das Älterwerden als eine Chance wahrnahmen, über das Leben nachzudenken, und war dadurch weise geworden. Häufig genügte ein einfacher Satz von ihm, um dem Durcheinander in ihrem Leben wieder eine Perspektive zu geben.
Er räusperte sich und verschränkte die Finger ineinander. Ein typisches Zeichen dafür, dass er ihr etwas Wichtiges mitteilen wollte. »Mich hat jemand angerufen und mir angeboten, mein Haus zu kaufen.«
»Wirklich? Was haben Sie geantwortet?« Claire spürte, wie ihr Herz aussetzte. Die Vorstellung, dass Landers wegzog, war ihr unerträglich. Er gehörte einfach hierher; sollte er sein Haus aufgeben, würde die Sonne bestimmt nicht mehr so oft scheinen.
»Na, ich bin doch nicht verrückt. Ich hab gefragt, was er mir zahlen würde.«
»Und? Hat er eine Summe genannt?«
»Klar. Er sagte hundertfünfzigtausend. Für das Haus und das Grundstück.«
Claire war überrascht. Landers besaß zwar ein ansehnliches Grundstück, aber der Preis schien doch sehr hoch gegriffen zu sein. Sie selbst hatte für ihr Haus und einen Morgen Land vor einem Jahr vierzigtausend bezahlt. Und selbst wenn die Grundstückspreise am See schneller anzogen als der Aktienmarkt, war der gebotene Preis doch erstaunlich. »Wow.«
»Finde ich auch. Wow. Aber ich hab’s nicht gesagt. Worauf er nochmal was drauflegte. Ich hab ihm erklärt, nur über meine Leiche, und dass es bis dahin vielleicht ja gar nicht mehr so weit wäre. Aber er sagte, das Angebot gelte nur für kurze Zeit. Ich frage mich, ob das was mit der geplanten Bebauung zu tun hat. Die Menschen werden verdammt gierig, wenn’s was zu verdienen gibt.«
»Haben Sie die Absicht zu verkaufen?«
»Nicht unbedingt. Ich brauche das Geld nicht. Aber manchmal spiele ich mit dem Gedanken, in eine Seniorenwohnung zu ziehen. Dann muss ich nicht mehr ständig im Garten rumwerkeln.«
Diesen Kommentar nahm Claire mit Erleichterung zur Kenntnis. Landers liebte seinen Garten. Ihrer Meinung nach konnte er es ohne gar nicht aushalten. Sie sah Meg die Straße entlangrennen und stand auf.
»Sind Sie bereit, sich morgen die Hände dreckig zu machen?«, fragte er.
»Aber ja doch.« Sie hatten verabredet, seinen Garten auf Vordermann zu bringen. »Dann also bis morgen früh.«
»Verhaften Sie niemanden heute Abend«, sagte er noch und kicherte über seinen eigenen Witz.
Landers Anderson griff sich eine Handvoll schwarzer Erde und drückte sie zu einem weichen Klumpen zusammen. Wie krümeliger Pastetenteig. Er wippte zurück auf die Fersen und lächelte. Der Frühling stimmte ihn heiter, keine Frage. Die Erwartung all dessen, was da kommen würde, das vielfältige Grün, das aus dem Boden drängte, die Farbenpracht, die aus dem Grün hervorbrach. Knospen und Blüten und Blätter, die aus diesem schwarzen Humus sprossen, den er über die Beete verteilt hatte. Er blickte hinauf in das schwindende Blau des Himmels und war mit seinen einundachtzig Jahren froh, dass es wieder Frühling war.
Er ließ den Humusklumpen zurück auf das Beet fallen und richtete sich auf. Das Aufstehen bereitete Mühe, die Gelenke waren eingerostet wie Gartengerät, das man dem Regen preisgegeben hatte. Dem Arzt in der Mayo-Klinik zufolge sollte er überhaupt nicht im Garten arbeiten. Trotz dreifachem Bypass, diesem Eingriff vor zehn Jahren, war er keineswegs gesund, das Problem war nur hinausgeschoben worden. Obwohl der behandelnde Arzt ein wortkarger Mann war, hatte er kurz die Schleusen seiner Beredsamkeit geöffnet und erklärt, dass Landers’ Herz und Arterien durch und durch porös seien und sein Herz Ort »eines der schlimmsten Verkehrsstaus, die ich je erlebt habe«. Das Lachen über diesen Vergleich war Landers vergangen, als er vernahm, welche Einschränkungen man ihm auferlegte: nichts Schweres heben, wenig Bewegung – und stattdessen viele kleine Pillen, die stets zur Hand sein mussten.
Er hatte das Tennisspielen aufgegeben, dann das Golfen, aber so verrückt, darauf zu verzichten, in seinem Garten herumzuwerkeln, würde er nicht sein. Mit anzusehen, wie alles verwilderte, würde ihn jeden Tag aufs Neue schmerzen, und Landers war überzeugt, dass dieser Schmerz mehr Schaden bei ihm anrichten würde als das bisschen Hantieren mit dem Spaten oder die kurzfristige Anstrengung, wenn er Unkraut jätete.
Außerdem ließ er sich helfen. Morgen früh wollte Claire kommen und zusammen mit ihm die Beete aufdecken, den Komposthaufen auflockern und etwas Dünger verteilen. Er wusste, dass sie ihre Arbeit gut machen würde. Natürlich würde er anfangs aufpassen und sie anleiten. Sie verstand nicht viel von Gartenarbeit, aber sie lernte rasch und war mit Freude bei der Arbeit. Sie wusste, dass man zupacken musste und sich die Hände schmutzig machte, dass man nur mit Fingerspitzen über Blütendolden fuhr, wie man Blätter abzwickte, Zweige beschnitt, verwelkte Blüten abknipste. Gartenarbeit schien ihr gut zu tun, sie zu beruhigen. Sie war so schreckhaft. Schien schwer zu sein, der Beruf einer Polizistin.
Das Tageslicht schwand. Das Blau des Himmels färbte sich wässerig, und das noch kaum wahrnehmbare Grün der Knospen an den grauen Bäumen um ihn herum wurde unsichtbar. Er wischte sich die Hände an den Hosen ab und wollte gerade zurück ins Haus gehen, als er entdeckte, worauf er gewartet hatte. Er bückte sich so rasch, dass er fast das Gleichgewicht verlor, hielt sich am Zaun fest und sah dann genauer hin. Ja. Ja wirklich, da war die erste Spitze der neuen Tulpen, die er im Herbst gepflanzt hatte. Tulipa greigii. Kleine gekräuselte Pflanzen mit purpurn gestreiften Blättern, langlebig, kaum das, was man sonst mit einer Tulpe verbindet. Den ganzen Winter über hatte er sich darauf gefreut, mit anzusehen, wie die Blätter aus dem Boden drängten, wie sie sich entfalteten und schließlich rot erblühten. Wahrscheinlich würden sie ihn noch überleben. Er beugte sich hinunter und berührte leicht die Spitze des neuen Sprosses, als er ein Geräusch vernahm, das Knarzen des Gartentors. Man hatte ihn erwischt. Er richtete sich wieder auf und stand unsicher auf den Beinen.
Als er sich zu seinem Besucher umwandte, hörte er etwas durch die Luft schwirren und auf sich zukommen. Er versuchte, es als etwas zu deuten, was es nicht war – der Flügel einer Schwarzdrossel, ein Ast, der von einem Baum abbrach, etwas aus der Natur und erklärbar – dann traf ihn der Spaten.
Sie sahen sich Black Beauty an, und am Ende sagte Meg, dass dies von allen Filmen der Welt ihr Lieblingsfilm sei.
»War das nicht vorige Woche noch Wilbur und Charlotte?«
»Ach, Mom.«
Claire legte den Arm um sie. »Meg, mein Schatz, es wird Zeit für dich.«
»Aber es ist doch erst halb neun. Und ich brauch erst um neun ins Bett zu gehen.«
»Ich bin todmüde. Und das bedeutet, dass du jetzt nach oben gehst. Du darfst aber noch ein Weilchen lesen.«
Claire folgte Meg die Treppe hinauf in ihr Zimmer und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Meg knipste die Nachttischlampe an und stopfte sich das Kissen in den Rücken. Von der Tür aus sah Claire ihre Tochter in einen Lichtschimmer getaucht: Ihr dunkles Haar glänzte, die Wimpern senkten sich über die beim Lesen halb geschlossenen Augen. Was für ein hübsches Kind.
Claire wandte sich dem dunklen Flur zu und war einmal mehr froh darüber, dass sie in diese verschlafene Gemeinde gezogen waren, wo das höchste an gewalttätigen Handlungen, die ihr im Laufe eines Tages abverlangt wurden, darin bestand, dass sie sich bückte und einen Grashalm abzupfte. Sie hoffte, dass es so bleiben würde.
Es gibt Gutes und Schlimmes, überlegte Meg, als sie die Hintertür öffnete und die Sonne auf ihrem Gesicht spürte. Im Geiste führte sie eine Liste, die sie immer wieder durchging. Dieser Morgen gehörte auf die Seite der guten Dinge. Mom hatte zum Frühstück Pfannkuchen gemacht. Sie hatte Zeit dazu, weil sie heute nicht arbeiten musste. »Honig am Morgen«, hatte sie geträllert, »Honig am Abend, Honig den ganzen Tag. Sei mein kleiner Honigbär, der mich für immer mag.« Meg liebte ihre Pfannkuchen mit viel Sirup. Dann neckte ihre Mom sie immer und sagte, ihre Pfannkuchen seien schwimmende Inseln in einem dunklen Meer.
Meg schlenderte die Auffahrt hinunter und hielt nach Achatschnecken Ausschau. Achatschnecken waren etwas sehr Gutes. Ihr Dad hatte ihr gezeigt, wo man sie aufstöberte. Je größer sie waren, desto besser. Sie ähnelten den beiden Hälften eines steinharten Bonbons, rot und mit zarten Streifen durchsetzt. Etwas Schlimmes war ein totes Tier am Straßenrand. Meg versuchte dann immer, nicht hinzuschauen. Sie wollte nicht wissen, ob es ein Fuchs war oder ein Opossum oder ein Reh und schon gar nicht ein Hund.
Sie kickte einen Kieselstein weg und trat auf die Hauptstraße. Mom hatte gesagt, der Bus käme erst in zehn Minuten, also brauchte sie sich nicht zu beeilen. Schule konnte entweder gut oder schlimm sein. Das änderte sich von Tag zu Tag. Gestern war es ganz gut gewesen. Die Lehrerin hatte sie angelächelt, und keiner hatte sie gehänselt. Und das, nachdem Brad Peterson ihr eine geschlagene Woche lang »Meggly Drecklie« nachgerufen hatte. Obwohl sie gekränkt war, hatte sie versucht, Moms Rat zu beherzigen und Brad Peterson einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Und prompt war das »Meggly Drecklie« verstummt.
Das Allerschlimmste war, wenn Mom nachts weinte. Wie letzte Nacht. Meg war davon aufgewacht und hatte sich die Decke über die Ohren gezogen. Und sich wieder einmal eingeredet, sie hörte den Ruf eines Vogels, vielleicht den der Eule unterhalb des Bluffs. Weil sie und Mom doch häufig im Dunklen im Garten standen und dem Schrei lauschten, der dann in ein Heulen überging. Wie Mom ihr erzählt hatte, suchte die Eule auf diese Weise Kontakt zu einer anderen Eule. Fragte sich nur, ob ihre Mom versuchte, nachts Kontakt mit Dad aufzunehmen. Aber der war wohl zu weit weg.
Meg hatte vor, die Abkürzung durch Landers’ Garten zu nehmen. Er hatte es ihr erlaubt. Er freute sich, wenn er sie aus der Schule nach Hause kommen sah, und winkte ihr oft von seinem Küchenfenster aus zu. Sie stieß das Gatter auf und ging über den Kiesweg. Keine Achatschnecken hier, nur Kieselsteine. Landers war ein netter Mann. Er wusste so viel über Blumen und die Natur. Einmal hatte er ihr erzählt, dass Hummmeln rückwärts fliegen können, und dann hatte sie tatsächlich eine beobachtet, die das tat.
Hinter dem Haus lag jemand auf dem Boden. Zögernd ging Meg weiter. Sie wusste, dass es Landers war, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Er legte sich nie auf den Boden. Und dennoch war er es, und es sah aus, als hätte ihn jemand so heftig umgestoßen, dass er nie wieder aufstehen würde. Noch zwei Schritte, näher brauchte sie nicht an ihn heranzugehen. Sie erkannte gleich, wenn jemand tot war. Die Erde würde ihn zudecken. Sie fragte sich, ob Gott zusah. Sie blickte zum Himmel empor, wo sich die Sonne durch die Wolken zwängte. Das konnte Gott sein. Andererseits war sie sich nicht sicher, ob Gott tatsächlich zugegen war. Sie war überhaupt skeptisch, was Gott betraf. Sie legte ihre Bücher auf den Boden, weil es sie drängte wegzurennen. Sie drehte sich um und schaute zu ihrem Haus zurück. Ihre Mom kam gerade um die Ecke. Ihre Mom würde alles in die Hand nehmen. Würde wissen, was zu tun war. Meg stieß einen Schrei aus. Keine Worte, nur einen Klagelaut wie den eines Vogels, wie Weinen in der Nacht, wie das Anrufen eines Gottes, der keine Antwort gab.
Claire stand im kahlen, von einem niedrigen weißen Zaun umgebenen Garten. Sie hatte Meg zur Schule geschickt. Was hätte sie sonst tun sollen? Sie hatte ihr erklärt, dass Landers alt war und seine Zeit abgelaufen. Sie hatte sich vor ihre Tochter gekniet, ihr verkniffenes blasses Gesichtchen umfasst und gesagt: »Das ist nicht so wie bei deinem Vater. Alte Menschen sterben, das ist ganz normal. Wir sind zwar traurig darüber, und er wird uns fehlen, aber seine Uhr ist abgelaufen. Er war müde.« Sie hoffte, dass Meg etwas von dem, was sie gesagt hatte, glaubte; sie selbst glaubte nur wenig davon. Sie hatte Meg vor allem deshalb zur Schule geschickt, weil sie der Tochter ersparen wollte, wieder einmal mit ansehen zu müssen, dass die Mutter weinte.
Die Morgensonne schien schräg durch die knospenden Eichen. Claire trug ein weites weißes T-Shirt mit hochgekrempelten Ärmeln, in Kniehöhe abgeschnittene Jeans und rote Gummistiefel. Ein Stirnband hielt ihr dunkles Haar aus dem Gesicht. Sie ging in die Hocke und starrte auf das bleiche Gesicht des alten Mannes.
Sie hatte ihn gern gehabt, und jetzt war sie so böse auf ihn, dass sie Gift und Geifer hätte spucken können. Warum nur hatte er das getan? Was sich abgespielt hatte, lag auf der Hand: Er hatte nicht auf sie warten können, dabei war sie doch bereits auf dem Weg zu ihm, Punkt acht Uhr, wie ausgemacht. Aber nein, er musste bereits mit dem Spaten herumhantieren. Es war zu erkennen, wo er gegraben und sich an den kleinen grünen Keimlingen zu schaffen gemacht hatte, die da aus der Erde spitzelten.
Die Herzattacke, die ihn den ganzen Winter über umkreist hatte, hatte schließlich doch zugeschlagen. Attacke, ein Begriff, der genau zutraf. Ihn umgestoßen hatte wie einen Sack Kartoffeln. Ihn, den kleinwüchsigen Mann mit den schütteren weißen Locken, die jetzt voller Erde waren. Sie hatte ihn erst bemerkt, als sie schon fast vor ihm stand.
Er wollte ihr doch noch zeigen, wie man Rosen züchtet! Ihr seine Geheimnisse verraten – wie man tote Äste kappte, wann man Pflanzen düngte und in welcher Konzentration, wie man Rosen schnitt und im Haus frisch hielt und wie man sie für den Winter abdeckte. Er hatte es versprochen. Dieser Sommer sollte ihr zugute kommen, wann immer er Zeit für sie hatte. Stundenlange Gespräche. Er im Schatten sitzend, mit einem Strohhut auf dem Kopf. Sie in der Sonne schwitzend, sein Wissen aufsaugend. Sie war drauf und dran, ihn an der Schulter zu packen und zu rütteln, zu schreien: »Ich bin noch nicht so weit! Sie dürfen noch nicht gehen! Schenken Sie mir nur noch ein paar Tage, eine weitere Woche. Ich mach Ihnen einen Tee. Kommen Sie zurück. Warum sind Sie fortgegangen?«
Als sie sich hinunterbeugte, um abermals sein Gesicht zu berühren, bemerkte sie einen Bluterguss unterhalb seines Ohrs. War er bei dem Sturz etwa auf den Spaten gefallen? Andererseits schien dieses Hämatom darauf hinzudeuten, dass es bereits vor Stunden zu dem Unfall gekommen war. Wie lange lag Landers schon hier? Sie befühlte die Stelle und entdeckte die Schnittwunde über dem Bluterguss, eine Wunde, die zum Haaransatz hin verlief. Getrocknetes Blut klebte in seinem Haar, verfärbte es braun.
Sie stand auf, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, und spürte unwillkürlich die Polizistin in sich erwachen. Hier war eine Leiche, in einer unnatürlichen Position auf dem Boden liegend, der Kopf mit vertrocknetem Blut verkrustet. Das Blut war alt. Er war kalt. Ganz eindeutig war er nicht innerhalb der letzten zwei Stunden gestorben. Sie wusste, dass sie, wenn sie die Leiche umdrehte und eingehender untersuchte, eine bläuliche Verfärbung von gestautem Blut finden würde. Der Schnitt verlief oberhalb des Blutergusses. Er war nicht auf den Spaten gestürzt. Eher sah es aus, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Der Hieb des herabsausenden Spatens hatte zu der Schnittwunde im Bereich des Ohrs und dem Bluterguss darunter geführt. Nicht zu fassen. Wem konnte denn daran gelegen sein, Landers Anderson etwas zu Leide zu tun?
Sie musste Meldung erstatten. Am liebsten hätte sie ihren ehemaligen Partner Bruce Jacobs gebeten, den Tatort in Augenschein zu nehmen – aber sie war nicht mehr in Minnesota. Dieser Mord hatte sich in Wisconsin ereignet, und deshalb musste sie Sheriff Talbert anrufen und ihm das Weitere überlassen. Sie war nicht mehr Detective, sondern ein einfacher Deputy Sheriff, eine Vertreterin des Sheriffs.
Da die Tür von Landers niemals verschlossen war, ging sie die Stufen hinauf in sein Haus, um das Telefon zu benutzen. In der Küche angelangt, achtete sie darauf, nichts zu verändern, war sogar so umsichtig, eine untere Schublade aufzuziehen, in der sich auch tatsächlich eine Plastiktüte fand, die sie sich über die Hand stülpte, ehe sie die Telefonnummer eintippte. Auf der uralten verbeulten Couch hockend – ihrem Stammplatz, von dem aus sie kurz nach ihrem Umzug mit Landers’ Erlaubnis ihre Telefonate abgewickelt hatte, bis nach einer Woche endlich ihr eigener Apparat angeschlossen worden war –, wartete sie darauf, dass die Verbindung zustande kam.
Randy meldete sich. »Pepin County Police.«
»Ist Sheriff Talbert da?«
»Der ist unten in der Halle.«
»Holen Sie ihn.«
Wieder musste sie warten. Sie konnte hören, wie Randy sich vom Telefon weg bewegte. Es gab keine moderne Rufumleitung in dieser Dienststelle. Talbert war höchstwahrscheinlich auf eine Zigarettenlänge rausgegangen.
»Ja?«, schnarrte es urplötzlich aus dem Hörer.
»Sheriff, hier ist Claire. Wir haben einen Toten in Fort St. Antoine. Verdacht auf Mord.«
Sie hörte ihn schnaufen, dann grunzen. »Ein Aprilscherz?«
»Nein. Es handelt sich um meinen Nachbarn, Mr Anderson. Ich habe ihn in seinem Garten gefunden.«
»Grundgütiger Himmel! So früh am Morgen. Ich bin gerade mal bei meiner ersten Tasse Kaffee.«
»Jemand muss umgehend herkommen. Den Tatort sichern.«
»Ich schick Paul los. Und dann treibe ich Tom auf. Können Sie so lange die Stellung halten?«
»Natürlich.«
»Sind gleich da.« Er legte auf.
Claire sank in sich zusammen. Tränen schossen ihr in die Augen. Als sie sie wegwischte, drängten umso mehr nach. Sie ließ ihnen kurz freien Lauf. Weinen, sich richtig ausheulen, und dann Schluss. Du hast einen Job zu erledigen. Wenn jemand Landers umgebracht hatte, würde sie den Mörder finden. Keine ungeklärten Todesfälle mehr in ihrem Leben. Dennoch hoffte sie, dass sich letztendlich die Erde aufgetan hätte, um ihn aufzunehmen.
Bridget ritt ein scharfes Tempo. Sie konnte das Pferd im Rhythmus ihres hämmernden Herzschlags schnaufen hören. Würde sie es noch rechtzeitig zum Dienstbeginn bis zum anderen Ende des Waldes schaffen? Sie beugte sich hinunter zum Hals ihres Pferdes und schnalzte. Jester schlug wie üblich kurz aus und preschte dann in pfeilschnellem Galopp vorwärts.
Das schnelle Tempo trieb Bridget die Tränen in die Augen. Lass sie laufen, dachte sie. Chuck sagte immer, sie liefe vor allem davon. Der Wald tauchte undeutlich vor ihnen auf, Bäume reckten ihre Äste in den Himmel. Wenn sie das Tempo durchhielt, würde sie es zeitlich schaffen.
Gleich würde sie den Wald erreichen, aber plötzlich drehte sich alles, die Sonne war unten, die Bäume tanzten am Himmel, und ihre Schulter prallte auf dem Feld auf, ihr Gesicht tauchte in vertrocknetes Gras. Bridget rollte sich auf den Rücken und wartete darauf, irgendwo einen Schmerz zu spüren. Ihre Schulter, klar doch. Dann schoss der Schmerz durch ihren Arm, setzte sich im Handgelenk fest. Verdammt, was hatte sie sich da eingebrockt? Sie hob den Kopf und hielt Ausschau nach Jester. Auf dem Feld war er jedenfalls nicht. Gut so, zumindest hatte er sich kein Bein gebrochen. Fragte sich nur, wie sie ihn einfangen sollte …
Sie atmete tief durch und setzte sich auf. Ihr linker Arm tat höllisch weh. Sie hätte niemals derart schnell über dieses Feld reiten dürfen. Es gab überall Löcher der Taschenratte. Sie pfiff, und Jester antwortete mit einem Wiehern. Sie blickte in die Richtung, aus der das Wiehern kam, und sah mit Erleichterung das Pferd am Waldrand zwischen den Bäumen stehen, ungeduldig mit dem Schweif schlagend.
Sie hoffte, dass ihr Arm nicht gebrochen war. Mit so vielem schien es bergab zu gehen – mit ihrer Ehe, ihrem Job, ihren Hoffnungen –, bitte nicht auch noch mit ihrem Arm. Nicht mit etwas so Profanem und Lächerlichem wie einem Glied ihres Körpers. Dann schon mit etwas, gegen das sie ankämpfen konnte. Sie befühlte durch den Baumwollpulli ihr Handgelenk. »Wo tut es am meisten weh?«, pflegte ihr Vater zu fragen. Eigentlich saß der Schmerz oberhalb des Handgelenks, etwa im ersten Drittel des Arms. Was wusste sie noch von ihren Anatomie-Vorlesungen? Der in Mitleidenschaft gezogene Knochen konnte entweder die Speiche sein oder die Elle. Als sie darauf drückte, fühlte sich die Stelle empfindlich an, aber mehr auch nicht. Bis zu einer Untersuchung würde sie eben vorsichtig sein. Wie aber sollte sie jetzt ihr Pferd einfangen? Sie stand auf, indem sie sich mit dem rechten Arm abstützte. Lester stand noch immer ruhig da, hatte sich aber von ihr abgewandt. Weck seine Aufmerksamkeit.
»He, Jester, alter Knabe. Braver Junge.« Sie ging auf ihn zu. Er rührte sich nicht. Bitte mach, dass er jetzt nicht übermütig wird. Wenn er weglief, würde sie ihn nicht erwischen. Sie bückte sich und zupfte ein trockenes Grasbüschel ab. »Na komm und hol’s dir.« Sie schwenkte das Grasbüschel über ihren Kopf. Er sah sie an. Sie war etwa fünf Schritt von ihm entfernt, blieb jetzt stehen. Besser, er kam auf sie zu. »Na hol’s dir schon, mein Dicker. Mein Jester-Schatz.« Als er seinen Namen hörte, spitzte er die Ohren. Sie hielt das Büschel in Höhe seines Kopfes und lockte ihn weiterhin. Er bewegte sich auf sie zu.
Bridget wusste nur allzu gut, dass sie ihn jetzt nicht verschrecken durfte. Also schloss sie die Augen, hielt das Büschel vor sich und wartete darauf, dass das Pferd an dem trockenen Gras herumknabberte. Unablässig sprach sie weiter auf ihn ein, leise und sanft, sagte immer wieder seinen Namen. Bis sie ihn wiehern hörte und dann ein Zupfen spürte. Der gute alte Knabe war zu ihr zurückgekehrt.
Mit fünfzehn Minuten Verspätung stürmte Bridget in die Rexall Apotheke in Wabasha. Zeit zum Umziehen war keine mehr geblieben, deshalb trug sie noch immer den dunkelblauen Pulli. Außerdem hatte sie gar nicht erst versuchen wollen, ihn sich über den Kopf zu ziehen. Ihr Arm pochte und fing an zu ziehen. Er war ohne jeden Zweifel verletzt.
Mr Blounder stand im Laden. Er arbeitete jeweils vormittags, und Bridget löste ihn an bestimmten Wochentagen mittags ab. Mit seinen fünfzig Jahren bewegte sich Mr Blounder wie ein Achtzigjähriger. Seine Haut war bläulich-durchsichtig, wie entrahmte Milch. Er gehörte zu der alten Garde der Apotheker – gib dem Kunden, was er verlangt, klär ihn nicht über die Tabletten auf, das versteht er sowieso nicht, und nimm sein Geld. Da ihm die Apotheke nicht gehörte, brauchte er Bridget nicht mit Wohlwollen zu begegnen.
»Tut mir Leid, dass ich spät dran bin.«
»Was Sie nicht sagen.« Er zog seinen weißen Kittel aus.
»Ich glaub, ich hab mir den Arm gebrochen.«
»Was Sie nicht sagen.« Er schlüpfte in seine blaue Jacke.
»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt arbeiten kann.«
»Was Sie nicht sagen.« Er ging zur Tür des kleinen Kabuffs.
Bridget gab auf. Entweder hörte er ihr nicht richtig zu, oder es war ihm wirklich egal, und sie wollte auch gar nicht wissen, was zutraf. Sie griff nach ihrem weißen Kittel und bemerkte einen roten Fleck in der Nähe des Kragens. Vielleicht vom Ketchup auf den Fritten, die sie gestern gegessen hatte. Warum hatte sie ihn nicht abends zum Waschen mit nach Hause genommen?
»Ach so« – Mr Blounder drehte sich an der Tür noch einmal um – »Ihre Schwester hat angerufen. Sie sollen sie zurückrufen. Es sei dringend.«
Nein, nicht Claire. Alles in ihrem Leben konnte schief gehen, nur nichts mit Claire. Bridget musste unbedingt hier raus; sie konnte nicht bleiben und ihre Stunden abarbeiten. Deshalb tat sie das Einzige, was ihrer Meinung nach Mr Blounder aufhalten konnte: Mit ihrer gesunden Hand hob sie die alte Apothekerflasche, Mr Blounders Stolz und Freude, über die in altertümlichen Lettern Calendula geschrieben war und deren dicker Glasstöpsel eine perfekte Kugel darstellte. Sie stemmte die Flasche bedrohlich in die Höhe. Mr Blounder ließ die Türklinke los und fuhr sich mit der Zunge nervös über die Lippen.
»Ich finde, wir sollten mal miteinander reden«, erklärte sie.
Sein Sessel brachte Bruce Jacobs noch zum Wahnsinn. Er war drauf und dran, sich einen neuen zu kaufen, von seinem eigenen Geld. Zugegeben, er war alles andere als ein Federgewicht, aber ein Sessel musste nicht zu Bruch gehen, bloß weil jemand über zweihundert Pfund wog. Na ja, eher zweihundertfünfzig, aber dafür war er auch einsdreiundneunzig groß. Dies war der dritte Sessel, den er innerhalb eines Monats demoliert hatte. Es war fraglich, ob ihm die Einkaufsabteilung einen weiteren zugestehen würde. Schon nach kurzer Zeit gab die Hydraulik jedes Mal ihren Geist auf. Das Telefon klingelte.
Er nahm den Hörer ab und sagte in verbindlichem Ton: »Hallo. Bruce Jacobs hier.«
»Ich muss Ihnen was sagen«, meldete sich eine Knabenstimme.
Jacobs schätzte den Anrufer auf vierzehn. Tiefe, aber klare Stimme. »Dann schieß mal los.«
»Na ja, eigentlich sind’s zwei Sachen.«
»Dann fang einfach mit der ersten an.«
»Mit welcher? Es geht um Mord und um Rauschgifthandel.«
Jacobs erhob sich aus seinem Sessel. »Das ist eine schwierige Entscheidung.«
»Ich fang mit dem Mord an. Weil damit alles angefangen hat. Aber erzählen Sie meiner Mutter ja nicht, dass ich angerufen hab. Ich kenne Sie, Sie haben diese Leute dingfest gemacht, die der alten Frau das Geld geklaut haben. Das war nämlich meine Großmutter.«
»Wer ist denn ermordet worden?«
Der Junge schwieg. »Einverstanden, wenn ich mein Tonband mitlaufen lasse?«
»Na klar doch. Aber hören Sie sich erst mal alles an. Und nicht lachen.« Und schon legte der Junge los: »Vor zwei Wochen ist mein Hund gestorben. Erst wollte mir meine Mom einreden, das wär normal. Der Hund war alt, sagte sie. Von wegen! Jack war erst zehn. Für einen Hund ist das überhaupt kein Alter. Jedenfalls war Jack an jenem Morgen prima drauf. Als ich aus der Schule kam, schleifte er seinen Schwanz nach. Dann legte er sich einfach hin und starb. Na ja, und dann schaute ich mich mal hinten im Garten um, wo Jack immer blieb, wenn ich in der Schule war. Um den Garten ist ein Zaun. Und dicht bei dem Zaun fand ich einen weißen Pappteller, auf dem noch Spuren von Fleisch klebten. Meiner Meinung nach stammt das Futter vom Nachbarn.«
»Wieso sollte euer Nachbar deinen Hund füttern?« Jacobs ging in seinem Büro auf und ab, so weit die Telefonschnur dies zuließ. Umständlich, heutzutage noch mit einer Telefonschnur hantieren zu müssen. Keine Bewegungsfreiheit wie mit seinem Schnurlosen zu Hause. Um nachzudenken, musste er auf und ab gehen. Wenn er schon einen neuen Sessel beantragte, konnte er auch gleich ein neues Telefon fordern.
»Der Nachbar ist neu hier. Vor etwa zwei Monaten eingezogen. Ständig gehen dort Leute aus und ein. Jack bellt dann jedes Mal. Ich glaub, er mag ihren Geruch nicht. Der Nachbar heißt Red. Seinen Familiennamen kenn ich nicht. Ein spindeldürrer Typ ist das. Manchmal bleibt er für eine Weile weg. Und wenn er dann zurück ist, kriegt er sofort wieder jede Menge Besuch.«
Bruce beugte sich über seinen Schreibtisch und notierte auf einem Fitzelchen Papier Red, unterstrich den Namen dreimal. »Wo wohnst du?«
»Buchanan. Das kennen Sie doch. Gleich bei Hennepin in North Minneapolis.«
»Ja, kenn ich.« Ein Randbezirk. Mit vielen Familien und gelegentlich recht rauen Sitten. »Das ist doch dort, wo man die Leichen ausgegraben hat, richtig?«
»Ja. Das war ganz schön cool. Na ja, jedenfalls glaub ich, dass sie Jack vergiftet haben, weil sie nicht wollten, dass er jedes Mal bellt, wenn dort Leute aufkreuzen. Und ich denke, dass die was mit Drogen zu tun haben könnten.«
»Irgendeinen Beweis dafür?«
Der Junge räusperte sich und sagte dann ganz ruhig: »Ich hab sie belauscht.«
»Du hast sie belauscht?«
»Ja. Als mal wieder Besuch da war, bin ich rübergeschlichen und hab mich unter das Esszimmerfenster geduckt. Sie sagten was von einem großen Deal. Klang nach Kokain. Ist das das Zeug, aus dem man Crack macht?«
»Ja.«
»Jemand bringt eine große Ladung in ein oder zwei Wochen, und sie wollten mit ihren Dealern verabreden, den Stoff abzuholen.«
»Okay. Ich werd dem mal nachgehen.« Ihm fiel ein, dass er den Namen des Jungen nicht kannte. »Wie heißt du eigentlich?«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen kann.«
Das ließ sich herausbekommen; Jacobs brauchte nur die Großmutter des Jungen zu fragen. Nette Frau, diese Patsy Lingon. Sie hatte ihm einen Berg Lefse gebacken, Fladenbrot, auf seine Zusage hin, sie würde ihr Geld zurückbekommen. Anfangs hatte er nicht gewusst, was er mit den Lefse anfangen sollte, aber sie hatte gesagt, mit etwas Butter und Marmelade bestrichen sei das ein prima Frühstück. Die Lefse hatten eine Woche gereicht, und jetzt fehlten sie ihm bereits. Schon deshalb lohnte es sich vielleicht, die alte Frau zu besuchen.
»Ich glaube, ich kann’s Ihnen sagen. Ich heiße Brandon, aber meine Freunde nennen mich einfach Brand.«
»In Ordnung, Brandon. Wir treffen jetzt eine Vereinbarung. Deiner Mutter sag ich vorläufig nichts, wenn du mir versprichst, nicht mehr in die Nähe dieses Hauses zu gehen. Ist das klar?«
»Klar.«
»Hältst du, was du versprichst?«
»Ja, Sir.«
»Du versprichst mir also, diesem Mann aus dem Weg zu gehen?«
»Ich versprech’s.«
Jacobs erfuhr die Adresse und versprach Brandon, ihn auf dem Laufenden zu halten. Nachdem er aufgelegt hatte, sank er wieder hinunter in seinen Sessel. Einen Fuß breit über dem Boden zu sitzen, ließ einen bescheiden bleiben. Er starrte auf den Zettel, auf den er Red gekritzelt hatte.
Ein so kleiner Vogel und derart selbstbewusst. Claire beobachtete, wie der Zaunkönig oben auf Landers’ Satellitenschüssel landete und ein munteres Zwitschern anstimmte. Sein Gesang ließ die Welt schöner erscheinen, was an diesem Morgen bitter nötig war. Sie stand am Zaun am Ende von Landers’ Kiesweg und wartete auf die so genannte Verstärkung.
Sie war sich nicht sicher, welche Rolle ihr nun zufallen würde. Bisher hatte sie hier lediglich die Strafzettel für Geschwindigkeitsübertretungen verteilt, Störenfriede zur Rede gestellt, Festumzüge überwacht. Aber der Sheriff wusste, dass sie schon Mordfälle bearbeitet hatte.
Ein Auto näherte sich. Sie kannte den Wagen und auch die Frau, die am Steuer saß. Was hatte Darla hier zu suchen? Darla Anderson, Landers’ Schwägerin, stieg bereits aus. Für ihre mehr als siebzig Jahre sah sie noch immer gut aus, sie hielt ein abgedecktes Aluminiumkuchenblech in der einen Hand und strich sich mit der anderen über ihr rosa Sweatshirt und die Stretchhosen. Ihr mit Spray fixiertes Haar schillerte in der Sonne künstlich blond.
Während der neun Monate, die Claire mittlerweile gegenüber von Landers wohnte, hatte sie Darla noch nie zu Besuch kommen sehen, nicht einmal, wenn sich Landers’ Bruder, ihr Ehemann Fred, hier blicken ließ. Aber sie kannte Darla von verschiedenen Veranstaltungen: dem großen Eisessen der Kirchengemeinde, der Halloween-Party im Fort, der Wahl im Rathaus. Keine öffentliche Veranstaltung, an der Darla nicht teilnahm. Claire ging auf sie zu. Sie wollte nicht, dass Darla Landers sah.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs Anderson?« Claire stellte sich vor der Kühlerhaube ihres Wagens.
Darla lächelte. »Ich möchte Landers eine Kleinigkeit vorbeibringen. Ist er da?«
»Tut mir Leid, Mrs Anderson, aber Landers ist von uns gegangen.« Claire fand diesen Euphemismus ›von uns gegangen‹ grässlich, aber vor allem auf dem Land galt es als unangebracht zu sagen, dass jemand gestorben war.
»Wie bitte?« Darla blinzelte verkrampft.
Carla war sich nicht sicher, was Darla nicht verstanden hatte. Vielleicht musste sie die Information ja auch erst einmal verdauen. »Er scheint im Garten gestürzt zu sein und hat einen Herzinfarkt erlitten.«
»Landers? Er ist im Garten?« Darla machte Anstalten, um Claire herumzugehen, aber Claire packte sie am Arm und drehte sie weg vom Haus.
»Ich halte es für besser, wenn Sie ihn jetzt nicht sehen.«
»Warum?«
Gute Frage, befand Claire. »Er dürfte die ganze Nacht über dort gelegen haben.«
»Ich muss ihn sehen.«
Jetzt war Claire an der Reihe zu fragen: »Warum?«
Darla richtete sich auf und drückte Claire das Kuchenblech in die Hand. »Ich bin durch meine Heirat mit ihm verwandt. Muss denn nicht jemand von der Familie ihn identifizieren?«
»Nur wenn die Identität des Opfers zweifelhaft ist.«
»Opfer?«
»Das meine ich ganz allgemein.«
Darla drückte die Fingerspitzen an die Augen. Wohl um die Wimperntusche nicht zu verschmieren, dachte Claire. »Armer Landers.«
»Mein Beileid, Mrs Anderson.«
»Claire, Sie kennen mich. Nennen Sie mich doch Darla.«
»Ich bleibe lieber dienstlich.«
»Ach so, Sie sind im Dienst?« Sie musterte Claires Aufzug, der eher nach Gartenarbeit aussah.
»Na ja, nicht ganz. Das heißt ja, eigentlich schon. Ich wollte Landers im Garten helfen, aber als ich ihn fand, habe ich den Sheriff verständigt.«
»Ich muss ihn trotzdem sehen.«
»Warum?«
»Ich war nämlich mal Krankenschwester.« Darla schüttelte Claires Hand ab und segelte an ihr vorbei. Claire folgte ihr, noch immer mit dem ihr aufgedrängten Kuchenblech.
»Bleiben Sie auf dem Weg«, bat Claire, als sie zu Darla aufschloss.
»Ich hab nie für möglich gehalten, dass er mal stirbt. Ich dachte, mich würde es zuerst treffen.« Kopfschüttelnd schaute Darla hinunter auf Landers. Sie machte keine Anstalten, ihn zu berühren. »Er sieht gar nicht so schlimm aus. Nur eben tot. Was geschieht denn jetzt mit ihm?«
»Mrs Anderson – Darla –, darf ich Sie bitten, zu Ihrem Wagen zurückzugehen? Hier drin darf sich niemand aufhalten, weil es sein könnte, dass wir das Gelände absuchen müssen.«
»Es war bestimmt schön für ihn, in seinem Garten zu sterben. Er hat hier so viel Zeit verbracht.«
»Ja, das ist wahr.«
Darla nahm Claire das Kuchenblech ab, drehte sich um und ging.
»Zitronenschnitten!«, rief Darla. »Er mochte Zitronenschnitten. Sogar meine.« Damit stieg sie in ihr Auto und brauste davon.
Der Raum, in dem Claire sich befand, war das Untergeschoss einer alten Kirche; er hatte früher wohl mal als Klassenzimmer gedient. Die Kirche war längst säkularisiert worden, und die oberen Stockwerke hatte man zu einem Krankenhaus umgebaut.
Es war kühl hier, wie allgemein in Untergeschossen. Claire vermutete, dass der Raum kaum geheizt wurde, weil er als Leichenschauhaus diente. Sie wusste nicht genau, wo sie sich hinstellen sollte. Der Pathologe nahm keine Notiz von ihr. Er legte sich seine Instrumente zurecht. Sheriff Talbert hatte sie bei ihrer Ankunft in aller Form miteinander bekannt gemacht. Dr. Lord hatte so gut wie nichts gesagt und Claire direkt ins Untergeschoss geführt.
Sie hatte hinlänglich Zeit, ihn eingehend zu mustern. Dieser Dr. Lord schien vorteilhaft zu altern. Sein schütter werdendes Haar war kurz gestutzt, demnach hielt er nichts davon, das Salz-und-Pfeffer-Gemisch penibel über eine lichte Stelle zu kämmen. Er trug eine bifokale Hornbrille, was ihm das Aussehen eines Gelehrten verlieh. Im Augenblick beugte er sich über Landers Andersons Kopf. Seine Hände, von dünnem Latex geschützt, glitten feinfühlig über die fleckige Haut.
»Eine böse Verletzung hier«, sagte er leise, so als sei er gewöhnt, ins Leere zu sprechen. Oder sprach er mit dem Opfer, dem Toten, mit dem er so sanft umging? Ohne Claire anzusehen, fragte er: »Was hat diese Wunde verursacht?«
»Wir nehmen an, ein Spaten.«
»Ja, dafür spricht die Größe der betroffenen Fläche. Offenbar hat man ihn mit der Rückseite des Spatens erschlagen. Vielleicht gelingt es uns, das zu klären.«
»Erschlagen? Ich ging eher davon aus, dass er auf den Spaten gestürzt ist.«
»Das stellt sich heraus, wenn ich die Meninges untersuche.« Als er ihren verständnislosen Blick bemerkte, fügte er erklärend hinzu: »Die Hirnhaut«. Er beugte sich wieder über den Leichnam. Die Art und Weise, wie er Landers untersuchte, war derart behutsam und vertraulich, dass Claire sich abwandte und sich im Raum umsah.
Was Claire besonders gefiel, war, außer einem alten Eichenschreibtisch sowie einem prall gefüllten Bücherregal im Missionsstil, die Musik, die den Raum erfüllte – eine Frauenstimme, die in einer Kathedrale erklang.
»Ich kannte ihn.« Dr. Lord wandte sich von der Leiche ab. »Er war Mitglied meiner Gemeinde.«
»Seit wann kannten Sie ihn?«
»Seit ich mich hier niederließ, das war vor etwa zehn Jahren. Wir haben zusammen in einigen Komitees gearbeitet und manche Tasse Kaffee miteinander getrunken. Er war ein netter Kerl.«
»Das finde ich auch. Er war mein Nachbar.« Dr. Lord ging auf einen Schrank zu und entnahm ihm eine kleine Säge. »Was machen Sie eigentlich hier?«
Claire verstand nicht, worauf diese Frage abzielte. »Hier in Durand?«
»Nein. Hier bei mir. Ich arbeite sonst nie mit Zuschauern. Trauen Sie mir etwa nicht?«
Dies mochte sein merkwürdiges Verhalten ihr gegenüber erklären – dass er kaum mit ihr sprach, dass er bemüht war, sie nicht zu beachten. Claire lächelte und kam einen Schritt näher. Sie wollte ihn beruhigen und aufklären. »Darum geht es nicht. Ich brauche Informationen, ich muss wissen, was Mr Anderson zugestoßen ist. Als ich noch bei der Polizei in Minneapolis war, haben wir oft an Autopsien teilgenommen.«
»Ihr Großstädter.« Dr. Lord lachte leise. »Wie ich Sheriff Talbert kenne, könnten Sie ihn nicht für Geld und gute Worte dazu bringen, sich so was anzusehen. Dass Sie in Minneapolis gearbeitet haben, wusste ich nicht. Bei der Mordkommission?«
»Ich habe auch Mordfälle bearbeitet, ja. Ich spreche nur nicht gern darüber. Es ist schon schwer genug, als Frau im Polizeidienst, ohne auch noch als Besserwisserin aus der Großstadt angesehen zu werden.«
»Kann ich mir denken. Ich war vorher in Rochester. Dass ich dort an der Mayo-Klinik gearbeitet habe, behalte ich auch lieber für mich. Nach so vielen Jahren als Facharzt wollte ich endlich wieder als praktischer Arzt arbeiten. Ich habe es nicht mehr ertragen, so viele Menschen sterben zu sehen. Ich wollte Menschen gesund machen, Knochen reparieren, Warzen ausbrennen.«
»Ich konnte es auch nicht mehr ertragen.« Claire sah auf Landers hinunter. Seine Haut war wächsern geworden.
»Sie kennen den Ablauf?«, fragte Dr. Lord.
»Ja. Nur wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir das eine oder andere erklären könnten.«
»Fragen Sie ruhig.«
»Eine Frage hätte ich schon.«
»Nur zu.«
»Wie eng können Sie die Zeit, in der der Tod eingetreten ist, eingrenzen?«
»Wir sind hier nicht beim Film. Mit etwas Glück auf drei bis sechs Stunden. Seine Körpertemperatur bei der Einlieferung betrug 26,5 Grad. Im Freien war es relativ mild. Der Körper verliert pro Stunde etwa ein Grad. Er wurde um die Mittagszeit hergebracht. Von daher würde ich annehmen, dass der Tod zwischen fünf und neun gestern Abend eintrat.«
Claire nickte. »Zu dieser Annahme komme ich auch, je länger ich darüber nachdenke. Er war draußen in seinem Garten. Erst dachte ich, er wäre beim Umgraben gewesen, aber wahrscheinlich hat er sich einfach nur umgeschaut. Ich habe mich vorher noch kurz mit ihm unterhalten und bin dann ins Haus gegangen. Das war so gegen sieben. Ich glaube, er ist bei Einbruch der Dunkelheit gestorben, gleich nach Sonnenuntergang, kurz nachdem wir uns verabschiedet hatten.«
Dr. Lord griff zu einem Skalpell und setzte zu einem schwungvollen Schnitt von Landers’ linker Schulter bis hinunter zur Bauchmitte an, und dann noch einmal von der anderen Schulter aus. Wo die beiden Schnitte zusammentrafen, verlängerte er sie bis zum Schambein. Die Haut klaffte von allein auf. Claire stützte sich am Schreibtisch hinter sich ab, als sich vor ihr das Innenleben der Leiche auftat.
Nach zwei Stunden war die Autopsie beendet. Claire fühlte sich so, wie Landers aussah – kalt und ausgehöhlt. Dr. Lord in seinem dicken Wollpullover wirkte schlicht und einfach müde. Er deckte Landers Anderson behutsam zu, so als würde er ihn zu Bett bringen, und dann schoben sie ihn in einen noch kühleren, dunklen Raum. Die Frühlingsluft draußen duftete süß und rein wie ein blühender Obstgarten. Gierig sog Claire sie ein.
»Tote stinken nun mal, ganz egal, wie gut sie sich zu Lebzeiten gehalten haben«, merkte Dr. Lord an. »Wie wär’s mit einem Kaffee?«
»Klingt verlockend.«
Er ging mit ihr in ein kleines Café, und sie nahmen in einer Fensternische Platz. Bei Kaffee und Kuchen kam Dr. Lord wieder auf Landers zu sprechen: »Jemand hat ihm mit dem Spaten eins über den Kopf gezogen. Wir nennen das eine Schlagverletzung. Recht deutlich zu erkennen.«
»Das habe ich Ihren Bemerkungen schon entnommen, aber erklären Sie mir das doch bitte noch etwas genauer.« Während der Autopsie hatte Dr. Lord ständig vor sich hin gemurmelt, und Claire hatte, an den Eichenschreibtisch gelehnt, zugehört. Sie hatte auch der Musik gelauscht, die den Raum erfüllte und dem Vorgang geradezu etwas Feierliches verlieh. Dr. Lord hatte den Körper derart akribisch unter die Lupe genommen, dass die Art und Weise, wie er die einzelnen Körperschichten auseinander klappte und wieder zusammenfügte, einer Abfolge tänzerischer Gesten ähnelte. Was zum Schluss an Landers zu sehen war, waren zwei Schnitte – einer am Hinterkopf und der frontal verlaufende in Form eines Y. Dr. Lord hatte sich Aufzeichnungen gemacht.
»Das Gehirn ist wie Gelatine, weich, aber von fester Konsistenz. Es ist von einer steifen Schale umschlossen, damit es seine Form bewahrt.« Er stach mit seiner Gabel in den Kuchen vor sich und bewegte ihn hin und her. »Etwa so. Wenn das Gehirn beschädigt ist, können wir anhand der Verletzung sagen, ob sie auf einen Sturz zurückzuführen ist oder auf einen Schlag auf den Kopf.«
»Woran erkennt man das?«
»Wenn jemand nach hinten stürzt und mit dem Kopf aufschlägt, ist die Folge eine Quetschung am Hinterkopf und ein Schädelbruch, allerdings findet sich die Gehirnquetschung auf der gegenüberliegenden Seite. Ein so genannter Contrecoup. Wenn dagegen jemand einen Schlag verpasst bekommt, dann weist er eine Prellung am Schädel auf, darunter einen Bruch und wiederum darunter eine Gehirnquetschung. All diese Verletzungen reihen sich aneinander. Und genau das fiel mir auf, als ich sein Gehirn untersuchte.«
»Demnach hat ihn jemand mit einem Spatenschlag getötet?«
»Nicht unbedingt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Der Schlag mit dem Spaten war nicht tödlich. Er starb an Herzversagen. Der Hieb mit dem Spaten war nicht die unmittelbare Todesursache.«
Nachdenklich nippte Claire an ihrem Kaffee. Dann stellte sie die Frage, die sie jedem stellte, der das Opfer kannte: »Haben Sie eine Vermutung, wer ihn umgebracht haben könnte?«
Dr. Lord legte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen fest zusammen, bevor er das Kinn langsam senkte und sie anblickte. »Nicht mehr. Sie ist schon vor etwa fünf Jahren gestorben.«
Richs Schulter schmerzte. Seit einer Stunde schaffte er Futter für seine Fasane heran. Um kurz auszuruhen, ließ er sich auf einem Baumstumpf nieder, nicht ohne ihn vorher auf eventuellen Vogelmist hin geprüft zu haben, und sah zu, wie sich die Küken über das Futter hermachten. Chicks – so wurden die jungen Fasane genannt. Niedlich sahen sie seiner Meinung nach aus. Kleine Federbällchen, riesige Köpfe. Komische kleine Viecher, aber nicht dumm. Nicht wie Truthähne. Das waren vielleicht einfältige Vögel. Sein Vater hatte welche gezüchtet.
Er stand auf und schlenderte auf das Haus zu. In der Stadt war heute der Tod von Landers Anderson das Gesprächsthema schlechthin gewesen. Einige meinten, er sei unter merkwürdigen Umständen gestorben, und Rich wunderte sich darüber. Landers war alt gewesen, ein kranker alter Mann. Der an einem Herzfehler gestorben war. In den letzten zehn Jahren hatte die Krankheit einem Damoklesschwert gleich sein Leben bedroht. Niemals mehr hatte man gesehen, dass Landers zu Fuß seine Post abholte. Selbst für die lächerlichen drei Blocks nahm er das Auto.