Kalter Schrei - Marcos M. Villatoro - E-Book
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Kalter Schrei E-Book

Marcos M. Villatoro

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Beschreibung

Zeit der Abrechnung – Zeit der Rache Die USA wird von einem Serienmörder in Angst und Schrecken versetzt, der Dantes Inferno Wirklichkeit werden lässt: Er schwingt sich zum Richter über die sieben Todsünden auf und schickt seine Opfer durch die Hölle. Für die junge Polizistin Romilia Chacón klingen diese Taten schrecklich bekannt: Sie ist sich sicher, dass es derselbe Täter ist, der ihre geliebte Schwester aus dem Leben gerissen hat. Romilia weiß, es könnte sie ihren hart verdienten Job bei der Polizei kosten, doch sie muss den Killer um jeden Preis finden – und zur Strecke bringen … Der psychologisch fesselnde zweite Thriller der »Detective Romilia Chacón«-Reihe, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann. Für Fans von Tess Gerritsen.

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Seitenzahl: 488

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Über dieses Buch:

Die USA wird von einem Serienmörder in Angst und Schrecken versetzt, der Dantes Inferno Wirklichkeit werden lässt: Er schwingt sich zum Richter über die sieben Todsünden auf und schickt seine Opfer durch die Hölle. Für die junge Polizistin Romilia Chacón klingen diese Taten schrecklich bekannt: Sie ist sich sicher, dass es derselbe Täter ist, der ihre geliebte Schwester aus dem Leben gerissen hat. Romilia weiß, es könnte sie ihren hart verdienten Job bei der Polizei kosten, doch sie muss den Killer um jeden Preis finden – und zur Strecke bringen …

Über den Autor:

Neben seiner national erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzen Romilia-Chacón-Reihe hat Marcos M. Villatoro bereits mehrere Romane, Essays und Memoiren veröffentlicht. Er unterrichtet kreatives Schreiben am Mount St. Mary’s College in Los Angeles. Marcos M. Villatoro lebt mit seiner Frau und ihren vier Kindern in L.A.

Die Website der Autorin/des Autors: www.marcosvillatoro.net/thewritingbull.com

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eBook-Neuausgabe August 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2003 unter dem Originaltitel »Minos« bei Justin, Charles & Co., Boston. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Minos« bei Knaur.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2003 by Marcos McPeek Villatoro

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 für die deutschsprachige Ausgabe by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Daboost, Slay

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98952-345-6

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Marcos M. Villatoro

Kalter Schrei

Thriller – Detective Romilia Chacón ermittelt

Aus dem Amerikanischen von Ann Lecker-Chewiwi

dotbooks.

Minos ... conoscitor de la peccata

vede qual loco d’inferno é da essa;

cignesi con la coda tante volte

quantunque gradi vuol che giú sia messa.

Minos ... der große Connaisseur der Sünde,

Sieht, welcher Ort des Abgrunds für die passt,

Und schickt sie so viel Grad’ hinab zur Hölle,

Als oft er sich mit seinem Schweif umfasst.

Aus dem Fünften Gesang von Dantes Inferno

Tötet sie alle. Gott wird die Seinen schon erkennen.

Bischof Arnaud de Citeaux

Para las girlfriends de Romilia Chacón,

mis estudiantes de Mount St. Mary’s College.

Für meine Studentinnen am Mount.

Kapitel 1

Weh ... welche Glut, die sie durchzückt,

Welch süßes Sinnen, liebliches Begehren

Hat sie in dieses Qualenland entrückt?

Das Inferno, Fünfter Gesang

AUGUST, 1994

Planung erleichtert die Sache. Das hat er auf die harte Tour gelernt. Wenn du etwas tust, tu es richtig. Leuchtet ein.

Er genießt es außerordentlich, wenn die Logik zupackt und er nicht mehr entscheiden muss, was richtig oder falsch ist. Diese Frau vor ihm zum Beispiel, Catalina, die jetzt schon seit über einem Monat ins Café kommt. Er mochte sie sofort. Gleich bei ihrem ersten Besuch fragte sie ihn nach seinem Namen. »Bobby«, antwortete er. Sie hat seinen Namen nicht wieder vergessen. Manchmal hatte er das Gefühl, sie flirte mit ihm, das eine Mal, als sie einen Mocha Cappuccino mit extra Schlagsahne bestellte: »Komm schon, Bobby, tu ein bisschen mehr Sahne drauf, diese Taille kann es vertragen!« Sie hat ihr T-Shirt hochgezogen und sich in ein Stück Haut, die Größe und Farbe einer Rolle Cent-Münzen, gekniffen, genau dort, mitten im Café. So ist sie eben. Alle lassen sich von ihrer guten Laune mitreißen und von diesem Lächeln verführen. Auch Bobby. Er hat sogar darüber nachgedacht, sie um ein Date anzuhauen, hat sich dann aber nicht getraut. Zu kompliziert. Trotzdem hat ihn die Vorstellung gereizt, und er hätte es fast getan. Der Gedanke ist zu einem Druck geworden, gleich hinter den Ohren, wie Kopfschmerzen ohne den Schmerz. Er ist erleichtert, als sie eines Nachmittags hereinkommt, ihren Kaffee bestellt und sich dann über die Theke beugt, um ihm von ihrem neuen Freund zu erzählen, einem Typen namens Jonathan. »Du kennst ihn, Bobby. Er schaut drei oder vier Mal die Woche hier vorbei. War mal mit seiner Frau hier?« Bei diesem kaum verschleierten Geständnis zuckt sie leicht zusammen, steckt die Zungenspitze zwischen die Zähne.

Die Logik packt zu, Zahnräder greifen perfekt ineinander. Wenn es passiert, lässt der Druck am Hinterkopf nach. Alles ist eindeutig. Seine Antwort ist eindeutig. »Das ist nicht in Ordnung«, erwidert er. Zuerst sagt sie nichts, offensichtlich überrascht. Er wird noch deutlicher, drückt sich so unmissverständlich aus, als spreche er mit einem Kind: »Catalina, du solltest es besser wissen. Er hat eine Frau. Das ist schlicht und einfach Ehebruch.« Die Klarheit entschlüpft seinem Mund. Er bleibt unnachgiebig, am Rande eines Rings, ein Pool der Überzeugung. Lässt sich nicht erweichen, selbst als sie zurückgibt: »Kümmre dich lieber um deinen eigenen Kram«, und hinausgeht.

Er ist nicht von gestern. Die Welt hat sich verändert, hat die Regeln gelockert. Jedes Mädchen sollte die Chance haben, sich zu bessern. Versöhnung ist immer möglich, hier im dunklen Wald. Aber sie bessert sich nicht. Sie taucht erneut im Laden auf, den Liebhaber an der Hand. Sie bestellt beim anderen Barista zwei Kaffees, einen Cappuccino für sich, ohne auf Extra-Sahne zu bestehen, und einen normalen Kolumbianer für Jonathan. Daraufhin wendet sie sich an Bobby. »He. ¿Qué tal?« fragt sie ihn und verwendet dabei Wörter, die sie ihm beigebracht hat, als sie noch so gut wie jeden Tag hier war und, wie er glaubte, nur mit ihm geflirtet hat. Doch jetzt weiß er, dass sie das mit allen so macht.

»Bien«, antwortet Bobby, »mir geht’s bien.« Das ist das Ende ihres kleinen Geplänkels. Sie senkt den Blick auf die Theke und bringt dann den Kaffee zu dem kleinen, runden Tisch, an dem Jonathan wartet.

Bobby sieht sich um. Neun schimmernde Kreise legen sich über das Café, schwappen über die Menschen hinweg, die den Peach Tree Boulevard hinunterschlendern, biegen um die Ecke der Ponce de Leon Avenue, ziehen sich über die gesamte Stadt. Irgendwo zwischen dem zweiten und fünften Kreis sitzt der Mann, der den Kolumbianer bestellt hat.

Die neun Kreise, einer im anderen, erscheinen nur, wenn sie müssen. Nur wenn es nötig ist.

Wäre Catalina nicht zurückgekommen, bestünde gar keine Notwendigkeit, dies zu planen. Bobby hätte es ihr noch einmal durchgehen lassen. Aber das ist zu viel: Wie die zwei dasitzen, ihren Kaffee trinken und sich unterhalten, als wäre das, was sie tun, das Normalste der Welt, und wie sie mit ihrem ¿Qué tal? auf Bobby zugeht und so auf seine Anerkennung, seine Billigung hofft. Es ist einfach nicht richtig. Menschen heiraten, Catalina. So etwas nennt man Ordnung. Hier mit deinem Liebhaber hereinzuspazieren, Kaffee zu bestellen, wie du es immer tust, dich dann an deinen Lieblingsplatz zu setzen und allen anderen die Normalität deiner Affäre vor Augen zu führen, das geht einfach nicht.

»Bobby. He, Bobby. Wach auf. Ich brauche einen entkoffeinierten Latte, Mann.« Der Manager gibt ihm einen Klaps aufs Kreuz.

»Ja. Kommt sofort.«

Jonathan lächelt sie über den Tisch hinweg an. Er hat strahlend weiße Zähne. Sein aschblondes Haar ist kurz geschnitten und perfekt gestylt. Er ist ein überaus attraktiver Mann, aber nur im Gesicht. Sein Körper ist so dünn wie der eines Tennisspielers. Keine richtigen Konturen, aber ebenfalls sehr gepflegt. Am Rande des Tisches sind die Bücher aufgestapelt, über die Jonathan lehrt. Auch von seinem Platz hinter der Theke kann Bobby einen der Titel erkennen: Tom Jones von Henry Fielding. Bobby hat das Buch vor zwei Jahren gelesen. Er kennt die frivole Handlung, Toms sexuelle Heldentaten. Wie passend, dass sie gerade über dieses Buch reden, nur um es schließlich beiseitezulegen, ihre Kaffees zu trinken und sich nicht weiter damit zu befassen.

Er nimmt seine Schürze ab und wirft sie in eine Plastiktonne. »Gehst du nach Hause, Bobby?«, fragt Catalina. Wagt tatsächlich zu fragen.

»Ja. Meine Schicht ist zu Ende.«

Jonathan blickt auf, um zu sehen, mit wem sie spricht.

»Dann bis morgen?«, hakt Catalina nach, da sie immer noch auf seine Anerkennung, seine Billigung hofft.

»Nein. Ich hab was zu erledigen.«

Das letzte Mal war es eine Riesenschweinerei, weil er die Sache nicht ganz durchdacht hatte. Damals war er bei Sonnenaufgang völlig erschöpft gewesen. Aber er hatte es getan, und obwohl es an Kunstfertigkeit mangelte, war seine Tat doch außerordentlich bedeutungsvoll. Er hat die Zeitungsausschnitte aufgehoben. Hat sie in ein Ringalbum gebügelt und sie auf das dicke schwarze Tonpapier gepresst, als wolle er die Tat an sich entknittern, eine Art abschließende Säuberungsaktion, bei der er das Bügeleisen über die Ausschnitte führte, sie glättete und zusammenfaltete. Reine Akte der Gerechtigkeit, diese Tötungen. Als er es vollendet hatte und der letzte Schrei der Frau, Eileen, in einem Röcheln erstarb, das aus ihrer geöffneten Lunge über die zerbrochene Colaflasche strömte, hatte sich ein feuchter Fleck über Bobbys Hose ausgebreitet. Das hatte ihn überrascht. Er konnte die Ekstase, die mit der Tat einherging, nicht einfach ignorieren. Sie war mehr als nur sexuell, sie war göttlich. Nein, das reichte als Erklärung nicht: Er wollte sie glauben machen, dass er Gott ist.

Jetzt da er weiß, was passiert, ändert sorgfältige Planung alles. Nachdem er eineinhalb Stunden im Kraftraum des CVJM auf der Ponce de Leon Avenue trainiert hat, geht er unter die Dusche, zieht sich an und sagt Madeline am Empfang gute Nacht. Er ist müde, aber der morgige Tag wird noch anstrengender, weil er dienstags immer seinen intensiven Herz-Kreislauf-Tag hat: jeweils eine halbe Stunde laufen, schwimmen und Stairmaster.

Heute erledigt er seine Besorgungen beim Home-Depot-Baumarkt.

»Zugeschnittene Metallstangen. Sagen Sie mir, welche Art Sie brauchen, junger Mann«, erklärt der Angestellte in Gang sieben, ein älterer Herr namens Willie, der sich im Ruhestand gelangweilt hat und deshalb jetzt als Teilzeitkraft beim Home Depot arbeitet, was ihm offensichtlich großen Spaß macht. Er reibt sich das runde Kinn, die dicken Finger etwas schwärzer als sein Gesicht. »Wozu brauchen Sie die, wollen Sie Leitungen legen? PVC-Rohre sind dafür besser geeignet. Die sind viel leichter, wie Kunststoff.«

»Oh, nein, ich arbeite im Garten. Ich will ein paar kleine Löcher graben, um Spaliere aufzustellen. Für meine Rosen.«

»Oh. Sie haben bestimmt diese Kletterrosen, die überall hinaufranken.«

»Genau.«

»Ja, die sind wie Kudzubohnen, nur hübscher. Spaliere ...« Erneutes Kinnreiben. »Was Sie brauchen, sind Pflöcke. Die rammen Sie einfach in die Erde, ziehen sie wieder raus, und schon haben Sie Ihr Loch. Einer sollte reichen. Oder zwei, falls der erste kaputtgeht.«

Als Willie ihn in die Abteilung für Gartenarbeit bringen will, kommen sie an den Gartengeräten vorbei. Bobby entdeckt da lange schwarze Stangen, die senkrecht in einem kleinen Ständer gestapelt sind.

»Was sind das für Stangen, Willie?« »Brechstangen? Die sind nichts für Sie. Sind für schwere Arbeiten wie Betonaufbrechen gedacht.«

Bobby geht trotzdem auf sie zu. Willie folgt ihm. Bobby mustert die schwarzen Stangen, die so groß wie er sind: nicht ganz zwei Meter oder, wie auf dem Ständer steht, »183 cm reines Eisen«. Der Schaft ist gute zweieinhalb Zentimeter breit und wie ein Sechseck geformt, dessen sechs Seiten leicht zu greifen sind, da das Eisen nicht ganz glatt ist und seine raue Oberfläche festen Halt gibt. Am einen Ende ist eine Schneide, mit der man Zement aufschlägt, daran ist Bobby jedoch nicht interessiert. Es ist das andere Ende, die Spitze, die ihm ins Auge fällt. Auf einem Schaubild sind alle Arten von Brechstangen zu sehen, die das Home Depot im Angebot hat. Eine davon hat eine gehärtete Spitze. Die sieht noch schärfer aus als die normale Spitze.

»Haben Sie welche von dieser Sorte da?«, fragt er Willie. »Die mit extra gehärteter Spitze? Lassen Sie mich mal sehen. Nein, ich glaube nicht, dass wir die dahaben. Nur die mit normaler Spitze. Die tun’s aber genauso.«

Auf dem Schild heißt es, dass jede Stange etwa siebeneinhalb Kilo wiegt, daher greift er nur mit einer Hand zu. Er nimmt eine und zieht sie mühelos aus dem Ständer heraus.

»Meine Güte, Junge. Ich hab mir schon gedacht, dass sie Gewichte heben. Sie hantieren mit dem Ding rum, als wär’s ’n Bleistift.«

Bobby lacht in sich hinein. Er betrachtet die Stange. Genau, was er braucht, auch wenn ihm die extra gehärtete Spitze lieber wäre. Doch damit wird er auch zurechtkommen. Die Stange ist im Angebot, für $ 18.95. »Ich nehme eine von diesen hier.« »In Ordnung. Sonst noch ’n Wunsch?«

Im Moment ist im Home Depot nicht viel los, was selten der Fall ist. Willie mag diesen jungen Mann, die Art, wie er spricht und hier und da ein »Sir« fallen lässt. Das hat Willie schon seit langem von keinem weißen Jungen mehr gehört. Der Mann sieht wie ein Weißer aus. Wegen der pechschwarzen Haare tippt Willie auf einen Griechen oder Italiener. Bobby hat eine Liste dabei. Er liest die Sachen herunter: »Also ... Klebeband, vierzehn Meter Nylonseil und ein kleines Brecheisen zum Gebrauch mit einer Hand.«

Daraufhin dreht er die Brechstange herum und berührt die Spitze mit der Zeigefingerkuppe. Sie ist einfach nicht scharf genug. »Und noch was, Willie. Eine Metallfeile bräuchte ich auch.«

»Das finden Sie alles in der Eisenwaren- und Werkzeugabteilung.«

Willie zeigt ihm die großen Seilspulen in Gang elf. Bobby entscheidet sich für geflochtenes weißes Nylonseil mit acht Millimeter Durchmesser. Es ist flexibel, gibt jedoch nicht nach und dehnt sich nicht. Es hält ein Gewicht von etwa fünfundachtzig Kilo aus, die absolute Reißfestigkeit ist natürlich höher. Allerdings ist es ziemlich teuer, sechzig Cent pro Meter. Aber es ist das flexibelste von allen.

In der Werkzeugabteilung sucht er sich eine Flachfeile mit Kreuzhieb und Raspelhieb aus. »War’s das?«, fragt Willie.

»Gehen Sie rüber zu Ellen, sie kassiert alles ab. Viel Erfolg mit den Rosen.«

Willie entfernt sich. Bobby bezahlt bei Ellen, dreht sich um und sieht, wie der alte Mann auf einen anderen Kunden zugeht. Willie braucht die Logik der Kreise nicht.

Als die Polizisten und die Detectives sechs Tage später die Tür zu Bobbys Haus aufbrechen, finden sie im kühlen, feuchten Keller unter einer nackten Glühbirne drei übereinander gestapelte Kingsize-Matratzen. Im Licht der Glühbirne können sie problemlos die Einstiche in der obersten Matratze erkennen. Eine Frau von der Spurensicherung sieht sich die Löcher genauer an. In den flacheren Aushöhlungen entdeckt sie drei schmale Eisenspäne und ein wenig Metallstaub. Man wird selbstverständlich feststellen, dass die Späne mit dem Metall der Mordwaffe übereinstimmen. Die Einstichlöcher in der Mitte der Matratze sind unregelmäßig und von unterschiedlicher, jedoch eher geringer Tiefe. Die anderen gehen viel tiefer. Die Detectives werden Theorien aufstellen: Die tieferen Löcher wurden später gemacht. Wer auch immer das getan hat, er hat es geübt.

Er wird diese Südstaatenstadt schon längst verlassen haben. Seinen letzten Scheck hat er sich zwei Tage, bevor er in Catalinas Wohnung eingebrochen ist, im Café abgeholt. Nicht, dass er das Geld bräuchte.

Wenn sie das tote Liebespaar finden, das sich gezwungenermaßen eng umschlungen hält, hat er bereits in ein Best Western Hotel in Marietta, nordwestlich von Atlanta, eingecheckt. Bis sie die Eisenspäne und den Staub der Stange zugeordnet haben, wird er sich irgendwo im südlichsten Teil der Appalachen aufhalten, jener sanft ansteigenden Gebirgskette, die sich bis nach Alabama erstreckt. Er muss Flüsse überqueren, Tore öffnen, Türme besichtigen.

Irgendwo zwischen Georgias Staatsgrenze und der Stadt Birmingham ist die Inhaberin der kleinen Frühstückspension so freundlich, das Spam-Dosenfleisch zu braten, das Bobby mitgebracht hat. Ihr Name ist Janie. Sie lächelt, als sie ihm das Fleisch in kleine Stücke geschnitten und mit Zwiebeln und Knoblauch angebraten serviert. Sie hat geschlagene Eier unter das Fleisch gerührt. »Mein Vater hat früher viel Spam gegessen«, erklärt sie, »als er noch in der Navy war. Mittlerweile kann er’s nicht mehr ausstehen. Aber meine Mutter hat es nie so zubereitet. Sie hat es einfach in dicke Scheiben geschnitten und in der Pfanne gebraten. Ist es so, wie Sie es wollten?«

»Genau richtig.«

»Tut mir leid, dass ich keine Ananasstücke dahatte.« »Kein Problem.«

Im Hintergrund läuft leise ein Fernseher. Janie dreht die Lautstärke auf, als in den Morgennachrichten das Neueste über die Morde in Atlanta berichtet wird. CNN hat Blut geleckt, da sich dort der Hauptsitz des Fernsehsenders befindet. Dennoch benutzen sie dieselbe lahme, lethargische Ausdrucksweise, um das Ereignis zu beschreiben: entsetzlicher, heimtückischer und grausamer Doppelmord. Anspielungen auf Bondage, Sado-Maso-Spielchen, die außer Kontrolle geraten sind, unbeschreibliche Akte der Folter.

So banal, denkt er. Er kaut das Spam.

»Das ist doch schrecklich«, sagt Janie. Kopfschüttelnd wendet sie sich vom Fernseher ab und ihm zu. Sie lächelt. »Meine Güte, Sie waren aber schnell. Es muss Ihnen ja richtig geschmeckt haben, wie ich es zubereitet habe. Soll ich Ihnen noch mehr braten?« Sie flirtet. Er weiß das. Sie trägt keinen Ehering, ist aber ein bisschen älter als er.

Er reicht ihr den Teller. »Genau wie bei meiner Tante.«

Sie stellt mit der Fernbedienung den Fernseher lauter und bringt seinen Teller zurück in die Küche. Er nimmt einen Schluck Kaffee und betrachtet die Fernsehbilder. Sie bringen gerade die Aufzeichnung zweier Frauen, von denen eine älter ist, eine Mutter offensichtlich, die weint, als sie das Polizeirevier verlässt und sich einen Weg durch eine Horde Journalisten bahnt. Sie sagt etwas, doch Bobby kann sie nicht verstehen. Niemand kann es, da die ältere Frau ihre Schreie auf Spanisch ausstößt. Die andere Frau ist viel jünger. Sie kommt ihm bekannt vor, viel zu bekannt. Bobby hält immer wieder inne, während er seinen Kaffee trinkt, und blickt starr auf die mädchenhafte Frau. Sie weint nicht. Auch wenn sie den Kopf leicht gesenkt hält, kann er ihre Augen erkennen. Ja, natürlich, sie sieht ihrer Schwester sehr ähnlich. Dieselben Wangenknochen, dieselben Lippen, derselbe schmale Kiefer. Nur das überschäumende Wesen, das fehlt ihr. Liegt es am Thema der Nachrichtensendung? Nein, denkt er. Sie geben ihr einen Namen, Romilia Chacón, jüngere Schwester der ermordeten Catalina Chacón und Studentin an der Emory-Universität. Romilia ist dunkler als ihre Schwester. Nicht in Bezug auf die Hautfarbe, die ist die gleiche: leicht kaffeefarben, ein sanftes, cremiges Braun. Wie ziemlich neue Cent-Münzen. Doch in ihren Augen liegt etwas Düstereres. Ihr Blick wirft Schatten wie ein schwarzes Netz. Aber sie ist jung. Dunkelheit über Jugend. Es macht sie nicht älter, sondern versetzt sie in eine Welt, die er kennt. Wird die Persönlichkeit der kleinen Romilia in diesem Augenblick, als sie das Police Department verlässt, nachhaltig geprägt? Davon ist er überzeugt. Wird sie auch eines Tages mit Gespenstern reden? Werden ihr lange Selbstgespräche die ruhigeren Stunden ihrer Tage versüßen? Selbstverständlich. Jetzt schreitet sie erst einmal durch einen Wald voller Chaos, so wie Bobby einst. Aber sie hat diesen Ausdruck im Gesicht, der einen Schatten über ihren Blick wirft. Er wird sie im Auge behalten müssen.

»Hier, bitte schön, Schätzchen.«

Janie stellt die zweite Portion Spam mit Eiern vor ihn hin. Er lächelt, bedankt sich. Sie bleibt eine Weile neben ihm stehen, die Fingerspitzen auf die Tischplatte gestützt. Hinter ihr geht man in den Nachrichten zu anderen Themen des Tages über.

Kapitel 2

DEZEMBER, 2000

Ich werde mich nie daran gewöhnen.

Natürlich weinte ich, während ich vor dem Spiegel stand. Ich war vor drei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden und wieder bei mir zu Hause. Allein und ohne Hilfe wickelte ich mir den lockeren Verband vom Hals und entfernte die Kompresse von der Wunde. Da waren sie in all ihrer Pracht: ganze vierundzwanzig geklammerte Stellen. Aus diesem Winkel konnte ich nur sechs der zwölf äußeren Klammern sehen. Sie spannten die Haut fest über die zehn verborgenen, inneren Stiche und über zwei weitere, die den Schlitz in der äußeren Drosselvene zusammenhielten. Die Wunde war jetzt völlig sauber und nässte nur noch wenig. Die zehntätige Einnahme von Antibiotika hatte die drohende Entzündung verhindert. Nach meinem einwöchigen Krankenhausaufenthalt war ich vom Nichtstun ganz steif, da meine einzige körperliche Betätigung darin bestanden hatte, in dem Essen herumzustochern, das sie mir vorsetzten, sowie ab und zu ein Tamale zu essen, das Mamá ins Zimmer schmuggelte.

In der Klinik hatten sich die Krankenschwestern um meine Verbände gekümmert. Beim Wechseln kämmten sie mir das Haar straff nach hinten und banden es zu einem Pferdeschwanz, den sie oben am Kopf befestigten. Dadurch hatten sie die Hände frei, mir einen neuen Verband anzulegen. Außerdem wurde so verhindert, dass ein loses Haar auf die Wunde fiel und kleben blieb. Das fest zurückgezogene Haar zerrte an meiner Kopfhaut und diese wiederum an der Nackenhaut, so dass es schmerzte. Da erkannte ich, sprach es aber nicht aus, dass ich mich an diese eine Sache nie gewöhnen würde: den Schlitz in dem Stück Haut, das meinen Schädel bedeckte.

Nachdem sie mich zum dritten Mal frisch verbunden hatten, wuschen mir die Krankenschwestern zum ersten Mal seit dem Angriff die Haare. Sie mussten jede meiner Bewegungen für mich übernehmen, wie mich nach hinten senken und dabei den Kopf und den Brustwirbelbereich festhalten, damit ich die Muskeln nicht anspannte, vor allem nicht die zwischen Schultern und Ohren. »Wir müssen auf den Sternocleidomastoideus achten«, erklärte Betsy Anne, die Oberschwester. Sie lächelte. Sie hatte mir diesen Muskel schon einmal auf einem Schaubild gezeigt und mir erklärt, wie dieser zweigeteilte Gewebestrang meinen Schädel hinter dem Ohr mit meinem Brustbein und meinem Schlüsselbein gleich unter dem Kinn verband. Auch wenn er nicht gänzlich durchtrennt war, war die Klinge doch tief in ihn eingedrungen. Eine innere Naht hielt jetzt den Muskel zusammen. Ich konnte den Kopf weder nach links noch nach rechts drehen, ohne ein dumpfes Pochen in der Seite meines Halses zu spüren.

Betsy Anne und ich waren gleich am zweiten Tag meines Krankenhausaufenthaltes Freundinnen geworden. Während einer ihrer Nachmittagsdienste hatte ich einen vierzehnkarätigen Diamantring in den Abfalleimer geworfen und sie dann aufgefordert, ihn mit nach Hause zu nehmen und gegen Bargeld einzutauschen. Was sie schließlich auch tat. Ein Mann namens Tekún Umán, ein hiesiger Drogendealer, der sich momentan auf der Flucht befand, hatte mir den Ring zum Dank dafür geschickt, dass ich ihm das Leben gerettet hatte.

Sein gescheiterter Mörder hatte mir diese Verletzung zugefügt. Auch wenn ich beides nicht haben wollte, konnte ich nur den Ring loswerden. Betsy Anne nahm ihn mit und verließ kurz darauf den Laden eines Pfandleihers mit viertausend Dollar in der Tasche. Sie kümmerte sich ausgezeichnet um meinen Sternocleidomastoideus.

Sie hoffte, sich um noch mehr kümmern zu können. Als sie mir die Haare wusch, verwöhnte sie mich mit einer ausgiebigen Kopfmassage. Dabei knetete sie jeden Zentimeter meiner Kopfhaut mindestens drei Mal, während sie mir erklärte, wie schön und dicht mein Haar sei, kein Wunder also, dass der junge Tekún Umán sich in mich verliebt habe. Sie sprach den Namen sogar richtig aus. Mittlerweile ging den meisten Bewohnern von Nashville der Maya-Spitzname dieses Drogenbarons mühelos über die Lippen, da sie ihn immer wieder in den Nachrichten gehört hatten.

Betsy Anne bemühte sich, mich auf den Anblick der Schnittwunde vorzubereiten. Mein Haar, dicht, braun und wunderschön; meine Augen, rund, wach und dunkel, wenn wütend (»Mädchen, mit diesem Blick könntest du einen Telefonmasten umschmeißen!«); mein Alter, achtundzwanzig, um das mich Betsy Anne, die ein Jahrzehnt älter war als ich, beneidete, wie sie behauptete. Nach der Wäsche trocknete sie mir das Haar, kämmte es vorsichtig und legte es mir über die linke Schulter. Sie zupfte hier ein bisschen und dort ein bisschen, keine Krankenschwester mehr, sondern eine persönliche Hairstylistin. Sie warf es mir auf eine Art und Weise immer wieder über die Schulter, wie ich es noch nie getragen hatte. »So. Sagt mal einer Mr DeMille Bescheid. Diese junge Frau ist bereit für ihre Großaufnahme.«

Ich betrachtete ihre Verschönerungsbemühungen. In dem Krankenhausspiegel auf der anderen Seite des Zimmers sah der lockere Verband um meine Kehle wie ein dicker weißer Schal aus, ein Accessoire, das ich in jeder erdenklichen Farbe hätte tragen können, wenn ich eine Frau wäre, die gerne Schals trägt. Es war jedoch offensichtlich, was sie damit beabsichtigte: mit dem über beiden Schultern aufgebauschten Haar konnte man die Seiten meines Halses nicht mehr sehen. Nur die Vorderansicht des weißen Verbands, der sich wie der Kragen eines Monsignore von meiner braunen Haut abhob.

Betsy Anne konnte mich nicht nach Hause begleiten. Bevor man mich endgültig aus dem Vanderbilt-Krankenhaus entließ, hatte sie mir noch eine Predigt gehalten, wie ich gehen (nicht zu schnell), den Kopf drehen (überhaupt nicht) und mich hinlegen sollte (»Lass dir von deiner Mutter dabei helfen, den Kopf auf das Kissen zu senken«). Ich durfte den Hals überhaupt nicht belasten, da die inneren Stiche zwar die Muskeln und die Drosselvene zusammenhielten, die Fäden sich aber bald auflösen würden. Mein Hals brauchte erst einmal Zeit, um wieder zusammenzuwachsen, bevor ich mit der Krankengymnastik anfangen konnte.

Mein Arzt, ein junger Mann namens Clancy, erklärte mir, dass ich viel Glück gehabt hätte: Mein Angreifer habe nur die äußere Drosselvene und nicht die innere oder, noch schlimmer, die Halsschlagader erwischt. Ich hörte nur das Wort »Drosselvene« und dass sie verletzt worden war. Dr. Clancy erläuterte weiter: »Die äußere Drosselvene führt Blut von Ihrer Kopfhaut und Ihrem Gesicht ab. Die innere Drosselvene nimmt das Blut aus Ihrem Gehirn auf. Deshalb haben Sie nicht gänzlich das Bewusstsein verloren, als er mit dem Messer zugestoßen hat. Sie können wirklich von Glück reden, dass Sie schon im Krankenhaus waren. Sie haben einen hypovolämischen Schock erlitten. Ihnen hat bestimmt der ganze Kopf gekribbelt.«

Das hatte er, aber ich hatte dem Kribbeln damals nur wenig Beachtung geschenkt. Bevor mich der Schock völlig übermannte, musste ich mit ansehen, wie sich Tekún Umáns Möchtegern-Killer die Pistole an das linke Auge hielt und den Abzug drückte. Er war als der Jadepyramidenmörder bekannt geworden. Bevor er sich selbst richtete, hatte er in Nashvilles Straßen eine kurze Spur von Leichen hinterlassen. Mich hätte er beinahe auch umgebracht. Stattdessen ließ er mich mit dem Bild seiner blutüberströmten Augenhöhle und dem Geräusch seines toten Körpers, der wie ein Sack zu Boden fiel, allein. Eine Erinnerung, von der ich mich buchstäblich körperlich abzuwenden versuchte, bis der verdammte Schmerz in meinem Hals mich daran hinderte und mir ins Gedächtnis rief, dass ich mich nie mehr würde abwenden können.

Ich wartete, dass Mamá zusammen mit meinem Sohn Sergio das Haus verließ, bevor ich den Verband abnahm. Während sie sich zum Gehen fertig machte, hielt ich die Augen geschlossen. »Voy donde Marina«, hatte sie gesagt, womit sie Marinas Taquería und Lebensmittelladen meinte, das erste hispanisch geführte Geschäft in Nashville, drüben auf der Nolensville Road. »Heute Abend soll es schneien. Wir brauchen ein paar Vorräte.« Das bedeutete natürlich Maismehl, Bohnen, Reis, Tomaten, Koriander, Kreuzkümmel und eine weitere CD mit norteño Musik, mit der doña Marina meine Mutter bekannt gemacht hatte. »Kommst du alleine zurecht?« »Kein Problem.« Ich hielt die Augen weiterhin geschlossen. »Könntest du auch eine Flasche Bourbon mitbringen?« »¿Qué es Bourbon?«

»Whiskey.«

»Was für welchen?«

Der erste Name aus College-Zeiten kam mir in den Sinn. »Wild Turkey. Auf dem Etikett ist ein großer Vogel.«

»Ay, el chompipe«, sie lächelte. »Ich glaube, den mochte dein Vater auch.«

Ja, den mochte er, wie auch meine Schwester, Catalina, die als Teenager immer wieder heimlich an der Flasche nippte.

Mamá störte es nicht, dass ich mir ab und zu einen genehmigte. Wahrscheinlich hatte sie die Verbindung zu dem Schmerzmittel, das ich einnahm, nicht hergestellt. Ich aber schon. Bourbon und Kodein. Eine wunderbare Kombination.

Ich wollte alleine sein, wenn ich den Verband wechselte, weil ich meinen Sohn nicht erschrecken wollte. Sergio war drei und würde in knapp einer Woche seinen vierten Geburtstag feiern. Er hatte mich nur zwei Mal im Krankenhaus besucht. Beide Male merkte ich ihm an, dass er sich vor mir fürchtete. Nicht vor mir, sondern vor dem Verband und der unter der Kompresse verborgenen Wunde. Er sagte immer nur wenig. Mamá hatte ihn überreden müssen, zu mir zu kommen und mir einen Kuss auf die Wange zu geben. Dann stürzte er zurück zu seiner Großmutter und umklammerte ihre Taille.

Ich hatte Angst. Dazu hatte ich auch allen Grund, seit ich im Alter von zwölf Jahren an einem Nachmittag Frisbee mit Catalina gespielt hatte. Sie war sechzehn. Ich lief damals barfuß. Sie hatte den Frisbee weit von sich geschleudert, und ich war hinterher gestürmt, während ich die ganze Zeit zur Scheibe aufblickte und den hohen Betonbürgersteig mit der scharfen Kante nicht sah. Ich rannte mit voller Wucht dagegen. Der scharfkantige Randstein verursachte einen so tiefen Schnitt, dass mir bei jedem gehumpelten Schritt das Blut bis zur Schulter hochspritzte. Catalina hatte mich sofort ins Krankenhaus gefahren, wobei ihre Stimme sowohl aus Angst um ihre kleine Schwester als auch aus Wut darüber zitterte, dass ich ihr Auto voll blutete: »Ich hab gerade erst die Bodenmatten gesaugt, ¡Ay la gran púchica!« Caty hatte mich in die Notaufnahme getragen. Mein Kopf schlug gegen ihre Schulter. Ich konnte spüren, wie ihre Brüste (immer größer als meine) gegen meinen linken Arm drückten. Ich sagte ihr, sie brauche mich nicht zu tragen, mir gehe es gut, obwohl ich schrecklich schläfrig wurde.

Der Arzt flickte mich mit vier Stichen wieder zusammen. Das störte mich überhaupt nicht. Es war ein typisches Kindheitsabenteuer.

Was mich beunruhigte, war der spätere Heilungsprozess. Als ich mit meiner Mutter noch einmal zum Arzt ging und er den Verband abnahm und die Kompresse abzog, reagierte Mamá als Erste. Sie hielt sich die Hand vor den Mund: »Ay jodido, was ist passiert?«

Es wirkte wie eine Missbildung, als wäre während der Heilung etwas schiefgelaufen. Vielleicht hatte irgendeine schreckliche Krankheit wie Wundbrand eingesetzt. Aber mein Zeh war weder grün noch faulig schwarz. Es sah so aus, als wäre eine harte Eiterbeule über dem Ansatz des Zehs getrocknet, fest gewordenes Gallert aus knubbeliger, verwachsener Haut, die weder braun war wie der Rest meines Körpers noch weiß wie eine Narbe. Es hatte sich hässliches Gewebe gebildet, als hätte sich die Haut an dieser ein Zentimeter großen Stelle von innen nach außen gekehrt.

Zuerst sagte der Arzt nichts dazu. Er wies mich an, die Zehen zu bewegen. Ich tat es. Nichts schmerzte. Daraufhin erklärte er mich fröhlich für geheilt.

»Aber, aber was ist mit der Narbe?«, wollte meine Mutter wissen.

Er nahm ihre Sorge kopfschüttelnd zur Kenntnis, war jedoch offensichtlich bemüht, keine große Sache daraus zu machen. »Das nennt man ein Keloid oder eine Wulstnarbe. Manche Menschen neigen dazu, allerdings wissen wir nicht, warum. Wir sehen das bei bestimmten Volksgruppen recht häufig. Sie stammen aus Mexiko, nicht wahr?«

»Aus El Salvador«, erwiderte Mamá. Es machte sie wütend, wenn andere das nicht erkannten.

Der Arzt bemerkte ihren bitteren Unterton nicht. »Eine Wulstnarbe ist eine abnorme Wucherung des Gewebes über einer Wunde. Der Körper überkompensiert sozusagen, um sicherzustellen, dass die Läsion sich wirklich schließt. Es sieht zwar nicht besonders hübsch aus, aber es ist vollkommen harmlos.« Der Arzt wusch sich die Hände im Waschbecken.

Meine Mutter stammelte ein paar englische Wörter, wandte sich dann an mich und fragte mich auf Spanisch, was sie eigentlich wissen wollte. Ich übersetzte: »Wird es immer so bleiben?«

»Leider ja. Dagegen kann man nichts machen. Wenn an dem Tag, als du gegen den Bürgersteig gerannt bist, ein plastischer Chirurg Bereitschaftsdienst gehabt hätte, hätten wir vielleicht einen korrigierenden Eingriff vornehmen können, wie zum Beispiel die Haut ein wenig einschlagen. Aber ich glaube nicht, dass deine Versicherung die Kosten dafür übernommen hätte.« Er blickte uns beide an und sah unsere besorgten Mienen. »Na, jetzt mach dir wegen dieses kleinen Keloids nicht zu viele Gedanken. Du bist eine viel zu hübsche junge Lady, was kümmert dich schon eine Narbe, die keiner je zu Gesicht bekommen wird. Ich bin mir sicher, dass sogar Sandalen sie verdecken.« Er hatte gelächelt und mit dem Satz geendet, der jetzt sechzehn Jahre später wie ein Fluch klang: »Wenn man schon eine Wulstnarbe hat, dann lieber an einer Stelle, wo man sie so gut wie nie sieht.«

Während also meine Mutter und mein Sohn Koriander und süßes Brot in doña Marinas Laden einkauften, stand ich vor dem Schlafzimmerspiegel, zog das Heftpflaster vom Hals und entfernte vorsichtig die Kompresse. Mein neues Selbst im Spiegel weinte anscheinend heftiger als ich.

Caty hätte in so einem Augenblick genau gewusst, was zu tun war. Manchmal erblicke ich sie direkt hinter mir im Spiegel, wie sie mir das dichte Haar über die Wunde schiebt und mir ins Ohr flüstert: »Das ist genau der richtige Moment, um richtig guten Shit zu rauchen.«

Und genau das würden wir dann tun. Während Sergio zwischen den Holzständen voller Tomatillos und Habanero-Chilischoten herumrannte und meine Mutter sich von doña Marina den neuesten Tratsch und Klatsch berichten ließ, hätten Caty und ich uns einen fetten Joint gedreht und wären hinaus auf die hintere Veranda meines kleinen Hauses in Germantown gegangen. Wir hätten auf die neue Promenade hinausgeblickt, die Nashville ganz in der Nähe nördlich der Innenstadt gebaut hatte, eine Freiluftanlage mit Feinkostläden und Restaurants, die den Wert meiner Immobilie in einem Jahr verdoppelt hatte. Während wir high wurden, hätten Catalina und ich uns quatschend von der Narbe entfernt, um uns ihr schließlich wieder zu nähern, wobei Caty die Unterhaltung gelenkt hätte. Genau so, wie sie es getan hatte, als ich mich in der Highschool von diesem weißen Mistkerl trennte oder ein paar Mädchen aus unserem alten Viertel mich dafür aufzogen, dass ich mich so viel hinter Büchern versteckte. Caty war einfach so. Sie hätte genau das Richtige gesagt, wie: »Dieser pendejo, Feigling, der dir das angetan hat, ist tot. Und du bist am Leben. Du hast diese Narbe nicht verdient. Aber du verdienst es zu leben.« So etwas in der Art.

Etwas, das einfach perfekt war, das durch ihre Stimme perfekt wurde.

Doch Caty raucht kein Gras mit mir. Ich sehe sie auch nicht im Spiegel. Sie hat dieses Haus nie betreten. Und das nur wegen eines anderen Mörders vor sechs, nein ... fast sieben Jahren. Der Killer, den sie den Flüsterer nennen. Der Killer, der ungestraft davongekommen ist.

Mein Sohn Sergio hat seine Tante nie kennen gelernt. Er hat sie nur auf Fotos gesehen, die ich an die Wände gehängt habe. Ihre Seele hat er nur kurz in der Wut in meinen Augen erblickt. Vielleicht ist das der Grund, warum er nie nach ihr fragt.

Alle diese Männer in meinem Leben: zwei Serienmörder und ein Drogendealer.

Der Flüsterer ist nicht tot. Berichten der Polizei von Memphis zufolge ist er noch sehr lebendig.

Der Jadepyramidenkiller beging Selbstmord, wodurch ich Nashvilles jüngste Heldin wurde.

Tekún Umán war verschwunden.

Aber wir haben nicht die leiseste Ahnung, wo er steckt. Die öffentliche Website der Drug Enforcement Administration, kurz DEA, ist nichts weiter als das: öffentlich. Die Informationen waren ganz allgemein gehalten. Obwohl ich mich erst seit kurzem mit dem Internet beschäftigte, lernte ich schnell, dass es einiger Anstrengungen bedarf, um verlässliche und wissenswerte Fakten zu finden, wie beispielsweise den Aufenthaltsort eines mittlerweile berühmt-berüchtigten Kopfes eines regionalen Drogenkartells.

Computer sind komplettes Neuland für mich. Eine Woche bevor ich den Halsverband abnahm, besuchten mich zwei Männer: mein Boss, Lieutenant Patrick McCabe, und Jacob »Doc« Callahan, der Gerichtsmediziner, der für unser Morddezernat arbeitet. Sie brachten mir ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk: eine schwarze Stofftasche, in der sich ein sehr dünner, sehr leichter Laptop befand. Doc zog den Reißverschluss auf, nahm den Computer heraus und legte ihn auf die Decke, die meine Beine bedeckte.

»Soll das ein Witz sein?«, fragte ich.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Doc. Seine Aussprache war ein wenig abgehackt, so als stamme er aus dem Reichenviertel von West Nashville. »Es ist mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass Sie sich mit Computern überhaupt nicht auskennen, Romilia. Daher haben Patrick und ich beschlossen, Ihren momentanen Zustand schamlos auszunutzen. Wir sind fest entschlossen, Sie nicht im vergangenen Jahrtausend zurückzulassen. Sie werden lernen, wie man das Internet benutzt.« »Sie haben mir einen Computer gekauft.«

»Nicht wirklich«, erklärte McCabe. Er raufte sich die schütteren Haare am Hinterkopf und stopfte die andere Hand wie ein verlegener kleiner Junge in die Hosentasche. »Der Löwenanteil des Geschenks kommt von Doc.«

Doc stellte die Sache klar. »Ich bin Arzt, ergo wohlhabend. Ich habe die Kosten für den Computer übernommen. Pat ist Cop, ergo arm. Er bezahlt Ihnen die ersten beiden Monate des AOL-Abos.«

Lieutenant McCabe blieb nicht lange. Er war auf dem Sprung nach Hause. Ich fragte mich, ob er mir gegenüber immer noch Hemmungen wegen des Jadepyramidenfalles hatte, weil ich als seine Untergebene beinahe umgekommen wäre. Außerdem kannte er mich besser als jeder andere bei der Polizei. Er hatte meine Akte aus Atlanta, in der zwei Vorfälle vermerkt waren, die meine bisherigen Leistungen wie Schandflecke verunzierten. Mein Ruf als Hitzkopf war mir nach Nashville gefolgt, doch glücklicherweise hatte ich einen Boss, der diesen Ruf in seinem Aktenschrank unter Verschluss hielt. Es lag bei mir, ob noch weitere Kollegen von jenen Vorkommnissen in meiner Laufbahn erfahren würden. Einmal knallte ich einen Verdächtigen gegen eine Wand und verpasste ihm eine nette leichte Gehirnerschütterung, und einen anderen Typen schlug ich laut Zeugenaussagen mit meiner Pistole. Ich sehe die Ereignisse nach wie vor etwas anders, aber meine Sicht der Dinge hallt in McCabes Aktenschrank nicht wirklich wider.

Dennoch respektierte mich McCabe. Ich hatte den Jadepyramidenmörder gefasst, der Nashville im vergangenen Herbst in Schrecken versetzt hatte. Sogar der Bürgermeister von Nashville, Winston Campbell, hatte mir gratuliert. Daher benahm sich McCabe bei seinem Besuch bei mir ein wenig linkisch, so als wolle er sich mir gegenüber von seiner väterlichen Seite zeigen. Doch er schüttelte das schnell wieder ab und schlüpfte erneut in die Rolle meines Bosses. »Werden Sie gesund. Ich möchte Sie schon bald wieder im Büro sehen.« Er machte Anstalten, meinen Fuß unter der Decke zu berühren, was ihm dann aber wohl zu intim erschien. Stattdessen klopfte er dreimal mit dem Zeigefinger gegen das Fußende des Bettes.

Doc blieb. Das überraschte mich nicht und freute mich wirklich. Obwohl er alt genug war, um mein Vater zu sein, fragte ich mich, ob Doc nicht ein wenig in mich verschossen war. Er stöpselte den Computer in die Steckdose ein und schloss ihn an mein Telefon an. »Ich installiere Ihnen die Programme«, erklärte er.

Ich schlief. Als ich aufwachte, stand Sergio neben mir. Beide hatten den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Doc erlaubte Sergio, die interne Maus mit dem Finger zu bewegen, und brachte ihm die Kunst des Klickens bei: »Jetzt schiebst du den Pfeil auf Buttercups Kopf und klickst. Dann erscheinen – siehst du? – alle Informationen über sie und die anderen Powderpuff Girls.«

»Powerpuff«, korrigierte ihn Sergio.

»Oh. Natürlich. Meine Enkelin verbessert mich auch immer.« »Das mögen sie gar nicht, wenn man sie Powderpuff nennt.« Sergio klickte als Nächstes auf Blossom.

Ich schloss erneut die Augen und hörte ihnen beim Spielen zu. Manchmal machte der Laptop ein zwitscherndes Geräusch, oder die Stimme einer der Zeichentrickfiguren ertönte kichernd und lud Sergio in ein Spielzimmer ein. Nach zwanzig Minuten fragte Sergio, so als wäre es ihm auf einmal in den Sinn gekommen: »Warum hast du meiner Mamá das gekauft?«

Er flüsterte: »Oh, weil sie mein Mädchen ist.« » Wirklich ?«

Doc gluckste. Ich hielt die Augen geschlossen.

Im Gegensatz zu mir war Sergio von dem Laptop völlig begeistert. Eine Stunde später legte mir Doc den Computer auf den Schoß und führte mich durch dieselben Point-and-Click-Schritte. Er saß auf einem Stuhl und beugte sich über das Bett, während er auf den Bildschirm sah und mir zeigte, wie ich mich in meinen E-Mail-Browser einloggte und meine Mails checkte (bisher lagen nur Willkommensgrüße für die neue AOL-Kundin vor). Doc war gar nicht so alt. Ende fünfzig, immer noch gutaussehend, mit einer kräftigen Kieferpartie, unglaublich blauen Augen und einem dichten, aber kurz geschnittenen grauen Haarschopf, der einmal hellbraun gewesen war. Wie ich von den anderen Detectives erfahren hatte, war er Witwer. Ich mochte ihn. Manchmal fragte ich mich, ob ich tatsächlich eine Vaterfigur brauchte. Er trug ein starkes, angenehmes Rasierwasser, das den Geruch von Formaldehyd jedoch nicht völlig überdecken konnte.

Eine Vaterfigur. Oder einen Mann. Brauchte ich einen Mann? Offen ausgesprochen hätte dieser Gedanke meine Mutter in helle Aufregung versetzt. Natürlich hätte ich gerne einen Mann an meiner Seite gehabt. Doc Callahan? Oder vielleicht diesen jungen Typen, Dr. Clancy, der mich im Vanderbilt-Krankenhaus verarztet hatte? Oder einfach den nächstbesten Kerl, der auch mit einer verstümmelten Frau leben wollte? Jodido.

Eine Stunde nachdem Doc gegangen war, war ich immer noch mit dem Computer beschäftigt. Auch wenn ich mich bei der Suche nach bestimmten Websites nicht besonders geschickt anstellte, bekam ich langsam, aber sicher den Dreh beim »Surfen« heraus. Während ich mir die Internetseite eines Garcia-Marquez-Fan-Clubs aus Ecuador ansah, piepte auf einmal der Computer und verkündete, dass ich eine Nachricht hätte. Sie war von Doc. »Ich habe versucht anzurufen, aber offenbar sind Sie noch online. Es freut mich, dass Sie so viel Spaß mit dem Laptop haben. Doc.« Darunter erschien sehr förmlich sein voller Name »Dr. Jacob Callahan« sowie seine Adresse. Ich klickte auf »Reply« und schrieb ihm zurück: »Ich sehe mir Fotos auf der Playgirl-Website an.« Das war selbstverständlich nur ein Scherz ..., doch nachdem ich die E-Mail an Doc abgeschickt hatte, bewegte ich den Pfeil auf den kleinen weißen Suchbalken und tippte »Playgirl« ein. Sofort erschien eine ganze Liste von Internetseiten. Ein paar Klicks später landete ich schließlich da, wo ich hinwollte. Wie es nicht anders sein kann, hörte ich genau in dem Augenblick, als das gestochen scharfe Bild dieses jungen dunkelbraunen Kerls mit dem Bauch von Michelangelos David den Bildschirm einnahm, wie jemand neben mir fragte: »Wer ist das? Der hat aber einen großen Pimmel.« Ich schlug den Laptop zu.

Mühsam drehte ich den Kopf und bekam trotz des Schmerzes ein Lächeln hin. »Sergio, mi hijo. Warum schläfst du noch nicht?«

Er antwortete mit einem Schulterzucken. Sein Blick schnellte zum Verband, den ich noch abnehmen musste. Dann sah er wieder mich an.

Er lächelte, das erste Lächeln, seit ich nach Hause gekommen war. Vielleicht hatte er bemerkt, wie sich etwas in mir entspannte, wofür ich Doc schweigend dankte. Sein Geschenk hatte mich für ein paar Stunden abgelenkt. Sergio erkannte das. »¿Querés acostarte vos?«, fragte ich ihn.

»Si«, erwiderte er und grinste dabei übers ganze Gesicht. Da fiel mir etwas an ihm auf, auf das ich seit Tagen nicht geachtet hatte, eine kindliche Angewohnheit: Er wickelte sich ständig eine Haarsträhne um den linken Zeigefinger. Er kletterte zu mir ins Bett, streckte sich unter der Decke aus, schob die Zehen über meine Hüfte und legte den Kopf in meine Armbeuge. Ich musste ihn ansehen, ohne den Hals zu verdrehen. »Te quiero, mijito«, sagte ich. Er langte nach oben, um meinen ganzen Kopf zu umfassen und mich zu küssen, wie er es immer tat. »Ay, cuidado, vorsichtig. Nicht ziehen.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, um ihn nicht abzuschrecken. »Streck dich ein bisschen und küss mich auf die Wange. So. Das ist schön.« Dann machte er es sich wieder bequem und schlief bald ein. Meine Mutter würde ihn bald in sein eigenes Bett tragen, aber das hatte Zeit. Doch ich war immer noch neugierig: Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Sergio eingeschlafen war, klappte ich den Laptop auf und drückte auf »Resume«. Der Bildschirm leuchtete wieder auf und zeigte mir erneut diesen wunderbaren Mann, dessen Bild ich zugeknallt hatte, und ... Wahnsinn. Verdammt, Sergio hatte vollkommen Recht gehabt.

Kapitel 3

Der echte Tekún Umán war ein berühmter Maya-Indianer aus Guatemala gewesen, der im sechzehnten Jahrhundert in einem Zweikampf mit dem spanischen Conquistador Pedro de Alvarado unterlegen war. Er war ein mittelamerikanischer Volksheld. Der Mann, den man auf der Internetseite der DEA ausstellte und unter dessen Foto der Name »Rafael Murillo« stand, erzählte mir einmal, la gente hätten ihm den indigenen Spitznamen verliehen. Und das, weil er sich hinter der Fassade gemeinnütziger Unternehmen um die Armen kümmerte. Diese Unternehmen tarnten nicht nur seine Drogengeschäfte, sie bewirkten auch, dass die Leute vor der illegalen Herkunft seiner Einkünfte die Augen verschlossen. Tekún hatte in Atlanta mit dem Verkauf von Kokain angefangen. Dort baute er auch seine ersten Obdachlosenheime. Er bot Vier-Sterne-Wohltätigkeit. Tekún tischte nicht Wassersuppen auf, sondern Steak, Naturreis, Fisch, gebratenes Hähnchen und frisch gerösteten Kaffee. Seine Obdachlosenheime hatten in allen Zimmern den Fernsehsender HBO im Angebot. Daher waren sonntagabends sämtliche Räume mit obdachlosen Männern und Frauen gefüllt, die sich Betten und Stühle teilten, um die Sopranos zu sehen.

Der Bürgermeister von Atlanta verlor eine Menge Stimmen, als er die Entscheidung traf, alle gemeinnützigen Unternehmen, die Tekún Umán gehörten, zu schließen, kurz nachdem der Drogenbaron Atlanta verlassen hatte und nach Nashville gezogen war. Es spielte keine Rolle, wie oft er die Medien daran erinnerte, welche Verbindung zwischen dem mittelamerikanischen Drogenkartell und den Obdachlosenheimen bestand, und dass diese luxuriösen gemeinnützigen Einrichtungen durch den illegalen Handel mit Kokain finanziert wurden: Die Zeitungen zerfetzten ihn in ihren Leitartikeln in der Luft. Nashvilles Bürgermeister Campbell blieb diese Schmach erspart, da Tekún sich erst seit kurzem in seiner Stadt niedergelassen hatte, als ich ihn als Drogenbaron entlarvte. Er hatte zu diesem Zeitpunkt gerade erst damit begonnen, ein funktionierendes Wohltätigkeitsprogramm aufzubauen. Deshalb liebte mich Bürgermeister Campbell außerordentlich; ich hatte ihn vor den Schmähreden in den Leitartikeln gerettet.

Ich klickte auf Rafael Murillos Gesicht. Sein Foto nahm den Großteil des Computerbildschirms ein. Die wesentlichen Informationen waren auf einer Seite aufgelistet: Name (und hier in Klammern sein Maya-Spitzname oder, wie die DEA dazu sagte, »Weitere Decknamen«), Alter (siebenunddreißig), ethnische Zugehörigkeit (hispanisch, ich wusste jedoch, dass sein Vater zwar aus Guatemala stammte, seine Mutter aber eine weiße Frau aus Chattanooga war – daher Tekúns Beziehung zu den amerikanischen Südstaaten). Größe: 1,80 m. Gewicht: drahtige 75 kg.

Seine Armani- und Versace-Anzüge, sein Hundert-Dollar-Rasierwasser, sein Tausend-Dollar-Ohrring und die aromatische, unauffällige Handcreme aus Italien fanden keine Erwähnung. An alle diese Dinge erinnerte ich mich mühelos.

Im Gegensatz zu den körnigen und unscharfen Fahndungsfotos anderer meistgesuchter Verbrecher veranschaulichte dieses, wie gut dieser Mann aussehen konnte. Das Bild stammte vom Cumberland Journal, einer Lokalzeitung von Nashville.

Zu seinem Versace-Zweireiher trug er eine Seidenkrawatte. Er lächelte in die Kamera. Sein kurzer Bart war perfekt gepflegt. Er dealte mit Drogen, wusch Geld und machte hauptsächlich Geschäfte mit dem jungen, aber wachsenden Zweig des lateinamerikanischen Kartells. Er war stets bewaffnet und galt als gefährlich.

Mir waren die Hintergründe dieses letzten Hinweises bekannt. Auch wenn wir Tekún nicht wegen Mordes anklagen konnten, hätte ihn jeder Staatsanwalt aufgrund von Foltervorwürfen vor Gericht bringen können. Er hatte seine ganz eigene Art, dafür zu sorgen, dass seine Opfer nie vergaßen, wie sie sich gegen ihn versündigt hatten. Mit einem Messer in der Hand verstand er sich bestens aufs Buchstabieren.

Obwohl ich seinen Nashviller Drogenmarkt hatte hochgehen lassen, machte Tekún keine Anstalten, sich an mir zu rächen. Ich hatte ihm das Leben gerettet. Dem Jadepyramidenkiller war es gelungen, Tekún zwei Kugeln zu verpassen. Dann hatte ich eingegriffen und mir dabei eine schwere Schnittwunde zugezogen, aber die Mordserie beendete ich ein für alle Mal. Tekún überlebte, und seine Leute flogen ihn außer Landes. Jetzt versteckte er sich irgendwo in Mittelamerika.

Nach seiner Flucht hatte er mir den Diamantring und den Brief geschickt, in dem er mir ewige Liebe schwor. Mi amor, hatte Tekún mich genannt. Kein anderer Mann hatte mich je so angeredet. »Ohne dich wäre ich in diesem Augenblick nicht mehr am Leben und könnte diesen Brief nicht schreiben. Deinetwegen existiere ich. Jetzt dürstet meine Existenz nur danach, an dich zu denken.« Eine Aussage, die ich ihm nicht mehr abnahm. Und würde Tekún jetzt neben meinem Bett stehen und meine Narbe sehen, dann bezweifle ich, dass er seine Worte wiederholen würde.

Nur wenn meine Mutter schläft, schalte ich den Computer ein, gehe ins Internet und tippe in die weiße Suchmaske das Wort »Serienmörder« ein.

Nicht wegen des Jadepyramidenkillers natürlich. Sondern wegen des Flüsterers. Ein Name, den ich vor Mamá niemals laut ausspreche.

Besessenheit wird durch das Internet leichter, flüssiger. Es gibt so viele Seiten, die sich mit den Karrieren von Ted Bundy, John Wayne Gacy und Charles Manson befassen. Und man stößt dort auf viele Einzelheiten: Bundys Wohnung voller zerstückelter, gekochter Opfer, Gacys versteckter Friedhof kleiner Jungs, Mansons Foto mit dem in die Stirn geritzten Hakenkreuz.

Über den Flüsterer gibt es nur wenige Informationen. Lediglich jene drei Fälle in Bristol, Atlanta und kürzlich Memphis werden erwähnt. Man findet nur die Namen der Opfer, kurze Lebensläufe und die Art und Weise, wie sie ermordet wurden. Auch wenn der Modus Operandi bei allen Mordopfern unterschiedlich gewesen war, hatte das FBI beschlossen, sie in einer Untersuchung zusammenzufassen. Offensichtlich existierte zwischen den drei Fällen eine obskure Verbindung, aber die Experten in Quantico teilten der Welt nicht alles mit.

Bis vor kurzem hatte ich es geschafft, die Finger davon zu lassen. Da war allerdings auch nur von zwei Städten die Rede gewesen, Bristol und Atlanta. Als ich im Krankenhaus lag, sickerte dann zu den Medien durch, dass das FBI die Ermordung dreier Männer aus Memphis letzten Herbst nun ebenfalls dem Flüsterer zuschrieb. Sechs Jahre nachdem er meine Schwester umgebracht hatte, erschien er wieder auf der Bildfläche. Sechs Jahre, in denen ich mir hatte einreden können, er sei tot und werde nie wiederkehren.

Da sind drei kleine Kästchen mit den Namen der Städte. Nur ein Klick, und ich werde alles über sie erfahren.

»Hier ist dein Chompipe Loco.« Mamá stellte die Flasche Wild Turkey auf die Kommode am anderen Ende des Zimmers, in einiger Entfernung des Bettes. Sie kam auf mich zumarschiert, schnappte sich das Fläschchen Schmerzmittel und stopfte es in ihre Handtasche. »Ich bringe dir gerne einen Drink. In etwa zwölf Stunden.« An die Stelle der Medikamente platzierte sie eine Flasche Apfelsaft.

»Mamá, ein kleiner Drink wird schon nicht schaden.«

»Du hältst mich wohl für eine Idiotin. Hör zu, mi hija, du kannst gerne das Schmerzmittel austauschen und trago anstatt der Pillen nehmen Aber du schluckst nicht beides zusammen. Heute Abend gegen zehn mache ich uns beiden einen netten Highball.« »Bis dahin sind die Schmerzen sicher wieder da.«

»Dann genießt du deinen Drink umso mehr. Außerdem wird es Zeit, dass du aufstehst und ein bisschen herumläufst. Das wird deinem Kreislauf guttun. Deine Physiotherapeutin hat mich angerufen. Sie hat gesagt, ich soll dich daran erinnern, dass du nicht ewig in diesem Bett liegen darfst.«

Mamá wechselte die Rollen: Sie war nicht länger die fürsorgliche Krankenpflegerin, sondern markierte jetzt den unerbittlichen Feldwebel. Sie half mir aus dem Bett. »Der Arzt hat gesagt, dass du dich ruhig ein wenig raussetzen kannst. Ich habe dir den Schaukelstuhl vors Fenster gerückt. So kannst du Sergio im Auge behalten und gleichzeitig fernsehen.« »Wo ist er?«

»Draußen. Er spielt im Schnee.«

»Er sollte nicht alleine sein.«

»Es ist alles in Ordnung. Er ist mit dem kleinen Roy zusammen. Komm schon, aufstehen.«

Sie brachte mich ins Wohnzimmer, wo ein gerade angefachtes Feuer im Kamin loderte. Eine Tasse heiße Schokolade stand neben dem Schaukelstuhl. Ich konnte durch das Fenster beobachten, wie mein Sohn Schneebälle auf seinen Freund Roy warf und ihn um gute sechs Meter verfehlte.

»So, jetzt entspannst du dich ein bisschen«, erklärte Mamá. Die Rolle der Pflegerin hatte sie also doch nicht ganz aufgegeben. Dann ließ sie mich allein, um unter die Dusche zu gehen, womit sie, wie ich wusste, gute dreißig Minuten beschäftigt sein würde. Genug Zeit, um ins Schlafzimmer zurückzuschleichen und meine heiße Schokolade mit einem Schuss Bourbon zu verfeinern. Der erste Schluck war einfach himmlisch, herrlich schokoladig mit einem kräftigen Whiskey-Aroma. Dieser Tag versprach besser zu werden. Vielleicht würde ich sogar nach draußen gehen und versuchen, Sergio mit einem Schneeball zu treffen. Little Roy, der so alt war wie Sergio, würde sich mit ins Getümmel stürzen. Aber Roy warf viel besser, weil sein Daddy ihn schon beim Kinderbaseball angemeldet hatte. Es war ein wunderbares Gefühl, meinen Sohn mit weit aufgerissenem Mund lachen zu sehen, während er mit Roy im Schlepptau durch den Schnee stolperte und sich beide Jungs braun und dunkelbraun vom strahlenden Weiß um sie herum abhoben. Ich wurde sentimental. Es war der Whiskey, der mich beim Anblick von so viel ungezügelter Lebensfreude zum Weinen brachte. Selbst der Laptop meldete sich fröhlich zu Wort. Ich hatte vergessen, die Internetverbindung zu trennen. Er zwitscherte mich mit einer weißen, männlichen Stimme an: »Sie haben Post!« Doc natürlich. Wahrscheinlich wollte er das Neueste über meinen Internetausflug in die Welt des Pornos hören. Ich ging in mein Zimmer und klickte erneut die Mailbox an. Allerdings erschien da nicht Docs E-Mail-Adresse, sondern ein unbekannter Name, Cowgirlxl4 oder so, von einem anderen Provider. Ich öffnete die Nachricht.

Mi amor,

wie geht es dir? Wirst du gesund? Ich habe gehört, dass Wilson dich schwer verletzt hat. Ein Schnitt in die Drosselvene, und dennoch lebst du. Wunderbar. Das liegt bestimmt an deinem salvadorianischen Blut. Schlichtweg zu stark oder zu stur, um einfach so zu sterben.

Sag mal, bist du das eigentlich, die alle fünfzehn Minuten diese fürchterliche Serienmörder-Seite im Internet aufruft?

Jeder Tag birgt zu viele Momente, Romi, zu viele ungenutzte Augenblicke, in denen ich immer an dich denken muss.

tu

Der ganze Text war auf Spanisch. Sogar die Akzente waren richtig gesetzt, die Grammatik war einwandfrei. Daher konnte auch der fehlende Akzent auf dem letzten Wort, der Unterschrift, kein Fehler sein: Er hatte mit seinem Spitznamen, oder zumindest mit den Initialen seines Spitznamens, Tekún Umán, unterzeichnet.

Natürlich bedeutet »tu« ohne Akzent auch »dein«.

Ich schrieb zurück. Auf Englisch fragte ich nur, wo dieser arrogante Arsch sich versteckt hielt. »Zeig dich, du Feigling. Komm zurück nach Nashville, damit wir die Sache zu Ende bringen können.«

Eine Stunde später erhielt ich eine Antwort von Cowgirlxl4: »Tut mir wirklich leid, aber ich glaube nicht, dass ich Sie kenne, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir keine Schimpfwörter an den Kopf werfen würden. Außerdem habe ich noch nie in Nashville gearbeitet.«

Ich hörte erst sechs Wochen später wieder von Tekún, als er mir das Paket mit den Zeichnungen von Atlanta, Bristol und Memphis schickte.

Kapitel 4

»Tekún Umán ist gesund und munter und streckt mir die Zunge heraus.« Ich legte den Ausdruck der E-Mail auf Patrick McCabes Schreibtisch.

McCabe sah auf. »Was machen Sie denn hier?«

»Nur ein kurzer Besuch. Versprochen.« Ich lächelte, obwohl mir keineswegs danach war: Hinsetzen, aufstehen, ihm die E-Mail reichen, all das verursachte Schmerzen in meinem Hals. »Wie sind Sie hierher gekommen? Sie sind doch nicht selber gefahren, oder?«

»Meine Mutter wartet draußen auf dem Parkplatz. Ich hab ihr gesagt, es dauert nur eine Minute.«

McCabe sah müde aus. Der Vormittag war noch nicht einmal vorüber. An der großen weißen Tafel hingen keine wichtigen Fälle. Abgeschlossene Ermittlungen waren schwarz durchgestrichen. »Jadepyramide« stand unter meinem Namen, darunter waren die vier Opfer dieses Falles aufgelistet. Gladys, unsere Vollzeit-Aushilfssekretärin, blickte auf die weiße Tafel und tippte die Daten in ein neues Computerprogramm, das das Department angeschafft hatte.

Als ich eintraf, waren ein paar andere Detectives der Tagesschicht an mir vorbeigeschlendert, hatten Hallo gesagt und sich einen Kaffee geholt. Ein träger Morgen. Und dennoch sah McCabe abgespannt aus. Vielleicht hatte er wie üblich eine Überdosis Koffein abbekommen. Er ging um mich herum, schenkte sich eine weitere Tasse ein und bot mir eine an, die ich annahm.

Er deutete auf einen Stuhl. »Sie haben noch ein paar Ruhetage vor sich. Was sagt Ihr Arzt?«

»Ich kann Ende nächster Woche zurück an meinen Schreibtisch.«

»Was macht Ihr Hals?«

»Schmerzt. Ist aber wieder in Ordnung.« Keine Lüge. Er war wirklich wieder in Ordnung, trotz der hartnäckigen Schmerzen. Er heilte nur zu gut. Genau wie in meiner Kindheit der verdammte Fuß, eine überkompensierende Wundheilung. Meine Mutter meinte, es sei etwas Salvadorianisches, ein Zeichen dafür, wie stark wir seien. Sogar unsere Narben seien Beweise unserer Zähigkeit. Das sagte sie immer, wenn sie revolutionär gestimmt war.

Anstatt sich an seinen Schreibtisch zu setzen, nahm er mir gegenüber auf dem Stuhl Platz, so dass wir auf gleicher, entspannter Höhe miteinander sprachen. Wenn ich im Dienst bin, tut er das niemals.

»Stapleton vom Cumberland Journal hat gestern angerufen. Sagt, er möchte einen Folgeartikel über Sie schreiben. So eine Art persönliche Geschichte von Nashvilles junger Heldin, Romilia Chacón, nachdem sich der Wirbel um den Fall gelegt hat.«

»Kein Interesse.«

»Genau das habe ich ihm auch gesagt. Aber Anthony kann ein verdammt sturer Chefredakteur sein. Er wird Sie bald anrufen. Machen Sie ihn sich nicht zum Feind. Sagen Sie freundlich Nein.« McCabe setzte seine Lesebrille auf und las die ausgedruckte Mail. Ich erzählte ihm von meiner Verbalattacke auf Cowgirlxl4.

McCabe runzelte die Stirn. »Vielleicht hat er eine Software, mit der er in die E-Mail-Speicher anderer Leute eindringen kann. Oder Tekún ist Cowgirlxl4 und hat nur so getan hat, als wäre er ein unschuldiges Landei aus Idaho. Ich setze Gladys auf die Sache an, sie ist momentan unser fittester Computerfreak. Sie haben übrigens meine Frage nicht beantwortet.« »Welche?«

»Warum Sie hier sind.«

Ich blickte nach links auf einen Stapel Tageszeitungen auf seinem Beistelltisch. »Ich hab mich im Bett gelangweilt.«

»Sie hätten in einen Buchladen, ins Kino oder ins Opryland Hotel gehen können. Ich habe gehört, dass dort zurzeit ein richtig guter Liberace-Imitator auftritt.«

»Ja, aber sie haben den Vergnügungspark geschlossen. Keine tollen Achterbahnen mehr, nur noch ein großes, hässliches Einkaufszentrum.«

»Na gut.« Er senkte den Kopf und blickte mich über seine Lesebrille an, was ich nicht ausstehen kann. Jedes Mal, wenn ein Mann, vor allem ein älterer, das vor mir tut, glaube ich an seine unumstößliche Autorität und verspüre das Verlangen, sie kurz und klein zu schlagen. »Sie haben sich also ein paar Serienmörder-Seiten angesehen?«

Ihm die E-Mail zu zeigen war womöglich ein Fehler gewesen. Doch mit Kodein und Bourbon in greifbarer Nähe im Bett zu bleiben wäre ein noch größerer Fehler gewesen. Ich wollte ins Fitnessstudio gehen. Ich sehnte mich nach einem Stepper und Hanteln. »Nur flüchtig. Um nachzusehen, ob es aktuelle Informationen gibt.«

Er seufzte. »Romi, das sind Internetseiten von Privatleuten. Spinner, die von Serienkillern besessen sind. Die werden Ihnen keine brauchbaren Infos liefern.« Er hielt inne und sagte dann so vorsichtig wie möglich: »Und ich frage mich, ob es nicht töricht ist, sich wegen ihm andauernd den Kopf zu zerbrechen.«

Mit ihm meinte er den Flüsterer. Es war nicht nötig, ihn beim Namen zu nennen.

»Ich zerbreche mir nicht den Kopf, Lieutenant. Ich stelle Nachforschungen an. Sie war meine Schwester. Ich habe das Recht dazu.«