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Der nächtliche Anruf einer Unbekannten, ein toter Mann im See und eine misshandelte Frau, die nicht reden will. Und das alles kurz vor Thanksgiving. Irgendjemand hat die junge Stephanie entsetzlich zugerichtet, aber sie behauptet, nur hingefallen zu sein. Und sie schweigt auch noch, als ihr Freund tot aus dem eisigen See gezogen wird. Polizeidetektivin Claire Watkins muss den unbekannten Täter unbedingt finden, bevor es für Stephanie zu spät ist. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 329
Mary Logue
Krähenspur
Krimi
Aus dem Amerikanischen von Veronika Cordes
FISCHER Digital
Peter, du musst immer wieder dafür herhalten
Ich möchte Pat Anderson, dem Einsatzleiter der Feuerwehr von Lund, für seine Informationen über Rettungsaktionen aus dem Eis danken sowie Christie Rundquist für Erläuterungen zum Arbeitsablauf der so genannten EMTs, der Sanitäter im Rettungsdienst. Große Anerkennung gebührt meinen aufmerksamen Lesern Elizabeth Gunn, Marianne und Jim Mitchell sowie Mary Anne Collins-Svoboda. Ferner danke ich meiner Agentin Jane Chelius, meinem Lektor Michael Seidman und dem gesamten Walker-Team. Ein besonderer Dank geht an John Martinez für die gelungene Umschlaggestaltung meiner Bücher. Und Pete Hautman gilt meine tief empfundene Liebe und Dankbarkeit für das rechte Wort zum rechten Zeitpunkt und für manch köstliche Gaumengenüsse zwischendurch.
Denn das Eis und der Fluss darunter sind niemals für längere Zeit untätig. Immer wieder im Laufe dieses langen Winters wird das Wasser seinen Weg ins Freie finden, wird durch einen Spalt im Eis schwappen und sich auf der Oberfläche aus Eis und Schnee verteilen und wieder zu einer gefährlichen Schicht gefrieren. Der Wind wird dazu beitragen, dass der trockene Schnee das neue Eis glättet und in eine spiegelnde Fläche verwandelt.
John Haines,
The Stars, the Snow, the Fire
Frühmorgens, als der allererste Lichtschimmer über den Bluffs im Osten auftauchte, läutete das Telefon. Claire drehte sich auf die andere Seite und blinzelte mit einem Auge hinüber zu dem Störenfried.
Es klingelte abermals. Sie richtete sich im Bett auf, griff nach dem Hörer und lauschte. Ein schwaches Geräusch, ein Summen. Da man sich normalerweise meldet, wenn man angerufen wird, raffte sie sich jetzt immerhin zu einem »Hallo?« auf.
Nichts.
»Hallo? Ist da jemand?«, fragte sie.
Diesmal hörte sie etwas. Ein Pfeifen, tief inhaliertes Einatmen, stoßweises Entweichen.
»Hallo?«
Jetzt vernahm sie ein Schluchzen, wie eine sich am Ufer brechende Welle.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Daraufhin Weinen. Unterdrücktes Weinen, das es unmöglich machte, ein Wort herauszubringen.
»Ich bleibe dran. Beruhigen Sie sich erst einmal, und dann sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«
Das machte alles nur schlimmer. Krampfhafte Schluchzer, aus dem Bauch heraus. Eindeutig handelte es sich um eine Frau.
Claire presste den Hörer ans Ohr, wollte hineinbrüllen, hielt sich aber zurück. Sie wollte wissen, wer die Anruferin war und sie nicht derart verschrecken, dass sie auflegte.
»Ich bin noch da.«
Die Schluchzer verebbten. Mehrmaliges kurzes, rasches Luftholen.
»Verraten Sie mir Ihren Namen?«
Daraufhin die brüchige Stimme einer Frau: »Ich kann nicht … Was er mir angetan hat …« Rasches Einatmen, dann klickte es in der Leitung.
Claire wurde vor Wut ganz starr. Es war ihr nicht gelungen, die Frau davon abzuhalten, einfach aufzulegen. »Wer spricht denn da?«, fragte sie ins Leere.
Aber die Verbindung war unterbrochen. Die Stille der schwindenden Nacht hüllte Claire ein; vornübergebeugt starrte sie den toten Telefonhörer an, als könnte sie ihn dadurch wieder zum Leben erwecken.
Während sich Claire für das kalte Novemberwetter rüstete, dachte sie an den bevorstehenden Winter, dem sie, sozusagen als Muntermacher, um diese Jahreszeit herum immer freudig entgegensah. Dabei wusste sie, dass sie irgendwann während der Frostperiode einen Punkt erreichen würde, wo sie sich wieder nach strahlendem Sonnenschein und brütender Hitze sehnte. Der diesjährige November hatte mit seinen niedrigen Temperaturen bisher alle Rekorde gebrochen; mehrmals bereits war es nachts klirrend kalt gewesen. Eisblumen zogen sich über die Fensterscheiben und verwehrten den Blick nach draußen.
Sie und Meg lebten nun schon mehr als ein Jahr in Fort St. Antoine. Jetzt stand ihnen der zweite Winter bevor. Sie gedachte ihn mehr zu genießen als den ersten. Vielleicht würde sie zu Weihnachten für sich und die Tochter Schneeschuhe kaufen. Sie hoffte noch immer, den Quilt, an dem sie arbeitete und der für Megs Bett gedacht war, fertig zu bekommen. Er wies ein einfaches Muster aus bunt gewürfelten Quadraten auf, und nur noch der Rand musste genäht werden.
Thanksgiving stand bevor; sie wollten es bei sich zu Hause feiern. Letztes Jahr hatten sie zu diesem Fest die Eltern ihres kurz zuvor verstorbenen Mannes besucht, und die Stimmung war entsprechend bedrückt gewesen. Claire hatte es zwar geschafft, die Tränen zurückzuhalten, nicht aber Steves Mutter; noch ehe der Kürbiskuchen aufgetragen wurde, hatte sie den Tisch verlassen.
In diesem Jahr würde es anders sein. Rich würde mit ihnen feiern. Nur sie drei. Claire hatte vor, einen Truthahn zu braten, dazu Kartoffelbrei, Sauce, Wildreis und selbstverständlich Kürbiskuchen. Was übrig blieb, würde noch eine Woche reichen, aber es sollte ja ein richtiges Thanksgiving werden.
Sie zog aus ihrem Schrank die karierte Bemidji-Wolljacke heraus, die noch von ihrer Mutter stammte, und setzte sich eine hübsche handgestrickte Wollmütze, die sie auf dem hiesigen Kunstgewerbemarkt erstanden hatte, auf das nach hinten gebundene dunkle Haar.
Meg, die sich im Fernsehen einen Zeichentrickfilm ansah, musterte sie von oben bis unten. »Du siehst aus wie ein Holzfäller, Mom.«
»Danke, Herzblatt. Das ist genau die richtige Bemerkung, um mich für den Tag aufzubauen.«
»Wie ein hübscher Holzfäller.« Megs Augen leuchteten auf, als sie die Frage nachschob: »Sag mal, Mom, können wir nicht heut Abend ein Feuer anmachen?«
»Mal sehen.« Damit entschwand Claire. Nur nichts versprechen. Meg vergaß nichts und pochte auf jedwede Zusage. Es war besser, sich nicht festzulegen und höchstens etwas in Erwägung zu ziehen.
Auf dem Fußmarsch den Hügel hinunter zur Main Street bot sich Claire der Blick über den Lake Pepin bis zum Minnesota-Ufer gegenüber. Der Lake Pepin war eine dreiunddreißig Meilen lange und zwei Meilen breite Ausbuchtung im Mississippi, der an Fort St. Antoine vorbeifloss. Ein milchiger Film lagerte auf dem Wasser, wie ein grauer Star in einem blauen Auge. Am Ufer entlang glitzerte ein breites Band Eiskristalle in der Sonne.
Das Wasser, soweit sichtbar, hatte eine stahlblaue Färbung angenommen. Endlich schickte sich der See an, zuzufrieren. Meg würde sich freuen. Sie konnte es kaum noch erwarten, wieder ihre Schlittschuhe anzuziehen, und fragte jeden Tag, ob sich auf dem See bereits Eis bildete.
Für Ende November war es weiterhin ungewöhnlich kalt, heute Morgen minus zwölf Grad Celsius auf dem Thermometer draußen auf der Veranda. Das Radio hatte eine Höchsttemperatur um null Grad vorausgesagt. Schnee war noch nicht gefallen, lag aber in der Luft.
Die Bäume präsentierten sich in völliger Nacktheit. Welch sattes Grün den Hügel im Sommer überzogen hatte! Claire liebte es jedoch, wenn die Wälder sich lichteten und die Bäume ihre kahlen Äste gen Himmel reckten. Alles war zum Stillstand gekommen, auf eine Nüchternheit reduziert, die sie als elegant empfand.
Sie ging gern am Samstag als Erstes hinunter zur Post. Gern hätte sie das jeden Tag getan, aber unter der Woche war es aus beruflichen Gründen nicht möglich.
Der schrille Schrei eines Falken erinnerte sie wieder an den frühmorgendlichen Anruf zwei Tage zuvor. Das Schluchzen. War aus dem Wenigen, was die Frau geäußert hatte, zu schließen, dass es um eheliche Misshandlung ging?
Es war ihr nicht gelungen, wieder einzuschlafen, und sie hatte versucht, den Anruf zurückzuverfolgen, musste jedoch von der Vermittlung erfahren, dass die Gegend hier zu einer der wenigen gehörte, in denen sich Anrufe nicht zurückverfolgen ließen und es demnach so gut wie ausgeschlossen war festzustellen, von welchem Apparat aus ein Ortsgespräch geführt wurde. Und ein Ortsgespräch war es mit Sicherheit gewesen.
Am folgenden Tag hatte sie in ihrer Dienststelle herumgefragt, ob vielleicht ein Notruf wegen einer häuslichen Auseinandersetzung eingegangen sei, irgendetwas im Zusammenhang mit einer Frau. Nichts. Auch in den umliegenden Krankenhäusern oder sozialen Unterkünften war keine geprügelte Frau aufgetaucht. Claire hatte versucht, das Ganze zu vergessen. Doch das Weinen der Frau ging ihr noch immer nach.
Claire betrat Le Pain Perdu, die Bäckerei von Stuart Lewis. Der Duft von frischem Brot ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Stuart war gerade damit beschäftigt, knusprige Brotlaibe aus dem Ofen hinten herauszuholen. Er trug eine weiße Schürze und eine Packers-Mütze, die er sich verkehrt herum, also mit dem Schirm nach hinten, aufgesetzt hatte. Es war in der Stadt allgemein bekannt, dass Stuart schwul war, auch wenn er das nicht eigens herauskehrte. Dass Rich und er eng befreundet waren, hatte in der Vergangenheit Spekulationen ausgelöst, über die Rich nur lachen konnte.
»Zwei französische Doughnuts, Monsieur«, sagte sie, nachdem er seine Last abgesetzt hatte.
»Oui, Madame.« Stuart grinste und holte das Gewünschte mit einer Metallzange aus dem Regal. »Würden Sie Rich ausrichten, dass für morgen Abend im Hammy’s eine Partie Poker angesetzt ist?«
»Mach ich. Ich seh ihn heute Abend.« Es war ihr irgendwie unangenehm, dass Stuart sie dazu benutzte, Informationen an Rich weiterzugeben. Warum rief er ihn nicht einfach an? Zumal sie Rich nicht jeden Tag sah und schon gar nicht mit ihm zusammen lebte. Häufig konnte es sogar geschehen, dass sie sich nur zweimal die Woche trafen. Claire schmeckte es ganz und gar nicht, dass man um sie und Rich derart viel Aufhebens machte und sie bereits als Paar ansah. Aber vielleicht bildete sie sich das alles auch nur ein.
Jetzt verschränkte Stuart die Arme über der Brust und fragte: »Haben Sie schon das Eis auf dem See gesehn?«
»Ja. Dürfte heute Thema Nummer eins sein.«
»Stimmt. Entweder das Eis oder die Feststellung, dass die Farbe vom Rathaus abblättert.«
Claire schlenderte die kurze Straße entlang. Die anderen Geschäfte öffneten erst später. Gegen zehn dann würden die vielen Autos mit überwiegend amtlichen Kennzeichen aus Minnesota anrollen und Scharen von Fremden in den restaurierten alten Häusern dieser kleinen Stadt am Fluss nach Antiquitäten stöbern. Jetzt waren hauptsächlich Bewohner aus Fort St. Antoine unterwegs, um ihre morgendlichen Besorgungen zu erledigen.
Sven Slocum, pensionierter Geschäftsführer von 3M, der sich vor zehn Jahren in Fort St. Antoine niedergelassen hatte, war dabei, auf dem Gehweg vor seinem Haus das Laub zusammenzukehren. Auch sein Häuschen und den Garten hielt er tipptopp in Schuss. Gelbe Tulpen, aus Sperrholz gesägt, säumten den Weg; Holzarbeiten waren nur eine der vielen Beschäftigungen, mit denen er seinen Ruhestand ausfüllte. Jeden Morgen traf er sich mit den anderen älteren Männern auf einen Kaffee im Fort; er schien gut in diese Kleinstadt zu passen.
»Hallo, Mrs Cop!«, rief er jovial.
»Hallo, Sven. Schöner Tag heute, finden Sie nicht?«
Er hielt kurz mit dem Kehren inne und überlegte. »Kann man wohl sagen«, meinte er dann.
Claire bog um die Ecke und näherte sich dem Postamt, das an die Bank angrenzte. Als sie die Tür aufstieß, stand da, mit dem Rücken zu ihr, eine blonde Frau in einer viel zu großen grüngoldenen Packers-Jacke und öffnete eben ihr Schließfach. Nachdem sie ein paar Umschläge herausgeholt hatte, machte sie so abrupt kehrt, dass sie beinahe mit Claire zusammengeprallt wäre.
Claire half der Frau, ihr Gleichgewicht wieder zu finden, und erschrak, als sie ihr lädiertes Gesicht sah: eine klaffende Wunde über einem Auge, eine aufgesprungene Lippe und um den Backenknochen großflächige Abschürfungen. Unwillkürlich hielt Claire die Luft an.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« Ein kurzes Zögern – Claire bemerkte, wie der Blick ihres Gegenübers offener wurde –, dann zog die Frau den Kopf ein und hastete an Claire vorbei und zur Tür hinaus.
Claire schaute ihr nach und wandte sich dann der Leiterin des Postamts zu. Sandy Polanski schüttelte nur den Kopf.
»Wer war das?« Wenn jemand etwas über diese Frau wusste, dann Sandy.
Sandy Polanski leitete das Postamt seit über fünfzehn Jahren. Mit ihrem schwarzen Pagenkopf sah sie Liza Minelli zum Verwechseln ähnlich. Ihr Ehemann Steven, den jeder Poly nannte, war als Klempner vertraut mit dem, was sich in den meisten Häusern der Gegend abspielte; die beiden wussten also alles, was in der Stadt so vor sich ging. Sandy war vierzig, lebte seit jeher im County und war eine der warmherzigsten Seelen, mit denen es Claire je zu tun bekommen hatte.
Fünf Tage pro Woche kam Sandy mit fast allen in Kontakt. Sie wusste, wer sich von welcher Operation erholte, wer mit der Post einen Scheck erwartete, wessen Enkelkinder zu Besuch gekommen waren. Neugierig war sie nicht, aber sie war da, zuverlässig, Tag für Tag, stand lächelnd hinter dem Schalter und war freundlich, und deshalb zog man sie ins Vertrauen.
»Sie kennen Stephanie Klaus nicht? Sie wohnt seit fünf oder sechs Monaten hier. Ist ziemlich verschlossen. Ich glaube, sie stammt aus Eau Claire. Hat einen Bruder in Winona. Sie wohnt in dem blauen Haus am Rande der Stadt, Richtung Pepin.«
»Am Highway?«
»Ja, in dem Haus mit dem Autoreifen, der im Sommer mit roten Petunien bepflanzt ist.«
»Ich weiß, welches Sie meinen.« Claire fiel ein, dass sie Stephanie auch auf dem Kunstgewerbemarkt gesehen hatte, der im Sommer im Park stattfand. Stephanie hatte sich mit anderen Frauen einen Stand mit Webarbeiten aller Art geteilt. Claire hatte sich für die Flickenteppiche interessiert, die Stephanie aus Textilresten fertigte. Vielleicht sollte sie deswegen mal bei ihr vorstellig werden. »Sie sah ja fürchterlich zugerichtet aus. Wissen Sie zufällig, wie das passiert ist?«
Wieder schüttelte Sandy den Kopf. »Nein. Aber so hat sie schon mal ausgesehen. Soweit ich mich erinnere, war das kurz nachdem sie hierher zog. Sieht so aus, als würde sie in Abständen verdroschen.«
»Sieht so aus.«
»Können Sie da nicht mal einschreiten?«
»Nicht, wenn sie keine Anzeige erstattet. Ich kann aber mal mit ihr reden.«
»Wer immer sie vertrimmt hat, hat’s geschafft, sie gotterbärmlich zuzurichten, aber offenbar noch immer nicht schlimm genug, dass sie zur Polizei geht.«
»Diese Abschürfungen dürften schon ein paar Tage alt sein. Wissen Sie, wann genau es dazu gekommen ist, Sandy?«
»Nein«, meinte Sandy zunächst, um sich dann nach kurzer Überlegung zu korrigieren: »Moment mal. Ich hab sie am Dienstag gesehen, und da war sie noch in Ordnung. Aber dann war sie für den Rest der Woche nicht mehr hier. Auch ihre Post hat sie nicht abgeholt. Die hat sich in ihrem Schließfach angesammelt.«
Claire fragte sich, ob Stephanie vielleicht die Anruferin gewesen war – zeitlich kam das hin. Und dann fragte sie Sandy: »Meinen Sie, sie weiß, wer ich bin?«
Darüber musste Sandy lachen. »Claire, Sie belieben wohl zu scherzen? Jeder weiß, wer Sie sind. Der einzige Polizist in der Stadt. Und obendrein eine Frau. Sie sind hier bekannt wie ein bunter Hund.«
Claire verließ das Postamt. Ein paar Straßenzüge Richtung Highway 35 konnte sie die grüne Jacke erkennen, die sich langsam entfernte. Stephanie Klaus. Sie schien Schmerzen zu haben, als ob jeder Schritt eine Qual wäre.
Unwillkürlich musste Claire an das Eis denken, das sich auf dem See bildete. Wie Haut, eine dünne Schicht auf einem großen Körper. Und wie Haut so anfällig dafür, aufzuplatzen.
Er hatte sie ausfindig gemacht.
Geh weiter, redete sich Stephanie zu. Sieh zu, dass du nach Hause kommst, ehe du zusammenbrichst.
Angst beherrschte ihre Überlegungen. Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, wenn da so vieles war, an das sie nicht denken wollte. Es war schwer weiterzugehen, wenn der Körper bis ins Mark schmerzte.
Jack würde wiederkommen. Er hatte versprochen, dass er sie finden und ihr schwer zusetzen würde, wenn sie auch nur ein Wort verlauten ließe. Das nächste Mal würde es schlimmer werden. Viel schlimmer. Daran hatte er keinen Zweifel gelassen. Er hatte sie gezwungen, seine Worte zu wiederholen. Dann hatte er sie geküsst und nach ihren Brüsten gegriffen wie nach zwei Steinen, die man vorhat, aneinander klatschen zu lassen. Sie hatte gesagt, sie würde alles tun, was er verlangte. Und es auch so gemeint.
Ihr Haus lag nur vier Straßenzüge vom Postamt entfernt, aber der Weg erschien ihr unendlich lang. Ihre Knochen fühlten sich an wie zerschmettert. Seit er sie geschlagen hatte, war sie nicht mehr unter die Leute gegangen. Vielleicht hätte sie damit noch ein paar Tage länger warten sollen. Diese verdammten Schürfwunden heilten schrecklich langsam ab.
Sie überlegte, ob es nicht sinnvoller war, wenn sie ihrem Leben ein Ende bereitete. Dann wäre es ein für alle Mal vorbei. Es tun, bevor er es tat. In aller Öffentlichkeit. Sie könnte in Shirley’s Bar gehen und eine Überdosis Schlaftabletten mit ein paar Drinks hinunterspülen, um dann in der dunklen Ecke der Bar einzuschlafen. Ob Shirley durchdrehte, wenn sie sie dort fand und feststellte, dass sie nicht nur betrunken, sondern dazu auch noch tot war?
Stephanie spürte ein glucksendes Lachen in sich aufsteigen, aber sie widerstand. Lachen zog Weinen nach sich. Warum, wusste sie nicht. Vielleicht wirkte bei ihr jedwede Emotion als Katalysator, der zum Weinen anregte.
Sie hatte sich bis zum Wochenende krankgemeldet, wollte aber am Montag wieder antreten. Sie arbeitete in der W.A.G., der Tierfutterfabrik in der Nähe von Red Wing. Bis Montag würden die Verletzungen noch nicht restlos verheilt sein, aber mit viel Makeup ließen sie sich einigermaßen vertuschen. Man würde sie sowieso nicht genauer ansehen. Und da die Fabrik dringend Arbeitskräfte benötigte, würde man sie auf keinen Fall rausschmeißen.
Es hatte so gut angefangen.
Erst hatte sie sich sogar gefreut, Jack wieder zu sehen.
Er schien ein anderer geworden zu sein. Sagte ihr, wie blendend sie aussehe. Dass sie ihm gefehlt habe. Er ging sogar so weit zu sagen, dass er ohne sie nicht leben könne. Er hatte Blumen mitgebracht. Gesagt, dass er sie niemals freigeben werde.
Vielleicht war es ihre Schuld gewesen. Sie hatte gewagt, ihm ein paar Fragen zu stellen, wollte ihn beim Wort nehmen. Er war wütend geworden, hatte die Antwort verweigert.
Daraufhin hatte sie den großen Fehler gemacht, ihm von Buck zu erzählen.
Prompt war er ausgerastet, von einer Sekunde zur anderen. Sein Blick war grimmig geworden, so als ob ein böses schwarzes Tier in ihm auf der Lauer gelegen hätte und durch ihre Worte aufgescheucht worden wäre. Er hatte von ihr verlangt, ihm alles über diesen neuen Freund zu erzählen.
Als sie merkte, was für eine Dummheit sie begangen hatte, und deshalb schwieg, hatte er wie immer gesagt: »Zwing mich nicht, die Einzelheiten aus dir rauszuprügeln.« Und es hatte so wie immer geklungen – dass er genau das Gegenteil meinte.
Jedes Mal wenn sich etwas derart zuspitzte, wusste sie nicht, wie sie ihn bremsen sollte.
Diesmal hatte sie ihm die Hand auf den Arm legen wollen. »Jack«, hatte sie ihn beschworen, »es kann doch so schön mit uns sein.«
Er hatte sie am Handgelenk gepackt, noch ehe sie ihn berühren konnte, und ihr den Arm nach hinten gedreht. »Bis du es dann wieder versaust.«
Und ihr den Arm noch mehr verdreht.
Sie hatte schon geglaubt, er würde ihr den Arm brechen. Nie wusste sie, ob sie ihn anbrüllen oder seine Grobheit ertragen sollte. Sie hatte schmerzvoll aufgewimmert. Urplötzlich hatte er sie losgelassen, sodass sie zu Boden gestürzt war.
Er hatte sein heiseres Lachen ausgestoßen und ihr dann einen Tritt in die Magengegend verpasst.
Ganz still hatte sie dagelegen und gehofft, es wäre überstanden.
Dann hatte er ihr befohlen aufzustehen. Als sie seiner Aufforderung nicht gleich nachkam, hatte er nach ihrem Arm gegriffen und sie hochgezogen, hatte sie an die Wand geschleudert und war abermals auf sie losgegangen.
Mit wutverzerrtem Gesicht. Er hatte sich in ein ihr unbekanntes Wesen verwandelt, wie ein Dämon, ein hasserfüllter Teufel hatte er ausgesehen. Er hatte ihren Hals umspannt und angefangen, sie zu würgen. Sie hatte nach Luft geschnappt, und da dies nicht gelang, war sie in Panik geraten, hatte um sich geschlagen und versucht, von ihm loszukommen.
Das Würgen war das Schlimmste gewesen. Das hatte er schon einmal getan, und sie hatte gemeint, er würde sie umbringen. Sie wusste, dass er dazu imstande war.
Gerade als sie glaubte, die Besinnung zu verlieren, hatte er von ihr abgelassen. Sie war zusammengebrochen. Bewegungslos liegen geblieben. Sollte er doch annehmen, dass sie tot war. Vielleicht ließ er sie dann in Ruhe.
Er war ans Fenster getreten und hatte hinaus auf den See geschaut. Dann war er wieder zurückgekommen und hatte sie ins Gesicht getreten. Sie hatte aufgeschrien.
»Nur damit du weißt, wozu ich in der Lage bin«, hatte er gesagt.
Als er ging, hatte er erklärt, er würde wiederkommen. Fragte sich, wann. Jetzt, da er bei ihr aufgetaucht war, war sie vor ihm nicht mehr sicher. Er hatte gesagt, zwischen ihnen bestehe ein Band, das stärker sei als alle Liebe auf Erden. Sein Zorn war grenzenlos gewesen. Noch schlimmer war, nicht zu wissen, was ihn ausgelöst hatte.
Sie hatte ihn einmal so sehr geliebt, dass sie es hinnahm, wenn er sie schlug. Jedes Mal hatte er versprochen, es würde nie wieder vorkommen. Jedes Mal war er danach so nett zu ihr gewesen, dass dies mehr als ein Ausgleich gewesen war. Als er sie aber dann zum ersten Mal würgte, hatte sie ihn verlassen.
Das lag jetzt mehr als ein Jahr zurück.
Sie erreichte ihr Haus und stieg die Treppe hinauf, stieß die Tür auf.
Es roch muffig. Ihr Haus hatte sich im Laufe dieser Woche in einen Schweinestall verwandelt. Sie hatte nichts weiter getan, als zwischen Bett und Couch hin- und herzupendeln. Warum auch nicht, wenn ihre Welt dem Untergang geweiht war?
Stephanie setzte sich an den Küchentisch und spürte, wie sich gewaltige Schluchzer in ihr zusammenbrauten und hinausdrängten. Sie schluckte verzweifelt. Unternimm was, sagte sie sich, irgendwas, nur fang nicht wieder an zu heulen.
Sie stand auf und trug ihre Kaffeetasse zum Spülbecken, in dem sich derart viel schmutziges Geschirr stapelte, dass kein weiterer Teller Platz hatte. Höchste Zeit, endlich mal wieder abzuwaschen.
Sie räumte das Spülbecken leer, schichtete das Geschirr auf die Anrichte. Sie ließ das Wasser laufen, bis es heiß war, so heiß, dass es ihr schier die Hände verbrühte. Dann tat sie ein paar Spritzer einer gelblichen flüssigen Seife hinein, versenkte nach und nach das schmutzige Geschirr in dem Schaum, der sich gebildet hatte, stellte es nach gründlicher Bearbeitung zum Ablaufen in den Trockenständer.
Stephanie spülte von jeher gern Geschirr. Und jetzt tat es ihr gut, nach dem Spaziergang in der Kälte die Hände in warmes Wasser zu tauchen. Und nach einem harten Arbeitstag in der Fabrik war das außerdem mehr oder weniger die einzige Möglichkeit, die Fingernägel wieder sauber zu bekommen. Als sie fertig war, wischte sie mit dem Schwammtuch über sämtliche Arbeitsflächen. Die Küche war sauber. Ein guter Anfang.
Ein Bad. Sie sehnte sich nach einem langen, heißen Bad. Sie würde sich die Haare waschen. Das Bett neu beziehen.
Stephanie besah sich ihre Hände. Kurze, knubbelige Finger. Dicklich und weich. Genau wie die Hände ihrer Mutter. Sie hätte der Mutter nicht sagen sollen, wo sie war. Ihre Mutter hatte eine Schwäche für ihn. Immer erzählte sie ihm alles, auch wenn sie versprochen hatte, es nicht zu tun.
»Es duftet nach Kürbiskuchen«, sagte Rich, kaum dass er, ohne anzuklopfen, das Haus betreten hatte.
Claire war überrascht, wie sehr sie sich freute, ihn zu sehen. Obwohl er erst am Mittwoch dagewesen war, bevor er eine Ladung Fasane nach Alexandria in Minnesota hatte bringen müssen, kam ihr seine Abwesenheit länger vor. Seine arbeitsintensive Saison neigte sich dem Ende zu; über die Feiertage musste er noch seine tiefgefrorenen Fasane in der Stadt ausliefern, aber damit hatte es sich dann auch.
Er sah erschöpft aus, aber glücklich. Das dunkle Haar fiel ihm über die Augen. Mit seinem rot karierten Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, den Jeans und den Red-Wing-Stiefeln hob er sich zwar nicht vom üblichen Erscheinungsbild der Männer hier ab, aber Claire kannte und liebte den Körper, der sich darunter verbarg und der drahtig war und muskulös und auf akzeptable Weise gereift.
Sie musste schmunzeln, als sie daran dachte, dass sie sich mit zwanzig Gedanken darüber gemacht hatte, ob ihr wohl als Vierzigjährige gleichaltrige Männer zusagen würden. Damals hatte sie ältere Männer überhaupt nicht attraktiv gefunden. Aber mit zunehmendem Alter hatte sich ihr Geschmack in punkto Männer zwangsläufig verändert.
Wenn sie sich jetzt Rich anschaute, der auf die Fünfzig zuging, gefiel ihr durchaus, was sie sah: die an den Schläfen grau melierten Haare, die Krähenfüße, die seine jeweilige Stimmung verrieten, die Lachfalten um den Mund, die Augen, um die es sich vergnüglich kräuselte, wenn alles im Lot war, und selbst die nachdenklichen Falten, die sich auf seiner Stirn abzeichneten, wenn er verblüfft war. Alles liebte sie. Junge Männer um die zwanzig kamen ihr überraschend nichts sagend vor, unausgegoren.
Sie ging ihm entgegen. »Schön, dich zu sehen«, sagte sie und blieb vor ihm stehen. Er zog sie an sich, und sie küssten sich. Bis zu hören war, dass Schritte die Treppe hinunter kamen, und Claires Tochter auftauchte.
»Rich, rat mal.«
Claire und Rich lösten sich voneinander, und Rich beugte sich hinunter zu dem kleinen Mädchen und hievte es sich auf die Hüfte. »Was denn, mein Kürbiskuchen?«
Meg warf Claire einen Blick zu. »Mom, hast du ihm was verraten?«
»Was denn verraten? Kein Wort hab ich gesagt.«
»Ich hab dir einen Kürbiskuchen gebacken!«, trompetete Meg.
»Mein Lieblingskuchen.«
»War das nicht Apfelkuchen?«
»Ich muss mich korrigieren. Mein zweitliebster Kuchen. Aber im November mein allerliebster.«
»Wegen Thanksgiving?«
»Erraten.«
»Mom hat geholfen.«
»Gut gemacht. Lass sie in dem Glauben, dass sie gebraucht wird«, scherzte Rich.
Meg rutschte ihm von der Hüfte und fasste nach seiner Hand. »Ich muss dir was zeigen. In meinem Zimmer.«
Claire hielt es für angebracht einzugreifen. »Später. Rich bleibt den ganzen Abend hier. Lass ihn erst mal verschnaufen. Außerdem ist er auch mein Freund, und ich möchte auch mit ihm reden.«
»Schon, aber Mom …«
»Kein Schon-aber-Mom. Du deckst jetzt den Tisch.«
Der Abend verlief ungemein harmonisch. Claire freute sich, wie genüsslich Rich seine Schweinskoteletts mit Kartoffelbrei und gedämpftem Kohl verspeiste. Meg tischte stolzgeschwellt den Kürbiskuchen auf, schnitt ihn, wenn auch mit Unterstützung, sogar auf. Dicke Kleckse Schlagsahne wurden draufgepackt, und alle erklärten ihn zum besten, den sie je gegessen hätten.
»Wahnsinn, dass Kürbiskuchen so gut sein kann, Mom.«
»Selbstgemachter schmeckt immer besser.«
»Weil man dann genau weiß, was drin ist.«
Claire lachte über diese für Meg so atypische Bemerkung. »Zweifelst du etwa gelegentlich daran, was in deinem Essen ist?«
»Na ja, beim Mittagessen in der Schule manchmal schon.«
Alle lachten.
»Wo wir gerade vom Essen reden … ich würde gern mit dir über Thanksgiving sprechen«, sagte Rich.
Claires gute Laune erhielt einen Dämpfer. Würde er jetzt damit rausrücken, dass er nicht kommen konnte? »Ja?«
»Es stellt sich nämlich die Frage, ob wir nicht auch meine Mutter einladen könnten.«
»Aber ja doch. Was ist passiert? Ich dachte, sie wollte bei Freunden feiern.«
»Sie haben sie wieder ausgeladen.«
Claire war bass erstaunt, dass Rich ihre Beziehung bereits als so gefestigt ansah, dass er sie nun seiner Mutter vorzustellen gedachte. In ihrem eigenen Haus, was nur bedeuten konnte, dass sie schwer unter Druck geriet. Richs Vater war vor ein paar Jahren gestorben; seine Mutter lebte mittlerweile in Rochester, Minnesota, wohin sie seiner Meinung nach gezogen war, um der Mayo-Klinik näher zu sein, »im Falle eines Falles«.
»Okay. Dann frage ich dich: Was esst ihr zu Thanksgiving?«
Rich reckte verunsichert den Kopf. »Was?«
»Du weißt schon. Jeder hat ein bestimmtes Gericht, mit dem alles steht und fällt. Wildreis, Auflauf aus grünen Bohnen mit gebratenen Zwiebelringen, Kirschgelee mit Bananen und Schlagsahne. Wie steht’s damit bei euch?«
Rich dachte nach. »Bei uns dürfte das wohl die Maronentunke sein. Die macht meine Mom jedenfalls immer.«
»Wow. Klingt reichlich exotisch und kalorienreich. Wär schön, wenn deine Mom die mitbringen könnte, die hab ich nämlich nicht in meinem Repertoire. Und was ich dich noch fragen wollte – bist du einverstanden, wenn es keinen Fasan gibt?«
»Mehr als einverstanden. Ein großer Truthahn, das wär’s, was mir vorschwebt.« Rich wandte sich an Meg. »Und natürlich Kürbiskuchen.«
Rich übernahm den Abwasch, derweil Claire Meg zu Bett brachte und ihr, weil sie morgen nicht zur Schule zu gehen brauchte, erlaubte, noch ein bisschen zu lesen. »Aber spätestens um halb elf machst du das Licht aus, hörst du?«
»Bleibt Rich über Nacht?«, flüsterte Meg.
»Ich glaub schon.«
»Dann ist’s ja gut.« Damit kuschelte sich Meg in die Decke.
Claire ging wieder nach unten, wo sie Rich in einem Sessel vor dem Wohnzimmerofen bei einer Tasse Kaffee antraf.
»Wie kannst du nur dieses Zeug trinken und dann nachts schlafen«, wunderte sie sich.
»Nun, eigentlich hab ich vor, heute Nacht nicht nur zu schlafen.«
»Vielleicht sollte ich auch einen trinken.« Sie setzte sich neben ihn und trank einen Schluck aus seiner Tasse.
Er nahm ihr die Tasse ab und zog Claire an sich.
Nach einer Weile rückte sie von ihm ab, um ihm in die Augen zu schauen. »Rich, wann hast du das letzte Mal jemanden verprügelt?«
Er sah sie entgeistert an, dann überzog ein Grinsen sein Gesicht. »Also wirklich, auf dich ist unbedingt Verlass, wenn es um eine romantische Plauderei geht.«
»Ich will auf etwas ganz Bestimmtes hinaus.«
»Daran zweifle ich nicht. Mal überlegen. Ich hab Scotty Warden zusammengeschlagen, in der sechsten Klasse, nach dem Unterricht. Ich hab einem Kerl in Frankreich Saures gegeben, als er versuchte, mir meine Brieftasche zu klauen. Das war’s dann so ungefähr. Enttäuscht?«
»Hast du schon mal eine Frau geschlagen?«
Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Das verstößt gegen meine Prinzipien. Claire, um was geht’s denn? Hast du etwa wieder deine Panikattacken?«
»Nein. Es ist nur der Versuch, etwas zu verstehen. In der fünften Klasse hab ich mich mit einem Jungen geprügelt. Es fing damit an, dass wir uns stritten, ob ich ihn beim Fangen erwischen würde. Ich weiß gar nicht mehr, was ich dabei empfand.«
»Wer hat gewonnen?«
»Keiner. Ich glaube, wir haben einfach aufgehört zu spielen.«
»Und wieso fragst du jetzt mich?«
»Kennst du Stephanie Klaus?«
»Klar doch. Sie wohnt draußen am Highway, auf meiner Seite der Stadt. Seit sie hier lebt, dürften wir nicht mehr als drei Sätze miteinander getauscht haben. Wenn ich sie auf der Straße sehe, sag ich hallo. Damit hat sich’s dann schon.«
»Ich glaube, jemand hat sie verprügelt.«
»Weißt du, wer?«
»Normalerweise ist es der Ehemann. Da sie aber keinen hat, kommt wohl ihr Freund infrage.«
»Ist das ein Job für Supercop?«, gab Rich zu bedenken.
»Das wird sich zeigen.«
Buck stand am Rande des Sees. Das Eis hatte am Ufer entlang, wo das Wasser hochgeschwappt und dann gefroren war, bizarre Wülste gebildet. Sah aus, als wäre es dort mindestens vier Zoll dick. Er spielte mit dem Gedanken, es zu betreten, hielt es dann aber für ratsam, noch ein, zwei Tage verstreichen zu lassen. Heute Nacht sollte es erneut klirrend kalt werden, um die achtzehn Minusgrade Celsius. Dementsprechend fest würde das Eis werden.
Für gewöhnlich fror der See nicht vor Anfang Dezember zu, aber in letzter Zeit waren bereits winterliche Temperaturen an der Tagesordnung gewesen, ganz wie es der Farmer-Almanach vorausgesagt hatte. Von einem frühen und harten Winter war da die Rede gewesen, und dass es überdurchschnittlich viel Schnee geben würde. Na wenn schon. Buck liebte den Winter. Er kam sich dann jedes Mal vor wie auf dem Kriegspfad, wenn er ins Freie ging, um das Auto anzulassen.
Er kickte mit seinen Stiefeln nach dem Eis und ging weiter. Sein Hund Snooper schnüffelte an der Böschung herum. Witterte vermutlich einen toten Fisch oder so was. Auf diesen Hund musste er gut aufpassen. Auch wenn es sich nur um einen Pommeraner, einen Zwergspitz handelte, besaß er die Persönlichkeit eines großen Hundes und strotzte vor Lebenslust. Buck hatte Snooper nach dem Tode seiner Großmutter geerbt. Sie hatte den kleinen Hund Bitsy – Winzling – genannt, wogegen Buck etwas hatte. Wenn man einen Hund so nannte, verhielt er sich automatisch wie ein Angsthase. Snooper – Schnüffler – passte viel besser zu ihm.
Buck konnte es kaum erwarten, das Eis zu testen. Seine Schlittschuhe waren einsatzbereit. Er hatte sie letzte Woche nachschleifen lassen. Wenn der See zugefroren war und nicht zu viel Schnee darauf lag, war es für ihn das Höchste, auf Schlittschuhen über den See zu flitzen, von einem Ende zum anderen.
Obwohl er ein Schrank von einem Mann war, bewegte er sich auf Kufen geschmeidig und blitzschnell. Sein Dad war an der nördlichen Grenze von Minnesota aufgewachsen, und dort verpasste man den kleinen Jungen Schlittschuhe, noch ehe sie laufen konnten.
Buck war in den Twin Cities groß geworden, wo er das ganze Jahr über Hockey gespielt hatte und spätabends noch Schlittschuh gelaufen war, schon um sich ein Anrecht zu erwerben, im Sommer die Eisbahn benutzen zu dürfen. In der elften Klasse der High School hatte er der Schulmannschaft angehört, war in der zwölften einer der Besten gewesen, wurde dann aber kurz vor Beginn der Hockey-Saison beim Rauchen erwischt und aus dem Team verbannt.
Wenn er daran zurückdachte, wurde er sauer. Er hätte ein Stipendium bekommen und es zu etwas bringen können.
Fünf Jahre war das jetzt her. Inzwischen arbeitete er in der Tierfutterfabrik. Kein großartiges Leben, geschweige denn die Aussicht, Karriere zu machen, auch wenn er gegen seinen Job als solchen nichts einzuwenden hatte.
Und dann gab es da noch Stephanie. Buck wusste nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Wie keine andere Frau zuvor stürzte sie ihn in Frustration und Hilflosigkeit. Wenn sie ihn nur anhören, erhören würde. Aber nein, sie gab sich spröde. Vielleicht begehrte er sie gerade deswegen.
Er hatte sich noch nicht mit vielen Frauen abgegeben. Es fiel ihm einfach schwer. Aber jetzt wusste er, warum. Er hatte auf die Richtige gewartet. Und das war Stephanie: hübsch, ruhig und freundlich. Er war Mitglied der Lutheraner-Kirche, in der es keine Heiligen gab; würde es sie geben, könnte Stephanie eine sein.
Gelegentlich meinte er, das Leben nicht zu verstehen. Er war niemals ein guter Gesprächspartner gewesen, aber bei Stephanie sollte er sich vielleicht mehr Mühe geben. Wenn er bei aller gebotenen Zurückhaltung versuchen würde, ihr begreiflich zu machen, was er für sie empfand, kam sie ihm möglicherweise ein wenig entgegen. Sie schien ihn gern zu haben.
Snooper schloss zu ihm auf und schaute zu ihm auf.
»Willst wohl nach Hause, hm, Snoop?«
Der Hund schien zu nicken und setzte sich in Richtung des LKW in Bewegung.
Buck wusste, wo sich Stephanie gelegentlich aufhielt. Er könnte ja mal kurz in Shirley’s Bar reinschauen und sehen, ob sie dort war. Wenn nicht, wollte er weitersuchen, bis er sie fand. In den letzten Tagen hatte sie, wenn er sie anrief, nicht abgehoben. Und zur Arbeit war sie auch nicht erschienen.
Buck hatte die Absicht, mit ihr zu reden, sie vielleicht sogar zu bitten, ihn zu heiraten. Ob es das war, was sie wollte? Überzeugend wirkte er ja. Und seine sechs Fuß vier bei einem Gewicht von mehr als 240 Pfund machten auch Eindruck. In der Tierfutterfabrik ständig Zentner-Säcke zu stemmen hielt ihn in Form.
»Ich werd sie fragen, Snooper.«
Der kleine Hund, der sich auf dem Beifahrersitz aufgerichtet und die winzigen Vorderpfoten aufs Armaturenbrett gestützt hatte, schaute ihn mit seinen kaffeebohnenbraunen Augen an. Einmal mehr gewann Buck den Eindruck, dass der Spitz klüger war als die meisten seiner Mitmenschen und mit Sicherheit ein besserer Zuhörer.
»Stephanie, werd ich sagen, werd meine Frau und heirate mich, oder ich bring mich um. Meinst du, das bringt’s?« Buck lachte vor sich hin.
Snooper wedelte mit dem Schwanz, als er Bucks Stimme vernahm.
»Könnt ich mir jedenfalls vorstellen.«
«Hallo, Baby.«
Stephanies Herz verkrampfte sich, als sie Jacks Stimme hörte. Sie hatte gehofft, der Anrufer sei vielleicht Buck, und deshalb abgenommen. Jetzt aber, da sie Jack schon mal in der Leitung hatte, blieb ihr nichts übrig, als sich mit ihm zu unterhalten. Sonst würde er wütend werden und herkommen und ihr eine handfeste Lektion erteilen.
»Hallo.« Sie bemühte sich, gelassen zu bleiben.
»War nett, dich neulich zu sehen. Du hast ein bisschen zugenommen, steht dir aber gut.«
»Du hast auch gut ausgesehen«, sagte sie, weil sie wusste, dass er das hören wollte. Er sah ja auch gut aus und hatte es gern, wenn sie ihm das bestätigte. Wo ihn doch die Frauen mit ihren Blicken verschlangen.
»Danke, Baby. Was machst du grade?«
Sie konnte es nicht leiden, dass er sie ständig Baby nannte. Warum gebrauchte er nicht ihren richtigen Namen? »Nichts Besonderes. Bin seit deinem Besuch nicht mehr arbeiten gewesen.«
»Warum nicht?« Es klang überrascht.
»Weil ich so beschissen aussehe.«
»Warum sagst du so was, Baby?«
Sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Pferde durchgingen. »Du hast dafür gesorgt. An einem Auge ein dickes Veilchen, Hautabschürfungen überall im Gesicht. So kann ich mich unmöglich in der Fabrik sehen lassen. Geht alles auf dein Konto.«
»Ich weiß gar nicht, wovon du redest. Als ich ging, sahst du doch prima aus.«
Sie wurde wütend, wenn er etwas abstritt, was ihm anzulasten war. »Was soll das, Jack? Du hast mich verprügelt. Mich gewürgt. Warum tust du so, als wär nichts gewesen? Glaubst du, ich bilde mir das nur ein?«
Stille. Kein gutes Zeichen. Dann sagte er: »Du weißt doch, dass ich dir niemals wehtun würde. Dafür liebe ich dich viel zu sehr. Aber eins steht fest: Wenn ich dich jemals verprügelt hätte, wärst du gar nicht mehr in der Lage, darüber zu sprechen.«
Sie erkannte die Anzeichen. Seine Stimme wurde leiser. Er wurde böse – sie konnte es hören. Höchste Zeit, das Gespräch zu beenden, um ja nichts zu sagen, was ihn wirklich provozieren könnte. »Ich muss jetzt Schluss machen, Jack.«
»Warum denn? Erwartest du etwa diesen Kerl? Darauf würd ich mich nicht verlassen, Baby. Man weiß nie, was alles passieren kann.«
Meg ahnte, dass er gleich zurückkommen und ihr eine Standpauke halten würde. Bloß nicht weinen. Sie war ein großes Mädchen, und mit Tränen erreichte man gar nichts. Höchstens gelegentlich bei Mom. Mom konnte es nicht ertragen, wenn sie weinte; dennoch behielt sich Meg ihre Tränen als allerletzte Waffe vor. Jetzt hörte sie, wie Mr Turners Schritte über den Gang näher kamen. Wie das Ticken einer Uhr, gleichmäßig und unbeirrbar und nicht zur Umkehr bereit.
Mr Turner unterrichtete die fünfte Klasse, die Meg besuchte. Sie hatte noch nie einen Mann als Lehrer gehabt und sich eigentlich auf ihn gefreut. Man kam sich gleich viel erwachsener vor, wenn man von einem Mann unterrichtet wurde. Mr Turner hatte dunkles, stoppeliges Haar, lange Beine und buschige Brauen. Manche Mädchen fanden ihn süß. Meg hielt ihn für einen Teufel mit Samtstimme.
Anfangs nicht. Wie alle anderen hatte sie ihn gemocht. Bis er sich darauf verlegt hatte, an ihr herumzukritisieren. Anders als ihre bisherigen Lehrkräfte hatte er etwas dagegen, dass sie im Unterricht las, wenn sie mit ihrer Klassenarbeit fertig war. Dabei war das das Einzige gewesen, was sie bislang in der Schule bei der Stange gehalten hatte. Sonst wäre es zu langweilig gewesen, so lange zu warten, bis alle anderen zum Ende gekommen waren. Aber gleich beim ersten Mal, als sie zu einem Buch griff, hatte Mr Turner es ihr abgenommen und sie aufgefordert, die Tafel abzuwischen.
Beim zweiten Versuch hatte er sie mit auf den Gang genommen. »Dies ist ein Klassenzimmer«, hatte er gesagt, »und hier wird für die Schule gearbeitet. Wenn du mit den Aufgaben fertig bist, die ich euch gegeben habe, möchte ich, dass du die Hand hebst, und dann bekommst du von mir weitere Aufgaben. Oder noch besser, du gehst deine Arbeit nochmal durch. Wenn du sie derart rasch erledigst, findet sich darin bestimmt noch der eine oder andere Fehler, den du dann berichtigen kannst.«