Dunkle Falle - Marcos M. Villatoro - E-Book

Dunkle Falle E-Book

Marcos M. Villatoro

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Beschreibung

Wem kann sie noch trauen? Ein Einschussloch im Kopf, die Pistole noch in der Hand: Als in Nashville die Leiche eines Reporters gefunden wird, legt die Polizei es schnell als Selbstmord zu den Akten. Doch Romilia Chacón, blutjunge Polizistin bei der Mordkommission, findet bei dem Toten einen rätselhaften jadegrünen Schmuckstein in Form einer Pyramide – das Markenzeichen eines brutalen Serienkillers, der längst hinter Gittern sitzt … oder etwa nicht? Romilia beginnt, fieberhaft zu ermitteln – aber schon bald erkennt sie, dass Recht und Gesetz sie hier nicht weiterbringen. Um herauszufinden, wer der Killer ist, muss sie tief in die Welt des Organisierten Verbrechens eintauchen und schon bald den härtesten Preis für die Suche nach der Wahrheit zahlen … »Exzellent geschrieben – ein Volltreffer!« Library Journal Der düster-fesselnde Auftakt der »Detective Romilia Chacón«-Thrillerreihe, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann und die Fans von Karen Rose begeistern wird.

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Seitenzahl: 440

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Über dieses Buch:

Ein Einschussloch im Kopf, die Pistole noch in der Hand: Als in Nashville die Leiche eines Reporters gefunden wird, legt die Polizei es schnell als Selbstmord zu den Akten. Doch Romilia Chacón, blutjunge Polizistin bei der Mordkommission, findet bei dem Toten einen rätselhaften jadegrünen Schmuckstein in Form einer Pyramide – das Markenzeichen eines brutalen Serienkillers, der längst hinter Gittern sitzt … oder etwa nicht? Romilia beginnt, fieberhaft zu ermitteln – aber schon bald erkennt sie, dass Recht und Gesetz sie hier nicht weiterbringen. Um herauszufinden, wer der Killer ist, muss sie tief in die Welt des Organisierten Verbrechens eintauchen und schon bald den härtesten Preis für die Suche nach der Wahrheit zahlen …

»Exzellent geschrieben – ein Volltreffer!« Library Journal

Über den Autor:

Neben seiner national erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzen Romilia-Chacón-Reihe hat Marcos M. Villatoro bereits mehrere Romane, Essays und Memoiren veröffentlicht. Er unterrichtet kreatives Schreiben am Mount St. Mary’s College in Los Angeles. Marcos M. Villatoro lebt mit seiner Frau und ihren vier Kindern in L.A.

Die Website des Autors: www.marcosvillatoro.net/thewritingbull.com

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eBook-Neuausgabe Oktober 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2001 unter dem Originaltitel »Home Killings« bei Arte Público Press, Houston. Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Furia« bei Knaur.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2001 by Marcos McPeek Villatoro

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 für die deutschsprachige Ausgabe by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Slay und AdobeStock/Luca

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-261-9

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Marcos M. Villatoro

Dunkle Falle

Thriller – Detective Romilia Chacón ermittelt 1

Aus dem Amerikanischen von Ann Lecker-Chewiwi

dotbooks.

Für die Studenten des Studiengangs

»Creative Writing« am Mount St. Mary’s College

Los Angeles

Prolog

Ich bin achtundzwanzig, Latina und Südstaatlerin. Bislang war Atlanta meine Heimatstadt. Jetzt hänge ich die wenigen Röcke, die ich mein Eigen nenne, in Nashville auf. Ich bin eine blutige Anfängerin, Detective bei der Mordkommission, und habe erst vor sechs Monaten den Sprung geschafft. Ich habe in meinem Leben bisher nur drei Mordopfer gesehen, von denen dieser junge Mann, Diego Sáenz, das letzte ist. Aber ich bin gut in meinem Job. Ich weiß, dass ich gut bin, weil ich ununterbrochen über Mord nachdenke. Ich habe das Recht dazu. Der Mörder meiner großen Schwester hat mir vor sechs Jahren das Recht dazu gegeben. Ihm habe ich auch meinen zwanghaften Rachedurst zu verdanken, doch ich habe gelernt, ihn unter Kontrolle zu halten und vor meinen Vorgesetzten zu verbergen. Ich habe das Spiel mitgespielt, mich an jede Regel gehalten und mein Bestes gegeben. Meinen Zorn zeige ich nur selten. Ich richte die Wut auf die Fälle, die vor mir liegen, wie einen dünnen Gasstrahl auf eine offene Flamme. Sparsam verwendet, ist Wut der beste Treibstoff. Aber sobald ich den Mann finde, der Catalina meiner Mutter und mir weggenommen hat, werde ich den ganzen Tank ins Feuer werfen.

Kapitel 1

Mein erster Gedanke in jener Nacht: Ich kann Schussverletzungen am Kopf nicht ausstehen.

Ich setzte den rechten Fuß vor den anderen und ging leicht in die Knie, damit ich mich über das Gesicht des toten Mannes beugen konnte. Eine unbequeme Stellung. Trotzdem stützte ich mich mit meinen behandschuhten Händen nicht auf dem roten Honda Civic ab, der nur einen halben Meter von der Leiche entfernt stand. Eine alte Regel aus meiner Zeit auf der Polizeiakademie hallte durch die Tiefen meiner Erinnerung: »Behalte die Hände stets hinter dem Rücken, wenn du dich einem Tatort zum ersten Mal näherst.«

Man musste mir das nicht ins Gedächtnis rufen. Ich wusste es sehr gut. Dennoch ging mir diese Regel weiter durch den Kopf und erinnerte mich daran, dass das hier mein erster Fall in dieser neuen Stadt war, in der ich mich noch kaum zu Hause fühlte. Es war besser, in Gedanken die Vorschriften abzuspielen. Vorschriften halfen mir, mich von dem Mord zu distanzieren, wenn auch nur für kurze Zeit. Die Austrittswunde, geradewegs durch die Schädeldecke, die wie nach außen gekehrter, bröckelig-blutiger und mit zerfetztem Hirngewebe überzogener Milchschorf aussah, verkürzte die Distanz zwischen dem Opfer und mir im Handumdrehen. Doch trotz des scheußlichen Anblicks entging mir die Pistole in der Hand des Mannes nicht, das Erste, was an diesem Bild nicht stimmte.

»Carajo«, raunte ich, »was für eine Sauerei.«

»Was haben Sie gerade gesagt?«, fragte eine Stimme neben mir. Eine Südstaatenstimme, mit diesem weitverbreiteten, näselnden Tonfall, der mir bereits in ganz Nashville aufgefallen war. Ich sah zu einem älteren Mann auf. Er ging neben mir in die Hocke. Der Gerichtsmedizinen Sein Name wollte mir gerade nicht einfallen. Seit ich vor vier Wochen aus Atlanta hierhergekommen war, hatte ich noch an keinem größeren Fall gearbeitet und bisher keine Gelegenheit gehabt, den Gerichtsmediziner kennenzulernen. Der zermatschte Kopf des toten Mannes verhieß, dass dieser alte Herr und ich noch eine ganze Weile miteinander zu tun haben würden.

»Ach, nichts. Nur ein spanisches Wort«, gluckste ich und warf mein Haar über die Schulter, als holte ich es mit einem Haken ein. Ich klang verlegen. Einem Fremden die Bedeutung von carajo zu erklären, wäre sicherlich keine gute Idee. Das gehört sich nicht, würde mich meine Mamá tadeln.

Er erwiderte nichts. Im Augenblick war er offenbar zu beschäftigt, um sich vorzustellen. Er hatte einen kleinen Schnitt in den Bauch des Opfers vorgenommen und steckte nun ein Digitalthermometer hinein. Daraufhin verharrte er in der Hocke und hielt das Thermometer still. »Wird schwer werden, eine genaue Anzeige zu bekommen«, brummte er. »Er hat durch die Kopfwunde zu viel Blut verloren. Die Kugel muss den Rand der Halsschlagader durchschlagen haben. Mit dem Blut entweicht die Hitze noch schneller.« Er schrieb etwas den Einschnitt betreffend auf seinen Notizblock.

Blitzlichter explodierten um uns herum, da zwei Streifenpolizisten Fotos von der Umgebung machten. Sie erleuchteten die Dunkelheit des frühen Morgens mit ihren lautlosen Lichtblitzen. Während der Doktor das Thermometer tiefer in die Eingeweide des Mannes schob, entfernte ich mich, um mir das Auto anzusehen. Es war ein kleiner, sportlich roter Honda. Die Fahrertür stand offen. Die Leiche lag rechts vor dem Wagen. Das Auto besetzte zwei Parkplätze, wobei sich die Wagenmitte über einer der Abgrenzungslinien befand. Es hatte den Anschein, als hätte das Opfer – falls es mit dem Fahrer identisch war -, den Wagen in aller Eile abgestellt, ohne groß auf die Platzmarkierungen zu achten.

Die kurzen, summenden Töne eines Telefons, das man nicht wieder aufgelegt hatte, zirpten im Gras. Ich war überrascht, dass es niemandem aufgefallen war. Vielleicht hatte die Spurensicherung beschlossen, das Handy dort liegen zu lassen und auf die Fingerabdruck-Experten zu warten, damit sie erst einmal etwaige Fingerabdrücke sichern konnten. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe ins Gras. Es war eines dieser neuen, flachen Handys, die problemlos in eine Brusttasche passen.

Hinter mir zog der Gerichtsmediziner das kleine, schmale Stäbchen aus dem Bauch des Mannes. Um das Thermometer ins Licht einer Straßenlaterne halten und die Temperatur ablesen zu können, musste er aufstehen. Er wandte sich kurz von mir ab. Der Mann war viel größer als ich und von hagerer Gestalt.

Ich war mir nicht sicher, ob er mich kennen wollte oder nicht. Er wirkte beschäftigt, zu beschäftigt, um sich für mich Zeit zu nehmen. Und doch lief ich herum, als gehörte ich nicht hierhin. Ich war eine von zwei oder drei Frauen vor Ort. Vielleicht war das der Grund, warum ich zögerte, meinen rechtmäßigen Platz – welcher der der leitenden Ermittlerin war – am Tatort einzunehmen.

Dann war da noch der Mord an sich. Ich konnte den Anblick der Schusswunde nicht lange ertragen. Ich musste mich wieder aufrichten und ein paar Schritte auf Abstand gehen. Auf der anderen Seite des Hondas, im Hintergrund meines Sichtfelds, trieb ein großes Flussschiff im Cumberland River, dessen prunkvolle Brücke über die Hochwassermauer hinausragte. Jenseits des Stromes konnte man die schwarzen Umrisse alter Gebäude ausmachen, eine kleine, antike Skyline, die von den neuen, diesseits des Wassers gelegenen Wolkenkratzern überschattet wurde.

Zwei Officers sperrten die Umgebung mit gelbem Band ab. Ich verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schlenderte auf sie zu. Sie unterhielten sich gerade leise darüber, wie seltsam ein Selbstmord in diesem Teil der Stadt sei. »Gleich hier in der Innenstadt, am River Park, mitten in der Nacht. Das glaub ich einfach nicht.«

Ich stellte mich als der leitende Detective vor. Eigentlich war ich der einzige Detective vor Ort, was ich den Uniformierten aber nicht auf die Nasen binden würde. Einer der beiden drehte sich um und sah auf mich herab. Ich spürte, wie er den Blick schnell über meinen Körper schweifen ließ, was völlig sinnlos war, da ich einen langen schwarzen Trenchcoat trug, der mich vom Hals bis zu den Knöcheln einhüllte. Diese kalten Novembertage erforderten so viel Schutz. Der Polizist kam mir bekannt vor. Dann wurde mir klar, dass es seine Augen waren. Sie hatten mich schon einmal gemustert, in den Korridoren des Polizeipräsidiums in der Innenstadt. Ich hatte irgendwann letzte Woche dort vorbeigeschaut. Nachdem er mich von oben bis unten betrachtet hatte, hatte er seinem Partner zugeflüstert: »Schau dir mal die Lady in Rot an.« Meiner Mutter hätte diese Bemerkung überhaupt nicht gefallen. Allerdings hätte sie nicht den Officer für seinen leisen, anzüglichen Kommentar gerügt, sondern hätte stattdessen mich dafür getadelt, dass ich meine Lieblingsfarbe trug. »Demasiado sexy, hija«, hätte sie gesagt. »Du sendest Botschaften aus, die sich für eine Dame nicht schicken.«

Wie immer hatte sie natürlich recht. Ich hatte jedoch noch nie den Wunsch verspürt, damenhafte Botschaften auszusenden. Ich war Detective bei der Mordkommission und keine alberne Debütantin, die an ihrem fünfzehnten Geburtstag am Kirchenportal darauf wartet, dass der perfekte Mann vorbeikommt und sie mitnimmt. Auch wenn ich Latina bin, will ich verdammt sein, wenn ich diese Art von Latina bin.

»Ich bin Detective Romilia Chacón, Officer. Und Sie sind ...« Als ich auf sein Namensschild blickte, das ihn als Biber auswies, musste ich fast loskichern. »Officer Beaver. Vorname?«

»Henry.«

»Was dagegen, wenn ich Sie so nenne?« Er antwortete nicht.

»Einer Ihrer Kollegen hat mir gesagt, Sie hätten die Einzelheiten zu diesem Fall notiert. Was haben Sie für mich?«

Der Biber entfernte sich von mir und dem Ast, an dem er gerade das gelbe Band befestigt hatte. Er ging auf den Wagen zu. »Ziemlich eindeutiger Fall. Selbstmord.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil der Mann ‘ne Waffe in der Hand hält, Detective.« Beaver sah mich an, als wollte er sagen: Offensichtlicher geht’s doch gar nicht. Ich wollte ihm am liebsten meinen Steck-dir-doch-deinen-Gummiknüppel-in-den-Arsch-Blick zuwerfen, beschloss jedoch, stattdessen meine Aufmerksamkeit wieder auf die Leiche zu richten. Er fuhr fort: »Es ist eine Fünfundvierziger. Sobald wir sie gesichert haben, überprüfen wir die Seriennummer, um festzustellen, ob sie ihm gehört hat. Ich hab seine Brieftasche mit seinem Namen und seiner Adresse. Deshalb hat man Sie gerufen, Detective.« Sein Ton war ausdruckslos.

»Wie heißt er?«, fragte ich, in dem Wissen, dass es ein spanischer Name sein musste, und wartete gespannt darauf, wie dieser Gringo-Cop die Aussprache massakrieren würde.

Er musste sein Notizbuch durchblättern, um den Namen phonetisch abzulesen: »Diego ... äh ... Diego Sinus, oder so.«

»Sáenz«, verbesserte ich, während ich ihm über die Schulter blickte und die Schreibweise überprüfte. »Diego Sáenz.« Mein abgehackter salvadorianischer Akzent ließ sogar seine Stimme dümmlich klingen.

»Ja. Meinetwegen. Hier in Nashville haben wir’s nicht gerade nötig, unser Spanisch aufzupolieren.« Er klappte sein Notizbuch zu. »Die Fingerabdruckleute werden die Waffe gleich einstäuben und sichern.«

»Sein Name kommt mir bekannt vor. Wie sieht’s mit dem offiziellen Todeszeitpunkt aus?«

»3.11 Uhr morgens. Um die Uhrzeit hab ich ihn entdeckt und es gemeldet. Als ich eine Stunde früher das erste Mal hier durchgefahren bin, hab ich das Auto da noch nicht bemerkt. Er muss sich also kurz nachdem ich weg war umgebracht haben. Als ich wieder hier vorbeigekommen bin, lag er da.« »Haben Sie einen ungefähren Todeszeitpunkt?« »Da müssen Sie den Doc fragen.«

»Alles klar. Wie heißt der Doc eigentlich?«

»Jacob Callahan.«

Bevor ich ihn entließ, fragte ich Beaver, ob er sonst noch irgendwelche Informationen über das Opfer für mich habe. Er fasste kurz zusammen, was wir bisher über den Toten wussten: Name: Diego Sáenz. Alter: 24. Gewicht: 75 kg. Ethnische Zugehörigkeit: hispanisch. Größe: 1,75 m. Augenfarbe: braun. Das alles stand natürlich in seinem Führerschein. Allerdings verriet es mir nur sehr wenig über ihn.

»Ich hab auch zwei Kreditkarten bei ihm gefunden. Eine Visa Goldcard und eine Platin-Mastercard. Ach ja, und einen Presseausweis.«

Sáenz war also Reporter. »Kann ich den Ausweis mal sehen?«, fragte ich Beaver.

Er reichte ihn mir. Der Ausweis schien echt zu sein: Sáenz arbeitete für das Cumberland Journal, die zweitgrößte Zeitung in Nashville und Umgebung. Das hier war kein alltäglicher Mord unter betrunkenen Wanderarbeitern. Mein Boss McCabe rechnete bestimmt nicht damit, dass mein erster Fall ein Mordopfer sein würde, das Plastikgeld im Wert von zehn Riesen mit sich herumtrug.

Ich gab Beaver den Presseausweis zurück. Er trat einen Schritt zurück, wobei er sich offensichtlich nicht darum scherte, ob ich mit ihm fertig war, und nicht einmal neben mir stehen blieb, um ein »Danke, Officer Beaver« entgegenzunehmen. Vielleicht würde ihm ein »Sie können mich mal, Officer Beaver« besser gefallen. Er machte mich wütend. Doch gleichzeitig riss er ein schwarzes Loch in mein Innerstes. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, zu Hause anzurufen, meine Mutter aufzuwecken und sie zu fragen, wie es meinem Sohn Sergio ging. Sie würde mir natürlich versichern, dass er tief und fest schlafe und alles in Ordnung sei. Trotzdem würde sie meinen sinnlosen Anruf verstehen und mich beruhigen, dass mein hijo, mein querido, sicher und geborgen sei. Das würde genügen, um diese Leere ein wenig zu füllen.

Beaver ging zurück zu seinem Ast. Auch wenn er nichts sagte, hörte ich, wie der andere Uniformierte sich zu ihm gesellte und ihm unter einem kaum zurückgehaltenen männlichen Glucksen etwas zuflüsterte. Etwas über Frauen, die Rot trugen, vielleicht? Zu Hause hatte ich Schuhe mit Pfennigabsätzen, mit denen ich ihre erigierten Schwänze in der Mitte aufschlitzen konnte.

Ich trat erneut an die Leiche heran. Dr. Jacob Callahan lehnte über Sáenz. Er hielt die behandschuhten Finger über dessen Kopf und zog sie wieder zurück, als habe er lediglich die Dunkelheit zwischen sich und der Schusswunde des Opfers wegwischen wollen, um besser hindurchsehen zu können. Er machte sich Notizen auf seinem Block.

Ich bot dem kauernden Mann eine latexüberzogene Hand und ein ziemlich breites Lächeln an. »Bitte entschuldigen Sie meine schlechten Manieren. Wir arbeiten hier zusammen, und ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt.«

Callahan stand auf. Sobald er sich zu voller Größe aufgerichtet hatte, sah es von da, wo ich stand, aus, als befände sich die einzige Straßenlaterne weit und breit genau neben seinem linken Ohr. Er reichte mir seine behandschuhte Hand. »Jacob Callahan«, erwiderte er. »Die meisten nennen mich Doc, auch wenn das kein besonders einfallsreicher Spitzname ist. Und Sie müssen mich entschuldigen«, fügte er lachend hinzu. »Ich hab mich gleich an die Arbeit gemacht, ohne hallo zu sagen. Wollte nur schnell seine Temperatur messen. Damit sollte man nie zu lange warten.«

Auch wenn es dunkel war, konnte ich seine äußere Erscheinung teilweise ausmachen. Sein ergrauendes Haar war in seiner Jugend hellbraun gewesen. Er trug es kurz geschnitten. Erste Falten zerfurchten ein Gesicht, das einmal völlig glatt und gebräunt gewesen war. Callahan sah für sein Alter sehr gut, sogar attraktiv aus. Er hatte ein starkes Kinn, und obwohl Muskeln und Haut mit den Jahren leicht erschlafft waren, mutete seine Kieferpartie immer noch wie perfekt geformter Marmor an. Doc lächelte. Es kam mir aufrichtig vor. »Sie sind erst seit kurzem beim Department, nicht wahr, Detective?«

»Gerade mal ein paar Wochen. Ich bin völlig neu in der Nashville-Szene.«

Das gefiel ihm, er grinste noch ein wenig. »Willkommen«, sagte er, während er mit einer Showmaster-Bewegung zurück auf Diego Sáenz deutete.

Wir gingen gemeinsam auf den Kleinwagen zu. »Haben Sie einen ungefähren Todeszeitpunkt ermitteln können?«, fragte ich.

»Ja«, erwiderte Doc, dessen Nashville-Akzent schnell einen Ton annahm, der besagte: »Kommen wir zur Sache.« Ich schätzte das, da ich spürte, dass der ältere Südstaatler bereit war, mit mir zusammenzuarbeiten. »Der Blutverlust hat mir Kopfzerbrechen bereitet. Aber es war immer noch genug Wärme in seinem Bauch, um eine exakte Anzeige zu erhalten. Dann habe ich meine Notizen mit denen von Officer Beaver verglichen. Sáenz’ Körpertemperatur ist um zwei Grad gefallen. Bei dieser Kälte und dem Blutverlust würde ich den ungefähren Todeszeitpunkt gegen 2.15, 2.30 Uhr ansetzen.« »Das ist ziemlich genau.«

»Ich tue mein Bestes.«

»Was ist heute eigentlich für ein Tag?«

Doc hielt seine Armbanduhr ins Licht. »Warten Sie mal ... der zweite November.«

»Ah. El día de los muertos«, murmelte ich vor mich hin.

»Was ist das, Detective?«

»Der Tag der Toten. Gestern war Allerheiligen. Heute ist Allerseelen oder der Tag der Toten.«

»Oh. Verstehe. Sie sind also religiös.«

Ich lachte. »Oh ja. Ich verpasse keinen einzigen Weihnachts- oder Ostergottesdienst.«

Die Luft war merklich kühler geworden. Ich wickelte den Mantel enger um mich und beugte mich wieder vor, um in das unversehrt gebliebene Gesicht des Mannes zu blicken. Ein weiterer uniformierter Cop trat auf Doc Callahan zu und reichte dem Gerichtsmediziner eine Taschenlampe. »Danke, mein Junge«, sagte Doc, schaltete die Lampe ein und hielt sie über meine rechte Schulter nach unten. Ein Funken blitzte am linken Ohr des Opfers auf. Sáenz trug einen diamantenen Ohrstecker. Dann offenbarte der helle Schein der Taschenlampe das ganze Ausmaß der Kopfverletzung. Das war zu viel für mich. In keiner meiner beiden Sprachen brachte ich auch nur einen Ton heraus. Ich kippte nach vorne und hätte beinahe die Finger meiner linken Hand in eine der Blutspuren neben Sáenz gestützt. Nachdem ich mich einige Sekunden lang gefasst hatte – immer noch nicht lange genug, da ich spürte, wie meine Stimme zitterte -, fragte ich: »Was schließen Sie daraus?«

»Nun ja, viele Selbstmörder stecken den Lauf in den Mund. Das ist sehr effektiv. Sie richten ihn entweder aufwärts und pusten sich das Gehirn weg, so wie dieser junge Kerl es anscheinend getan hat. Oder sie schießen geradeaus und verfehlen so einen Großteil des Gehirns, zerstören aber die Speiseröhre und die gesamte obere Trachea, so dass sie ertrinken oder verbluten. Seine Art sich umzubringen, war recht wirkungsvoll. Er hat sich anscheinend die Waffe unters Kinn und genau an den Adamsapfel gehalten und nach oben gezielt. Meiner Meinung nach hat die Kugel erst seine Nasennebenhöhlen zerschmettert, ist dann ins Gehirn eingedrungen und hat dabei wahrscheinlich die Medulla Oblongata durchtrennt, bevor sie die Großhirnhälfte durchschlagen und hier zwischen dem Stirn- und dem Scheitelbein mitten durch die Koronarnaht wieder ausgetreten ist.«

»Er hat sich also buchstäblich das Hirn weggeblasen.« »Genau.«

Ein Zweifel blieb mir. »Dann halten Sie es für einen Selbstmord?«

Er grinste leicht. »Sie haben sicher bemerkt, dass ich das Wort ›anscheinend‹ etwa ein Dutzend Mal benutzt habe. Obwohl ich bereit wäre, eine Wette darauf abzuschließen.« »Seltsame Gegend, um sich umzubringen.«

»Vielleicht hat er gerne gefischt«, erwiderte Doc, während er auf den Fluss zeigte, »aber es wollte nichts anbeißen.« »Was ist mit der Waffe in seiner Hand?«

Doc wusste sofort, auf was ich hinauswollte. »Der Tod ist höchstwahrscheinlich auf der Stelle eingetreten. Seine Handmuskeln waren im Moment des Todes aktiv. Es könnte sich hier um eine kataleptische Totenstarre handeln, so etwas Ähnliches wie ein früher, unmittelbar eintretender Rigor mortis. Wenn das passiert, umklammern die Hände des Opfers das, was sie gerade festgehalten haben.«

Ich zog die Augenbrauen hoch und richtete meine Taschenlampe direkt auf die Hand der Leiche. Selbst in der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass der Handrücken irgendwie fleckig aussah.

»Was sind das für Flecke an seiner Hand?«, fragte ich.

Doc betrachtete sie genauer. »Ich weiß nicht genau.« Er runzelte die Stirn. »Ich muss mir das aufschreiben, um es zu überprüfen ...«

Ich richtete mich auf und schaute mich um, wobei mein Blick erneut auf den Wagen fiel. Ich musterte die Fahrertür. »Hat die Tür eigentlich offen gestanden, als Sie hier eingetroffen sind?«

Beaver kam auf uns zu und erwiderte: »Ja. Sie war offen. Wahrscheinlich hat Sáenz sie nicht zugemacht, als er ausgestiegen ist.«

Und das bedeutet, dass er es eilig hatte, dachte ich. Ich studierte die Lage aller Gegenstände. Der Wagen über zwei Plätze geparkt, als wäre er überstürzt abgestellt worden. Die Tür geöffnet. Die Leiche auf der rechten Seite des Autos gefunden, nur siebzig Zentimeter vom rechten Vorderrad entfernt. Das Handy unmittelbar auf der linken Seite des Wagens entdeckt, genau vor dem linken Vorderrad. Entweder hatte er es fallen lassen, als er auf diese Seite herüberging, oder er hatte es hinter sich geworfen, sobald er hier stand. Vielleicht hatte er es in dem Augenblick von sich geschleudert, als er sich erschossen hatte ... aber die Waffe in seiner Hand, irgendetwas stimmte hier einfach nicht.

Doc bat Beaver, ihm dabei zu helfen, die Leiche auf die Seite zu drehen. »Ich will nur nachsehen, ob es noch weitere offene Verletzungen in der Rückengegend gibt«, erklärte er. Die Männer wendeten Sáenz um fünfundvierzig Grad und stützten ihn auf seinem rechten Arm und rechten Becken ab. Obwohl Beaver die rechte Seite von Sáenz’ Kopf umfasste, neigte sich der Schädel ein wenig, so dass ich noch einmal das kleinere Loch in der Falte zwischen Hals und Unterkiefer sehen konnte. Ein Blitzlicht explodierte mir nahezu ins Gesicht. Der Polizist mit der Kamera hatte gerade ein weiteres Bild von der Leiche geschossen und sich dann wieder entfernt. »Ich kann nichts entdecken ... Okay, alles klar. Legen wir ihn wieder hin«, wies Doc Officer Beaver an. Sie ließen den toten Mann zurück auf den Rücken gleiten.

Die Fingerabdruck-Experten, ein Mann und eine Frau, machten sich getrennt an die Arbeit, um mögliche Fingerabdrücke an den verschiedenen Bereichen des Wagens zu sichern. Die Frau kümmerte sich um das Telefon. Der Mann nahm sich die Türklinke vor. Er richtete eine Taschenlampe aus verschiedenen Winkeln auf sie und drehte einen weichen Glasfaserpinsel zwischen den Handflächen. Er tauchte ihn in ein feines schwarzes Pulver und bestäubte damit einen Abdruck. Die Frau tat dasselbe mit dem Handy.

Sobald sie damit fertig war, bat ich sie um das Telefon. Ich umfasst es vorsichtig mit der rechten Hand und drückte die Wahlwiederholungstaste mit dem linken Zeigefinger. Das Handy, dessen Akku fast leer war, gab drei Töne von sich: einen hohen und zwei tiefe. Die letzten beiden waren identisch.

911.

Die Notrufnummer.

Ich ging ein Stück weg, um die Kollegen von der Spurensicherung nicht bei der Arbeit zu stören. Doc folgte mir. Wir verließen die gelben Plastikbandabgrenzungen. Ich zog mir die dünnen, engen Latexhandschuhe von den Händen. Doc behielt seine an, so als wäre er daran gewöhnt, sie den Großteil des Tages anzuhaben.

»Dann sind Sie also nicht überzeugt, dass es sich um einen Selbstmord handelt?«, fragte er.

»Ich bin überzeugt, dass das kein Selbstmord ist. Dieser Mann wurde ermordet.«

»Tatsächlich?«

»Jep.« Ich ließ meine gespielte Tapferkeit gute fünf Sekunden auf ihn wirken, bevor ich ihm mitteilte, wen Sáenz als Letztes angerufen hatte. »Warum den Notruf wählen, wenn man sich sowieso gerade umbringen will?«

Doc zuckte mit den Achseln. »Vielleicht war es ein letzter Hilferuf, vielleicht hat er jemanden gesucht, der mit ihm redet. Aus seiner Sicht hat es sich um einen Notfall gehandelt.« »Kann schon sein. Aber ich wette mit Ihnen, dass Ihnen diese Flecke auf seiner Hand etwas anderes erzählen werden.«

Doc sah mich an und hob die Augenbrauen. Er lächelte höflich. Dann verabschiedete er sich. »Mein Bericht ist in ein paar Stunden fertig. Wenn Sie möchten, rufe ich Sie an, sobald ich so weit bin.«

»Prima. Das wäre großartig.«

Er faltete seinen hochgewachsenen Körper in einen Jaguar und fuhr weg. Ich wandte mich wieder dem Tatort zu, wo Beaver einigen seiner uniformierten Kollegen erklärte, sie sollten Schluss machen, dieser Selbstmord sei bestimmt rasch aufgeklärt und sie würden die Gegend bald verlassen. Nach meinem netten Geplänkel mit Doc packte mich die nackte Wut, als ich beobachtete, wie dieser Dreckskerl Befehle gab, die ich zu erteilen hatte. Es war höchste Zeit, ihn die Schärfe meines Pfennigabsatzes spüren zu lassen.

Kapitel 2

»Beaver, das ist kein Selbstmord.«

Obwohl er mich mit »Detective« ansprach, klang seine Stimme, als zische sie durch einen kochenden Teekessel.

»Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, Detective. Soweit ich das sehe, ist der Fall eindeutig.«

»Ja, aber Sie sind hier nicht der leitende Ermittler, oder? Nein. Sie sind Streifenpolizist, und das bedeutet, dass ich hier das Sagen habe.« Beaver hielt den Mund. Sein Schweigen verschaffte mir Freiraum. »Schauen Sie sich die Waffe an, Henry. Stört Sie an dem Bild nicht irgendetwas?«

Er blickte angestrengt auf Sáenz’ Hand. Nachdem er sie gute zehn Sekunden lang betrachtet hatte, wandte er sich wieder mir zu. »Nein. Was stimmt damit nicht?«

»Er hat sie immer noch in der Hand.«

Beaver sah sie sich noch einmal an. Noch während ich zu einer Erklärung ansetzte, erkannte ich, wie es ihm langsam dämmerte. »Wenn er sich wirklich selbst das Hirn weggepustet hätte, meinen Sie nicht, dass er dann durch die Erschütterung des Körpers und die Wucht des Aufpralls die Waffe fallen lassen, ja, sie sogar von sich geschleudert hätte? Aber sie liegt nach wie vor ordentlich umklammert in seiner Hand.« Natürlich erzählte ich ihm nichts von Docs Theorie der kataleptischen Totenstarre.

»Sie glauben, jemand hat sie da platziert, nachdem er erschossen wurde?«

Ich nickte mit Nachdruck. Dann sagte ich ihm, welche Nummer Sáenz zuletzt gewählt hatte. »Zählen Sie eins und eins zusammen, und Sie haben einen waschechten Mord.«

Die Sonne ging gerade auf. Docs forensisches Team und zwei Polizisten hoben die Leiche auf und bereiteten sie für den Transport vor, wobei sie lediglich die Kreidezeichnung als Erinnerung an Sáenz’ letzten Aufenthaltsort auf Erden zurückließen. »Ich denke, wir müssen den Tatort noch etwas sorgfältiger durchsuchen, Henry. Wir können das Tageslicht ausnutzen, bevor es hier vor lauter Leuten auf dem Weg zur Arbeit wimmelt.«

»Ja, Ma’am«, erwiderte er. Es klang gar nicht einmal so unaufrichtig. Er entfernte sich und wies ein paar seiner Kollegen an, die Gegend zu durchkämmen. Ich folgte meinem eigenen Instinkt und fing an umherzustreifen.

Dieser Tag meinte es gut mit uns. Trotz der Kälte versprach es ein strahlender, wolkenloser Morgen zu werden. Doch so willkommenheißend die ersten Augenblicke der Morgendämmerung auch waren, sie zeigten die Szenerie dennoch in einem mörderischen Licht. Ganz gleich, aus welchem Blickwinkel ich die Sache betrachtete, und ganz gleich zu welcher Tageszeit, ich befand mich in einer Gegend, in der ein Stück Blei den Kopf eines Mannes völlig entstellt hatte. Mord war für mich nach wie vor etwas so Neues, dass es mir immer noch an die Nieren ging. Manche Cops, die seit langem Mordfälle bearbeiteten, hatten über die Jahre Schwielen an Magen und Gehirn ausgebildet, die sie jeden Abend mit Unmengen Whiskey und Drogen glatt rieben. Bisher war ich noch nicht so weit. Es hatte auch etwas Tröstliches, noch ganz am Anfang zu stehen.

Dennoch war die aufgehende Sonne hilfreich, da sie mir die unterschiedlichen Farbschattierungen der zwei verschiedenen Rot-Töne auf dem Backstein offenbarte. Zunächst war da das Rot aus früheren Tagen, von Backsteinen, die man vor hundert Jahren gebrannt und jetzt als Teil einer Touristenattraktion hier verlegt hatte. Und dann gab es da noch diese winzig kleinen, klecksartigen mattroten Verfärbungen, die man mit Matsch oder Dreck verwechseln könnte, den ein Tier oder ein Stadtstreicher hinterlassen hatte.

Es könnte sich aber auch um Blutflecke handeln.

Sie führten weg von Sáenz’ Kreideumriss. Ich zählte vier Flecke. Sie bildeten eine Linie, die auf eine Baumgruppe zuführte. Mittlerweile brach Tageslicht durch das Wäldchen. Zwischen den tiefen Asten und den Stämmen der Nadelbäume konnte ich die Hochwassermauer und direkt dahinter den Cumberland River ausmachen.

»Du bist also weggerannt«, wandte ich mich an den Täter. »Du bist weggerannt, hast aber nicht bemerkt, dass du in Sáenz’ Blut getreten bist ...«

Ich folgte der roten Fährte. Sie verschwand, sobald ich die Grasfläche erreicht hatte. »Aber du hast eine Spur hinterlassen, die deutlich genug ist, um mir zu zeigen, wohin du gegangen bist.« Ich beschleunigte meine Schritte und joggte in den Schatten der Nadelbäume.

Hier gab es nichts außer weiteren Grünflächen. Kein Parkplatz und keine Bürgersteige. Die Stadt hatte diesen Teil des kleinen Parks in einem mehr oder weniger ursprünglichen Zustand belassen, damit Touristen hier picknicken und die obere Hälfte vorbeiziehender Schiffe beobachten konnten. Die Hochwassermauer versperrte die volle Sicht auf den Fluss. Etwa drei Blocks entfernt befand sich ein weiterer kleiner Parkplatz. »Vielleicht hast du dort geparkt und bist später von dort entwischt.«

Ich blieb stehen, um in Gedanken meine nächsten Schritte aufzulisten, und lehnte mich gegen die Hochwassermauer. »Ich kratze lieber ein paar Proben dieser Flecke vom Backstein ab, bringe sie Doc und lasse ihn überprüfen, ob es sich um Sáenz’ Blut handelt«, murmelte ich. Sie hätten auch vom Blut des Täters stammen können, vor allem, wenn Sáenz, bevor er starb, die Gelegenheit gehabt hätte, den Mörder zu verletzen. Dann hätten wir zumindest die Blutgruppe des Killers. Ich stützte den Ellbogen gleich neben einem weiteren Blutstropfen auf der Hochwassermauer ab.

Dieser war offensichtlicher, da die Zementoberfläche der Mauer weiß war. Er war nicht groß, jedoch groß genug, um mir ins Auge zu fallen. Ich blickte durch die Baumgruppe hindurch und zurück zu dem Honda, der auf dem Backsteinplatz geparkt war. Die blutige Spur verlief schnurgerade: Der Mörder war über den Parkplatz, durch das grasbewachsene Wäldchen und zu dieser Mauer gerannt. Ich schaute über sie hinweg. Dahinter war nur noch der Cumberland.

»Das glaub ich einfach nicht«, stieß ich hervor. »Du bist doch nicht da hineingesprungen? Ay Dios.« Das könnte bedeuten, dass unser Mörder tot war und wir den Fluss absuchen lassen mussten, was eine Heidenarbeit war. Schon allein aus diesem Grund hoffte ich, dass unser Killer noch am Leben war. »Aber wer springt denn zu dieser Jahreszeit in einen Fluss?« Ich erinnerte mich daran, wie kalt es gestern Nacht gewesen war, auch wenn es nicht gefroren hatte.

Hier gab es noch zu viel, das nicht unentdeckt bleiben durfte. Der Parkplatz bot eine Folge von Blutflecken, die eine Spur bildeten. Auf der Hochwassermauer war ein weiterer Fleck, der mir möglicherweise den Endpunkt derselben anzeigte. Jetzt musste ich nur noch etwas in dem Wäldchen und dem darunterliegenden Gras finden.

Ich ging auf alle viere. Ein paar Sekunden später drang das leise Gekicher der Männer zu mir herüber, die mich beobachteten und sich fragten, was zum Teufel ich da tat. Die konnten mich mal.

Glücklicherweise hatte es seit mehreren Tagen nicht mehr geregnet. Der Boden war trocken und weich, fast wie ein Kissen aus Millionen von Kiefernnadeln, die im Laufe der Jahre heruntergefallen waren. Es ergab ein hübsches Ruhelager, auf dem verliebte Paare eine Decke ausbreiten, Sandwichs essen und Wein trinken konnten, wo Kinder spielten, während ihre Eltern bei einem Ausflug aus Cincinnati oder Davenport dasaßen und an einem heißen Nashville-Sommernachmittag ein Bier tranken. Es lagen immer noch Überreste jener Tage hier herum: der Ring einer Coladose, den bestimmt ein nervöser Liebhaber oder ein Kind abgezogen hatte, um damit herumzuspielen. Unter den Kiefernnadeln eine zerknüllte Papierserviette von McDonald’s. Jede Menge Zigarettenstummel, die man beim Vorüberschlendern erst bemerken würde, wenn man auf allen vieren kroch, genau in die Nadeln starrte und viel zu viele Kippen zählte. Abgebrannte Streichhölzer, die jemand weggeschnippt hatte und die in diesem dicken Bett gelandet waren. Obwohl die Kiefernnadeln an sich sauber waren, verbarg sich unter ihnen eine Menge Müll. Nur wer mit gesenktem Kopf bloße zehn Zentimeter vom Boden entfernt das Nadelbett durchsuchte, wäre in der Lage, den winzig kleinen Schmutz dieser Gegend zu entdecken. Doch ich urteilte nicht darüber. Ich war auf der Suche nach etwas Bestimmtem, und je mehr Müll ich fand, umso glücklicher war ich, denn Müll bedeutete mögliche Hinweise. Müll konnte Antworten liefern. Müll, wie diese Zellophanhülle, an der immer noch der Streifen zum Aufreißen einer neuen Zigarettenpackung hing und die zwischen drei Kiefernadeln steckte und fünfundzwanzig Zentimeter vor meiner Nase in einer leichten Brise mit einem überaus deutlichen blutigen Abdruck darauf kaum merklich hin- und herflatterte, ließ mich hoffen.

»Venité vos«, sagte ich. Komm zu Mamá, Kleines. Ich zog eine kleine Plastiktüte aus meinem Mantel, öffnete sie und stülpte sie mir wie einen zweiten Handschuh über die linke, latexgeschützte Hand, griff dann hinunter und hob die Zigarettenschachtelhülle auf. Mit der rechten Hand schob ich mir die Tüte über die Finger und schloss sie über dem Beweisstück, wobei ich darauf achtete, den Abdruck nicht zu verschmieren. »Und nicht bloß einen Abdruck, sondern einen richtig großen noch dazu!«, sagte ich. »Du, hombre, hast offenbar sehr große Hände. Außerdem bist du anscheinend auch unglaublich dumm, wenn du dir, gleich nachdem du jemanden umgebracht hast, eine Zigarette anzündest.« Doch Dummheit ist bei Mördern immer willkommen.

Obwohl ich den Blick noch einmal über die grasbewachsene und mit Kiefernnadeln übersäte Gegend schweifen ließ, war ich wegen des Abdrucks auf dem Zellophanpapier zu aufgeregt, um den verbleibenden dreieinhalb Metern zwischen mir und dem Rand des Parkplatzes die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Trotzdem sah ich mich genauer um und stellte fest, dass der Boden in unmittelbarer Nähe der Hülle aufgewühlt worden war, so als wäre dort jemand schwer gestürzt oder hätte mit etwas oder jemandem gekämpft.

Ich klopfte mir die Knie ab und machte mich daran, die Backsteine und die Hochwassermauer so vorsichtig wie möglich abzukratzen, jede Probe aus vermischtem Backstein und Blut in verschiedene Beutel zu füllen und dann jeden Beutel mit den wesentlichen Informationen zu versehen: »Fleck Nr. 1, ca. 1,70 m vom Opfer entfernt gefunden, erster von fünf Flecken«, »Fleck Nr. 2, ca. 3 m vom Opfer entfernt gefunden, zweiter von fünf Flecken«, die ganze Strecke bis zum letzten Fleck auf der Hochwassermauer.

Ich packte meine Sammlung Beweistütchen ein, die jetzt abgekratzte Flecke und die Zellophanhülle einer Zigarettenschachtel beinhalteten, und kehrte zum Auto zurück. Adrenalin schoss mir durch Gliedmaßen, Oberkörper und Gehirn.

Offensichtlich hatte mich Beaver bei der Arbeit beobachtet. Er klang versöhnlicher und neugierig. »He, Detective, was haben Sie gefunden?«

Ich winkte ihm flüchtig mit den Beuteln zu. »Beweise, mein Freund. Beweise für einen Mord.«

Kapitel 3

Obgleich ich wegen meines Fundes ganz aufgeregt war, wusste ich auch, was er bedeutete: Dieses blutverschmierte Zellophanpapier würde mich eine Weile von zu Hause fernhalten. Noch immer hatte ich dieses Gefühl der Einsamkeit, das in einem aufkommt, wenn man mit Arschlöchern wie Beaver arbeiten muss, nicht völlig überwunden. Ich war immer noch neu in der Stadt, neu im Department und gerade dabei, meine erste Ermittlung in einem Mordfall zu beginnen. Zwar war mein Ehrgeiz, Dinge herauszufinden und voranzukommen, groß, trotzdem hatte er nie ausgereicht, um diese gewisse Leere gänzlich zu füllen. Ich rief zu Hause an.

Das Gespräch verlief genau so, wie ich es mir ausgemalt hatte. »Was ist los, hija? Wie spät ist es?«

Mamá und ich sprachen Spanisch, wie gewöhnlich. »Ich wollte nur wissen, ob mit Sergio alles in Ordnung ist.«

Sie gähnte. »Warte mal eine Sekunde, ich schaue schnell nach.« Ihre Stimme wurde immer leiser, als sie den Hörer auf den Beistelltisch legte. »Ich sehe nach, ob der zipitillo ihn mitgenommen hat ...«

Der zipitillo, das salvadorianische Pendant eines Trolls, der sich unter Brücken versteckt und vorbeigehenden Kindern auflauert, um sie zu fressen. Selbst zu so früher Stunde hatte sie eine sarkastische Bemerkung parat.

»Es geht ihm gut. Mein kleiner Himmel träumt von Kermit dem Frosch oder was auch immer er sich im Fernsehen ansieht. Mein kleiner König.«

Genau das wollte ich hören. Wie meine Mutter meinen Sohn mi cielito, mi reinito nannte, alle Verkleinerungsformen einer reinen Liebe, die mich irgendwie an seine Seite trug, damit ich über seinem Bett stehen und dem Rhythmus seines Atems lauschen konnte.

Dann überraschte sie mich. »Was ist los?«

»Was los ist? Nichts. Ich arbeite an einem Fall.« Das wusste sie bereits; ich hatte mich flüsternd bei ihr verabschiedet, als ich vor ein paar Stunden das Haus verließ. »Ich wollte nur kurz hören, wie’s euch geht.«

»Du machst das gut, Mädchen. Du schaffst das schon.«

Mehr sagte sie nicht. Aber es war mehr als genug. Sie kannte mich. Wusste, dass ich Versagen wahrscheinlich noch mehr fürchtete als den Tod – Versagen auf zwei Ebenen, als Detective und als Mutter. Wir kamen zum Ende unseres Gesprächs. »Te quiero mijita. Cuidate vos. Ich liebe dich, mein Mädchen. Pass auf dich auf.« Ich versprach es und lauschte noch einmal ihren einfachen Worten, dass ich es schaffen würde. Ich hoffte, sie meinte meine beiden Bestimmungen.

Auch wenn mir sein Führerschein nur wenig über den Fall verriet, erklärte er sehr schnell, warum man mich darauf angesetzt hatte. Sáenz war Hispanoamerikaner. Leute wie Sáenz waren der Grund, warum das Morddezernat von Nashville mich eingestellt hatte. In den vergangenen Jahren waren mehr und mehr Latinos nach Nashville und in die Umgebung gezogen, viele von ihnen Wanderarbeiter, die auf den Pferdefarmen im Umkreis der Stadt Beschäftigung fanden. Andere verdingten sich bei der Ernte der üblichen Anbauprodukte: Tomaten, Tabak, Mais. Bautrupps hatten ebenfalls zahlreiche Latinos in die Stadt gebracht. Die notwendige Überlebensausrüstung – taquerías, kleine mexikanische Märkte, der Handel mit gefälschten Einwanderungspapieren – sorgte dafür, dass die Verwandten der Arbeiter nachzogen. Ganze Familien verließen Guanajuato, Monterrey, Usulután und El Peten, um sich in kleinen Städten niederzulassen, die Crossville, Carthage, Clarksville oder Shelbyville hießen. Wie in jeder anderen Gemeinde gehörte Mord früher oder später unausweichlich zu dieser wachsenden Zahl von Menschen. Vor meiner Ankunft hatte es mein Boss, Lieutenant Patrick McCabe, mit einer Prügelei zwischen betrunkenen Mexikanern und Guatemalteken zu tun gehabt, die mit einem blutigen Messer zwischen den Rippen eines Mannes geendet hatte. Das Opfer war gestorben, nachdem es sich durch einen Morgen eines nahegelegenen Tabakfelds geschleift hatte. McCabe und sein kleines Gefolge weißer Südstaatencops mussten feststellen, dass ihre mangelnden Spanischkenntnisse ihre auf Deduktion beruhende Logik und ihren Scharfsinn behinderten. Nimm den intelligentesten einsprachigen Gringo der Welt, steck ihn in einen Raum voller Menschen, die Spanisch sprechen, und heraus kommt ein unsicheres, verängstigtes, regressives, verdrossenes Individuum, das sich absolut dämlich vorkommt. Es braucht nur ein paar Fälle, in denen Sprachbarrieren zum Problem werden, um jemanden wie McCabe dazu zu bringen, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und um Hilfe zu betteln. Deshalb stellten sie mich ein.

Manchmal frage ich mich immer noch, warum ich hierhergekommen bin. Eigentlich war ich in Atlanta recht glücklich gewesen, da ich schon mein ganzes Leben dort verbracht hatte. Ich war gerade erst auf einen Einstiegsposten als Detective gerückt und hatte kürzlich meinen ersten Fall gelöst. In dieser Stadt in Georgia lebt eine ganze breitgefächerte Großfamilie von Latinos, die viel größer ist als die in Nashville. An den Wochenenden, wenn ich weder als Streifenpolizistin (früher einmal) noch als Detective bei der Mordkommission arbeitete, ging ich im Schoß meiner eigenen Leute auf, so als hätte ich die Grenze überschritten, ohne einen Pass bei mir tragen zu müssen.

Meine Mutter hatte dieses Binnenland noch nie verlassen, bis ich sie dort herausriss und nach Nashville schleppte. Ich war mir nach wie vor nicht sicher, ob sie es mir verziehen hatte. Selbst wenn ich sie daran erinnerte, dass es in Atlanta zu schwierig wurde, mit der Gewalt und den Gangs fertig zu werden, und dass mein Sohn Sergio, ihr einziges Enkelkind, in zehn Jahren nur noch die Wahl haben würde, sich entweder selbst einer Gang anzuschließen oder von einer umgebracht zu werden, schüttelte sie nur halbherzig den Kopf.

Jetzt war natürlich nicht der richtige Zeitpunkt, um über wichtige Entscheidungen meines Lebens nachzudenken. Ich bearbeitete gerade meinen ersten Fall. Er war etwas anders gelagert, als ich mir vorgestellt hatte. Soweit ich es beurteilen konnte, waren hier weit und breit keine betrunkenen Gastarbeiter, denen man die Schuld in die Schuhe schieben konnte.

Von dem Augenblick an, als Officer Beaver sich angestrengt bemüht hatte, Diego Sáenz’ Namen auszusprechen, war er mir bekannt vorgekommen. Ich hatte im Büro Sáenz’ Artikel gelesen. Zu Hause hatte ich zwar ein Abonnement des Nashville Banner, aber das Morddezernat erhielt beide Zeitungen. Ich sah mir die spanischen Beilagen durch, die beide Zeitungen einmal wöchentlich anboten. McCabe hatte mich nicht dazu angehalten. Es war einfach meine Art, Nashville und Umgebung kennenzulernen, und das sowohl aus der Sicht der Gringo-Bewohner von Nashville als auch aus der Sicht der Hispanos, die in diese Gegend zogen.

Die Tatsache, dass beide Zeitungen spanische Beilagen herausgaben, bedeutete, dass sie die wachsende Latino-Bevölkerung wahrgenommen hatten und ihren Vorteil daraus ziehen wollten. Wahrscheinlich dachten sie, Wanderarbeiter, die lesen konnten, sehnten sich nach gedruckten spanischen Wörtern. Was meine Familie betraf, hatten sie recht. Auch wenn sie keine Gastarbeiterin war, wartete Mamá jedes Mal ungeduldig auf die Sonntagszeitung, um die Beilage herauszunehmen. Ich brachte die des Cumberland Journal mit nach Hause. Es dauerte nicht lange, bis sie einen Stift zur Hand nahm und die Grammatikfehler korrigierte. »Wen haben die bloß eingestellt, um das zu schreiben, einen Fünftklässler?«, beklagte sie sich immer. Ich fand nicht, dass es vor Fehlern nur so strotzte, aber vielleicht drückte ich bei den Zeitungen auch einfach ein Auge zu. Selbst wenn die Reporter (wie Sáenz) in korrektem Spanisch schrieben, bereitete es den Schriftsetzern einige Schwierigkeiten, die Texte in einer Sprache zu setzen, mit der sie überhaupt nicht vertraut waren. Meiner Mutter zufolge waren fehlende Akzente das verbreitetste Übel.

Allerdings waren wir sicherlich um einiges pingeliger als die meisten anderen. Selbst unsere Freunde in Atlanta machten sich darüber lustig, dass wir solche Bücherwürmer waren. Verstreut über unsere Couchtische, Küchentische, niedrigen Schränke, Toiletten und Regale lagen überall Romane herum, die wir während unseres Urlaubs in Mexiko gekauft hatten. Darunter waren auch englischsprachige Bücher, die jedoch allesamt mir gehörten. Mamá interessierte sich, wenn überhaupt, nur wenig für englische Literatur. Sie hatte vor einer Woche Paula von Isabel Allende zu Ende gelesen. Ich wusste, dass ich mir das Buch auch bald würde zu Gemüte führen müssen, da es sie sehr bewegt hatte. Sie hatte es mit Tränen in den Augen zugeklappt, war zu mir gekommen, hatte mich wie ein alter Bär umarmt und mir ins Ohr geflüstert, wie sehr sie mich liebte. Da ich keine Ahnung hatte, was zum Teufel überhaupt los war, tätschelte ich ihr den Rücken und redete ihr zu, sich zu beruhigen und einen Kaffee mit mir zu trinken. Sie erklärte mir, das Buch handle von Allendes Tochter, die im Koma lag. Es war die nicht-fiktionale Hommage der großen chilenischen Schriftstellerin an ihre Tochter, in der Hoffnung, die Erzählung der Familiengeschichte werde sie aufwecken. Das erklärte Mamás Gefühle sowie ihre Ermahnung mehr als genug: »Ich will dich nie in einem Krankenhausbett liegen sehen, hija, weil dich irgendein cabrón über den Haufen geschossen hat!« Sie nutzte wirklich jede Gelegenheit, die sich ihr bot, mir meinen Beruf auszureden. Isabels Buch war lediglich der jüngste Versuch gewesen.

Für jeden Gedichtband von Neruda, der irgendwo herumlag, oder eine Sammlung Kurzgeschichten von Carlos Fuentes oder Allende, die man auf dem Spülkasten vorfand, stieß man auf ein Werk des Meisters höchstpersönlich, Gabriel Garcia Márquez. Wir waren waschechte, unverbesserliche Gabi-Fans. Bei allen Exemplaren handelte es sich natürlich um die köstlichen spanischen Originalfassungen. Laubsturm thronte auf einem Stapel alter Newsweeks. Ich hatte gerade Von Liebe und anderen Dämonen zu Ende gelesen und es für Mamá in der Küche liegen gelassen, damit sie es in Angriff nehmen konnte, sobald sie mit Paula fertig war. Mamá hatte immer Die Liebe in den Zeiten der Cholera griffbereit neben dem Bett, wie eine Bibel, die sie von Zeit zu Zeit wieder zur Hand nahm. Mein absolutes Lieblingsbuch war natürlich Hundert Jahre Einsamkeit. Ich hatte es schon so oft gelesen, dass sich während meiner letzten Lektüre jedes einzelne Blatt meiner Ausgabe vom Buchrücken gelöst hatte. Ich musste den Band mit Gummibändern zusammenhalten.

Bücher bildeten für uns einen Hauptgesprächsstoff. Mit einem Roman oder einer Gedichtsammlung in der Hand fühlte ich mich nie einsam. Seit wir nach Nashville gezogen waren, verbrachte Mamá sogar noch mehr Zeit mit Lesen. Außer meinem Sohn Sergio war niemand da, mit dem sie reden konnte. Wenn ich nach Hause kam, stand sie schon in den Startlöchern. Sie war zwar müde, ich aber auch. Erst tollte ich mit Sergio eine Weile auf dem Boden herum und setzte mich dann bei einer Tasse Kaffee eine Stunde mit Mamá hin, bevor wir mit den Vorbereitungen für das Abendessen begannen. Mit einem Wort: Sie ist meine beste Freundin. Ich weiß, dass ich das auch für sie bin, wenn auch momentan eine treulose. Ich hatte sie aus ihrem Zuhause gerissen und sie in ein Viertel verpflanzt, in dem keine Latinos lebten. Das würde sie mir nicht so schnell verzeihen.

Manchmal beunruhigte es mich, dass sie so viel las, bis spät in die Nacht aufblieb und sich erneut Schlaflosigkeit in ihr Leben schlich. Das war immer ein Grund zur Besorgnis.

Die Berichterstattung des Cumberland Journal Latino-Themen betreffend war besser als die des Banner. Sáenz schrieb auch gewandter als sein Gegenpart beim Konkurrenzblatt. »Zumindest setzt er die Akzente an die richtigen Stellen«, meinte Mamá.

Wir hatten beide ein Faible für Sáenz’ Artikel entwickelt, vor allem weil sie von einem Insider und nicht von irgendeinem fremden Reporter (Gringo oder Latino) stammten, der nur hierher kam, um die örtliche Latino-Szene unter die Lupe zu nehmen. Sáenz hatte einmal einen entspannten Artikel darüber geschrieben, wie er jeden Sonntagabend mit hispanischen Jugendlichen aus der Gegend Basketball spielte, während die Mütter auf die Schnelle eine typische Mahlzeit aus Bohnen, Reis, mole und tortillas zubereiteten. Er hatte ihn in beiden Sprachen verfasst. Vermutlich wollte er sichergehen, dass alle Bewohner von Nashville ein Gefühl für das Leben in unserer Gemeinde bekommen konnten. Dafür mochten und respektierten Mamá und ich ihn, obwohl wir ihn nicht einmal persönlich kannten.

Der Schauplatz des Basketballartikels befand sich auf der Nolensville Road. In den wenigen Wochen, seit wir hier lebten, hatte ich schnell in Erfahrung gebracht, dass Nolensville der Ort war, wo viele Hispanos abhingen. McCabe hatte mir das bei meinem Einstellungsgespräch erzählt. »Sie werden bestimmt einen Großteil Ihrer Zeit dort verbringen«, hatte er erklärt. Wahrscheinlich meinte er, ich würde es mit betrunkenen Mexikanern zu tun haben, die Zeugen einer Kneipenschlägerei geworden waren. Dieser erste Fall, der brutale Mord an einem Zeitungsreporter, sorgte dafür, dass ich die Gemeinde von Nolensville mit anderen Augen betrachtete.

Ich rief von meinem Autotelefon aus beim Cumberland Journal an. Es dauerte eine Weile, bis endlich die Nachtreporterin ranging. Man hatte sie über den Tod ihres Kollegen noch nicht informiert. Während sie den ersten Schock verarbeitete (und sich vielleicht gleichzeitig überlegte, wie man diese Geschichte am besten aufziehen könnte), fragte ich sie nach der Telefonnummer des Chefredakteurs.

Tony Stapleton schlief tief und fest, als ich ihn aus dem Bett klingelte. Er war alles andere als erfreut. Sobald ich ihm erklärt hatte, dass ich der leitende Detective sei, der den Tod eines seiner Reporter untersuchte, schüttelte er den schweren, bleiernen Schlaf ab und stellte die notwendigen Fragen.

»Meine Güte, um wen handelt es sich?«

»Diego Sáenz. Ich komme gerade vom Tatort.«

»Wo?«

»River Park. Nicht weit von der Market Street Brewery entfernt.«

»Oh mein Gott ... was wollte er da ... wie ist er umgekommen?«

Ich teilte es ihm so sachlich wie möglich mit. Doch das Bild eines Menschen, dessen Kopf sich in eine zermatschte Birne verwandelt hat, lässt sich nicht so ohne weiteres beiseiteschieben.

»Aber das klingt ja fast wie Selbstmord.«

»Wir haben genug Indizien, um das Gegenteil zu beweisen.« Er blieb einen Moment lang still. Ich konnte seinen Atem hören und wie er seiner Bettnachbarin etwas zuflüsterte.

»Könnten wir uns treffen, damit ich Ihnen ein paar Fragen stellen kann?«

»Natürlich, ja. Wir können uns im Büro unterhalten, wenn Sie möchten. Sie können aber auch zu mir nach Hause kommen.«

»Treffen wir uns lieber in der Redaktion«, schlug ich vor. Nicht aus Respekt vor seiner Privatsphäre. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, mir Diego Sáenz’ Schreibtisch anzusehen. Er stimmte zu. Wir legten auf. Ich fuhr in Richtung des Bürogebäudes des Cumberland Journal.

Tony Stapleton war ein kleiner, korpulenter Mann Mitte fünfzig, dessen Haar langsam dünner wurde, was man von seiner Taille allerdings nicht gerade behaupten konnte. Als wir uns in seinem Büro unterhielten, fummelte er ständig an den Gürtelschlaufen seiner Hose herum. Davor hatte er eine Frau gefragt – mit Sicherheit die Nachtreporterin, mit der ich geredet hatte, um Stapletons Telefonnummer zu bekommen -, ob noch frischer Kaffee da sei. Er hatte zwei Tassen mit hereingebracht. Ich trank meinen schwarz. Er fügte in seinen vier Päckchen Zucker und einen Klacks Sahne hinzu.

»Ich dachte, alle Latinos trinken ihren Kaffee gerne mit viel Sahne und Zucker«, bemerkte er mit einem Lächeln.

»Ich habe mein ganzes Leben in diesem Land verbracht«, erwiderte ich. »Bitter ist besser.«

»Sagen Sie mir, Detective, hat man Sie wegen Sáenz’ kulturellem Hintergrund auf diesen Fall angesetzt?«

»Ja, ehrlich gesagt schon.« Lügen hatte keinen Zweck. Mein Aussehen und mein Name verrieten mich.

Er gluckste leise, der kleine Lacher durchbrach sein Entsetzen darüber, dass einer seiner Reporter ermordet worden war. »Das Police Department gibt sich also alle Mühe, etwas vielfältiger zu werden ...«

Der Art, wie er das Wort »vielfältiger« in die Länge zog, entnahm ich, dass er Zweifel hegte. Als Journalist wusste er wahrscheinlich mehr über mein Department als ich selbst. Dann wurde er wieder ernst. »Wissen Sie, Diego Sáenz war genauso amerikanisch wie ich. Oder Sie, zweifellos. Er wurde in Muscatine geboren, in Iowa. Hat Spanisch gesprochen wie jemand aus Mexiko City. Aber sein Englisch war genauso makellos wie das von Tom Brokaw.« Stapleton wandte sich ab, als wolle er für einen kurzen Moment seine Augen vor mir verbergen. Er sah sich nach einem Stuhl um und brauchte länger, einen zu finden, als ein Chefredakteur in seinem eigenen Büro brauchen sollte.

Auf dem Boden waren Bücher und Zeitschriften in kleinen Stapeln sortiert, willkürliche Versuche, ein wenig Ordnung in ein ungeordnetes Leben zu bringen. Vermutlich türmte er alles in der vagen Hoffnung auf, jedes einzelne Schriftstück irgendwann einmal zu lesen und einen Haufen nach dem anderen abzutragen. Wenn ich mir all die Bücher über die Geschichte verschiedener Zeitungen, über Themen, die speziell Nashville betrafen sowie zahlreiche Psychologiebücher und Ausgaben von Newsweek, Time, The New York Times, Knoxville Journal, Atlanta Constitution und The New Yorker ansah, war er schon gute drei Jahre im Rückstand. Zumindest wies das, was an der Wand hing, eine gewisse Ordnung auf. Fotos von Freunden und Bekannten, von Nashvilles Bürgermeister Thomas Julians bis hin zu Ronald Reagan, der Mitte der Achtziger der Stadt einen Besuch abgestattet hatte. Preise, die die Zeitung gewonnen hatte, sowie seine persönlichen Auszeichnungen als Journalist waren ebenfalls hübsch ordentlich ausgestellt.

Offensichtlich war das Nachrichtengeschäft Stapletons Leben, ganz gleich wie chaotisch es war.

»Was wissen Sie bisher, Detective?«, fragte er mich, während er mir den mit Kaffee gefüllten Styroporbecher reichte.

Ich erläuterte ihm den Stand der Dinge und fragte ihn dann: »Wissen Sie, warum Mr. Sáenz heute so früh am Morgen unten am Fluss war?«

»Keine Ahnung. Es sei denn, er hat an irgendeiner Story gearbeitet.«

»An was für Geschichten hat er denn gearbeitet?«

»Diego hatte immer vieles gleichzeitig laufen. Er war sehr gut darin, alles unter einen Hut zu bringen. Er hat immer dafür gesorgt, dass die Spanischbeilage für die Donnerstagsausgabe fertig war. Damit war er den Großteil der Woche beschäftigt. Dabei hat es sich überwiegend um Alltagsreportagen gehandelt. Manchmal hat er sich auch mit Dingen befasst, die er ›Aufholarbeit‹ nannte. Wie die Benny-Bitan-Morde beispielsweise. Wir hatten bereits Artikel über Bitans Festnahme gebracht, und darüber, wie er seine beiden Opfer getötet hat. Aber es war noch nichts auf Spanisch darüber veröffentlicht worden. Da hat Diego einen großen zusammenfassenden Bericht geschrieben – im Stil eines Zeitschriftenbeitrags -, der noch einmal den gesamten Fall behandelt hat. Wir haben ihn als Feature in der Spanischbeilage gebracht.«