Fasanenschrei - Mary Logue - E-Book

Fasanenschrei E-Book

Mary Logue

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Beschreibung

Der zweite Fall für Claire Watkins: Jed Spitzler war als unauffälliger, etwas eigenbrötlerischer Mann bekannt. Niemand schien Probleme mit ihm gehabt zu haben. Aber warum wurde ihm dann inmitten einer feiernden Menschenmenge ein Messer in die Brust gestoßen? Und keiner will etwas gesehen haben. Drei verstörte Teenager, die Kinder des Opfers, bleiben als Vollwaisen zurück. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 337

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Mary Logue

Fasanenschrei

Krimi

Aus dem Amerikanischen von Veronika Cordes

FISCHER Digital

Inhalt

Danksagung[Coulee] leitet sich ab [...]Häufig fängt es mit [...]1234567891011121314151617181920212223242526

Danksagung

Ich habe die Claire-Watkins-Kriminalromane in einer Region angesiedelt, die ich kenne und liebe. Das hat gewisse Vorteile, bringt aber natürlich auch Probleme mit sich. Fort St. Antoine ist eine fiktive Kleinstadt. Auch das County hätte ich gern frei erfunden, aber ein Pepin County gibt es, in Wisconsin; es ist wunderschön dort, entspricht allerdings nur in seinen positiven Seiten der Darstellung in meinem Buch.

Ich habe vielen zu danken. Beginnen möchte ich mit Ray Di-Prima vom Minnesota Bureau of Criminal Apprehension, der mir die Mechanismen des Strafvollzugs erläutert hat. Ferner gilt ein besonderer Dank Robbi Bannen, Ted Fisher, Tom und Cindy Hanson sowie Kay und Chuck Grossman für Hinweise auf verschiedene Aspekte des Landlebens. Dank auch den kritischen Lesern, die mir beim Schreiben zur Seite standen: Mary Anne Collins-Svoboda, Marianne und Jim Mitchell, Christine Andreae und Elizabeth Gunn. Und wie immer habe ich meinen beiden Schwestern Robin LaFortune und Dodie Logue für ihre liebevolle und kompetente Hilfestellung zu danken. Auch Steve Stilwell, einem außergewöhnlichen Literaten, möchte ich für seine Ratschläge und Unterstützung danken.

Darüber hinaus gilt mein Dank Pete Hautman für vieles Lektorieren, für die vielen Gespräche, die vielen Tipps zu Feinheiten beim Schreiben. Ohne ihn wären mein Leben und dieses Buch undenkbar.

[Coulee] leitet sich ab von dem französischen Begriff couler und bedeutet »fließen«. Während »Coulee« je nach Region unterschiedlich gebraucht wird, versteht man darunter im westlichen Hügelland von Wisconsin sowie im südöstlichen Minnesota kleine, von steil aufragenden Felswänden umschlossene Flusstäler, deren Sandbett nur gelegentlich von Wasser überspült wird.

Cotton Mather und Ruth Hale

Prairie Border Country

Häufig fängt es mit irgendwelchen Stoffen an: mit Bettlaken, Vorhängen, Tüchern. Ich mühe mich ab, aus ihnen raus-, in sie hineinzukommen. Dieses undefinierbare Gefühl. Ich weiß nicht genau, wo ich bin. Die Kopflosigkeit, die aus der Angst erwächst.

Dann die Erkenntnis.

Ich weiß, er ist da und wartet auf mich. Ich weiß, dass gleich ein Schuss losgeht. Wieder einmal wird mir bewusst, dass ich meinem eigenen Tod entgegengegangen bin.

Die Stoffe ersticken mich. Ich kann nicht atmen, kann mich nicht rühren, kann nichts sehen. Ich bin gelähmt.

Und ich weiß, dass auch er in Gefahr ist. Das allein bringt mich dazu, dass ich mich bewege.

Aber ich komme immer zu spät.

Genau in dem Augenblick, da es zu Ende ist, kann ich wieder klar denken. Die Waffe geht los. Die Tücher geben nach. Er stürzt zu meinen Füßen. Ein Opfer. An meiner Stelle.

Mein Tod verzieht sich.

Aber ich weiß, dass das nur eine Frage der Zeit ist.

Was niemals weicht, was mich immer umfangen hält, ist die Angst.

 

Sind die Tücher für Sie ein Symbol für Angst?

 

Kann sein. Genauso wie die Luft, die ich atme.

1

Liebe ist eine seltsame Blume, die auch in Dürreperioden blüht, in Zeiten der Hoffnungslosigkeit und selbst in der Dunkelheit. Während sich Claire für das Straßenfest zurechtmachte, dachte sie über Liebe nach und fragte sich, ob es Liebe war, was sie empfand.

Sie kannte Rich Haggard seit mehr als drei Monaten, aber ihre Beziehung entwickelte sich eher schleppend, hatte etwas von einer gesitteten ländlichen Romanze. Er kam zum Abendessen zu ihr, sie auf einen Kaffee zu ihm. Zweimal waren sie im Kino gewesen und einmal sogar beim Bowling, zusammen mit Claires zehnjähriger Tochter Meg.

Meg war ein Teil des Problems – obwohl es für Claire gar kein Problem war. Ihr kamen die großen Abstände, in denen sie sich trafen, durchaus gelegen. Sie wollte nicht, zumindest noch nicht, dass Rich bei ihr übernachtete, wenn Meg zu Hause war. Und sie ihrerseits wollte nicht über Nacht bei Rich bleiben, weil sie dann entsprechend lange einen Babysitter anheuern müsste. In der Kleinstadt Fort St. Antoine wurde schon genug über sie getratscht – die Vertreterin des Sheriffs und der Fasanenzüchter! –, und sie war nicht darauf erpicht, für weiteren Gesprächsstoff zu sorgen.

Aber heute war ein besonderer Abend. Meg würde bei Bridget übernachten, Claires Schwester. Rich wollte Claire in einer Viertelstunde abholen. Und obwohl sie nicht eigens darüber gesprochen hatten, ging Claire davon aus, dass sie die Nacht zusammen verbringen würden. Dieser Abend war wie geschaffen für die Liebe, kein Vergleich zu den Temperaturen damals, als sie und Rich sich kennen gelernt hatten – eine Zeit, die zu ihren schlimmsten Erinnerungen gehörte.

Jetzt, Ende August, duftete die Luft nach Klee und Rosen. Heute Abend war Vollmond zu erwarten, und die Sonne würde erst nach acht Uhr untergehen. Die warme Luft fühlte sich seidenweich an, als Claire durch die Hintertür das Haus verließ und zum Bluff emporschaute.

Mochten es andere als bedrückend empfinden, im Windschatten eines Bluffs zu leben – Claire liebte diese bis auf dreihundert Fuß ansteigende Kalksteinwand, deren Ausläufer sich bis zu ihrem Haus zogen und fast bis oben hinauf mit roten Zedern, Birken, schwarzen Walnuss- und Färberbäumen bewachsen waren. Sie fühlte sich durch diesen Wall beschützt. Das gesamte Mississippi-Tal hier am östlichen Rand des Flachlands wirkte dadurch wärmer und sanfter.

Claire war entschlossen, die Sache mit Rich voranzutreiben. Er war eher zurückhaltend, aber wenn man ihn ein wenig aus seiner Reserve lockte, entpuppte er sich als humorvoll und klug. Und, wie sie mutmaßte, als leidenschaftlich.

Sie hatte lange nicht mehr mit einem Mann geschlafen. Steve, ihr Ehemann, war vor eineinhalb Jahren gestorben, und danach war sie nur ein einziges Mal mit einem anderen zusammen gewesen. Und das war ein Fehler gewesen, ein unverzeihlicher Fehler. Umso wohltuender empfand sie diese sich so überaus langsam entwickelnde Beziehung zu Rich. Er schien ein Mann zu sein, der den richtigen Zeitpunkt abwarten konnte.

Claire ging wieder ins Haus und warf einen Blick in den Spiegel neben der Hintertür. Sie hatte sich Mühe gegeben. Unwillkürlich musste sie lächeln, meinte förmlich, ihre Mutter zu hören, diese überaus praktisch veranlagte Frau. Sie fehlte ihr. Claire drehte und wendete sich vor dem Spiegel, dass ihr Haar wehte.

 

Rich schaute auf seine Cowboystiefel, diese guten alten Treter, und fragte sich, ob er damit tanzen könnte. Ob er überhaupt tanzen konnte. Ob Claire tanzen wollte? Bestimmt. Und der Gedanke, sie in den Armen zu halten, selbst inmitten lautstarker, betrunkener Leute, raubte ihm den Atem.

Sie in den Armen zu halten hatte er sich seit ihrer ersten Begegnung gewünscht. In letzter Zeit hatte er manchmal gemeint, explodieren zu müssen, wenn er sie nicht berühren dürfte. An diesem warmen, feuchten Sommerabend sehnte er sich danach, seine Haut mit ihrer verschmelzen zu lassen. Ihren Hals zu küssen, ihr die Hand um die Taille zu legen und sie herumzuwirbeln. Zum Teufel, vielleicht klappte es ja doch mit dem Tanzen.

Er hatte seine Stiefel auf Hochglanz poliert und war mit dem Ergebnis durchaus zufrieden. Seine guten alten Stewart-Cowboystiefel. Wie an ihm hatte der Zahn der Zeit auch an ihnen genagt, aber sie waren bequem, und ein wenig Schuhcreme hatte ihnen einen spiegelnden Glanz verpasst. Claire hatte durchblicken lassen, dass Meg bei Bridget sein würde; er konnte sie also fragen, ob sie nicht über Nacht bei ihm bleiben wolle. Dann würde sein Auto nicht frühmorgens noch vor ihrem Haus stehen. Er hatte das Bett frisch bezogen, das Bad sauber gemacht, sogar die Wanne geschrubbt, und fürs Frühstück hatte er aus Stuarts Bäckerei Brötchen besorgt.

Ja, sie hatten gut daran getan, ihre Beziehung sich ganz langsam entwickeln zu lassen, auch wenn es ihm verflixt schwer gefallen war. Nach allem, was Claire durchgemacht hatte, hatte er sich bei ihren ersten Verabredungen äußerste Zurückhaltung auferlegt, aber bald gemerkt, dass sie sich nicht unterkriegen ließ. Meg mit ihren zehn Jahren war nicht umsonst ein munteres, fröhliches kleines Mädchen.

Rich sah auf die Uhr. Wie verabredet, wollte er Claire um sieben abholen. Jetzt, zehn vor, war er abmarschbereit. Er trat durch die Haustür hinaus in den Vorgarten und reckte die Arme gen Himmel. Heute Abend würde Vollmond sein. Ein veritabler Erntemond, rot angestrahlt von der untergehenden Sonne. Blutrot. Wunderschön. Vor ihm, dessen war er sich sicher, lag ein Abend, den er niemals vergessen würde.

Jed Spitzler stand im Türbogen und blickte über sein Anwesen – reife, goldene Köpfe, der aufgehenden Sonne zugekehrt – vierzig Morgen Sonnenblumen. Er war ein Risiko eingegangen, aber es hatte sich gelohnt, und im Herbst würde er die Belohnung dafür einfahren.

Etliche andere Farmer hatten ihn ausgelacht und wie eh und je Mais, Luzerne und Sojabohnen angebaut. Er jedoch hatte etwas anderes ausprobieren wollen.

Er wusste, dass er in dem Ruf stand, verschlossen und konservativ zu sein; dass er noch einen anderen Charakterzug aufwies, ahnte kaum jemand. Das war auch gut so.

Wieso hatte Lola ihn bloß überredet, zu dieser blödsinnigen Tanzerei zu gehen? Er wäre lieber zu Hause geblieben, hätte ein, zwei Bierchen getrunken und ferngesehen, aber er hatte es ihr versprechen müssen. Seine beiden älteren Kinder gingen auch hin. Nora würde daheim bleiben. Er hatte etwas dagegen, dass sie bei einer Tanzveranstaltung wie dieser herumhopste. Wer weiß, welches Unheil ihr da drohen mochte. Mit zwölf war sie alt genug, allein zu Hause zu bleiben. Seine Mutter hatte ihn und seinen Bruder – damals acht und vier Jahre alt – auch allein gelassen. Und es war gut gegangen.

Heutzutage wurden Kinder einfach viel zu sehr verhätschelt. Nicht nach seinem Geschmack. Er predigte seinen Kindern Selbständigkeit, ihren Pflichten nachzukommen, auf der Farm mit anzupacken.

Wenn er an Lola dachte, wurde ihm bewusst, dass er ihrer überdrüssig zu werden begann. Anfangs hatte sie den Eindruck erweckt, sehr willig zu sein, bereit, alles für ihn zu tun. Aber in jüngster Zeit war sie herrischer geworden. Er war bereits einmal verheiratet gewesen; eine zweite Ehefrau brauchte er nicht.

Nora erschien an der Tür. »Was schaust du da an, Dad?«

»Die Ernte.«

Sie wirbelte herum und streckte die Hände in Richtung der Felder aus, dann lächelte sie zu ihm hinauf. »Lauter Sonnenblumen.«

»Ja. Komm her.«

Sie kam auf ihn zu, und er zog sie an sich, schlang einen Arm um sie und strich ihr über das goldene Haar. Sie war sein kleines Püppchen, nur dass sie mit jedem Tag größer wurde.

 

Auf der Fahrt im LKW fühlte sich Claire beklommen. Sie wusste nicht, worüber sie mit Rich reden sollte. Dass sie seit kurzem eine Psychotherapeutin besuchte, hatte sie ihm bislang verschwiegen. Jedes Mal, wenn sie einen Anlauf machen wollte, es ihm zu sagen, fiel ihr kein Aufhänger dazu ein. Wenn sie ihm von der Therapie erzählte, müsste sie ihm ihre Angstzustände eingestehen, und sie wollte ihn nicht verschrecken.

Sie waren in Richtung Little Rock abgebogen. Um sie herum erstreckten sich sanfte grüne Hügelketten. Die Bluffs traten zurück, gaben den Blick auf den schimmernden Fluss frei, bis er hinter den Kiefern verschwand. Eine völlig andere Landschaft als die um Fort St. Antoine – idyllischer, traulicher, je flacher die Kette der Bluffs wurde.

»Was macht der Job?«, erkundigte sich Rich.

»Meine neue Arbeit als Ermittlerin gefällt mir. War eine ruhige Woche. Zwei Betrunkene in der Ausnüchterungszelle und gestern Abend einer, der Fahrerflucht begangen hatte.«

»Unten in Nelson soll jemand ausgeraubt worden sein?«

»So ist es. Die Hintertür war nicht versperrt. Durch die sind die Kerle rein und haben ein paar Gewehre, eine Mikrowelle und einen Kasten Bier mitgenommen.«

Rich lachte auf. »Tolle Beute.«

»Ja. Vermutlich Halbstarke. Dass sie Waffen geklaut haben, gefällt mir nicht, aber an so was ist nun mal hier in der Gegend allzu leicht ranzukommen. Ist für mich was ganz Neues, dass Kinder zur Jagdsaison schulfrei bekommen. Das sagt einiges über die Prioritäten der Eltern aus.«

Rich schwieg eine Zeit lang, um dann leise anzumerken: »Auf die Jagd zu gehen ist doch nicht verwerflich.«

»Gegen die Jagd hab ich ja nichts. Ein Streifzug durch die Wälder, zu welchem Zweck auch immer, ist sicherlich eine schöne Sache. Aber verglichen mit einer Woche Unterricht? Die Kinder können doch am Wochenende mit den Eltern auf die Jagd gehen. Obwohl mich die Vorstellung erschreckt, dass zwölfjährige Jungen und Mädchen mit Waffen im Wald herumstromern und auf alles schießen, was sich bewegt. Meg jedenfalls wird in dieser Woche nirgendwohin gehen. Sie kann zu Hause bleiben und lesen.«

»Ich könnte sie auf die Jagd mitnehmen.«

»Willst du absichtlich nicht verstehen, worum es mir geht?«

»Schon möglich.« Er grinste sie von der Seite her an.

»Sie würde alles tun, was du vorschlägst. Sie vergöttert dich. Direkt beunruhigend ist das.«

Da sie sich der Stadt näherten, ging Rich vom Gas. »Hör mal, sie hat keinen Vater mehr. Und jedes Kind braucht nun mal eine Vaterfigur. So ein schlechter Kerl bin ich doch nicht. Außerdem wär’s möglich, dass sie sich freut, wenn ihre Mom wieder glücklich ist.«

Claire errötete und senkte den Kopf. »Kann schon sein.«

Little Rock war eine kleine Stadt an der Nordseite des Chippewa River. Von dort aus gelangte man nirgendwohin, und viel los war auch nicht. Es gab ein paar Bars, eine Tankstelle, ein kleines Lebensmittelgeschäft und einen Imbiss. Nur einmal im Jahr war hier die Hölle los. Das Städtchen veranstaltete ein großes Straßenfest mit Tanz, und aus dem gesamten Bezirk und von noch weiter her strömte alles hier zusammen.

Autos und Pickups parkten entlang der Hauptstraße dieser 134-Seelen-Gemeinde. Weil die Straße inzwischen abgesperrt worden war, fuhr Rich den LKW hinter die Tankstelle auf freies Gelände.

Er stellte den Motor ab und berührte Claires Schulter. »Du scheinst mir ein wenig gereizt zu sein. Willst du etwa mit mir streiten?«

»Vielleicht.«

»Warum?«

»Ich bin nervös.«

»Was du brauchst, ist ein Bier.«

»Ein Bier wär nicht schlecht.«

 

Es entging Rich nicht, wie ungeniert Claire von den Männern angegafft und begehrlich gemustert wurde. Hinreißend sah sie heute Abend aus. Sie trug ein ärmelloses, tief ausgeschnittenes Baumwollhemd. Ihre Haut wirkte wie die einer reifen, saftigen Frucht, und ihre Jeans saßen wie angegossen. Ihr volles, offenes Haar rahmte ihr mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht ein, und ihre Lippen waren in leuchtendem Rot nachgezogen.

Beim Weitergehen erkannte Rich den einen oder anderen Nachbarn. Ohne immer mal wieder Hallo zu sagen, kamen er und Claire kaum ein paar Schritte voran. Vom anderen Ende der Straße hallten die Klänge der alten Rock-’n’-Roll-Melodie »Roll Over, Beethoven«.

Etwa dreihundert Menschen aller Altersklassen drängten sich auf dem Asphalt oder sahen vom Gehsteig aus zu. Viele hatten Gartenstühle und Kühltaschen mitgebracht. Die beiden Bars der Stadt – das Porky’s und das Riverside – verkauften an Ständen vor ihren Lokalen Essbares: Quark, mit gebratenem Fleisch belegte Sandwiches, heiße Würstchen, Grillhühner. Vor Porky’s waren kleine Fässer aufgestellt, und Barkeeper fertigten so schnell sie konnten die Schlange der Durstigen ab. Für so manchen war dieses Fest das Sommerereignis schlechthin.

Der Straßentanz war bereits in vollem Gange. »Hank Texaco and the Gas Guzzlers«, wie ein Transparent besagte, spielten auf, heizten mit ihren Rhythmen der Menge ein. Die Sonne war untergegangen; ihr Nachglühen tauchte die Wolken in die Farben von Zuckerwatte.

Die Bühne war von Tanzenden umringt: von achtzigjährigen Frauen, die zehnjährige Knaben herumschwenkten, von Ehepaaren, die seit vierzig Jahren aufeinander eingespielt waren, von Teenagern, die sich grüppchenweise Arme und Körper verrenkten.

Rich dirigierte Claire zu einem der Fässer vor Porky’s, wo er zwei Bier erstand. Er wurde von einem hoch gewachsenen Mann mit dunklem Haar angerempelt, sodass etwas von dem Bier auf seiner Hemdbrust landete. Als er sich zu dem Verursacher umdrehte, erkannte er Jed Spitzler.

»Verzeihung«, sagte Jed.

»Hallo, Jed.«

»Rich. Was machen die Fasane?«

»Werden dick und rund. Und wie geht’s bei dir? Was baust du dieses Jahr an?«

»Hab mich auf Sonnenblumen verlegt.«

»Vielleicht kauf ich dir was davon ab. Als Futter für meine Fasane.«

»Nichts da. Handelt sich um allererste Qualität. Kein Viehfutter. Ich rechne mit einem Spitzenpreis pro Scheffel.«

Rich stellte ihn Claire vor. Es entging ihm nicht, dass Jed sie von oben bis unten musterte.

»Sie scheinen ja ’ne ganz flotte Biene zu sein«, sagte Jed, den Blick auf Claires Busen geheftet.

Rich gefiel der Ton nicht; er sagte sich aber, dass Spitzler schon eine Menge intus haben musste, um solch eine anzügliche Bemerkung zu riskieren.

»Ich spendier dir noch ein Bier«, sagte Jed jetzt.

»Vergiss es. Das Hemd muss sowieso in die Wäsche.«

Jed lachte, nickte ihm zu und verzog sich.

Claire setzte ihr Bier an die Lippen und trank einen gehörigen Schluck. Allem Anschein nach fiel die Verkrampfung, die Rich im Laster an ihr bemerkt hatte, allmählich von ihr ab, und er fragte sich, wie sich der Abend wohl entwickeln würde.

In den folgenden Wochen sollte Claire immer wieder an diese kurze Begegnung mit Jed Spitzler zurückdenken. Was sie von ihm in Erinnerung behielt, waren seine große, aufrechte Gestalt, sein dunkles, sich bereits lichtendes Haar und dass seine Jeans gebügelt waren. Offenbar gab es da eine Frau, die sich liebevoll um ihn kümmerte. Sie sollte sich täuschen.

Sie wünschte sich im Nachhinein, ihn genauer in Augenschein genommen zu haben, aber sie war auf Rich fixiert. Das Bier schmeckte, stieg ihr zu Kopf.

»Danke, dass du ihm nicht erzählt hast, dass ich bei der Polizei bin.«

»Schon gut. Warum?«

»Weil ich mich manchmal nicht wie eine Polizistin fühle.«

2

»Ich finde, Rich passt prima zu meiner Mom«, sagte Meg zu Tante Bridget, während sie versuchte, ein Bein um ihren Nacken zu legen, um der Tante zu zeigen, wie gelenkig sie war. Eine ihrer Schulfreundinnen hatte ihr diese Übung gezeigt, und Meg fand, dass es echt cool aussah, wie ein Yogi oder so was. Leider aber kam sie mit dem Bein nur bis zum Ohr.

Tante Bridget zog die Nase kraus und warf ihr von der Seite her einen skeptischen Blick zu. »Findest du?«

»Hm.« Meg schaute auf zu Bridget, die im Wohnzimmer stand, weil sie, wie sie sagte, keine annähernd bequeme Sitzposition fand. Im achten Monat schwanger, war sie so dick wie ein Strandball. »Manchmal glaube ich, ich mag Rich lieber, als meine Mom ihn mag.«

»Tatsächlich?«

»Wenn ich noch ein bisschen geübt hab, zeig ich’s dir nochmal. Bis dahin krieg ich meinen Fuß bestimmt da hinten hin. Meinst du nicht auch?«

»Ich bin überzeugt, dass du alles hinkriegst, was du dir fest vornimmst.«

Meg setzte sich auf die Couch. »Tante Bridget, lehn dich doch an die Wand. Du siehst aus, als würdest du dich nicht wohl fühlen.«

»Es geht mir gut. Du magst also diesen Rich?«

»Er ist toll.« Meg überlegte kurz. »Fast so toll wie mein Dad, aber so was Tolles gibt’s sowieso nicht mehr.«

»Das stimmt.«

»Sag mal, Tante Bridget, was passiert eigentlich genau, wenn ein Mann und eine Frau miteinander schlafen?«

Bridget sah jetzt noch weniger danach aus, als würde sie sich wohl fühlen. »Meg-Schätzchen, ich glaube, das solltest du mit deiner Mom besprechen.«

»Aber sie hat gesagt, mit dir könnte man über alles reden. Weil du doch der Doktor bist.«

Tante Bridget rollte die Augen gen Zimmerdecke, neigte sich dann seitlich und sank auf die Couch, mit dem Kopf landete sie auf Megs Schoß. »Ich mach dir einen Vorschlag. Du sagst mir, was deiner Meinung nach passiert, und ich sag dir dann, ob’s stimmt.«

 

Nachdem sie eine Weile der Musik gelauscht hatten und jetzt ein langsamer Walzer erklang, kamen sie überein, sich unter die Tanzenden zu mischen. Rich legte Claire eine Hand auf die Schulter und drehte sich so, dass sie ihm gegenüberstand. Dann umschloss er mit der anderen Hand ihre Rechte und führte sie durch die wogende Menge. Sie sah ihn an, und ihre Augen wurden ein wenig größer, wie die einer Katze, die Hallo sagt. Sie lächelte und neigte den Kopf zur Seite.

Er zog sie enger an sich und bewegte sich im langsamen Walzerschritt so anmutig, wie er konnte, durch das Gewühl und dankte im Geiste seiner Mutter, die ihm diesen Tanz beigebracht hatte. Claire schien sich ihm völlig anzupassen. Als er ihr den Arm auf den Rücken legte, spürte er die Wärme ihrer Haut auf seiner Handfläche. Jetzt wollte er am liebsten die ganze Nacht so weitertanzen.

Die Luft hatte die gleiche Temperatur wie sein Körper, sich zu bewegen war, als triebe man in einer warmen Strömung. Claire schmiegte den Kopf an seinen Hals, und sie walzten, als hätten sie dies schon viele Male getan. Ein absonderlicher Gedanke durchzuckte ihn: Mit dieser Frau könnte ich den Rest meines Lebens verbringen. Sein Griff wurde fester, und sie schmiegte sich noch enger an ihn. Als der Tanz zu Ende war, konnte er ihren Atem an seinem Hals spüren.

Dann wurde die Musik hektischer, schneller. Nur ungern gab Rich Claire frei; da aber alle anderen sofort ausgelassen herumhopsten, hätten sie als innig Umschlungene lächerlich gewirkt. Deshalb gingen sie, wenn auch ungern, auf Abstand und fingen an, wie die anderen zu rocken. Claire warf das Haar zurück und lachte übermütig. Die Guzzlers sangen vom Liebesrausch, und auch Rich lachte. Was für ein herrliches Gefühl, verliebt zu sein.

Beim nächsten langsameren Tanz sanken sie sich verschwitzt und lachend in die Arme, bewegten sich eng aneinander geschmiegt und immer noch enger. Die Nacht war hereingebrochen; die Straßenbeleuchtung erhellte das Dunkel nur bruchstückhaft. Rich spürte Claires Atem an seinem Hals, und diesmal neigte er sich hinunter zu ihr und fand ihre Lippen, die süß und salzig schmeckten.

Wie ein Blitz durchzuckte es ihn. Am liebsten hätte er Claire mit Haut und Haaren verschlungen. Er hielt sich aber zurück und küsste sie zärtlich, und ihre Lippen blühten unter seinen auf. Tanzen schien nicht mehr genug zu sein.

Plötzlich machte sich allgemeine Unruhe breit, und eine Frau schrie auf. Claire entzog sich Rich. Es ertönten laute Rufe und die Anweisung an die Band, abzubrechen.

Die Musik verstummte, und sofort bahnte sich Claire, wieder ganz Polizistin, einen Weg in die Richtung, aus der das Geschrei kam. Rich folgte ihr. Beim Näherkommen hörten sie, wie eine Frau rief: »Hilfe! Holt Hilfe!«

 

Trotz des schwachen Lichtscheins der Straßenbeleuchtung erkannte Claire auf den ersten Blick, dass der Mann verletzt war. Man drängte sich an der rückwärtigen Seite der Bühne, hinter den Lautsprechern. Etwas abseits stand wimmernd ein halbwüchsiges Mädchen und wurde von einem älteren Jungen getröstet.

Claire hatte sich durchgekämpft und schaute auf den vor ihr liegenden Verletzten. Wie hatte Rich ihn gleich genannt? Jed irgendwas.

Sie kniete sich hin und ertastete an seinem Hals einen schwachen Pulsschlag. Sein Gesicht war mit Blut verschmiert, das ihm aus der Nase rann, aber das sah schlimmer aus, als es war. Etwas anderes schien ihm zu schaffen zu machen; er atmete kaum noch. Seine Position verändern wollte sie nicht, ehe sie nichts Genaueres über die Art der Verletzung wusste. Auch die Umstehenden wies sie an, ihn nicht zu bewegen, sondern auf den Krankentransport zu warten. War die Ambulanz überhaupt benachrichtigt worden?

Claire griff sich einen großen blonden Halbwüchsigen, der neben ihr stand. »Hat jemand einen Krankenwagen gerufen?«

»Pfoten weg.«

»Von wegen, Freundchen. Könntest du das für mich in Erfahrung bringen?«

Der Halbwüchsige schaute sie an und verzog den Mund.

»Hör zu. Ich bin Stellvertreterin des Sheriffs und wäre dir für deine Hilfe dankbar. Hast du gesehen, was vorgefallen ist?«

»Nein, hab ich nicht.«

Einer aus der Band sprang von der Bühne. »Wir haben per Handy die neun-eins-eins angerufen. Sie sagten, sie wären in fünfzehn Minuten da. Von wo eigentlich? Aus Durand?«

»Das hoffe ich doch.« Claire spürte eine Hand auf ihrer Schulter; als sie sich halb umwandte, sah sie Rich neben sich stehen.

»Könntest du einen Moment aufpassen?«, fragte sie ihn. »Dafür sorgen, dass ihm keiner zu nahe kommt? Ich muss ein bisschen Ordnung hier reinbringen.«

Und wieder zum Mitglied der Band gewandt, fragte sie: »Habt ihr mitbekommen, was da los war?« Bei dem Musiker, der einen buschigen Schnauzbart und das lange, dünne Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte, mochte es sich um Hank Texaco handeln; sicher war sie sich dessen nicht.

»Keine Ahnung. Wenn die Scheinwerfer auf uns gerichtet sind, ist im Publikum kaum was zu erkennen. Ich hab jedenfalls nichts gesehen. Nur gehört, wie eine Frau aufschrie, und dann mitbekommen, wie mehrere Leute in ihre Richtung rannten.«

»Wissen Sie, wer die Frau war?«

»Jung, blondes Haar, nicht genau zu erkennen.«

»Könnten Sie veranlassen, dass einer der Strahler hierher gerichtet wird?«

»Na klar doch.« Er kletterte zurück auf die Bühne und bellte einen Befehl, und gleich darauf erhellte ein Scheinwerfer den Unfallort.

Claire nutzte die Gelegenheit und bat um allgemeine Aufmerksamkeit. »Ich bin Stellvertreterin des Sheriffs«, stellte sie sich vor. »Es hat einen Unfall gegeben. Bitte treten Sie alle zurück. Machen Sie den Weg frei. Befindet sich unter Ihnen ein Arzt oder eine Krankenschwester?«

Rich half mit, die Menge zurückzudrängen. Da sich weder ein Arzt noch eine Krankenschwester meldeten und ihre Hilfe anboten, musste sich Claire zwangsläufig erneut mit Spitzler befassen.

Er sah aus, als sei er bereits tot – der Körper auf dem Boden zusammengesackt, die Augen halb geöffnet, aber ins Leere gerichtet. Sie berührte seinen Kopf, ohne dass der Verletzte sich bewegte. Offenbar war er zusammengeschlagen worden. Dafür sprach auch die blutende Nase.

Im Scheinwerferlicht gewahrte sie jetzt auch die dunkle Blutlache, in der Spitzler lag. Sein Hemd war seitlich blutdurchtränkt und ließ erahnen, wo sich die Wunde befand.

Blut, und sie hatte keine Latexhandschuhe.

Als sie das Hemd des Mannes anhob, entdeckte sie die Wunde. Ein Messerstich. Hatte möglicherweise die Lunge getroffen, vielleicht sogar das Herz. Wenn dem so war, war sein Schicksal besiegelt.

3

Das Licht bildete einen Kreis um die beiden. Die Schaulustigen waren zurückgewichen, aus Angst, vom Scheinwerfer erfasst zu werden. Rich beobachtete vom Rande zur Dunkelheit aus, wie Claire, nachdem sie das Kommando übernommen und die Unfallstelle hatte räumen lassen, neben Spitzler kniete und ihn behutsam untersuchte. Eine hinreißende Frau mit weißen Schultern, die sich über den blutigen Körper eines dunkelhaarigen Mannes beugte. Eine archaische Szene.

Was war Jed Spitzler zugestoßen? Und warum? Für Rich schien es um den Mann nicht gut zu stehen.

Er verfolgte, wie Claire Jeds Hemd hochhob, konnte, da er nahe genug stand, die klaffende Wunde erkennen, aus der Blut sickerte. Er berührte Claires Schulter. »Brauchst du irgendetwas?«, fragte er.

»Hast du zufällig ein Tuch, irgendwas für einen Druckverband?«

Rich zog ein sauberes weißes Taschentuch heraus. Claire griff danach, faltete es zusammen und drückte es dann fest auf die Wunde.

Als sie Rich ihr Gesicht zuwandte, konnte er erkennen, mit welcher Konzentration sie ihrer Aufgabe nachkam. »Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Wenn nicht bald Hilfe kommt, wird er es wohl nicht schaffen. Kannst du den Krankenwagen abpassen und hierher dirigieren? Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Rich ging durch die Reihen der Menschen zur Straße, die nach Durand führte. Aus dieser Richtung musste die Ambulanz kommen. Der Straßentanz war verebbt wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen ist. Die Menschen standen grüppchenweise zusammen, unterhielten sich und tranken. Kein Grund, mit dem Trinken aufzuhören. Wenn Spitzler erst einmal fortgeschafft war, würde vielleicht auch wieder die Band aufspielen.

An der Straße angelangt, ging Rich weiter bis zum Stadtrand. Was für ihn schon zum Greifen nahe gewesen war, schien sich jetzt verflüchtigt zu haben. Claire hatte sich vor seinen Augen verwandelt. Wusste er wirklich, was er tat, wenn er sich auf eine Frau wie sie einließ? Auf eine Frau, die von ihrem Job voll und ganz vereinnahmt wurde? Er züchtete Fasane, und im Winter las er oder reparierte alte Stühle. Sie jagte Mörder und stellte Strafzettel für rücksichtsloses Fahren aus. Wo würde sich beider Leben kreuzen? Dennoch, er war in sie verliebt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzugehen und abzuwarten, wohin diese Straße sie führen würde.

In der Ferne hörte er die Sirene der Ambulanz durch die Nacht jaulen.

 

Claire spürte, wie sich eine mit Latex geschützte Hand auf ihre Schulter legte und sie beiseite schob: Sie musste den Sanitätern das Feld überlassen; sie würden wissen, was zu tun war. Sie selbst hatte lediglich versucht, einem Lebenszeichen nachzuspüren, aber nicht mehr als ein Flackern wahrgenommen.

Sie zwang sich, aufzustehen und tatenlos mit anzusehen, wie zwei junge Männer in T-Shirts sich um Jed bemühten. Wie Lichtfunken huschten sie um ihn herum, noch ohne seine Lage zu verändern, fühlten ihm den Puls, derweil hinten aus dem Krankenwagen medizinisches Gerät ausgeladen wurde.

Ein weiterer Scheinwerfer wurde auf die Szene gerichtet, die mit einem Mal taghell erleuchtet war. Claire wich noch weiter zurück, schon weil es Zeit wurde, sich um anderes zu kümmern. Sie musste den Tatort untersuchen, feststellen, wer an dem Vorfall beteiligt war. Im Krankenhaus konnte sie später vorstellig werden, erst einmal galt es, vor Ort so viel wie möglich an Informationen zusammenzutragen.

Als Allererstes jedoch musste sie sich das Blut abwaschen, das trotz aller Vorsicht an ihre Hände geraten war.

 

Auf dem Rückweg zu Claire traf Rich seinen Neffen Eric Duvall. Der Junge wäre glatt an ihm vorbeigegangen, wenn Rich ihn nicht am Arm gepackt hätte. Zunächst versuchte Eric, ihn abzuschütteln, dann aber erkannte er, wer da vor ihm stand, und grinste ihn an. »Hallo, Onkel Rich.«

»Wo gehst du hin?«

»Nach Hause. Ist doch nichts los hier.«

Rich hatte schon immer viel übrig für seinen Neffen. Erics Eltern hatten ihm viel Freiheit gewährt, Rich war darum bemüht, ihn dazu zu bringen, sein Leben sinnvoll anzupacken. Er hielt Eric für intelligent genug, um aufs College zu gehen; da aber keiner seiner Klassenkameraden mitzog, fiel Eric die Entscheidung schwer. Eigentlich wollte er nichts weiter als Motoren auseinander nehmen und wieder zusammenbauen. »Soll ich dich im Auto mitnehmen?«

»Nein. Bin mit dem Motorrad da.«

Rich hatte vergessen, dass Eric sich vor ein paar Monaten eine kleine Motocross-Maschine zugelegt hatte. Um das nötige Geld dafür aufzubringen, hatte er auch eine Weile die Fasane von Rich versorgt. »Hättest du Lust, mir im Herbst wieder auszuhelfen?«

Eric strahlte unwillkürlich übers ganze Gesicht. »Aber klar doch.«

»Weißt du zufällig, was da mit Jed Spitzler passiert ist?«

»Nein. Hab nur den Tumult mitgekriegt.«

»Kennst du seine Familie?«

»Nicht gut, eigentlich nur seinen Sohn Brad. Er geht in die Klasse über mir. Ein Einzelgänger. Aber ansonsten ganz nett.«

»Ein Schüler der Oberstufe?«

»Ja. Der Glückliche macht im Frühjahr seinen Abschluss.«

»Wen gibt’s da noch in der Familie?«

»Zwei jüngere Schwestern.«

»Stimmt es, dass ihre Mutter tot ist?«

Eric zuckte mit den Schultern. »Ja. Schon seit einer Weile. Ich war damals zwölf oder dreizehn. Irgendein Unfall auf der Farm.«

 

Claire machte sich auf die Suche nach Rich, den sie nicht mehr gesehen hatte, seit er dem Krankenwagen entgegengegangen war. Da sie ihn in der Menge nicht ausmachen konnte, hielt sie es für das Beste, in der Nähe der Bühne zu bleiben; dort würde er bestimmt auftauchen.

Die Sanitäter hoben Spitzler auf eine fahrbare Trage. Dass er keinerlei Reaktion gezeigt hatte, als er von einer Seite auf die andere gerollt worden war, verhieß Schlimmes.

Stumm beobachtete die Menge, wie der Verletzte festgeschnallt wurde. Dann zerriss ein gellender Schrei die Luft, ein schier tierischer Schrei, den Claire nie vergessen sollte.

Sie fuhr herum, um zu sehen, woher der Schrei kam, und sah eine Frau in einem geblümten Kleid und mit abstehendem, wie elektrisch aufgeladenem dunklem Haar, die in höchster Erregung auf die Sanitäter zuhastete. Obwohl ihre Aufmachung eher der eines Teenagers entsprach, mochte sie Ende dreißig sein.

»Jed!«, kreischte sie und versuchte, an den Verletzten heranzukommen.

Ein großer Mann mit Cowboyhut packte sie am Arm, aber sie befreite sich aus seinem Griff und schaffte es bis zur Trage, wo sie dann trotz heftiger Gegenwehr von einem Sanitäter daran gehindert wurde, sich auf Spitzler zu stürzen. Wieder war Claire verblüfft über die animalische Wildheit dieser Frau.

»Lassen Sie mich mitkommen«, flehte sie jetzt. »Ich kann doch in der Ambulanz mitfahren. Bitte lassen Sie mich bei ihm sein.«

»Das geht nicht, Ma’am«, sagte der Sanitäter. »Sie müssen schon selbst zusehen, wie Sie ins Krankenhaus kommen.«

Zitternd, die Arme um den Körper geschlungen, das Gesicht von ihrem Haar verschleiert, sah die Frau mit an, wie Spitzler in die Ambulanz gehievt wurde. Es hatte den Anschein, als würde sie gleich zusammenklappen.

Claire wollte schon auf sie zugehen, als der Mann mit dem Cowboyhut wieder hinzutrat und versuchte, der Frau den Arm um die Schulter zu legen.

Die Dunkelhaarige schrie auf und stieß ihn weg. »Fass mich nicht an! Wie kann ich wissen, ob nicht du das getan hast? Du hast ihn doch vom ersten Tag an gehasst.«

Der Cowboy entfernte sich kopfschüttelnd.

Claire ging auf die hysterische Frau zu. »Können Sie mir sagen, was sich hier abgespielt hat?«, fragte sie.

Die Frau sah Claire an, als wäre sie ein Gespenst. »Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe.«

Claire wollte ihr die Hand auf den Arm legen, aber die Frau entzog sich ihr.

»In meiner Eigenschaft als Deputy-Sheriff muss ich in Erfahrung bringen, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Würden Sie mir Ihren Namen verraten?«

»Wozu denn?«

»Ich muss feststellen, was hier los war.«

»Das kann ich Ihnen genau sagen. Aber ich muss jetzt ins Krankenhaus. Seine Kinder sind bestimmt schon auf dem Weg dorthin.«

»Ich werde mich gern um eine Mitfahrgelegenheit für Sie bemühen«, sagte Claire ruhig und beherrscht. »Aber zuvor möchte ich Sie bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten.«

Die Frau wischte sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und zwang sich, ihre Tränen zu unterdrücken. »Ich heiße Lola. Lola Anderson.«

Jetzt sah Claire, dass Lola alles andere als hässlich war, trotz der pockennarbigen Haut. Und dass sie älter als dreißig war, eher Mitte vierzig. »Waren Sie zusammen mit Jed hier?«

»Ja. Wir waren so fröhlich. Jed geht zwar nicht so gern aus, aber heute Abend hab ich ihn dazu überreden können.«

»Was ist dann vorgefallen?«

»Soll ich Ihnen sagen, was ich vermute?« Lolas Züge hellten sich auf.

»Nur zu.«

»Ich glaube, es war so: Jed und ich hörten der Musik zu, und dann musste er mal austreten, wie er sagte. Also verschwand er. Ich dachte mir nichts dabei und blieb, wo ich war. Dann seh ich, wie Leonard, mein Exfreund, auch in Richtung der Klohäuschen geht.« Sie hielt inne, um abzuwarten, ob Claire die Tragweite dieser Bemerkung erfasste.

Claire nickte. »Leonard ist der Mann, der Sie vorhin zurückhalten wollte?«

»Genau der. Er und Jed können sich nicht ausstehen. Alles wegen mir. Aber auch so hätten sie vermutlich nicht miteinander können. Beide sind verdammt stur. Fragen Sie nur mal die anderen. Das ist überall bekannt. Ich krieg also mit, dass Leonard in die gleiche Richtung wie Jed verschwindet. Und dann seh ich ihn erst wieder, als er auf Jed runterstarrt. Und gleich darauf treffen die Sanitäter ein.«

»Aber da war er bereits überfallen worden. Woher wollen Sie wissen, dass er sich schon zuvor in Jeds Nähe aufhielt?«

»Sie sollten ihn sich mal vorknöpfen, und wenn Sie was über seinen Charakter wissen wollen, können Sie mich vor Gericht ruhig als Zeugin benennen.«

Claire bedankte sich, notierte Namen und Telefonnummer der Frau auf einem Bankabschnitt, den sie in ihrer Tasche fand, und ließ dann ihre Blicke umherschweifen, um festzustellen, ob zwischenzeitlich weitere Deputys eingetroffen waren. Warum brauchten sie nur so lange?

»Ich muss jetzt ins Krankenhaus«, meinte Lola, und ihre Züge verzerrten sich, als sie fragte: »Glauben Sie, er stirbt?«

»Es schien mir nicht gut um ihn zu stehen«, antwortete Claire wahrheitsgemäß. »Sobald ein weiterer Deputy hier ist, werde ich versuchen, eine Mitfahrgelegenheit für Sie zu arrangieren.«

»Nein. So lange kann ich nicht warten. Ich hab eine Freundin hier.« Und schon eilte sie davon, mit wehendem Kleid.

 

Nach Befragung mehrerer Besucher des Festes, die nichts beobachtet hatten, stieß Claire schließlich auf eine ältere Frau, die sich nahe der Unfallstelle aufgehalten hatte – Mrs Gunderson. Mit einer Dose Ginger Ale saß sie auf einem Gartenstuhl. Weiße Löckchen umgaben ihren Kopf wie ein Heiligenschein, und sie lächelte, als sie Claire Rede und Antwort stand.

Wie die kregle Endsechzigerin erzählte, hatte sie die fünfte Klasse der Schule am Ort unterrichtet. »Jetzt bin ich im Ruhestand. Eine meiner Schülerinnen war Jenny, Jed Spitzlers Tochter. Ein reizendes Mädchen. So aufgeweckt und fröhlich. Bis zu dem Unfall. Kennen Sie Jenny?«

»Nein. Und Mr Spitzler bin ich heute Abend zum ersten Mal begegnet.«

»Es war eine Freude, sie in der Klasse zu haben.« Über Mrs Gundersons Gesicht fiel ein Schatten. »In den letzten Jahren habe ich sie kaum noch gesehen.«

»Haben Sie beobachtet, wie es dazu kam, dass Mr Spitzler verletzt wurde?«, fragte Claire.

»Nein, meine Augen sind nicht mehr so, wie sie mal waren. Selbst mit dieser Brille kann ich nicht viel erkennen. Makulardegeneration nennt sich das. Die Mitte des Blickfelds ist völlig verschleiert. Weil ich kaum noch lesen kann, halte ich mich jetzt an Hörbücher. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen. Ich wusste zuerst nicht einmal, dass es Jenny war, die da so schrie.«

Claire erinnerte sich nicht daran, ein junges Mädchen bei Spitzler gesehen zu haben. »Demnach war die Tochter auch hier?«

»Ich glaube, sie und ihr Bruder haben den Vater gefunden. Schrecklich für die beiden. Dieser Familie bleibt aber auch nichts erspart.«

Claire bedankte sich für das Gespräch, nicht ohne zu erwähnen, dass sie unter Umständen Mrs Gunderson abermals aufsuchen müsse.

»Das würde mich freuen. Seit meiner Pensionierung scheine ich mehr als genug Zeit zu haben. Sie können jederzeit vorbeikommen.«

Auch dafür bedankte sich Claire. Als sie Mrs Gunderson verließ, sah sie, dass mittlerweile zwei Deputys, Billy Peterson und Steve Walker, eingetroffen waren. Sie informierte sie über das, was sie in Erfahrung gebracht hatte, und bat sie, sie bei der weiteren Befragung zu unterstützen.

 

Rich hockte mit einem Bier auf der Bühne und beobachtete Claire. Trotz Unterstützung durch zwei weitere Deputys war sie unermüdlich. Sie sprach mit jedem, der ihr über den Weg lief, deutete zu der Stelle, wo Jed gelegen hatte, stellte Fragen, notierte Antworten auf Papierschnipseln aus ihrer Tasche. Schon eigenartig anzusehen, wie sie da in ihrem freizügigen Outfit den Dienst des Sheriffs versah. Rich hatte nichts gegen Frauen, die die gleiche Arbeit verrichteten wie Männer, aber ihr Aufzug entsprach nicht unbedingt dem einer Polizistin. Claire selbst würde ihm da sicher zustimmen.

Der Abend war jedenfalls im Eimer. So viel stand fest. Aber es würde weitere Abende geben. Rich trank sein Bier aus und überlegte, was er tun sollte. Es war fast Mitternacht, für ihn ungewohnt spät. Vielleicht war es das Beste, nach Hause zu fahren. Einer der Deputys würde Claire bestimmt im Wagen mitnehmen. Er beschloss, noch ein Weilchen auszuharren, in der Hoffnung, sie würde alles Weitere ihren Kollegen überlassen. Obwohl das ihrem Wesen nicht entsprach.

Er wartete, bis der Informationsaustausch mit den beiden anderen Deputys beendet war, dann ging er zu Claire und legte ihr den Arm um die Schulter. »Ich habe das Gefühl, hier überflüssig zu sein. Oder kann ich doch irgendwie helfen?«

Sie schmiegte sich an ihn. »Tut mir Leid, Rich. Aber mit so was war weiß Gott nicht zu rechnen.«

»Alles deine Schuld«, neckte er. Sie schmiegte sich noch immer an ihn, und eigentlich erweckte es den Eindruck, als wäre das nicht nur ein Anschmiegen. Ein Kuss mochte mitten in einer polizeilichen Untersuchung zwar nicht schicklich sein, aber er konnte an nichts anderes denken. »Ich hatte mir den Abend so wunderschön vorgestellt.«

Sie schaute zu ihm auf. »Ich weiß«, gab sie zurück. »Aber ich muss nun mal dranbleiben, solange die Spuren frisch sind. Tut mir Leid. Ich hab mir den Abend auch anders vorgestellt.«

Genau dies schätzte er an Claire. Sie kniff nicht, sie suchte nicht nach Ausreden, sie verschleierte nichts. Es mochte dauern, bis sie zu ihm fand, aber wenn es so weit war, war sie da.

»Was gedenkst du hier noch zu unternehmen?«, fragte er.

»Mit weiteren Leuten reden. Und dann noch mit seinen Kindern, ich habe gehört, sie sind ins Krankenhaus gefahren. Ich möchte sie zu dem Vorfall befragen. Billy kann mich mitnehmen. Du brauchst hier nicht rumzuhängen, ich weiß ja nicht mal, wie lange es noch dauert.«

»Billy bringt dich auch nach Hause?« Rich trennte sich nur schweren Herzens von ihr.

»Ja.«

Er zögerte kurz, raffte sich dann dazu auf, das auszusprechen, was ihm im Kopf herumging. Was soll’s. »Sag ihm doch, er soll dich bei mir absetzen.«

Claire überlegte kurz, nickte dann. »Kann ich machen. Ich sag einfach, ich hätte meinen Wagen bei dir stehen lassen. Dürfte aber reichlich spät werden.«

»Ich lass die Tür offen.«

»Okay. Dann bis später.«

Er zog sie kurz an sich und küsste sie. Sie erwiderte seinen Kuss, rasch und innig.

Federnden Schrittes zog Rich ab. Die alten Cowboystiefel waren wirklich überaus bequem. Er stellte sich vor, mitten in der Nacht von Claire geweckt zu werden. Was für eine freudige Überraschung das sein würde.

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