Totes Wasser - Mary Logue - E-Book

Totes Wasser E-Book

Mary Logue

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Beschreibung

Es ist fünfzig Jahre her, dass die ganze Familie des Farmers Schuler brutal ermordet wurde. Nun werden in Fort St. Antoine Pestizide gestohlen, mehrere Anschläge und Vergiftungsfälle versetzen den Ort in lähmende Angst. Polizeidetektivin Claire Watkins ahnt, dass eine Verbindung zu dem einst ungeklärten Verbrechen besteht. Sie muss den Täter um jeden Preis stoppen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Mary Logue

Totes Wasser

Krimi

Aus dem Amerikanischen von Friederike Barkow

FISCHER Digital

Inhalt

Darum wird das Land [...]7. Juli 19521234567. Juli 19527891011127. Juli 19521314151617187. Juli 19521920212223247. Juli 1952252627287. Juli 1952

Darum wird das Land dürre stehen,

und alle seine Bewohner werden dahinwelken;

auch die Tiere auf dem Felde

und die Vögel unter dem Himmel

und die Fische im Meer werden weggerafft.

7. Juli 1952

Es war ein heißer Tag in Pepin County, Wisconsin. Selbst im Schatten brannte die Hitze auf der Haut. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, obwohl es schon spät am Nachmittag war.

Unter den Bäumen auf dem Hof der Schuler-Farm scharrten die Hühner nach Futter. Die Zikaden hatten ihren wehmütig schleifenden Gesang angestimmt, die Begleitmusik aller Sommernächte. Eine kleine Brise ließ die Laken auf der Wäscheleine tanzen.

Die Farm lag hoch oben am Rande der Bluffs, etwa sechs Kilometer von Fort St. Antoine und knappe elf von Plum City entfernt. Von den höher gelegenen Feldern konnte man den Lake Pepin in der Sonne schimmern sehen.

Zu dem frühen Abendessen an Arlettes erstem Geburtstag würde es Schmorbraten geben, neue Kartoffeln mit pürierten süßen Erbsen, Radieschen und Salat frisch aus dem Garten und natürlich eine deutsche Schokoladentorte. Arlette war das jüngste der fünf Schulerkinder. Denny war zehn, Louise acht, Schubert sechs und Elisabeth drei Jahre alt.

Die Kinder hatten den Abendbrottisch in der Küche schon gedeckt. Bertha traf die letzten Vorbereitungen für das Essen, während das Baby zu ihren Füßen auf dem Boden herumkroch. Die andern Kinder waren nach oben in ihre Zimmer gegangen, außer Denny, der seinem Vater im Stall beim Melken half.

Dann wurde diese friedliche Stille unterbrochen. Das Baby streckte die Hand aus, zog an der Tischdecke, ein Löffel kam ins Rutschen, fiel ihr auf den Kopf und sie fing an zu schreien. Bertha streckte den Kopf aus der Tür und verkündete, dass das Essen fertig sei. In der Diele schlug die Uhr die halbe Stunde.

Da fiel der erste Schuss.

1

Rich befühlte das Päckchen in seiner Tasche, während er mit Claire den Hügel in Richtung des Bauernmarktes im Park hinunterging – es enthielt den Verlobungsring seiner Mutter. Vor ein paar Tagen hatte sie ihm den kleinen Diamantreif mit ihrem Segen übergeben.

Meg rannte vorweg, sie hüpfte und sprang über eingebildete Steine und Felsbrocken auf der Straße. Sie war nun elf und in der letzten Zeit mächtig gewachsen. Nicht länger das kleine Mädchen, das er vor drei Jahren kennen gelernt hatte.

Claire hielt seine freie Hand, über die Schulter hatte sie eine bunte Plastiktasche geschlungen, die ihr als Einkaufsbeutel diente und in der sie auch ihr Handy hatte. Sie hatte Wochenenddienst und musste ständig erreichbar sein.

Meg würde die Nacht auf einer Pyjamaparty im Haus einer Freundin verbringen, und Rich hatte Claire zu einem romantischen Dinner eingeladen. Er hatte alles genau geplant, an diesem Abend würde er ihr einen Heiratsantrag machen. Er war ein bisschen nervös, denn sie hatten noch nie über Heirat gesprochen. Aber er hatte die Vorstellung, ihrer beider Leben würden so selbstverständlich ineinander aufgehen wie die Wasser des St. Croix und des Mississippi, die zwanzig Meilen nördlich ineinander flossen. Sie kannten sich lange genug. Er wusste, dass er den Rest seines Lebens mit Claire verbringen wollte.

Er drückte ihre Hand, sie wandte sich ihm zu und strahlte ihn an. Sie hatte ihre dunklen Haare wachsen lassen und trug sie heute locker zu einem Zopf geflochten, ein oder zwei silberne Strähnen deuteten an, dass sie nicht ganz so jung war, wie sie wirkte. Sie trug abgeschnittene Jeans, gelbe Sandalen und ein weites T-Shirt, das Meg und sie blau und gelb gefärbt hatten. Er wollte ihre Verbindung öffentlich machen. Er wollte sie für immer an seiner Seite haben.

 

Der Bauernmarkt fand den Sommer über jeden Sonnabendmorgen im Park statt. Ein paar Biobauern aus der Gegend hatten das Ganze organisiert. Ted Wallis verkaufte seinen Honig, Penny Swenson und ihr Ehemann Louie brachten ihr selbst gebackenes Brot und andere Farmer kamen gelegentlich mit Erdbeeren, Spargel oder Morcheln, je nach Jahreszeit.

Mittelpunkt des Marktes waren die Daniels. Sie waren vor zehn Jahren aus den Twin Cities nach Pepin County zugezogen und hatten einen der ersten ökologischen Landwirtschaftsbetriebe aufgebaut. Zuerst hatten sie ihre Produkte an einem Stand verkauft, aber jetzt belieferten sie regelmäßig ein Reformhaus in Red Wing. Sie hatten auch als Erste die Idee mit dem Markt gehabt.

Als Rich an ihren Stand kam, sah er etwas rot schimmern. Seit neun Monaten hatte er darauf gewartet. Ein kleiner Berg roter Früchte, die ersten Tomaten des Jahres. Er ging näher und nahm ein paar. Hätte er Salz bei sich gehabt, hätte er eine davon sofort verspeist. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen bei dem Gedanken. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass ihr Vater sie Liebesäpfel genannt und mit Zucker und Sahne gegessen hatte.

Ein Teller Tomatenscheiben mit Pfeffer und Salz, Essig und Öl und frisch geschnittenem Basilikum würde wundervoll zu seinem Essen heute Abend passen. Ein gutes Omen für das, was folgen sollte.

»Nur zwei für jeden Kunden«, sagte Judy Daniels. »Wir wollen, dass jeder Kunde zwei mit nach Hause nehmen kann, es sind wirklich die Ersten.«

»Klingt gerecht. Wie haben Sie es fertig gebracht, so früh schon Tomaten zu haben?«

»Das geht nur mit einem Gewächshaus. Aber so früh wie in diesem Jahr haben wir sie noch nie gehabt. Heute ist der erste Juli, kann man sich doch kaum vorstellen.«

Er suchte sorgfältig die beiden schönsten und reifsten Tomaten aus, während Claire Salat und Kräuter auswählte. Meg war mit den beiden Daniels-Kindern zu den Schaukeln gelaufen.

Dann hörte er einen jämmerlichen Ton, als ob ein Vogel ein Junges gegen einen Angreifer verteidigen wollte, aber er kannte dieses schreckliche Geräusch, Claires Handy läutete. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und griff in ihre Tasche.

»Watkins«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu, um sich besser zu konzentrieren.

 

Seine Hände zitterten leicht auf dem Lenkrad. Um sich Mut zuzusprechen, wiederholte er den Satz dauernd: Der erste Schritt ist getan, der erste Schritt ist getan.

Er hielt auf einem alten Feldweg an, den niemand außer ihm noch benutzte. Kaum jemand wusste noch von ihm. Zehnmal im Jahr fuhr er ihn rauf und runter, damit er nicht völlig zuwuchs – einmal im April, einmal im Mai, je zweimal in den nächsten drei Monaten, dann je einmal im September und Oktober. Wenn der Schnee kam, brauchte er sich bis zum nächsten Frühjahr keine Gedanken mehr um den Weg zu machen.

Heute hatte er angefangen, seinen Plan umzusetzen. Bisher hatte alles geklappt. Er war auch nicht länger so nervös, nur noch ein bisschen aufgeregt. Das war unvermeidlich. Er musste es tun. Jahrelang hatte er darüber nachgedacht, jetzt war er zur Tat bereit. Der erste Schritt war getan. Weitere würden folgen. Er hoffte, sie würden alle so glatt gehen wie der heutige. Und am Ende würde er vielleicht sein Ziel erreichen.

Er stieg aus seinem Truck, ging um ihn rum, öffnete die hintere Klappe, nahm den Kanister von der Ladefläche und steckte ihn in den mitgebrachten Rucksack. Dann klemmte er die beiden Pakete unter die Arme. Es war mühselig, aber er wollte den Weg nicht zweimal machen, er war sowieso schon zu lange von zu Hause weggewesen. Er musste das Zeug noch an einem sicheren Platz verstauen.

Er wusste die Anzahl der Schritte bis zu dem Versteck genau, er hatte sie immer wieder gezählt. Jeder Schritt hatte seine Zahl und jede Zahl brachte ihn dem Ziel näher. Mit dieser Methode klammerte er sich an die Welt. An die Welt, die aus den Fugen war und das schon seit fast fünfzig Jahren. Nur er konnte das sehen, nur er konnte es ändern. Diese Gewissheit hatte er schon seit vielen Jahren in sich getragen. Aber nun war es an der Zeit, die Ordnung wieder herzustellen.

Er stieg den Hügel hinab bis zum Schatten einer alten Eiche, hier blieb er für einen Augenblick stehen, um Luft zu schnappen und sich abzukühlen. Es war ein sehr heißer Tag. Seine Last stellte er aber nicht ab, das durfte er erst, wenn er an dem Versteck angekommen war. So war es geplant. Und so musste es ausgeführt werden.

Nun war es nicht mehr weit. Die Schritte, die er im Kopf gezählt hatte, hatten ihn an eine Mulde geführt. Eine hölzerne Abdeckung verbarg etwas, das wie eine alte Pumpe aussah. Auch sie war sicher von aller Welt vergessen. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden. Hier stellte er die beiden Pakete ab und beugte sich, um den Riegel einer wackligen Falltür zu öffnen. Er öffnete die Tür und stützte sie mit einem Stock ab.

Als er in das dunkle Loch blickte, sah er eine lange, dicke Schlange über den felsigen Boden gleiten. Solange es keine Klapperschlange war, machte sie ihm nichts aus. Alle anderen Schlangen fürchtete er nicht. Er mochte sie sogar, weil sie allerlei Schädlinge vertilgten.

Eine Leiter stand bereit. Er nahm die beiden Pakete und kletterte vorsichtig hinab in die feuchte Kühle. Er hatte eine Plastikmatte auf dem Boden der Höhle ausgebreitet, auf die er jetzt die Pakete stellte. Dann nahm er den Kanister aus dem Rucksack und platzierte ihn auf den Paketen.

Sein Vorratslager. Er hatte alles, was er brauchte. Er wusste genau, wie alles ablaufen würde. Schritt für Schritt. Jeder Schritt mit seiner Zahl. Aber was er noch nicht wusste und was er nicht berechnen konnte, war die Zahl der Menschen, die am Ende ihr Leben lassen würden.

 

Es war etwas unpraktisch für Claire, sie wohnte in Fort St. Antoine, arbeitete aber in Durand, wo die Verwaltung von Pepin County und die Polizeistation ihren Sitz hatten. Beide Ortschaften befanden sich aber genau an den entgegengesetzten Enden des Bezirks. Sie fuhr die dreißig Meilen dazwischen stetig fünf Meilen über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Sheriff Talbert hatte am Telefon nur einen Einbruch erwähnt. Er hatte weder gesagt, wo er stattgefunden hatte, noch was gestohlen worden war, aber an seinem Tonfall hatte sie erkannt, dass es sich um eine ernst zu nehmende Angelegenheit handeln musste.

Am Sonnabendvormittag wurde nur mit Wochenendbesetzung gearbeitet. Judy hütete das Telefon und blickte kurz von ihrem Magazin auf, als Claire ankam. »Sie sind alle hinten in Talberts Büro. Sie warten schon auf dich.« Claire betrat das Büro und sah zwei ihr unbekannte Männer dem Sheriff gegenübersitzen.

Den Sheriff hatte man offensichtlich direkt vom Golfplatz geholt, er trug quittengelbe Hosen und ein blau-weiß gestreiftes Polohemd. »Claire, ich möchte dich mit Ron Sorenson und Petey Hauer bekannt machen, sie sind der Präsident und der Vizepräsident der Farmer-Kooperative. Claire ist meine Stellvertreterin und unsere leitende Ermittlerin.«

Die einzige Ermittlerin, dachte Claire, als sie den beiden ihre Hand entgegenstreckte. Die beiden Männer erhoben sich und gaben ihr die Hand. Sie lächelte und grüßte. Es fiel ihr auf, dass keiner ihr Lächeln erwiderte.

Sie schätzte Sorenson auf etwa sechzig: Er hatte sich lichtendes weißblondes Haar, ein sonnengebräuntes Gesicht und sanfte blaue Augen. Nicht besonders gut aussehend, aber sympathisch. Er wirkte wie ein Geistlicher, selbst in Jeans und Sporthemd. Petey schien nicht über dreißig, er war klein und rund, hatte braune Augen und erinnerte sie an ein Eichhörnchen.

Es gab keinen vierten Stuhl im Büro, und so ging sie an den beiden Männern vorbei zum Schreibtisch des Sheriffs und machte es sich auf einem niedrigen Aktenschrank bequem. Sobald sie sich gesetzt hatte, ließen sich die Männer auch nieder.

»Ich muss gestehen, dass ich keine Ahnung habe, was eine Farmer-Kooperative ist«, gestand Claire. Sie hatte am Anfang ihrer Laufbahn gelernt, zuzugeben, dass sie etwas nicht wusste. Es brachte nichts, Kenntnisse vorzuspiegeln. Am Ende wurde man immer ertappt.

»Wir sind so was wie eine Genossenschaft. Wir verkaufen landwirtschaftliche Maschinen, Futtermittel, Dünger und Unkrautvernichter an unsere Mitglieder in diesem Gebiet.«

»Und das Gebiet ist?«

»Hauptsächlich Pierce und Pepin Counties.«

Claire wandte sich dem Sheriff zu.

»Ich habe dich dazugeholt, Claire, weil sie heute Nacht einen Einbruch in ihrem Lager hinter dem Hauptgebäude hatten. Du hast es sicher im Vorbeifahren gesehen. Es ist ein großes cremefarbiges Gebäude etwa eine halbe Meile außerhalb von Durand an der Bundesstraße 25.«

»Hinter der Dairy Queen?«, fragte sie.

Alle drei Männer nickten.

»Und was wurde gestohlen?«

Der Sheriff gab Sorenson ein Zeichen. »Warum erklärst du ihr das nicht?«

»Sie haben zwei Packungen Parazine genommen und einen Kanister Caridon«, sagte Sorenson mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.

Die Namen sagten Claire nichts. »Das sind …?«

»Ach ja, Verzeihung, das sind Pestizide. Parazine ist ein Herbizid und Caridon ein Insektizid. Durchaus übliche Unkraut- und Insektenvernichtungsmittel. Wir haben sie eigentlich immer auf Lager.«

Claire wusste nicht recht, wie sie darauf reagieren sollte. Es schien ihr kein Aufsehen erregender Diebstahl zu sein. Jedenfalls schien er in keinem Verhältnis zu der Spannung zu stehen, die in diesem Raum herrschte.

Die drei Männer starrten sie an. Wieso begriff sie nicht, worum es hier ging?

Der Sheriff versuchte zu helfen: »Sag ihr, wie hoch der Schaden ist.«

Sorenson räusperte sich, als sei es ihm peinlich, darüber zu sprechen. »Zwischen sechzig- und siebzigtausend Dollar.«

Claire gab sich Mühe, nicht zu überrascht auszusehen. Keine Feld-, Wald- und Wiesen-Pestizide, dachte sie. Die Summe war vermutlich so groß wie das Jahreseinkommen der beiden Männer zusammen. So ein Verlust könnte so einem kleinen Unternehmen schon ernstlich schaden, besonders wenn es sich um eine Genossenschaft handelte.

»Was ist eigentlich genau passiert?«, fragte sie.

»Wir wissen so gut wie nichts«, antwortete Sorenson. Er schien nicht nur der Präsident, sondern auch der Manager zu sein. »Wenn das Schloss der Tür zum Lager nicht aufgebrochen worden wäre, hätten wir wahrscheinlich gar nichts gemerkt und erst bei unserer nächsten Bestandsaufnahme entdeckt, dass da was fehlt. Das Einzige, was ich bisher herausfinden konnte, ist, dass niemand etwas gesehen hat. So scheint es jedenfalls.«

»Sonst wurde nichts mitgenommen?« Claire fand das rätselhaft.

»Nur die Pestizide. Mir ist das unverständlich, wir haben wirklich teure Maschinen in dem Lager, sie hätten sie nur herauszurollen brauchen.«

»Habe ich Recht, wenn ich annehme, ich könnte diese Pestizide nicht in einem beliebigen Gartenzentrum oder Home Depot kaufen?«, fragte sie.

»Richtig«, sagte Sorenson und blickte ihr in die Augen, dann fügte er hinzu: »Man muss genau wissen, wie man mit diesen Mitteln umgeht. Wenn sie in die falschen Hände geraten, kann damit eine Menge Schaden angerichtet werden.«

2

Sorenson öffnete ihr die Tür seines Pick-ups auf der Mitfahrerseite und sah zu, wie sie sich hineinschwang. Gut aussehende Frau. Einst war das auch seine Frau gewesen. Aber nachdem alle Kinder bis auf eines aus dem Nest geflogen waren, hatte sie weiter für eine große Familie gekocht und die Reste aufgegessen. Sie war immer rundlicher geworden, die gute Figur flöten gegangen. Er liebte sie noch immer, aber er sah sie nicht mehr so gern an wie früher.

Als er um den Wagen ging, um auf der anderen Seite einzusteigen, überlegte er, was wohl die Nachbarn denken würden, wenn sie ihn mit einer anderen Frau durch die Stadt fahren sahen. Einerseits fand er den Gedanken ganz reizvoll, aber andererseits machte es ihn ein bisschen nervös, mit einer Frau an diesem Problem arbeiten zu müssen. Er war nur die Gesellschaft von Männern gewöhnt.

»Seit wann sind Sie denn Präsident der Kooperative?«, fragte sie ihn, als sie in die Hauptstraße einbogen.

»Seit einem Jahr. Wir wechseln uns ab.«

»Als Präsident?«

»Ja, keiner reißt sich um den Posten. Es bedeutet mehr Arbeit. Heute zum Beispiel sollte ich freihaben und auf meiner Farm arbeiten, stattdessen habe ich diesen verfluchten Einbruch am Hals.« Er sollte sich zusammennehmen. »Entschuldigen Sie die Ausdrucksweise.«

Die Polizistin lachte. Es war ein kräftiges Lachen, ehrlich und ungekünstelt. Es schien aus dem Bauch zu kommen, war aber nicht ohne Charme. »Hey, keine Sorge, ich war ein Cop in Minneapolis, ehe ich hierher kam. Mich kann man nicht so leicht erschüttern.«

Er fühlte, wie seine Lippen sich unwillkürlich zu einem Grinsen verzogen. »Kann ich mir vorstellen.«

Sie schwiegen eine Weile und Sorenson überlegte, ob er die Klimaanlage anstellen sollte. Er versuchte, sie möglichst selten einzusetzen. Verbrauchte viel Benzin und war sicher auch der Gesundheit nicht zuträglich. Wenn es so heiß war, hielt er es für besser, drinnen wie draußen die gleiche Temperatur zu haben. Aber vielleicht war ihr das nicht angenehm. »Nicht zu heiß für Sie?«, fragte er.

»Nein, ist okay. Nach diesem Winter kann ich von der Hitze gar nicht genug kriegen.«

»Dem Mais bekommt sie jedenfalls.«

»Schon kniehoch, nicht wahr?«, bemerkte sie.

»Meiner reicht schon fast bis zur Hüfte«, erzählte er ihr voller Stolz. Auf seinen Feldern baute er hauptsächlich Futtermais an, nur in der Nähe des Hauses hatte er ein paar Reihen einer extra süßen Sorte gepflanzt. Er konnte es kaum erwarten, ihn zu kosten. Super-Süß hieß die Sorte, und so schmeckte sie auch.

»Erzählen Sie mir doch etwas mehr über die Pestizide«, bat sie ihn.

»Wie ich schon sagte, handelt es sich bei dem einen um ein Insektenvertilgungsmittel und bei dem anderen um einen Unkrautvernichter. Beide werden hier häufig angewendet, Caridon vorwiegend gegen Heuschrecken und Wiebel. Von beiden hatten wir in diesem Jahr eher wenige und es ist auch nicht anzunehmen, dass sie jetzt noch in Massen über uns herfallen werden. Parazine ist ein gängiges Mittel gegen alle möglichen Unkraut- und Grassorten. Man spritzt es für gewöhnlich ein paar Wochen bevor die Felder bestellt werden, wenn das Unkraut vielleicht fünfzehn Zentimeter hoch ist.«

»Es wäre also jetzt etwas spät dafür?«

»Das würde ich sagen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer dahinter stecken könnte?«

»Ich würde nur ungern irgendwelche Vermutungen aussprechen«, Sorensons Augen waren fest auf die Straße gerichtet. Die Kooperative tauchte gerade auf. Er überlegte, wer wohl heute Dienst hatte. Hoffentlich nicht sein siebzehnjähriger Sohn Ray, der in der letzten Zeit öfter in Schwierigkeiten zu geraten schien. Was Sorenson Sorgen machte, war, dass er keine Ahnung hatte, wo der Lümmel sich letzte Nacht rumgetrieben hatte. Er hoffte, Ray wäre mit seinen Freunden zusammen gewesen, obgleich es wahrscheinlich gerade diese Freunde waren, die ihn auf die schiefe Bahn gebracht hatten. Auf jeden Fall wollte er erst mit seinem Sohn reden, ehe er ihn irgendwelcher Untaten beschuldigte.

Der Laster rumpelte über alte Schlaglöcher auf dem Parkplatz. Sorenson fuhr dicht an die Mauer des Gebäudes heran und versuchte, möglichst im Schatten zu parken. Wenn seine Rechnung aufging, konnte er die Polizistin später zurück auf die Wache fahren, ohne die Klimaanlage einschalten zu müssen.

»Ist Ihr Laden heute offen?«, fragte sie.

»O ja, es ist unsere Hochsaison, jetzt arbeiten die Farmer pausenlos. Für Freizeit ist der Winter da – für sie wie für uns.«

Er sprang aus dem Laster und ehe er um den Wagen laufen und ihr die Tür öffnen konnte, war sie schon von ihrem Sitz geklettert. Er sollte sie wirklich wie einen Cop behandeln und nicht wie eine Frau. Sie folgte ihm in die Verkaufshalle.

Am Eingang blieb sie stehen und sah sich um. Auch er blickte um sich und versuchte die Halle mit ihren Augen zu sehen. Sie war ziemlich nüchtern: Die Schiebetüren gegenüber waren offen, um ein bisschen Durchzug zu erzeugen. Eine Reihe von Rasenmähern stand am anderen Ende der Halle. Es gab ein Sonderangebot für Picknick-Tische und ein paar davon hatte man in Kassennähe aufgestellt. Es roch süßlich nach einer Mischung von Vogelfutter und anderer Tiernahrung. Er warf einen Blick rüber zur Kasse, Tim bediente gerade Cecilia Thompson, umgeben von ihrer Kinderschar. Ihm fiel ein, dass sein Sohn heute freihatte.

Claire Watkins drehte sich um und sah ihn an: »Wo werden die Pestizide gelagert?«

»Die sind da hinten eingeschlossen.«

»Sehr vernünftig.«

»Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich als wenig wirkungsvoll erwiesen hat.«

»Ist hier schon mal was geklaut worden?«, fragte sie.

»Gelegentlich, wie in jedem anderen Laden. Kleinigkeiten, die man in die Tasche stecken kann. Kneifzangen, kleine Hämmer und so. Vor ein paar Jahren hat einer mal versucht, mit einem Rasenmäher abzuziehen, wir haben ihn einen halben Block weiter eingeholt, der hat einfach das Ding, so schnell er konnte, vor sich hergeschoben. Tja, das war’s eigentlich.«

»Wäre es möglich, diese Pestizide weiterzuverkaufen?«

»Vielleicht, aber wer sollte sie schon kaufen? Es gibt schließlich keinen schwarzen Markt dafür. Aber möglich ist alles.«

»Glauben Sie, es war eher jemand, der für den eigenen Bedarf geklaut hat?«

»Das klingt wahrscheinlicher, aber es ist die falsche Jahreszeit für beide Mittel. Vielleicht noch Caridon, aber Parazine würde jetzt niemand verwenden.«

»Wie ist der Einbrecher reingekommen?«

»Er muss wohl einen Schlüssel gehabt haben. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er mit Gewalt in das Gebäude eingedrungen ist.«

Er ging mit ihr zum Lagerraum. »Für das Warenlager hier hatte er aber keinen Schlüssel, er hat das Schloss von der Tür abgeschlagen.« Er zeigte ihr das Scharnier, das lose herunterhing. Die Tür sah aus, als hätte man mit einem schweren Hammer auf sie eingeschlagen. Jemand hatte einen Stuhl davor gestellt, um sie geschlossen zu halten. Sorenson zog den Stuhl beiseite.

»Womit hat er das gemacht?«

»Mit einem unserer Holzhammer. Wir haben ihn neben der Tür auf dem Boden gefunden. Keine Sorge, wir haben ihn nicht angefasst. Ich habe ihn selber in einen Sack gesteckt und in mein Büro gebracht.«

»Wer hat einen Schlüssel zur Verkaufshalle?«

»Chucky und ich. Chucky ist unser Verkaufsmanager, Cliff Snowden. Es ist möglich, dass der eine oder andere unserer früheren Angestellten noch einen Schlüssel hat. Keine Ahnung, wie viele noch in der Gegend herumschwirren.« Er stockte einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Und die beiden Jungs, die manchmal morgens den Laden aufmachen, Tim Loch und Ray Sorenson.«

»Ist Ray mit Ihnen verwandt?«

»Er ist mein Sohn.« Das war der andere Grund für seine Befürchtungen.

Sie sah ihn an und nickte, sagte aber nichts.

»Es gibt noch etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Der oder die Einbrecher haben etwas hier gelassen. Wir haben es nicht berührt. Außer mir weiß nur Chucky davon. Wir haben es für uns behalten.« Er führte sie in den Lagerraum zurück und deutete auf das Regal, wo die Pestizide abgestellt gewesen waren.

Da lagen in dem sonst leeren Fach sieben merkwürdige kleine Gegenstände, sie waren gelblichweiß, zylinderförmig und etwa drei Zentimeter lang.

 

Wenn im tiefsten Winter der Frost die Luft eisig und trocken machte, konnte Rich sich nicht mehr den Duft einer warmen Julinacht in Erinnerung rufen. Um diesen Duft nun doch in seiner Erinnerung zu speichern, schloss er die Augen und atmete tief ein. Die feuchte Luft schien alle schwebenden Gerüche aufgesogen zu haben – eine betörende Mischung aus wild blühenden Rosen, saftigen Gräsern und einem Hauch des dumpfen Aromas feuchter Erde. Ein Gebräu, das einem leicht zu Kopfe steigen konnte.

Als er seine Augen wieder öffnete, sah er, wie das verblassende Blau des Himmels sich in dem See spiegelte. Er schimmerte nun wie der Hals einer Wildente. Die Felsen jenseits des Flusses lagen dunkelgrün im Schatten. Er saß auf seiner Veranda und beobachtete die sinkende Sonne. So kurz nach der Sonnenwende verschwand sie erst um halb zehn hinter dem Horizont.

Er wartete auf Claire. Vor zwanzig Minuten hatte sie angerufen und gesagt, sie sei auf dem Weg.

Er würde ihr keine Vorwürfe machen. Das brachte nichts. Er hatte Verständnis, schließlich hielten seine Fasane ihn auch manchmal auf Trab, ohne Rücksicht auf sein Privatleben.

Aber er war nicht mehr in der rechten Stimmung für einen Heiratsantrag. Er fand das sowieso nicht einfach, er hatte romantische Vorstellungen. Ort und Zeit sollten stimmen, sodass sie im Alter mit Freude daran zurückdenken konnten. Er hatte den Ring in die oberste Schublade seiner Anrichte gelegt. Bald würde er ihn wieder hervorholen, denn er wollte es nicht zu lange aufschieben.

Claires Streifenwagen bog in die Einfahrt. Sie sprang heraus und kam die Stufen hochgerannt. Ihre Hast ließ ihn zusammenfahren. Würde sie gleich wieder wegmüssen? Würde sie nicht bleiben können? Aber dann küsste sie ihn und wandte den Kopf, um seinem Blick zu folgen. Die gerade untergegangene Sonne hatte einen schmalen roten Streifen an den Horizont gemalt, dünn wie ein Faden.

»Ich hab den Sonnenuntergang nicht ganz verpasst«, sagte sie und lehnte sich an ihn. Seine Arme schlangen sich automatisch um ihre Taille.

»Nein, hast du nicht.«

Sie drehte sich ihm wieder zu und küsste ihn nochmals, ohne Eile und mit viel Gefühl. Ihm war, als hätte er eine lange Zeit auf sie gewartet. Sie schmiegten sich enger aneinander. Wie gut sie sich zusammenfügten.

»Du siehst, ich habe unsere Verabredung nicht ganz verpasst«, sagte sie und strahlte ihn an.

»Sieht nicht so aus.«

»Dann hast du auch noch was zu essen für mich? Ich bin kurz vor dem Verhungern.«

»Ich hab mit dem Essen auf dich gewartet.«

»Du bist ein Schatz. Womit hab ich dich verdient?«

»Du bist mir über den Weg gelaufen.« Es entging ihm nicht, wie aufgewühlt sie noch von den Ereignissen war, die sie den ganzen Tag beschäftigt und sie ihm weggenommen hatten. Er bewunderte ihren Einsatz, aber er fürchtete auch, dass all der Stress ein zu hoher Preis dafür sein könnte. Dann musste er über sich selbst lachen. Ärzte, Rechtsanwälte oder Börsenmakler litten bestimmt unter mehr Stress. Die Kriminalität in Pepin County, dem kleinsten Bezirk Wisconsins, war nicht überwältigend.

Der Tisch war für zwei gedeckt. Das Eis in den Wassergläsern war geschmolzen, aber das machte nichts.

»Ich geh mich rasch umziehen«, sagte sie zu ihm. Sie lief in sein Schlafzimmer, wo sie ein paar Hosen und Blusen aufbewahrte. Er hatte ihr vor geraumer Zeit eine Ecke im Schrank und eine Kommodenschublade frei gemacht.

Am Nachmittag, als ihm der Verdacht kam, sie würde nicht rechtzeitig zum Essen erscheinen, hatte er das Menü geändert. Aus den frisch gekochten Kartoffeln war ein Kartoffelsalat geworden, und statt des gebratenen Fasans gab es nun ein Fasanenragout.

Er wärmte das Ragout auf, brachte frisches Brot, das er morgens auf dem Markt gekauft hatte, und stellte den Teller mit den aufgeschnittenen Tomaten dazu.

Sie kam die Treppe herunter. In ihrem engen weißen T-Shirt und Jeans sah sie phantastisch aus.

»Wein?«, fragte er.

»Aber sicher!«

Er goss ein und sie stießen an. Nach dem ersten Schluck fing er an zu servieren. Sie grinste ihn über den Rand ihres Glases an. »Das sieht aber lecker aus.«

»Was hat sich denn heute getan?«, fragte er. Er sah ihr an, dass sie darauf brannte, ihm ihre Neuigkeiten zu erzählen.

Und sie legte auch sofort los. »Kaufst du gelegentlich bei der Farmer-Kooperative ein? Bei denen sind in der Nacht zwei verschiedene Sorten von Pestiziden geklaut worden.«

»Manchmal kaufe ich mein Fasanenfutter dort. Wer leitet denn den Laden dieses Jahr? Immer noch Sorenson?«

Sie nickte. »Er ist ganz schön aufgebracht über den Einbruch.«

»Er ist ein sehr verantwortungsbewusster Typ.«

»Ja, das war auch mein Eindruck. Und diese Pestizide muss man durchaus ernst nehmen. Er gab mir die Gebrauchsanweisungen. Ehe ich zu dir kam, habe ich sie noch schnell gelesen. Beide können tödlich sein, wenn man sie verkehrt anwendet. Du weißt vermutlich über so was Bescheid, du Bauer.« Sie hob ihre Gabel und kostete das Ragout. »Hm, das schmeckt ja großartig.«

»Habt ihr eine Idee, wer das gemacht hat? Jemand, der was gegen die Genossenschaft hat? Oder gegen Sorenson persönlich?«

»Möglich. Wir werden uns alle vornehmen, die irgendwelche Verbindungen zu ihnen haben, einschließlich früherer Angestellter. Einer der jungen Leute, die dort arbeiten, ist Sorensons Sohn.«

»Peinlich.«

»Ich muss morgen mit vielen Leuten reden. Wir haben auch alles auf Fingerabdrücke untersucht, aber ich glaube nicht, dass das viel bringt. Es sei denn, es waren Jugendliche, die sich einen Spaß machen wollten. Verbrecher hinterlassen keine Fingerabdrücke.«

»Ich kann nicht sagen, dass ich den Gedanken an Jugendliche, die mit solchen Giften in der Gegend herumlaufen, besonders erfreulich finde. Gott sei Dank sind Ferien. Kannst du dir vorstellen, was passieren könnte, wenn Jugendliche beschlössen, die Schule auszuräuchern?«

»Junge Leute halte ich für unwahrscheinlich, die finden so was wie Pestizide nicht spektakulär genug. Mir scheint es eher, dass sich jemand über die hohen Preise von Chemikalien geärgert hat. Wir werden alle Farmer unter die Lupe nehmen, die dieses Mittel früher schon mal gekauft haben, oder Farmer, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind.«

»Ich würde sagen, wenn irgendjemand das klären kann, dann du.«

»Hoffentlich hast du Recht. Wenn ein Farmer sie aber für den Eigenbedarf geklaut hat und sie dann nach und nach verwendet, werden wir das nie herausfinden.«

Claire verschwieg ihm etwas. Er spürte das.

Sie nahm einen Schluck Wein, dann sah sie ihn an und sagte leise: »Wer immer der Dieb sein mag, er hat uns ein Andenken hinterlassen, damit wir ihn nicht vergessen.« Sie machte eine Pause und schwenkte den Wein in ihrem Glas. Er sah die Angst in ihren Augen, als sie das Wort »Knöchelchen« aussprach.

 

Es war Punkt zwölf. Der zweite Juli. Zeit für den zweiten Schritt. Er musste getan werden, der Plan verlangte es. Er saß in seinem Truck und wartete bis genau drei Minuten nach Mitternacht.

Er hatte den Spray sorgfältig gemischt, die Gebrauchsanweisung zuvor mehrmals gelesen. Eine Unze Flüssigkeit auf drei Gallonen Wasser. Er hatte die Mischung in eine Handpumpe gefüllt, die er sonst benützte, um Dünger auf seinen Rasen zu sprühen. Die Pumpe stand hinten auf der Ladefläche, eingehüllt in eine alte Plane, damit sie nicht umfallen konnte.

Man musste vorsichtig mit dem Zeug umgehen, das wusste er. So vorsichtig wie mit Sprengstoff. Die kleinste Nachlässigkeit würde sich sofort rächen. Deswegen trug er ein langärmliges Hemd, obwohl draußen immer noch dreißig Grad herrschten. Gummihandschuhe hatte er auch dabei und eine alte Sonnenbrille, um seine Augen zu schützen. Es mochte seltsam wirken, nachts eine Sonnenbrille aufzusetzen, aber es würde ihn kaum jemand sehen. Es wäre keiner mehr unterwegs.

In der Nacht schien die Stadt wie ausgestorben. Vor der einen oder anderen Bar waren noch ein paar Autos geparkt, viel war nicht los in Durand bei Nacht, nicht wie zur Zeit, als er noch ein Kind war. Damals hatte es noch Restaurants und Kinos gegeben und Freitagnacht ging man aus, aber das war nun schon lange her.

Er sah wieder auf die Uhr. Zeit für den nächsten Schritt. Er hatte alles genau durchdacht. Alle würden es verstehen, wenn sie die Wahrheit erfuhren. Dann würde alles einen Sinn ergeben.

Er fuhr den Truck den Hügel an der Ostseite der Stadt hinauf, weg vom Chippewa-Fluss. Niemand begegnete ihm auf der Fahrt. Er fuhr an der Polizei vorbei, weiter den Hügel hinauf und hielt dann für zwei Minuten auf dem Plateau. Auf dem Parkplatz vor dem Polizeigebäude standen drei Wagen. Er musste das in Kauf nehmen. Es würde nur eine Minute dauern, er hatte lange geübt.

Er fuhr zurück zum Polizeigebäude und parkte genau davor. Wenn jemand den Wagen sah, würde es so aussehen, als sei er geschäftlich hier. Er hatte für die Fahrt einen alten Truck aus der Scheune geholt und die Nummernschilder mit Dreck beschmiert, um sie unkenntlich zu machen. Vorsicht war eben angebracht.

Nachdem er die Pumpe abgeladen hatte, zog er die Gummihandschuhe an und setzte die Sonnenbrille auf. Er trug die Pumpe in einer großen braunen Einkaufstüte, aus der nur die Tülle heraussah, und ging um das Gebäude bis zu den Stufen zum Haupteingang.

Rechts und links von der Treppe lagen Blumenbeete. Er kannte die Namen der meisten Blumen von seiner Mutter: Petunien, Rosen, Stiefmütterchen und Löwenmäulchen, eingefasst von Steinkraut. Er liebte den Duft der kleinen weißen Blüten, süß und berauschend. Er durfte nicht vergessen, den Atem anzuhalten. Er sah auf seine Uhr: zwölf Uhr sieben.

Er atmete tief ein und hielt die Luft an. Sieben Schritte über die Beete. Dichter Nebel aus der Tülle. Sieben waren es gewesen. Er wollte, dass keiner es jemals vergaß.

3

Hatte es in der Nacht Frost gegeben? Debby Lowe starrte fassungslos auf die zerstörten Blumenbeete. Sie hatte einfach keine Erklärung für das, was sie vor sich sah. Sie stand wie versteinert vor dem Verwaltungsgebäude, in dem auch die Polizeistation untergebracht war. Sie arbeitete dort am Empfang.

Freitagnachmittag, als sie nach Hause gegangen war, hatten die Blumen so gut ausgesehen – das Steinkraut hatte angefangen, kleine Polster zu bilden, die Löwenmäulchen waren höher aufgeschossen denn je, die Ringelblumen hatten viele leuchtend orangefarbige Blüten und noch mehr Knospen, es war eine solche Pracht gewesen. Sie hatte mit Miracle Gro gedüngt, mit sichtbarem Erfolg. Sie hatte die Beete regelmäßig gegossen und immer wieder kontrolliert.

Debby hatte die Beete selbst angelegt. Eines Tages hatte der Sheriff ihr diese Anlage zugeteilt, als Teil ihrer Arbeit. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können. Sie durfte gärtnern und wurde auch noch dafür bezahlt. Gärten waren ihre große Leidenschaft und sie träumte davon, später einmal Gartenarchitektur zu studieren.

Sie sah die Beete in aller ihrer Pracht noch vor sich, das war am Freitag gewesen, und heute waren sie total verwüstet. Vertrocknet, verschrumpelt und verblichen, als hätte es einen nuklearen Winter in Miniaturausgabe gegeben.

Was war da vorgegangen?

Hatte jemand sie bewusst zerstört? Mit einem Unkrautvernichter gesprüht? Warum würde jemand so etwas tun? Sie hätte sich am liebsten auf die Stufen gesetzt und geheult. Aber dann wurde sie plötzlich wütend.

Entschlossen rannte sie die Stufen rauf. Sie würde nicht dulden, dass jemand damit davonkam – mit so einer barbarischen Untat. Die Polizisten waren nicht die Einzigen, die Verbrechen aufklären konnten.

Sie ging an ihren Schreibtisch und knallte ihre Tasche auf die dort liegenden Akten. Judy blickte erstaunt auf, aber sie würdigte sie kaum eines Blicks. Sie musste direkt mit dem Chef sprechen. Sie marschierte durch die ganze Abteilung und klopfte an die Tür von Talberts Büro. Seine Stimme dröhnte durch die Tür: »Kommen Sie nur herein.«

Als sie in das Zimmer stürzte, war sie überrascht, den Sheriff nicht allein zu finden. Er hatte zwei Polizisten bei sich und einen älteren Mann, den sie zwar schon öfter gesehen hatte, dessen Name ihr aber entfallen war. Alle vier starrten sie fragend an.

Debbys Lippen fingen an zu zittern. An so viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewöhnt. Aber die Blumenbeete waren ihre Verantwortung. Sie riss sich zusammen, stellte sich die verwüsteten Beete vor, deren Reste nicht mal mehr gut genug für den Kompost waren, und dachte daran, wie nun ihre liebevolle Arbeit umsonst gewesen war.

»Debby?« Der Sheriff war aufgestanden und sah sie voller Besorgnis an. Alle Augen waren auf sie gerichtet, aber sie brachte kein Wort heraus. Alle warteten auf eine Erklärung.

 

So eine Gemeinheit. Die Blumen vor der Polizeistation zu vernichten. Claire fand das Ganze sehr beunruhigend, sie hatte das Gefühl, dass mehr dahinter steckte, als man nach dem ersten Eindruck vermutete. Sie ahnte eine furchtbare Wut hinter dieser Verwüstung.

Eine kleine Gruppe von Leuten hatte sich vor dem Blumenbeet eingefunden, wie am Rand eines Grabes bei einer Beerdigung. Debby schluchzte, und Judy versuchte sie zu trösten. Sobald man sicher sein konnte, dass die Pflanzen nicht mehr giftig waren, wollte man sie entfernen, damit Debby sie nicht länger vor Augen hätte.

Claire überlegte, wie lange man warten musste, bis man die Beete wieder bepflanzen konnte.

Ron Sorenson hatte sich hingehockt, um die Pflanzen aus der Nähe zu betrachten. »Das könnte durchaus unser Typ gewesen sein. Mit Bestimmtheit kann man natürlich noch nichts sagen, aber die völlige Austrocknung der Pflanzen ist typisch für Parazine. Mir fällt kein anderes Mittel ein, das so schnell und so gründlich wirken würde.«

»Wenn es Parazine ist, ist es dann noch gefährlich?«, fragte sie, ohne recht zu wissen, ob das der korrekte Ausdruck dafür war.

»Ich glaube, es hat eine Wirkungszeit von mindestens zwölf Stunden. Haben wir denn einen Hinweis, wann das hier geschehen ist?«

»Mit Sicherheit kann man wohl nur sagen, dass es nach Einbruch der Dunkelheit und vor dem Morgengrauen geschehen sein muss.«

»Je nachdem, wie viel gespritzt worden ist, sollten Menschen sich zwischen zwölf und vierundzwanzig Stunden davon fern halten.«

»Sollten wir denn dann überhaupt hier stehen?«, fragte Claire ihn.

»Vermutlich nicht.«

Claire gab diese Information an den Sheriff weiter und der scheuchte alle zurück in das Gebäude, außer Claire und Sorenson, die allerdings jetzt von dem Beet zurücktraten und es mit etwas mehr Abstand betrachteten.

»Was können Sie mir denn noch dazu sagen?«, wollte Claire wissen.

Sorenson zupfte an seiner Nase und starrte auf die verwüsteten Beete. »Wer auch immer dafür verantwortlich ist, wusste, was er tat. Er hat die Beete gründlich und gleichmäßig gesprüht. Die Vernichtung ist vollständig. Das erwartet man von Parazine, es trocknet alles grüne pflanzliche Gewebe total aus. Ich vermute, er hat einen Handsprüher benutzt, um eine so kleine Fläche zu spritzen und so eine gleichmäßige Applikation zu erzielen. Der Rasen rundherum hat kaum was abbekommen. Das Gras sieht gar nicht schlecht aus. Eine sorgfältige Arbeit.«

Es beeindruckte Claire immer wieder, wie viel ein Fachmann einem über ein Gebiet erzählen konnte, von dem man nichts oder nur wenig wusste, ihr wäre nur wenig von dem aufgefallen, was Sorenson beobachtet hatte. »Er hat also genau gewusst, was er tut.«

Sorenson nickte.

»Ich kann nicht sagen, dass ich das beruhigend finde«, sagte Claire und reichte ihm ein Paar Gummihandschuhe. »Ich dachte, wir beide würden die brauchen können.«

»Ich nehme mal eine Pflanze für unseren Agronomen mit, der sollte feststellen können, welche Art von Pestizid hier verwendet worden ist.«

Nachdem Claire ihre Gummihandschuhe angezogen hatte, holte sie einen kleinen Plastikbeutel aus ihrer Tasche. »Und ich werde das Gleiche tun für die Kollegen der Kriminalpolizei.«

Sorenson blickte zu ihr rüber: »Halten Sie den Atem an, wenn Sie sich über die Pflanzen beugen.«

»Okay.« Sie holte tief Luft und griff nach einer toten Ringelblume mitten im Beet. Sie rührte sich nicht, die Wurzeln steckten tief in der Erde. Claire wollte schon aufgeben, als die Pflanze plötzlich nachgab und sie auf ihrem Hintern landete.

In dem Augenblick sah sie auf der dunklen Erde etwas Weißes schimmern. Sie rang nach Luft, stopfte die Ringelblume in den Beutel, stand auf und sprang aus dem Beet.

Sorenson hatte seine Pflanze auch schon verstaut und schien bereit zu gehen.

»Warten Sie eine Sekunde, ich glaube, ich habe was gesehen.« Claire zog einen weiteren Beutel aus der Tasche, holte noch mal tief Luft, trat zurück auf das Beet und schaute sich suchend um. Dann ging sie in die Hocke, um den gleichen Blick wie zuvor zu haben, und sah sich den kleinen weißen Gegenstand genauer an. Sie musste sich strecken, um ihn zu erreichen, und hielt schließlich ein Knöchelchen in der behandschuhten Hand, nicht länger als ein Streichholz.

Sie konnte nicht sagen, ob es menschlicher Herkunft war oder nicht, jedenfalls nicht, bevor sie den Bericht des Labors über den ersten Knochen bekam, den sie eingeschickt hatte.

Sie sah zu Sorenson rüber und hielt das Knöchelchen hoch. »Ich glaube, es war derselbe Typ, der die Pestizide geklaut hat.«

 

Harold Peabody mochte nichts lieber, als am Sonntag in seinem Büro zu arbeiten. Es war so still und friedlich in seiner Zeitungsredaktion. Seit Jahren hatte er sonntags lieber vor seiner Schreibmaschine gesessen als in der Kirche. Die Stadt döste vor sich hin, und sein Büro in der Hauptstraße war sein ganz persönliches Heiligtum. Keiner seiner beiden Reporter würde sich am Sonntag hier zeigen. Sie waren jung und wahrscheinlich ausgegangen, um sich zu amüsieren. Seine Frau hatte Verständnis für ihn, sie hatte es längst aufgegeben, ihn zu fragen, ob er mit ihr in die Kirche gehen wolle. Er ging Ostern und Weihnachten. Und wenn der Chor ein Konzert gab, ging er vielleicht auch. Er sang gern Choräle, besonders alte. Gott und er hatten ein Abkommen, Gott kümmerte sich um die Welt und er um Pepin County.

Harold arbeitete seit einundfünfzig Jahren für den Durand Daily. Der war im wahrsten Sinn des Wortes eine Tageszeitung gewesen, als Harold 1950 als frisch gebackener Reporter dort anfing. Der alte Mr Lundberg war damals der Eigentümer gewesen. 1970 kaufte ihm Harold die Zeitung ab. Zehn Jahre später gab er es auf, eine Sonnabend- oder Sonntagsausgabe zu drucken. Kurz danach hatten sie von Linotype zu Offset gewechselt. Das sparte viel Geld, aber er vermisste den Geruch des heißen Bleisatzes und das Kontrollieren des Textes auf der Druckplatte.